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26 Karsten Gaede kannt wird. Sie können letztlich in entscheidenden Nuancen zu abweichenden Ergebnissen führen. Ein drastisches Beispiel ist die Entscheidung Jalloh gegen Deutschland zum Brechmitteleinsatz. 11 Hier hat der EGMR zu Recht die einseitige deutsche Theorie überwunden, nach der die Selbstbelastungsfreiheit ausschließlich gegen den offenen Zwang zu einem aktiv selbstbelastenden Verhalten schütze. 12 Keineswegs ist die Rechtsprechung des EGMR zur Selbstbelastungsfreiheit über jeden Zweifel erhaben. 13 Die eigenständige Dogmatik des EGMR ermöglichte ihm aber jedenfalls hier, einen deutschen Sonderweg zu beenden, der Deutschland in ein rechtsstaatliches Abseits geführt hatte. Ein weiteres Beispiel liegt in der Vorbefassung entscheidender Richter. Hier definiert der deutsche Gesetzgeber das materielle Fairnessproblem nach h.M. in großen Teilen hinfort, indem er nur wenige Fälle der Vorbefassung von sich aus ausschließt. Nur wenn »besondere Umstände« vorliegen, soll die Vorbefassung die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. 14 Auch der EGMR differenziert: Nicht jede Vorbefassung schließt einen Richter aus. 15 Gerade zur Mitwirkung an Zwischenentscheidungen im anhängigen Verfahren spricht dafür auch viel, da Art. 6 EMRK keine einheitliche Verfahrens- 11 Vgl. EGMR, Jalloh v. D, NJW 2006, 3117 ff. m. Bespr. Schuhr NJW 2006, 3538 und Gaede HRRS 2006, 241. 12 Paradigmatisch dafür Rogall NStZ 1998, 66 f.; BVerfG StV 2000, 1. Vgl. aber bereits m.w.N. Neumann, FS Wolff (1998), S. 373, 380 f., 387 ff.; näher anhand Jalloh Gaede HRRS 2006, 241 ff. 13 Vgl. nur die Entscheidung EGMR, O’Halloran u. Francis v. GB [GC], HRRS 2007 Nr. 1139 m. abl. Votum Myjer; SK/Wohlers, 56. Lfg., § 95 Rn. 13 ff., 18; Schuhr NJW 2006, 3538 ff.; Gaede HRRS 2006, 241, 248 f. 14 BGHSt 50, 216 ff. = HRRS 2005 Nr. 700; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. (2008), § 24 Rn. 12 ff. 15 EGMR, Hauschildt v. DAN, Nr. 154, §§ 48 ff.; Fey v.AUT, Nr. 255-A, §§ 28, 30 ff.; Castillo Algar v. SPA, Rep. 1998-VIII, §§ 45 ff.; m.w.N. Esser (Fn. 10), 575 ff.; Grabenwarter (Fn. 7), § 24 Rn. 46 f.

Ungehobene Schätze in der Rechtsprechung des EGMR für die Verteidigung? 27 ordnung vorgibt. 16 (s.o.) Es dürfte aber plausibel sein, dass Straßburger Richter, die nicht mit der Normalität der Vorbefassung sozialisiert sind, eher geneigt sein werden, besondere Umstände auch tatsächlich anzuerkennen. Die Selbstverständlichkeit, mit der deutsche Richter die Besorgnis der Befangenheit hier zu verwerfen scheinen, dürfte den mitentscheidenden Richtern des EGMR nicht selten fehlen. 17 2. Die Garantie konkreter und wirksamer Rechte In diesem zweiten Grund liegt das wohl größte Verteidigungspotential. In dem Urteil Artico gegen Italien zur Rüge der mangelhaften Vertretung durch einen Verteidiger heißt es im Wortlaut: »The Court recalls that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective; this is particularly so of the rights of the defence in view of the prominent place held in a democratic society by the right to a fair trial.« 18 Diese Worte verströmen unzweifelhaft Pathos! Zugleich sind sie aber eine prägnante Erklärung dafür, weshalb der EGMR auch in Fällen auf Verletzungen zugunsten von Angeklagten erkannt hat, in denen die Folgen den Staaten Europas – etwa bei der überlangen Verfahrensdauer – durchaus wehtun. Die Worte kennzeichnen, dass der EGMR die EMRK primär teleologisch auslegt. 19 Und der verfolgte Zweck besteht erklärtermaßen darin, 16 Zur Modelloffenheit des Art. 6 EMRK EGMR, Quaranta v. SWI, Nr. 205, § 30; Esser (Fn. 10), S. 855 f.; näher Gaede (Fn. 5), S. 461 ff. 17 Krit. z.B. schon Esser (Fn. 10), S. 575 ff.; Beulke, StrafProzR, 10. Aufl. (2008), Rn. 74; Gaede HRRS 2005, 319, 327; siehe auch Meyer-Ladewig (Fn. 4), Art. 6 Rn. 31; EGMR, Indra v. SLO, 1.2.2005, §§ 51 ff. 18 EGMR, Artico v. IT, Nr. 37, § 33 = EuGRZ 1980, 662 ff. 19 Grabenwarter (Fn. 7), § 5 Rn. 13; Meyer-Ladewig (Fn. 4), Einl. Rn. 36.

26 Karsten Gae<strong>de</strong><br />

kannt wird. Sie können letztlich in entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Nuancen zu abweichen<strong>de</strong>n<br />

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Ein drastisches Beispiel ist die Entscheidung Jalloh gegen Deutschland <strong>zum</strong><br />

Brechmitteleinsatz. 11 Hier hat <strong>de</strong>r EGMR zu Recht die einseitige <strong>de</strong>utsche<br />

Theorie überwun<strong>de</strong>n, nach <strong>de</strong>r die Selbstbelastungsfreiheit ausschließlich gegen<br />

<strong>de</strong>n offenen Zwang zu einem aktiv selbstbelasten<strong>de</strong>n Verhalten schütze.<br />

12 Keineswegs ist die Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR zur Selbstbelastungsfreiheit<br />

über je<strong>de</strong>n Zweifel erhaben. 13 Die eigenständige Dogmatik <strong>de</strong>s<br />

EGMR ermöglichte ihm aber je<strong>de</strong>nfalls hier, einen <strong>de</strong>utschen Son<strong>de</strong>rweg zu<br />

been<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Deutschland in ein rechtsstaatliches Abseits geführt hatte. Ein<br />

weiteres Beispiel liegt in <strong>de</strong>r Vorbefassung entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Richter. Hier <strong>de</strong>finiert<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Gesetzgeber das materielle Fairnessproblem nach h.M.<br />

in großen Teilen hinfort, in<strong>de</strong>m er nur wenige Fälle <strong>de</strong>r Vorbefassung von<br />

sich aus ausschließt. Nur wenn »beson<strong>de</strong>re Umstän<strong>de</strong>« vorliegen, soll die<br />

Vorbefassung die Besorgnis <strong>de</strong>r Befangenheit rechtfertigen. 14 Auch <strong>de</strong>r<br />

EGMR differenziert: Nicht je<strong>de</strong> Vorbefassung schließt einen Richter aus. 15<br />

Gera<strong>de</strong> zur Mitwirkung an Zwischenentscheidungen im anhängigen Verfahren<br />

spricht da<strong>für</strong> auch viel, da Art. 6 EMRK keine einheitliche Verfahrens-<br />

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Vgl. EGMR, Jalloh v. D, NJW 2006, 3117 ff. m. Bespr. Schuhr NJW 2006, 3538<br />

und Gae<strong>de</strong> <strong>HRRS</strong> 2006, 241.<br />

12<br />

Paradigmatisch da<strong>für</strong> Rogall NStZ 1998, 66 f.; BVerfG StV 2000, 1. Vgl. aber<br />

bereits m.w.N. Neumann, FS Wolff (1998), S. 373, 380 f., 387 ff.; näher anhand<br />

Jalloh Gae<strong>de</strong> <strong>HRRS</strong> 2006, 241 ff.<br />

13<br />

Vgl. nur die Entscheidung EGMR, O’Halloran u. Francis v. GB [GC], <strong>HRRS</strong><br />

2007 Nr. 1139 m. abl. Votum Myjer; SK/Wohlers, 56. Lfg., § 95 Rn. 13 ff., 18;<br />

Schuhr NJW 2006, 3538 ff.; Gae<strong>de</strong> <strong>HRRS</strong> 2006, 241, 248 f.<br />

14<br />

BGHSt 50, 216 ff. = <strong>HRRS</strong> 2005 Nr. <strong>70</strong>0; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. (2008),<br />

§ 24 Rn. 12 ff.<br />

15<br />

EGMR, Hauschildt v. DAN, Nr. 154, §§ 48 ff.; Fey v.AUT, Nr. 255-A, §§ 28, 30<br />

ff.; Castillo Algar v. SPA, Rep. 1998-VIII, §§ 45 ff.; m.w.N. Esser (Fn. 10), 575 ff.;<br />

Grabenwarter (Fn. 7), § 24 Rn. 46 f.

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