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30 Karsten Gaede dete Zeuge die Rechte der Art. 2, 5 und 8 EMRK auf seiner Seite. 27 Eines ist jedoch sicher: Die Reihe der Entscheidungen, die einer einseitig bestrafungs- bzw. effizienzorientierten Strafrechtspflege Grenzen setzen, ist lang – sehr lang. Dies bietet allen Anlass dazu, den EGMR und – vor allem – die nationalen Gerichte an seiner Forderung nach konkreten und wirksamen Rechten in der täglichen Praxis zu messen. 3. Die entwicklungsoffene Entfaltung der Verteidigungsrechte In ständiger Rechtsprechung versteht der EGMR die EMRK als »living instrument«. 28 Er erkennt also an, dass sich der europäische Menschenrechtsstandard im Lauf der Jahre steigern kann. Die Auslegung des EGMR wird als dynamisch oder evolutiv beschrieben. 29 Es lohnt sich folglich, immer wieder zu prüfen, ob es neue Felder gibt, auf denen der Menschenrechtsstandard den deutschen status quo in Frage stellt. So fiel etwa der heute wichtige Schutz des Konfrontationsrechts vor dem Urteil Unterpertinger gg. Österreich bei weitem geringer aus. 30 Im Rahmen dieser evolutiven, also entwicklungsoffenen Rechtsprechung hat der EGMR auch bewiesen, dass Art. 6 EMRK mit Fortentwicklungen der Prozessrealität Schritt halten kann. So hat der EGMR insbesondere der aufkommenden Tatprovokation Grenzen gesetzt, die nunmehr auch die mit- 27 Vgl. z.B. EGMR, Doorson v. NL, Rep. 1996-II, §§ 73 ff.; S.N. v. SWE, Rep. 2002- V, §§ 43 ff.; Esser JR 2005, 248, 249 ff.; näher zu dem Anforderungen an Einschränkungen bei Art. 6 EMRK Gaede (Fn. 5), S. 691 ff. 28 EGMR, Tyrer v. GB, Nr. 26, § 31; Kudla v. PL [GC], Rep. 2000-XI, § 152; Demko HRRS 2005, 94 ff. 29 Bernhardt, FS Wiarda, S. 65 ff.; Meyer-Ladewig (Fn. 4), Einl. Rn. 30 ff.; Villiger (Fn. 21), Rn. 164, 179 f. 30 Zur Bedeutung des Falles EGMR, Unterpertinger v. AUT, Nr. 110, als Wendemarke der Rechtsprechung vgl. K. Krauß, V-Leute im Strafprozeß und die EMRK (1999), S. 57 ff., 62 ff.; Wohlers, FS Trechsel, S. 813, 816 f.

Ungehobene Schätze in der Rechtsprechung des EGMR für die Verteidigung? 31 telbare Tatprovokation umfassen. 31 Hier hat er praktisches Verständnis gezeigt, indem er sich nicht nur dem abstrakten Verbot unzulässiger Tatprovokationen gewidmet hat: Der EGMR hat insbesondere mit Aufklärungspflichten und einer Art Beweislastumkehr auch den oft vorentscheidenden Beleg der Provokation menschenrechtlich erleichtert, schließlich auch Beweisverwertungsverbote gefordert. 32 All dies ist bis heute nicht voll in deutsches Recht umgesetzt. Ein anderes Beispiel ist der europaweite Trend hin zu Hörfallen, V-Leuten und Verdeckten Ermittlern, also der Trend »from coercion to deception«. 33 Hier haben wir in Deutschland erfahren müssen, dass der BGH zum Beispiel die »Innovation Hörfalle« letztlich bei Straftaten von erheblicher Bedeutung ohne jede gesetzliche Grundlage akzeptiert hat. 34 Die für strengere Maßstäbe stehende Selbstbelastungsfreiheit soll nicht betroffen sein. Der EGMR hingegen hat insbesondere mit der Entscheidung im Fall Allan gg. Großbritannien gezeigt, dass die Selbstbelastungsfreiheit sehr wohl betroffen ist, wenn schweigende Beschuldigte über scheinbar vertrauliche Gespräche gezielt ausgehorcht werden. 35 Dies hat im letzten Jahr immerhin dazu geführt, dass der 3. Strafsenat des BGH vorsichtig von den Prinzipien des Großen 31 Grundlegend EGMR, Teixeira de Castro v. PO, StV 1999, 127 f.; erweiternd EGMR, Ramanauskas v. LIT [GC], HRRS 2008 Nr. 200 und (mit Übersetzung) Pyrgiotakis v. LIT, HRRS 2008, 292 ff. (Nr. 500). 32 EGMR, Ramanauskas v. LIT [GC], HRRS 2008 Nr. 200 m. Bespr. Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279 ff.; schon EGMR, Edwards u. Lewis v. UK [GC], ECHR 2004-X, §§ 46 ff. = HRRS 2005 Nr. 1; Meyer-Goßner (Fn. 14), Einl. Rn. 148a; ausführlich Gaede StV 2006, 599, 601 f., 603 ff.; siehe zuvor schon EGMR, Edwards u. Lewis v. UK, StraFo 2003, 360 m. Anm. Sommer; zur Umsetzung Sinner/Kreuzer StV 2000, 124 ff.; Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279 ff. 33 So etwa anhand des engl. »pro-active policing« Ashworth, The Criminal Process, 2. Aufl. (1998), S. 130. 34 BGHSt GS 42, 139 ff. 35 Allan v. GB, Rep. 2002-IX, §§ 49 ff. = StV 2003, 257 ff. m. Anm. Esser JR 2004, 98 ff. und Anm. Gaede, StV 2003, 260 ff.; zum wichtigen Kontext des Art. 8 EMRK (Gesetzesvorbehalt!) ders. StV 2004, 46 ff.

30 Karsten Gae<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>te Zeuge die Rechte <strong>de</strong>r Art. 2, 5 und 8 EMRK auf seiner Seite. 27 Eines ist<br />

jedoch sicher: Die Reihe <strong>de</strong>r Entscheidungen, die einer einseitig bestrafungs-<br />

bzw. effizienzorientierten Strafrechtspflege Grenzen setzen, ist lang –<br />

sehr lang. Dies bietet allen Anlass dazu, <strong>de</strong>n EGMR und – vor allem – die<br />

nationalen Gerichte an seiner For<strong>de</strong>rung nach konkreten und wirksamen<br />

Rechten in <strong>de</strong>r täglichen Praxis zu messen.<br />

3. Die entwicklungsoffene Entfaltung <strong>de</strong>r Verteidigungsrechte<br />

In ständiger Rechtsprechung versteht <strong>de</strong>r EGMR die EMRK als »living instrument«.<br />

28 Er erkennt also an, dass sich <strong>de</strong>r europäische Menschenrechtsstandard<br />

im Lauf <strong>de</strong>r Jahre steigern kann. Die Auslegung <strong>de</strong>s EGMR wird<br />

als dynamisch o<strong>de</strong>r evolutiv beschrieben. 29 Es lohnt sich folglich, immer<br />

wie<strong>de</strong>r zu prüfen, ob es neue Fel<strong>de</strong>r gibt, auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Menschenrechtsstandard<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen status quo in Frage stellt. So fiel etwa <strong>de</strong>r heute<br />

wichtige Schutz <strong>de</strong>s Konfrontationsrechts vor <strong>de</strong>m Urteil Unterpertinger gg.<br />

Österreich bei weitem geringer aus. 30<br />

Im Rahmen dieser evolutiven, also entwicklungsoffenen Rechtsprechung<br />

hat <strong>de</strong>r EGMR auch bewiesen, dass Art. 6 EMRK mit Fortentwicklungen<br />

<strong>de</strong>r Prozessrealität Schritt halten kann. So hat <strong>de</strong>r EGMR insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r<br />

aufkommen<strong>de</strong>n Tatprovokation Grenzen gesetzt, die nunmehr auch die mit-<br />

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Vgl. z.B. EGMR, Doorson v. NL, Rep. 1996-II, §§ 73 ff.; S.N. v. SWE, Rep. 2002-<br />

V, §§ 43 ff.; Esser JR 2005, 248, 249 ff.; näher zu <strong>de</strong>m Anfor<strong>de</strong>rungen an Einschränkungen<br />

bei Art. 6 EMRK Gae<strong>de</strong> (Fn. 5), S. 691 ff.<br />

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EGMR, Tyrer v. GB, Nr. 26, § 31; Kudla v. PL [GC], Rep. 2000-XI, § 152; Demko<br />

<strong>HRRS</strong> 2005, 94 ff.<br />

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Bernhardt, FS Wiarda, S. 65 ff.; Meyer-La<strong>de</strong>wig (Fn. 4), Einl. Rn. 30 ff.; Villiger<br />

(Fn. 21), Rn. 164, 179 f.<br />

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Zur Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Falles EGMR, Unterpertinger v. AUT, Nr. 110, als Wen<strong>de</strong>marke<br />

<strong>de</strong>r Rechtsprechung vgl. K. Krauß, V-Leute im Strafprozeß und die EMRK<br />

(1999), S. 57 ff., 62 ff.; Wohlers, FS Trechsel, S. 813, 816 f.

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