HRRS-Festgabe für Gerhard Fezer zum 70 ... - hrr-strafrecht.de

Ungehobene Schätze in der Rechtsprechung des EGMR für die Verteidigung? 43
teidigern, als schlage die Justiz nun mit der EMRK gleichsam zurück. Jedenfalls
in den Fällen, in denen keine Verfahrensverbindung vorliegt, stellt dies
nach Art. 6 eine kaum zu rechtfertigende Pervertierung eines Individualrechts
zulasten eines zweiten Individualrechts dar: Das Recht auf Verfahrensbeschleunigung
mag nach Art. 20 III GG auch der effektiven Strafrechtspflege
dienen. 73 Art. 6 I 1 EMRK gewährt aber keine effektive Strafrechtspflege,
sondern ist in erster Linie ein individuelles Menschenrecht,
dessen objektive Bedeutungen nicht gleichberechtigt vor dieses Recht zu
stellen sind. 74 Die Individualrechte auf Verfahrensbeschleunigung und auf
den Beistand eines erwünschten Verteidigers sind nicht frei durch den Staat
zu einem objektiven Ausgleich zu bringen. Vielmehr muss der Angeklagte
mit seinem Verteidiger entscheiden, ob er eine längere Verfahrensund/oder
Haftdauer riskieren will; die Verfahrensbeschleunigung ist in diesem
Sinne prinzipiell verzichtbar. 75 Wird die Entscheidung des Angeklagten
übergangen, liegt ein echter Eingriff in die Verteidigungsrechte des Angeklagten
vor. Mit pauschalen Behauptungen zu entgegenstehenden öffentlichen
Interessen, die nicht am konkreten Verfahren festgemacht sind, darf er nicht
schon gerechtfertigt sein.
Soweit eine Verfahrensverbindung vorliegt, handelt es sich ebenfalls um
eine Eingriffskonstellation. Hier liegt indes mit dem Recht auf Verfahrensbeschleunigung
der Mitangeklagten ein zusätzlicher Grund vor, Einschrän-
73
So etwa jüngst wieder betont Schmitt StraFo 2008, 313 f. m.w.N.
74
Siehe bereits EGMR, Wemhoff v. D., Nr. 7, § 18: «The Court is of opinion that the
precise aim of this provision in criminal matters is to ensure that accused persons do not
have to lie under a charge for too long”; Stavros (Fn. 50), S. 77, 82; Ress, FS Müller-
Dietz-, S. 627, 634; m.w.N. Gaede wistra 2004, 166, 168; zum Charakter als Individualrecht
auch Grabenwarter (Fn. 7), § 24 Rn. 71. Für die primär individualrechtliche
Ausrichtung auch BVerfG JR 2007, 251, 252, im partiellem Widerspruch
zu BVerfG HRRS 2008 Nr. 258.
75
Vgl. auch Burhoff StraFo 2008, 62, 68; vgl. auch schon m.w.N. Gaede (Fn. 5), S.
224.