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90 Michael Kahlo / Benno Zabel ren unerreichbar werden lässt. 6 Die durch die Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts Darmstadt vom 19.April 2005 (221 - Js 221/04) und des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 5. Oktober 2005 (2 Ss 290/05) hatten nun genau solche Zurechnungs- und Verfahrensfragen zu klären. Entsprechend den Feststellungen der Tatsacheninstanz ist der Beschwerdeführer Vater einer im Jahre 1995 geborenen Tochter S. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für S wurde der Mutter, seiner früheren Ehefrau, zugesprochen. Mit deren Einverständnis reiste S 2001 zu den Verwandten des Beschwerdeführers nach Algerien, wo sie sich seither aufhält. Alle Versuche der Kindsmutter, S wieder nach Deutschland zu holen, scheiterten an der fehlenden, nach algerischem Recht notwendigen, durch notariell beglaubigte Unterschrift dokumentierten Zustimmung des Beschwerdeführers. 7 Aufgrund der Weigerung, die erforderliche Zustimmung zu erteilen, wurde er vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – Darmstadt wegen Kindesentziehung gem. § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die das Landgericht als Berufungsinstanz auf zwei Jahre und sechs Monate ermäßigte. Die Rechtsauffassung der Berufungsinstanz verdeutlicht ein Hinweis des Kammervorsitzenden im Rahmen der Vorbereitung des Hauptverhandlungstermins. Darin macht dieser sowohl den Beschwerdeführer als 6 Zum Streit- und Diskussionsstand siehe nur Puppe NStZ 1982, 230; Roxin (Fn. 3) § 20 Rn. 5 ff.; Schlehofer GA 1997, 101 und Volk, Strafprozessrecht, 3. Auflage, München (2002), § 14 Rn. 20; für die Kommentarliteratur sei auf Kleinknecht-Meyer-Goßner, StPO, 51. Auflage, München (2008), § 264 Rn. 2 ff. sowie LR-Gollwitzer, StPO, 25. Auflage, Berlin (2001), § 264 Rn. 3 ff. verwiesen. 7 Eine Rückführung der Tochter S aufgrund des »Haager Kindesentführungsübereinkommens vom 25. Oktober 1980« (HKiEntÜ) kam offensichtlich nicht in Betracht, da Algerien nicht Vertragsstaat dieses Übereinkommens ist. Ob es sich hierbei lediglich um dispositive politische Gründe handelt, oder ob die (völkerrechtliche) Konstellation auf in diesem Staat geltenden »Grundwerten« beruht (vgl. Art. 20), muß im Rahmen dieses Beitrages dahingestellt bleiben; vgl. aber Darstellung und Nachweise bei Jorzik, Kindesentführungsrecht, Bielefeld (1995), S., 27 ff. und öfter.

Schuldgrundsatz und Strafklageverbrauch 91 auch dessen Verteidiger darauf aufmerksam, dass es sich bei der Kindesentziehung um ein Dauerdelikt handelt; mit dem Tag der letzten Hauptverhandlung in einer Tatsacheninstanz trete freilich eine Zäsurwirkung ein, so dass der Beschwerdeführer Gefahr laufe, »bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres seiner Tochter zahlreiche erhebliche Freiheitsstrafen anzusammeln«. Trotz dieses Hinweises weigerte sich der Beschwerdeführer auch nach rechtskräftiger Verurteilung, die Genehmigung zur Ausreise der S aus Algerien zu erteilen. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin erneut Anklage wegen Kindesentziehung, nun jedoch für den Zeitraum nach der ersten Verurteilung durch das Landgericht am 17. November 2003. Amts- und Landgericht verurteilten den Beschwerdeführer schließlich zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. In der Urteilsbegründung verweist auch das Landgericht darauf, dass der Beschwerdeführer ein Dauerdelikt begangen habe, bei dem die letzte Hauptverhandlung in der Tatsacheninstanz eine Zäsurwirkung entfalte, weshalb die Weigerung nach der letzten Tatsachenverhandlung eine neue (prozessuale) Tat darstelle. Die gegen diese Verurteilung erhobene Revision des Beschwerdeführers wurde durch das Oberlandesgericht gem. § 349 II StPO verworfen. Das BVerfG sah sowohl durch das Urteil des Landgerichts als auch durch den Beschluss des Oberlandesgerichts die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 8 und Art. 2 Abs. 1 GG (in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt. Insbesondere verstoße der nicht näher begründete Verweis auf die dogmatische Figur der »Zäsurwirkung« gegen das Schuldprinzip und den Grundsatz gerechten Strafens; dies gelte vor allem für die An- 8 Ob Art. 1 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter hat ist im Rahmen der Verfassungsdogmatik allerdings umstritten; dafür etwa Maunz/ Dürig-Herdegen, GG- Kommentar, München (2003), Art. 1 Abs. 1 (Zweitkommentierung), Rn. 26; a. A. insbesondere Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen (1997), S. 92 ff., 377 ff.; einen aufschlussreichen Überblick zum Streitstand liefert Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, Tübingen (2005), S. 180 ff.

90 Michael Kahlo / Benno Zabel<br />

ren unerreichbar wer<strong>de</strong>n lässt. 6 Die durch die Verfassungsbeschwer<strong>de</strong> angegriffenen<br />

Entscheidungen <strong>de</strong>s Landgerichts Darmstadt vom 19.April 2005<br />

(221 - Js 221/04) und <strong>de</strong>s Oberlan<strong>de</strong>sgerichts Frankfurt a. M. vom 5. Oktober<br />

2005 (2 Ss 290/05) hatten nun genau solche Zurechnungs- und Verfahrensfragen<br />

zu klären.<br />

Entsprechend <strong>de</strong>n Feststellungen <strong>de</strong>r Tatsacheninstanz ist <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>führer<br />

Vater einer im Jahre 1995 geborenen Tochter S. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht<br />

<strong>für</strong> S wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mutter, seiner früheren Ehefrau, zugesprochen.<br />

Mit <strong>de</strong>ren Einverständnis reiste S 2001 zu <strong>de</strong>n Verwandten <strong>de</strong>s<br />

Beschwer<strong>de</strong>führers nach Algerien, wo sie sich seither aufhält. Alle Versuche<br />

<strong>de</strong>r Kindsmutter, S wie<strong>de</strong>r nach Deutschland zu holen, scheiterten an <strong>de</strong>r<br />

fehlen<strong>de</strong>n, nach algerischem Recht notwendigen, durch notariell beglaubigte<br />

Unterschrift dokumentierten Zustimmung <strong>de</strong>s Beschwer<strong>de</strong>führers. 7 Aufgrund<br />

<strong>de</strong>r Weigerung, die erfor<strong>de</strong>rliche Zustimmung zu erteilen, wur<strong>de</strong> er<br />

vor <strong>de</strong>m Amtsgericht – Schöffengericht – Darmstadt wegen Kin<strong>de</strong>sentziehung<br />

gem. § 235 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die<br />

das Landgericht als Berufungsinstanz auf zwei Jahre und sechs Monate ermäßigte.<br />

Die Rechtsauffassung <strong>de</strong>r Berufungsinstanz ver<strong>de</strong>utlicht ein Hinweis<br />

<strong>de</strong>s Kammervorsitzen<strong>de</strong>n im Rahmen <strong>de</strong>r Vorbereitung <strong>de</strong>s Hauptverhandlungstermins.<br />

Darin macht dieser sowohl <strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer als<br />

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Zum Streit- und Diskussionsstand siehe nur Puppe NStZ 1982, 230; Roxin (Fn.<br />

3) § 20 Rn. 5 ff.; Schlehofer GA 1997, 101 und Volk, Strafprozessrecht, 3. Auflage,<br />

München (2002), § 14 Rn. 20; <strong>für</strong> die Kommentarliteratur sei auf Kleinknecht-Meyer-Goßner,<br />

StPO, 51. Auflage, München (2008), § 264 Rn. 2 ff. sowie<br />

LR-Gollwitzer, StPO, 25. Auflage, Berlin (2001), § 264 Rn. 3 ff. verwiesen.<br />

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Eine Rückführung <strong>de</strong>r Tochter S aufgrund <strong>de</strong>s »Haager Kin<strong>de</strong>sentführungsübereinkommens<br />

vom 25. Oktober 1980« (HKiEntÜ) kam offensichtlich nicht in Betracht,<br />

da Algerien nicht Vertragsstaat dieses Übereinkommens ist. Ob es sich<br />

hierbei lediglich um dispositive politische Grün<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lt, o<strong>de</strong>r ob die (völkerrechtliche)<br />

Konstellation auf in diesem Staat gelten<strong>de</strong>n »Grundwerten« beruht<br />

(vgl. Art. 20), muß im Rahmen dieses Beitrages dahingestellt bleiben; vgl. aber<br />

Darstellung und Nachweise bei Jorzik, Kin<strong>de</strong>sentführungsrecht, Bielefeld<br />

(1995), S., 27 ff. und öfter.

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