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24 Karsten Gaede III. Die EMRK als Garantie konkreter und wirksamer (Verteidigungs-)Rechte Drei allgemeine Gesichtspunkte möchte ich herausgreifen, die besonders wesentlich sind. 1. Autonome Auslegung der EMRK im Kontext abweichender richterlicher Vorverständnisse Die Rechte der EMRK und damit die Wortlaute auch des Art. 6 EMRK sind autonom auszulegen. Das bedeutet vor allem: Sie sind nicht nach dem Vorverständnis auszulegen, das sich in einem einzelnen Vertragsstaat zu einem Begriff gebildet hat. Auf diese Art und Weise konnte etwa der Begriff der strafrechtlichen Anklage für den EGMR auch Ordnungswidrigkeitenverfahren umfassen, die nach deutschen Prozessgesetzen offensichtlich keine strafrechtliche Anklage enthalten. 5 Dies hat dazu geführt, dass der Anspruch auf die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers heute auch im deutschen Ordnungswidrigkeitenverfahren strikt gilt. Ebenso können wir feststellen, dass auch ein deutscher Mitbeschuldigter im formellen Sinne doch ein Zeuge im Sinne des Konfrontationsrechts sein kann, so dass ausbleibende Befragungen trotz des Schweigerechts Probleme aufwerfen. 6 Das auf die Norm des Art. 6 EMRK gestützte Case Law des EGMR entwickelt sich damit nicht notwendig parallel zum deutschen Gesetzesrecht. Der EGMR definiert eigenständig die materiellen Anforderungen des fairen Verfahrens. 7 Diese Anforderungen können weder der türkische, noch der belgi- 5 EGMR, Öztürk v. D, Nr. 73, §§ 49 ff.; Meyer-Ladewig (Fn. 4), Einl. Rn. 36 f.; Gaede, Fairness als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007), S. 79 ff. 6 Vgl. etwa nur EGMR, Lucà v. IT, §§ 37 ff., HRRS 2006, 35 ff.; Sommer NJW 2005, 1240 f. 7 Zum Stand Grabenwarter, EMRK, 3. Aufl. (2007), § 24 Rn. 27 ff.; Gaede (Fn. 5), S. 159 ff., 588 ff., 417 ff.

Ungehobene Schätze in der Rechtsprechung des EGMR für die Verteidigung? 25 sche oder deutsche Gesetzgeber mit einem Federstrich im nationalen Gesetz ohne weiteres wegdefinieren. 8 Warum kommt es aber zu den unterschiedlichen Begriffsdeutungen? Was steht dahinter? Wichtig erscheint mir vor allem, dass über die EMRK andere Prozessverständnisse auf den deutschen Strafprozess einwirken, was besonders die Wertschätzung der Verteidigungsrechte im Parteiprozess betrifft. 9 Schon die Abfassung des Art. 6 EMRK spricht dafür. Wie selbstverständlich haben wir uns etwa an den Begriff des Belastungszeugen gewöhnt, den es natürlich in klassischen Parteiprozessen gibt, im reformierten Inquisitionsprozess der StPO aber gar nicht geben dürfte. 10 Ganz allgemein schlagen sich im Case Law des EGMR unterschiedliche Vorverständnisse der Richterinnen und Richter des EGMR nieder. Die EMRK – und damit in Deutschland geltendes Recht – wird mit Rechtsvorstellungen aus ganz Europa angereichert und damit zum Teil auch bereichert. Gerade weil damit auch Ansätze in der EMRK Geltung erlangen, die sich von unserer deutschen Prozessnormalität unterscheiden, entwickelt der EGMR eigenständige Problemzugänge, die von den unsrigen abweichen. Diese Zugänge können es wesentlich erleichtern, ein Problem in seiner ganzen Bedeutung zu erkennen, das national vielleicht traditionsbedingt nicht hinreichend er- 8 Vgl. EGMR, Kitov v. BL, 3.4.2003, § 73: «the Court reiterates that the enjoyment of the right of every accused person to a trial within a reasonable time … must be secured by the authorities through all appropriate means, including change of practice or legislative amendments if necessary”; so auch den früheren Gerichtspräsidenten Wildhaber, Der Spiegel, 47/2004, S. 50. Indes berücksichtigt der EGMR oft die Rechtslage in den Mitgliedsstaaten insgesamt, so z.B. EGMR, Pretty v. GB, Rep. 2002-III, §§ 66 ff.; Goodwin v. GB, Rep. 2002-VI, § 85; Grabenwarter (Fn. 7), § 5 Rn. 11; zu den Grenzen dessen Gaede (Fn. 5), S. 87 ff., 92 f., 156 f. 9 Vgl. etwa Renzikowski JZ 1999, 605, 612 f.: EGMR als Übersetzer angloamerikanischer Rechtstraditionen. 10 Zur Nähe des Art. 6 III lit. d EMRK zum Parteiprozess siehe z.B. Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 855 f.; Beulke, FS Rieß, S. 3, 6; Walther GA 2003, 212, 213.

Ungehobene Schätze in <strong>de</strong>r Rechtsprechung <strong>de</strong>s EGMR <strong>für</strong> die Verteidigung? 25<br />

sche o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Gesetzgeber mit einem Fe<strong>de</strong>rstrich im nationalen Gesetz<br />

ohne weiteres weg<strong>de</strong>finieren. 8<br />

Warum kommt es aber zu <strong>de</strong>n unterschiedlichen Begriffs<strong>de</strong>utungen? Was<br />

steht dahinter? Wichtig erscheint mir vor allem, dass über die EMRK an<strong>de</strong>re<br />

Prozessverständnisse auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Strafprozess einwirken, was beson<strong>de</strong>rs<br />

die Wertschätzung <strong>de</strong>r Verteidigungsrechte im Parteiprozess betrifft.<br />

9 Schon die Abfassung <strong>de</strong>s Art. 6 EMRK spricht da<strong>für</strong>. Wie selbstverständlich<br />

haben wir uns etwa an <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>s Belastungszeugen gewöhnt,<br />

<strong>de</strong>n es natürlich in klassischen Parteiprozessen gibt, im reformierten<br />

Inquisitionsprozess <strong>de</strong>r StPO aber gar nicht geben dürfte. 10 Ganz allgemein<br />

schlagen sich im Case Law <strong>de</strong>s EGMR unterschiedliche Vorverständnisse<br />

<strong>de</strong>r Richterinnen und Richter <strong>de</strong>s EGMR nie<strong>de</strong>r. Die EMRK – und<br />

damit in Deutschland gelten<strong>de</strong>s Recht – wird mit Rechtsvorstellungen aus<br />

ganz Europa angereichert und damit <strong>zum</strong> Teil auch bereichert. Gera<strong>de</strong> weil<br />

damit auch Ansätze in <strong>de</strong>r EMRK Geltung erlangen, die sich von unserer<br />

<strong>de</strong>utschen Prozessnormalität unterschei<strong>de</strong>n, entwickelt <strong>de</strong>r EGMR eigenständige<br />

Problemzugänge, die von <strong>de</strong>n unsrigen abweichen. Diese Zugänge<br />

können es wesentlich erleichtern, ein Problem in seiner ganzen Be<strong>de</strong>utung<br />

zu erkennen, das national vielleicht traditionsbedingt nicht hinreichend er-<br />

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Vgl. EGMR, Kitov v. BL, 3.4.2003, § 73: «the Court reiterates that the enjoyment of<br />

the right of every accused person to a trial within a reasonable time … must be secured by<br />

the authorities through all appropriate means, including change of practice or legislative<br />

amendments if necessary”; so auch <strong>de</strong>n früheren Gerichtspräsi<strong>de</strong>nten Wildhaber,<br />

Der Spiegel, 47/2004, S. 50. In<strong>de</strong>s berücksichtigt <strong>de</strong>r EGMR oft die Rechtslage<br />

in <strong>de</strong>n Mitgliedsstaaten insgesamt, so z.B. EGMR, Pretty v. GB, Rep. 2002-III,<br />

§§ 66 ff.; Goodwin v. GB, Rep. 2002-VI, § 85; Grabenwarter (Fn. 7), § 5 Rn. 11;<br />

zu <strong>de</strong>n Grenzen <strong>de</strong>ssen Gae<strong>de</strong> (Fn. 5), S. 87 ff., 92 f., 156 f.<br />

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Vgl. etwa Renzikowski JZ 1999, 605, 612 f.: EGMR als Übersetzer angloamerikanischer<br />

Rechtstraditionen.<br />

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Zur Nähe <strong>de</strong>s Art. 6 III lit. d EMRK <strong>zum</strong> Parteiprozess siehe z.B. Esser, Auf <strong>de</strong>m<br />

Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 855 f.; Beulke, FS<br />

Rieß, S. 3, 6; Walther GA 2003, 212, 213.

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