Kapitel 9 für PDF - Bezirk Oberfranken
Kapitel 9 für PDF - Bezirk Oberfranken
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KAPITEL 9<br />
Günter Dippold<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Zur wirtschaftlichen Entwicklung von Redwitz im 19. und frühen 20. Jahrhundert<br />
Am 27. Dezember 1873, einem Samstag, machte sich der Redwitzer<br />
Adam Bauer daran, seinen Pumpbrunnen zu entleeren. Schon seit<br />
Monaten war das Wasser nämlich ungenießbar. Je mehr er pumpte,<br />
desto mehr nahm der Anteil einer öligen Flüssigkeit im Wasser zu. Schließlich<br />
kam reines Öl aus der Leitung; man förderte davon 60 Liter und machte<br />
Brennversuche – erfolgreich.<br />
Noch am selben Tag trug Bauers Schwiegersohn die Sache dem Lichtenfelser<br />
<strong>Bezirk</strong>samtmann Carl Zeller vor und überbrachte eine Probe der merkwürdigen<br />
Flüssigkeit. Zwei Tage später berichtete das Lichtenfelser Tagblatt,<br />
gerade vollauf beschäftigt mit der bevorstehenden Reichstagswahl, vom<br />
Redwitzer Petroleumfund, und einen weiteren Tag später meldete das Bamberger<br />
Tagblatt lakonisch: Am 27. Dez. wurde in dem Marktflecken Redwitz<br />
bei Kronach eine Petroleumquelle aufgefunden.<br />
Inzwischen hatte man in drei weiteren Redwitzer Brunnen „Petroleumquellen“<br />
entdeckt, und der Lichtenfelser Zeitungsleser konnte gespannt sein: Diese<br />
[...] höchst interessante Naturseltenheit wird dieser Tage von einer amtlichen<br />
Kommission untersucht und bestätigt werden.<br />
Tatsächlich hatte der <strong>Bezirk</strong>sarzt Dr. Georg Badum die Flüssigkeit untersucht:<br />
Es bestehe kein Zweifel, dass es sich um Steinöl, Erdöl, Petroleum,<br />
und zwar der besseren Sorte angehörig, handele. Doch die amtliche Kommission,<br />
bestehend aus <strong>Bezirk</strong>samtmann und <strong>Bezirk</strong>sarzt, die den Ort des<br />
Geschehens besuchte, erfüllte die Erwartungen des Lichtenfelser Tagblatts<br />
nicht. Denn in Redwitz erklärte der Bürgermeister, der vis-á-vis von Bauer<br />
wohnte, er habe in seinem Lager 13 große Ölfässer stehen, die zum Teil<br />
ausgelaufen seien. Das Petroleum in den Brunnen von Bauer und seinen<br />
Nachbarn sei mit diesem Petroleum identisch. Der <strong>Bezirk</strong>samtmann war skeptisch,<br />
glaubte, der Bürgermeister habe gewerbliche Interessen, und bat den<br />
<strong>Bezirk</strong>sarzt um ein Gutachten. Dieser erklärte am 2. Januar 1874, die Geschichte<br />
des Bürgermeisters sei wohl wahr. Schließlich sei das geförderte<br />
Petroleum ein bereites raffinirtes, das als solches in Ölquellen nicht aufgefunden<br />
wird – vier Tage vorher war er auf diesen Gedanken nicht gekommen.<br />
Tags darauf klärte auch das Tagblatt seine Leser auf. Geblieben ist den<br />
Redwitzern vom Ölfund 1873 nur der Spitzname 1 .<br />
Auch ohne Ölquellen gilt Redwitz als Industriedorf. Die Entwicklung des<br />
Ortes nach 1949 ist einzigartig, so konnte man 1973 im Obermain-Tagblatt<br />
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218 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Wandlungen der<br />
Infrastruktur:<br />
Bahn, Elektrizitätswerk,<br />
Telefon<br />
lesen. Die einstige landwirtschaftliche Struktur ist einer gesunden Industrialisierung<br />
gewichen 2 . Im Jahr 1949 hatte sich in Redwitz das Porzellanwerk<br />
der Siemens AG niedergelassen, nachdem schon 1942 das Pressstoffwerk<br />
hierher verlegt worden war.<br />
Doch bei aller Bedeutung der Siemens AG <strong>für</strong> Redwitz ist doch die Aussage<br />
des Artikels falsch nicht erst durch Siemens zum Industriedorf geworden.<br />
Allerdings gaben vor dem Zweiten Weltkrieg nicht Fabriken dem Ort sein<br />
Gesicht; vielmehr war die als Hausindustrie betriebene Korbmacherei der<br />
wichtigste Erwerbszweig. Wenn sich also die Form der Industrie in Redwitz<br />
erst seit dem Zweiten Weltkrieg gewandelt hat, so ist es schon sehr viel länger<br />
ein Industriedorf.<br />
Als 1866 die Gewerbs- und Handelskammer <strong>für</strong> <strong>Oberfranken</strong> eine vollwertige<br />
Eisenbahnstation <strong>für</strong> Redwitz beantragte, konnte sie darauf verweisen, dass<br />
dieser an der Hochstadt-Kronach-Gundelsdorfer Eisenbahn gelegene Ort<br />
800 Einwohner hat, ansehnliche Korbflechterei-Etablissements besitzt, welche<br />
600 Familien in der Umgegend beschäftigen, jährlich 100 Wagenladungen<br />
Weiden nebst 10000 Centnern anderer Gegenstände ein- und 12000 Kisten<br />
Fabrikate ausführt, außerdem Hopfenhandel, Mulzerei, Brauerei,<br />
Melberei, Seifen- und Lichterfabrikation betreibt 3 . 1914 heißt es in einer Beschreibung<br />
der oberfränkischen Schulen über Redwitz: Bevölkerung meist<br />
Korbmacher und Landwirte; Korbindustrie durch 3 große Firmen vertreten.<br />
4 Und im selben Jahr stellte der Obristfelder Pfarrer das bäuerlich bestimmte<br />
Obristfeld dem industriell geprägten Redwitz gegenüber.<br />
Die Industrialisierung des ritterschaftlichen Dorfes Redwitz im Zeitraum von<br />
etwa 1800 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs soll im folgenden nachgezeichnet<br />
werden, wobei sich besonderes Augenmerk auf die Korbindustrie<br />
richtet.<br />
Das 19. Jahrhundert wurde – lässt man die 1900 veröffentlichten Bilanzen<br />
Revue passieren – geprägt von technischen Neuerungen, von Erfindungen<br />
und Entdeckungen. Diese bestimmten um 1900 auch die Arbeitswelt, nicht<br />
nur in der Industrie. Unmittelbar ursächlich <strong>für</strong> die Industrialisierung waren<br />
sie in unserem Raum freilich nicht; die Korbindustrie etwa ist nicht erst nach<br />
dem Bahnanschluss aufgeblüht.<br />
Recht früh lag Redwitz in der Nähe einer Bahnlinie: 1846 wurde der Ab-
schnitt Lichtenfels – Neuenmarkt der Ludwig-Süd-Nord-Bahn von Lindau<br />
nach Hof eröffnet, und die Station Hochstadt am Main (später „Hochstadt-<br />
Marktzeuln“) war nur wenige Kilometer von Redwitz entfernt.<br />
Die Nebenbahn von Hochstadt über Kronach nach Gundelsdorf wurde 1861<br />
eröffnet und 1863 bis Stockheim, bedeutsam durch seine Steinkohlengruben,<br />
verlängert. Der erste Haltepunkt an der Strecke war, von Hochstadt aus gesehen,<br />
Redwitz.<br />
Ab 1874 verfolgte die bayerische Regierung den Plan, die Bahn bis zur Grenze<br />
fortzubauen, und schloss Verträge mit den angrenzenden Fürstentümern Reuß<br />
und Schwarzburg-Rudolstadt über die Fortführung jenseits der bayerischen<br />
Grenze. 1885 wurde die Strecke Stockheim – Probstzella eröffnet 5 . Bei<br />
Eichicht, südlich von Saalfeld, mündete die neue Bahn in die bestehende<br />
Trasse nach Jena, Halle und weiter nach Berlin. Damit lag Redwitz unmittelbar<br />
an der neuen Magistrale München – Berlin, wenn hier auch nur untergeordnete<br />
Züge hielten. Seit Korbmacher verbilligte Arbeiterfahrkarten lösen<br />
konnten, wurde die Bahn von den nach Lichtenfels oder Kronach liefernden<br />
Korbmachern eifrig benutzt, und mancher Redwitzer, der in der 1901 gegründeten<br />
Porzellanfabrik Hochstadt beschäftigt war – 1912 kam ein Großteil<br />
der 84 Mitarbeiter aus Redwitz 6 –, nutzte vermutlich ebenfalls die Bahn.<br />
Als neue Energieform stand seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Elektrizität zur<br />
Verfügung 7 . Schon 1899 hatte der Mühlenbesitzer Georg Wagner (1831–1900)<br />
den Plan gefasst, in und an meiner Mahlmühle zu Redwitz, Hs. N o 6, eine<br />
elektrische Centrale zu errichten und den Ort Redwitz mit elektrischem Licht<br />
und elektrischer Kraft zu versehen. Zur Erzeugung der Elektricität soll die<br />
meiner Mühle zustehende Wasserkraft des Rodachflußes verwendet werden.<br />
Er starb jedoch bereits am 6. März 1900 8 , so dass er seine Absicht nicht mehr<br />
in die Tat umsetzen konnte.<br />
Einige Jahre später griffen die neuen Eigentümer der Mühle, Hugo Hoschke<br />
und Otto Zinke aus Leipzig, das Projekt auf. Ihre Firma, die Vereinigte<br />
Electricitätswerke u. Maschinenbau Gesellschaft Redwitz a.d.R., kündigte<br />
Anfang 1903 die Gründung einer electrischen Centrale an, die auch<br />
Marktgraitz, Unterlangenstadt, Trainau, Obristfeld und Horb am Main mit<br />
Strom versorgen solle. Bereits im Mai 1903 waren in Redwitz drei Elektromotoren<br />
in Betrieb: 1. Schreinermeister Adam Reh zum Schreinereibetrieb<br />
Günter Dippold<br />
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220 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
(Kreissäge), 2. Gutsbesitzer Paul Gampert zum Oekonomiebetriebe (Futterschneiden),<br />
3. Brauereibesitzer Paul Hanna zum Brauerei- und Oekonomiebetriebe.<br />
Das Bayerische Gewerbemuseum in Nürnberg, die heutige Landesgewerbeanstalt,<br />
gutachtete im Juni 1903, dass sowohl die Stromerzeugungsanlage<br />
als auch das Leitungsnetz in einem Zustande sind, die im Interesse der öffentlichen<br />
Sicherheit als äusserst bedenklich bezeichnet werden müssen. [...]<br />
Zur Zeit ist eine Dynamomaschine in Betrieb, welche durch Wasserräder<br />
angetrieben zum Laden einer aus 66 Elementen bestehenden Akkumulatorenbatterie<br />
dient, von welcher aus elektrische Energie an die Bewohner von<br />
Redwitz abgegeben wird. Im September 1903 stellte ein Ingenieur des Gewerbemuseums<br />
fest, die 66 Hausanschlüsse seien sämmtlich unvorschriftsmäßig<br />
hergestellt, das da<strong>für</strong> verwandte Material sei teilweise äußerst minderwertig.<br />
Wenig später, am 30. Oktober 1903, ging das Elektrizitätswerk in den Besitz<br />
der Firma Electricitätswerke Redwitz a. d. R. F. H. Pülz & Co. 9 über, von der<br />
sie zwei Monate später der Bürgermeister von Redwitz, Bäckermeister Heinrich<br />
Maier, und der Buchhalter Georg Sturm übernahmen. Während Anfang<br />
1904 die Hausanschlüsse keine wesentlichen Bedenken mehr hervorriefen,<br />
erregten das Elektrizitätswerk und die dort beschäftigten Menschen heftige<br />
Kritik beim Gewerbemuseum: Das dortige Personal erscheint zu einem gefahrlosen<br />
Betrieb des Elektrizitätswerkes und zu der unbedingt nötigen Kontrolle<br />
der Hausinstallationen völlig ungeeignet. Die Errichtung der Zentrale<br />
in ihrem jetzigen Zustande muss seitens der Erbauer mit Rücksicht auf die<br />
Gefährdung des Bedienungspersonals als gewissenlos bezeichnet werden.<br />
Die öffentlichen Stellen waren nicht bereit, den jungen Ingenieur Erich Grabs<br />
aus Eberswalde als Betriebsleiter zu akzeptieren. Als die Eigentümer ihn<br />
nicht durch einen erfahreneren Fachmann ersetzten, ordnete das <strong>Bezirk</strong>samt<br />
Lichtenfels am 11. März 1904 die sofortige Betriebsstilllegung an. Eindringlich<br />
widersprachen Maier und Sturm. Ein Stillstand des Werks werde dazu<br />
führen, dass die Akkumulatorenbatterien, mit welchen nur unser gesammter<br />
Betrieb aufrecht erhalten werden kann und die eine geradezu enorme Kapitalsanlage<br />
verschlungen haben, durch den Nichtgebrauch in aller kürzester<br />
Zeit vollkommen betriebsunfähig sein würden.<br />
Doch da technische Mängel erkannt wurden – in jedem Augenblick könnten
sich Brände bezw. Unglücksfälle ereignen, meinte das Gewerbemuseum –,<br />
dauerte es sechs Wochen, bis die Mängel behoben waren und der Betrieb<br />
wieder aufgenommen werden durfte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten Maier<br />
und Sturm bereits Konkurs angemeldet.<br />
Nachdem der Coburger Maschinenfabrikbesitzer Andreas Flocken im März<br />
1905 das Elektrizitätswerk <strong>für</strong> 30 500 Mark ersteigert hatte 10 , arbeitete es,<br />
geleitet von dem erprobten Maschinisten und Monteur Franz Oswald<br />
Hässelbarth aus Debschwitz bei Gera, ohne Probleme. Ab 1911 wird als Eigentümer<br />
Adolf Mittmann genannt, geboren 1866 in Breslau, verheiratet mit<br />
Anna Elisabeth Flocken und bis 1910 in Schöneberg bei Berlin wohnhaft 11 .<br />
Zu den wichtigsten Innovationen des 19. Jahrhunderts gehört die Erfindung<br />
neuer Kommunikationshilfen. Durch den Telegrafen und das Telefon konnten<br />
Nachrichten unabhängig vom Verkehrsnetz gefördert werden. Die Einrichtung<br />
einer Telegrafenstation in Redwitz be<strong>für</strong>wortete die Handels- und Gewerbekammer<br />
<strong>für</strong> <strong>Oberfranken</strong> schon 1871 mit Blick auf die Korbhandelshäuser<br />
in Redwitz 12 . 1873 wurde das Bahntelegrafenamt Redwitz eröffnet 13 .<br />
Lichtenfels war seit 1897 ans Telefonnetz angeschlossen, und laufend wurde<br />
auf Drängen der dortigen Korbhandelshäuser und Speditionen der Kreis<br />
der zu erreichenden Orte erweitert. 1901 forderte die Handels- und Gewerbekammer<br />
<strong>für</strong> <strong>Oberfranken</strong>, in den Korbmacherdörfern, darunter Redwitz,<br />
öffentliche Fernsprechstellen einzurichten, um den Verkehr zwischen den<br />
Industriellen und den Arbeitern zu erleichtern 14 . Doch noch 1905 bestand<br />
eine solche Verbindung nicht 15 ; sie scheint erst kurz darauf geschaffen<br />
worden zu sein.<br />
Die christlichen Einwohner von Redwitz im 18. Jahrhundert waren überwiegend<br />
Bauern, Flößer, Taglöhner und Handwerker. Das Spektrum der Handwerksberufe<br />
in Redwitz war recht breit. Neben Bäckern und Metzgern, <strong>für</strong><br />
die 1721 eine eigene Ordnung erlassen wurde 16 , gab es Maurer, Steinmetze,<br />
Zimmerleute, Schreiner, Büttner, Weber, Schneider 17 . Eine Einwohnerliste<br />
von 1815 führt überdies einen Zinngießer, einen Fischer, einen Schlosser,<br />
einen Musikus und 13 Flößer 18 ; ferner erscheint mit dem Bildhauer Friedrich<br />
Fugmann ein Künstler, von dem Werke in der Andreaskapelle zu Wiesen<br />
bei Staffelstein erhalten geblieben sind 19 .<br />
Günter Dippold<br />
Zum wirtschaftlichen<br />
Profil von Redwitz<br />
im frühen 19. Jahrhundert<br />
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222 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Tuch, Seife, Zündhölzer<br />
– Anfänge der<br />
Industrie<br />
Damit zeigte Redwitz ein fast kleinstädtisches Gepräge, wie es typisch war<br />
<strong>für</strong> ritterschaftliche Orte. Der Ortsadel war bestrebt, die wirtschaftliche Potenz<br />
seiner Herrschaft zu stärken. In den hochstiftischen Dörfern konnte kein<br />
blühendes Wirtschaftsleben entstehen; da<strong>für</strong> sorgten die Städte und die städtischen<br />
Zünfte mit Beschwerden beim Landesherrn, dem Fürstbischof. Gegen<br />
die Konkurrenz, die unter dem Schutz ihres adligen Herren arbeitete,<br />
halfen solche Beschwerden aber herzlich wenig. Diese Betriebsamkeit<br />
ritterschaftlicher Dörfer bildete eine der Wurzeln der Industrialisierung in<br />
den ländlichen Regionen Frankens.<br />
Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung gelang es der Gemeinde Redwitz aber<br />
nicht, das Marktrecht zu erlangen 20 . 1834/35 scheiterte ein derartiger Versuch<br />
am Widerstand der benachbarten Städte und Märkte, voran Marktzeuln.<br />
Allerdings hielt Redwitz zwei Jahrmärkte ab, und ab 1862 fand hier ein Saatfruchtmarkt<br />
statt 21 .<br />
Redwitz war ein recht großes Dorf. Gegen Ende des Alten Reiches zählte<br />
man 105 Häuser. 1818 waren es 126 Wohngebäude, in denen 678 Personen<br />
lebten 22 . Bis in die 30er Jahre wuchs die Bevölkerung weiter, dann sank sie<br />
einige Jahrzehnte lang. Verantwortlich da<strong>für</strong> waren besonders die Auswanderungen<br />
nach Nordamerika. Allein zwischen 1839 und 1843 wanderten 30<br />
Protestanten aus 23 . Ab etwa 1865 stieg die Bevölkerungszahl wieder sehr<br />
rasch bis auf 1054 im Jahr 1885. Danach sank sie 24 ; erst nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg hatte Redwitz wieder mehr als 1000 Einwohner.<br />
Ein Kennzeichen ritterschaftlicher Dörfer ist das Nebeneinander der Konfessionen.<br />
Seit dem 16. Jahrhundert war der überwiegende Teil der Redwitzer<br />
evangelisch. Daneben gab es, namentlich seitdem die gutsherrliche Familie<br />
den katholischen Glauben angenommen hatte, auch Katholiken in Redwitz.<br />
Um 1830 war etwa die Hälfte der Redwitzer evangelisch, ein Viertel war<br />
katholisch. Das restliche Viertel machten die Juden aus 25 .<br />
Ihnen gab das bayerische Judenedikt von 1813 die Möglichkeit, Handwerksberufe<br />
zu ergreifen. In Redwitz blieben die älteren Juden bei ihren angestammten<br />
Handelsgeschäften. Die jüngeren griffen teils bereitwillig nach<br />
den neuen Berufsmöglichkeiten, teils wurden sie von Staats wegen zur Erlernung<br />
von Handwerksberufen oder von Handelsgeschäften mit förmlicher<br />
Buchführung gezwungen. Viele der jungen Redwitzer Juden, die ein Hand-
werk ergriffen, erweiterten ihren Betrieb bald zu Fabriken, zumindest aber<br />
machten sie erste Schritte in diese Richtung. Juden waren in Redwitz der<br />
Motor der Industrialisierung.<br />
Die Grenze zwischen Handwerk und Industrie ist freilich fließend. Kennzeichen<br />
<strong>für</strong> den industriellen Charakter sind die Trennung von Leitung und Produktion,<br />
eine gewisse Größe des Betriebes und hoher Kapitaleinsatz, doch<br />
Zahlen, bei denen Handwerk endet und Industrie beginnt, sind nicht bestimmbar.<br />
Deutlich wird die Problematik anhand der Redwitzer Textilproduzenten. In<br />
den 1820er Jahren hatten mehrere junge Juden die Weberei erlernt und nach<br />
ihrer Rückkehr nach Redwitz ihr Handwerk erfolgreich ausgeübt. So konnte<br />
1831 der in den Ruhestand versetzte Lichtenfelser Landgerichtsassessor<br />
Thomas Rüblein schreiben: einige neue, jüdische Zeugmacher, Wollen- und<br />
Seidenweber zu Redwitz scheinen ihr neues Gewerbe emporzubringen. Sie<br />
sind die ersten im L.-G. 26 , welche spanische Wolle verarbeiten und liefern<br />
schon beliebte Shawls und Damentücher, Westen und andere Zeuge von seidenen<br />
Stoffen, Sommerzeugen und dergleichen 27 . Fünf Juden arbeiteten zu<br />
dieser Zeit als Textilproduzenten in Redwitz: der Strumpfwirker Marx Wald<br />
(1801–1863), der einem Adressbuch von 1858 zufolge eine Strumpfwarenfabrik<br />
betrieb 28 und auf seinem Grabstein als Fabrikant tituliert wird, ferner<br />
die Zeugmacher Michael Schnebel und Moritz Hallo (1804–1855) und die<br />
Seiden- und Baumwollenweber Wolf und Hirsch Kastor.<br />
Als König Ludwig I. von Bayern im Juni 1830 Bamberg besuchte, fand dort<br />
im Zuge der Empfangsfeierlichkeiten eine Gewerbeausstellung statt. Von<br />
Redwitz nahmen zwei Gewerbetreibende teil: die Weber Michael Schnebel<br />
und Wolf Kastor, die dem König und der Öffentlichkeit Schals und Westen<br />
zeigten 29 .<br />
Über Größe und Form dieser beiden Betriebe wissen wir nichts. Waren ihre<br />
Inhaber noch fortschrittliche Handwerker oder schon angehende Industrielle?<br />
Bei einem anderen Textilbetrieb in Redwitz wird man die Frage wohl eher<br />
zugunsten der Industrie beantworten. Als das Patrimonialgericht Schnebel<br />
und Kastor <strong>für</strong> die Bamberger Ausstellung anmeldete, erwähnte es in diesem<br />
Schreiben, es gebe auch noch eine kleine Tuchfabrik hier, die aber zur Zeit<br />
blos ordinaire Tücher liefert 30 . Näheres zu dieser Fabrik erfahren wir von<br />
Günter Dippold<br />
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224 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Landgerichtsassessor Rüblein: Ein Tuchmacher beschäftige schon 4 Gesellen<br />
und 2 Lehrjungen und werde sein Gewerb immer mehr [...] vervollkommen<br />
und zu einer Tuchfabrik [...] erweitern 31 .<br />
Wer der Besitzer war, wissen wir nicht. Wir wissen aus dem Zeitraum von<br />
1834 bis 1842, dass Moritz Hallo und Marx Wald je bis zu drei auswärtige<br />
Gesellen beschäftigten 32 . Dazu kamen sicherlich Arbeitskräfte aus Redwitz.<br />
So arbeiteten bei Marx Wald, dem das Haus Nr. 15 (Gässla 2) gehörte 33 ,<br />
1829 seine beiden kleinen Brüder Meier Löw und Heinrich Wald 34 .<br />
Die Textilhersteller konnten ihre Betriebe nicht oder nur in Ansätzen in Fabriken<br />
umwandeln, und schon um die Jahrhundertmitte sank das Textilgewerbe<br />
in Redwitz zur Bedeutungslosigkeit ab. Einer zog weg; ein zweiter<br />
starb; wieder andere wandten sich anderen, offenbar lohnenderen Berufen<br />
zu: dem Hopfen- und dem Tuchhandel. Der Handel mit auswärts gefertigten<br />
Stoffen war in Redwitz bedeutend und wurde von mehreren jüdischen Familien<br />
betrieben, voran die Gütermann. So besuchte Samuel Marx Gütermann<br />
(1771 - 1841) im Oktober 1833 die Bamberger Messe mit mehr als 33 Zentner<br />
Ware 35 .<br />
Neben den Textilproduzenten fand Landgerichtsassessor Rüblein in Redwitz<br />
nur einen weiteren Gewerbetreibenden bemerkenswert, nämlich einen<br />
Seifensieder und Lichterzieher, der mit mehreren Gesellen und Lehrlingen<br />
arbeitete. Es handelte sich dabei um den 1798 geborenen Seligmann Gütermann,<br />
der 1841 als Seifen- u. Lichterfabrikant bezeichnet wird 36 . Er hatte<br />
um 1835/40 bis zu drei auswärtige Gesellen 37 ; dazu kamen sicher noch einheimische<br />
Arbeitskräfte. Gütermann beschäftigte zeitweilig sogar einen Buchhalter<br />
38 , was auf einen ausgedehnten Geschäftsbetrieb schließen lässt. 1847<br />
verkaufte er sein Haus Nr. 37 (Hauptstraße 3) 39 . Bald darauf zog er wohl<br />
nach Fürth, wo er 1851 lebte 40 .<br />
Wenig später kam aber ein christlicher Seifensieder nach Redwitz: Johann<br />
Georg Dressel (1830–1887) 41 , der im Jahr 1854 das Haus Nr. 49 (Hauptstraße<br />
29) erwarb. Über Dressels Seifen- und Lichterfabrik heißt es in einem<br />
Adressbuch von 1868, sie produziere Kernseife II. Sorte, englische Talgund<br />
englische Seife mit bedeutendem Absaz in Süddeutschland 42 . Daneben<br />
betrieb Dressel einen Kaufladen – ihm gehörte das berühmte Petroleum des<br />
Jahres 1873. Die Seifensiederei führte sein Sohn Konrad Dressel (1861–1904)<br />
weiter. Nachdem dieser kinderlos gestorben war 43 , ließ sein Bruder, der
Eisenhändler und Seifensieder Michael Dressel (1859–1906), 1905 in seinem<br />
Eisenlager zwei Kesselöfen zur Seifenproduktion einrichten; mit ihnen<br />
konnten täglich 5 bis 10 Zentner Seife hergestellt werden 44 . Doch übernahm<br />
sich Dressl damit offenbar finanziell; als er 1906 starb, war der Konkurs<br />
über sein Vermögen verhängt 45 .<br />
1845 erhielten der Arzt Dr. Friedrich Adam Schuster und Ludwig Gantz die<br />
Berechtigung, in der hiesigen Schneidmühle Kreide zu fabrizieren. Die Besitzer<br />
kündigten jedoch an, dies nicht fabrikmäßig betreiben zu wollen 46 .<br />
Im Kataster von 1855 ist als Nebengebäude des Hauses Nr. 9 (Gässla 16) ein<br />
Fabrikgebäude genannt; dabei handelte es sich offenbar um eine Zindholzfabrik.<br />
Das Anwesen gehörte dem Kaufmann Johann Michael Pfeiffer,<br />
der es 1843 von Johann Nepomuk Pfeiffer übernommen hatte 47 und der eine<br />
Specereihandlung betrieb 48 .<br />
Dem Redwitzer Wirt und Schmied Georg Gärtner wurde 1864, gemeinsam<br />
mit vier weiteren Redwitzern, gegen den Willen der Gemeinde der Bau eines<br />
Brauhauses gestattet 49 . 1868 bezeichnete ein Adressbuch Gärtner und den<br />
Redwitzer Brauer Nicolaus Herzog auch als Malzfabrikanten, die Malz <strong>für</strong><br />
Brauereien in guter Qualität lieferten; Gärtner setzte ihn in Süddeutschland<br />
ab, Herzog in den Königreichen Bayern und Sachsen 50 . Wie weit die Malzfabrikation<br />
über den Eigenbedarf hinausging, ist freilich unklar.<br />
Doch ob Malz, Zündhölzer, Kreide, Seife oder Textilien – in keinem Fall<br />
können wir mit Sicherheit von Industrie reden; die meisten Betriebe blieben<br />
wohl ihrem Wesen nach handwerklich strukturiert.<br />
Außer Zweifel steht dagegen der industrielle Charakter der Zuckerfabrik<br />
Redwitz. Oberleutnant Philipp Georg Adam Freiherr von Redwitz zu Wildenroth<br />
wollte seiner unbefriedigenden wirtschaftlichen Lage im März 1836<br />
durch eine wirtschaftliche Unternehmung abhelfen. Er beantragte bei der<br />
Regierung des Obermainkreises, im Schloss Wildenroth eine Rübenzuckerfabrik<br />
einrichten zu dürfen. Doch am 22. Juni wurde sein Antrag abgewiesen,<br />
nicht zuletzt auf Betreiben des Landgerichts Lichtenfels, das den hohen<br />
Holzbedarf einer solchen Fabrik <strong>für</strong>chtete.<br />
Um dieselbe Zeit hatte Karl Sigmund Freiherr von und zu Redwitz (1809–1879)<br />
mit entsprechenden Plänen mehr Erfolg. Seinen Antrag auf Errichtung einer<br />
Runkelrübenzuckerfabrik in Redwitz be<strong>für</strong>wortete der Lichtenfelser Land-<br />
Günter Dippold<br />
Die Zuckerfabrik<br />
Redwitz 51<br />
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226 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Feierabendziegel vom Dach<br />
der Zuckerfabrik (aus der<br />
Ziegelei Schmölz, 1837)<br />
richter bei der Regierung. Dieses Unternehmen, so schrieb der Beamte am<br />
24. Juni 1836, verdient allen Vorschub und ist geeignet, die sehr armen Einwohner<br />
zu Redwitz, von denen außer vier Landwirten und einigen Juden der<br />
größere Teil Tagarbeiter sind, zu beschäftigen.<br />
Den Unternehmern fehlt es weder an BetriebsCapital, noch weniger an<br />
Localitäten. Die großen maßiven Nebenbauten des Redwitzer Schlosses sind<br />
[...] trefflich zu einer Raffinerie und Zuckersiederei geeigenschaftet, die Gutsherrschaft<br />
und ihre Compagnisten besitzen große, zum Rübenbau vollkommen<br />
geeigenschaftete Gründe und bei der Tätigkeit und dem Speculationsgeiste<br />
der Unternehmer läßt sich nur der beste Erfolg erwarten.<br />
Ferner hätten sich die Unternehmer durch einen großen Aufwand das Geheimnis<br />
der schnellsten und billigsten Zuckerbereitung aus der Runkelrübe<br />
angeeignet. Es handelte sich dabei um die lizenzierte Methode der<br />
Quedlinburger Zuckerfabrikanten Zier und Hanewald.<br />
Karl Sigmund von Redwitz wollte sein Unternehmen nicht allein<br />
betreiben; dazu fehlten ihm sicherlich die Mittel. Wie aus dem<br />
Schreiben hervorgeht, hatte er Kompagnons. Die Fabrikgesellschaft<br />
setzte sich wie folgt zusammen: Karl Sigmund von<br />
Redwitz selbst hatte drei Anteile, sein Vetter Georg Carl von<br />
Redwitz zu Unterlangenstadt zwei, Patrimonialrichter Joseph<br />
Dohrer einen, Forstmeister von Wasmer in Guttenberg zwei, ein<br />
gewisser Liebhardt in Bayreuth zwei, Samuel Marx Gütermann<br />
und sein Sohn Koppel je zwei.<br />
Da die Voraussetzungen <strong>für</strong> eine Fabrikgründung gegeben waren,<br />
erteilte die Regierung des Obermainkreises am 3. August<br />
1836 die Konzession zur Errichtung und Betrieb einer Runkelrübenzuckerfabrik.<br />
1837 ging die Gesellschaft an die Errichtung<br />
eines Fabrikgebäudes. Vom Plan, die Fabrik im Schloss<br />
einzurichten, war man abgekommen. Der Fabrikbau kostete die<br />
Gesellschafter mit allem Drum und Dran die stattliche Summe<br />
von 40 000 Gulden.<br />
Das Verfahren zur Gewinnung von Zucker aus Runkelrüben war<br />
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt; 1802 eröffnete die<br />
erste Fabrik in Deutschland. Der Ablauf bei der Zuckerherstellung<br />
ist in groben Zügen folgender: Die Rüben werden ge-
einigt und verkleinert, die Schnitzel gekocht und ausgepresst. Der so gewonnene<br />
Rohsaft wird gefiltert und eingedickt. Viele Runkelrübenzuckerfabriken<br />
in den 1830er Jahren waren kleine, billig einzurichtende Betriebe, die<br />
lediglich diesen sirupartigen Dicksaft produzierten.<br />
In Redwitz dagegen wurde der Dicksaft weiterverarbeitet; durch Eindampfen<br />
und Zentrifugieren erhielt man den Rohzucker. Zur Redwitzer Fabrik<br />
gehörte sogar eine Raffinerie, wo dieser Rohzucker gereinigt und mit Hilfe<br />
von tierischer Knochenasche gebleicht wurde. Die Einrichtung einer<br />
solchen Zuckerraffinerie erforderte kostspielige Apparaturen. An der<br />
Redwitzer Fabrik scheint sogar ein Chemiker, Friedrich Kanzmann, tätig<br />
gewesen zu sein 52 .<br />
Die Redwitzer Fabrik konnte 25 000 bis 30 000 Zentner Rüben in einer<br />
Saison verarbeiten; der Ausstoß hätte dann 1200 Zentner Rohzucker betragen.<br />
Die Raffinerie, die einzige in <strong>Oberfranken</strong>, hatte eine noch größere Kapazität:<br />
Sie sollte in der Lage sein, den Rohzucker aller oberfränkischen<br />
Fabriken zu verarbeiten.<br />
Die Fabrik hatte jedoch große Schwierigkeiten, die benötigten Rohstoffe zu<br />
beschaffen. Die Landwirte standen dem Anbau von Runkelrüben zum Großteil<br />
skeptisch gegenüber; hinzu kam die weitgehende Unerfahrenheit. Eine<br />
gewisse Menge baute die Gesellschaft selbst an. Dies genügte aber nicht. So<br />
schloss die Fabrikgesellschaft Ende 1836 Lieferverträge mit Landwirten aus<br />
der Umgebung und beschaffte ihnen sogar die nötigen Samen zu einem günstigen<br />
Preis. Doch die Hoffnung der Fabrikanten wurde enttäuscht. Statt der<br />
erwarteten 15 000 bis 20 000 Zentner wurden ihnen nur 6000 geliefert; das<br />
ergab 300 Zentner Rohzucker. Ferner hatte man Probleme, die benötigte Menge<br />
von Tierknochen zu beschaffen; man brauchte pro Pfund Zucker immerhin<br />
ein Pfund Asche. Die Kohle zum Betrieb der Raffinerie erhielt man aus<br />
nahegelegenen Gruben; das Holz zur Knochenbrennerei allerdings konnte<br />
die Gesellschaft nur mit großer Mühe kaufen. So verlief das erste Geschäftsjahr<br />
1837 <strong>für</strong> die Fabrikanten enttäuschend.<br />
Deshalb richtete die Gesellschaft im Februar 1838 eine Reihe von Bitten an<br />
die Bayreuther Regierung, die auf die Beschaffung der nötigen Rüben, Knochen<br />
und Holz hinzielten. Darüber hinaus beantragte man ein unverzinsliches<br />
Darlehen von 15 000 Gulden auf 20 Jahre.<br />
Würde die Regierung nicht auf diese Vorschläge und Anträge eingehen, so<br />
Günter Dippold<br />
227<br />
227
228 228<br />
228<br />
228 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
gebe es <strong>für</strong> die Rettung der Redwitzer Zuckerfabrik nur einen Weg: Es müsse<br />
die Erlaubnis gegeben werden, Rohrrohzucker aus Übersee zu einem ermäßigten<br />
Zollsatz zu beziehen und zu raffinieren. Nur so könne die Raffinerie<br />
rentabel betrieben werden.<br />
Die Regierung unterstützte diesen Antrag gegenüber der Generalzolladministration<br />
in München wärmstens: Wirklich zeigte es sich schon nach<br />
einem Jahr, daß bei dem bedeutenden Capitale, welches angewendet worden<br />
war, die Bearbeitung der Runkelrübe allein den zu erwartenden Nutzen nicht<br />
abwarfen. Es hat sich nämlich wie in vielen Orten Bayerns bewiesen, daß<br />
der Bau der weißen schlesischen Runkelrübe [...] dem Boden nicht so angemessen<br />
sei, wie anderwärts, daß die Bauern der Umgebung sie wie allerwärts<br />
Neuerungen schwer annahmen [...], sodaß die Unternehmer der Fabrik<br />
kaum den xten Teil der erwarteten Rübenmenge erhielten. Auch <strong>für</strong> die<br />
nächste Zukunft ist ein Gleiches zu erwarten, sodaß sie geraume Zeit mit<br />
Schaden arbeiten würden. Das einzige Hülfsmittel, um ihre Fabrik nicht ganz<br />
stehen lassen zu müssen, ist nun, mit derselben eine Raffinierung überseeischen<br />
Rohzuckers zu verbinden [...], bis der Bau der Runkelrübe [...] mehr<br />
Eingang in der Gegend gewonnen oder es ihnen gelungen sein wird, Filialenfabriken<br />
bei anderen Gutsbesitzern der Gegend zu errichten.<br />
Der Antrag bei der Generalzolladministration in München war notwendig,<br />
denn <strong>für</strong> Redwitz war eine Sondergenehmigung nötig. Der Deutsche Zollverein,<br />
dem Bayern seit 1833 angehörte, hatte nämlich beschlossen, neu erstandenen<br />
Zuckerraffinerien den Bezug von Rohzucker zu ermäßigtem Zollsatz<br />
– nur dann war dessen Verarbeitung lukrativ – lediglich zu gestatten,<br />
wenn sich diese am Sitz eines Hauptzollamtes oder eines eigens ermächtigten<br />
Zollamtes befanden, oder wenn ihnen der ermäßigte Bezug von Rohzukker<br />
bereits vor 1838 zugesagt worden war. Beides war <strong>für</strong> Redwitz nicht der<br />
Fall; die nächsten Hauptzollämter waren in Bamberg und Kronach.<br />
Deshalb wandte sich die Fabrikgesellschaft im März 1839, als ihre Sache<br />
noch in der Schwebe war, an die Regierung von <strong>Oberfranken</strong> und beschwor<br />
sie, auf eine Genehmigung von Rohzucker mit Zollbegünstigung hinzuwirken.<br />
Sonst müßten wir jetzt schon unser Geschäft aufgeben, und es bliebe<br />
uns nichts übrig, als den Verlust eines Capitals von 50 000 fl zu beklagen. Die<br />
Regierung solle das hiesige folgenreiche Unternehmen nicht in der Geburt<br />
ersticken lassen; die Zuckerfabrik Redwitz werde sonst als ein abschrecken-
des und warnendes Beispiel industrieller Unternehmungen dastehen. Im übrigen<br />
sei zwei unterfränkischen Zuckerfabrikanten der Bezug von Rohzucker<br />
aus Übersee zu ermäßigtem Zollsatz gestattet worden, obwohl dort die Verhältnisse<br />
genauso lagen wie in Redwitz. Und was dem einen recht sei, sei<br />
dem anderen doch wohl billig.<br />
Erst ein halbes Jahr später entschied die Generalzolladministration über das<br />
Gesuch der Redwitzer Zuckerfabrik. Es wurde abgelehnt. Dies traf die Zukkerfabrik<br />
hart, deren Lage sich zusehends verschlechterte. Immer weniger<br />
Rüben wurden geliefert. Deshalb suchte Karl Sigmund von Redwitz nochmals<br />
in einem verzweifelten Schreiben bei der Regierung Hilfe. Er verwies<br />
darauf, 1. daß unsere Fabrik vom nächsten Jahre an stillstehen wird, wenn<br />
wir keine Unterstützung oder kein unverzinsliches Darlehen erhalten, mit<br />
welchem wir im Stande sind, die Oekonomie zu vergrößern, damit wir nach<br />
und nach den Bedarf an Rüben [...] selbst erzeugen; 2. daß in jenem Falle<br />
das ganze Anlage-Kapital verloren ist und mehrere Teilnehmer gänzlich ruiniert<br />
sind; 3. daß mit dem Eingehen der hiesigen Fabrik, auf welche Augen<br />
gerichtet sind und von deren Gelingen die Emporbringung der Runkelrüben-Zuckerfabrikation<br />
in Franken abhängt, sobald keine andere mehr entstehen<br />
wird. Folglich sei es billig, uns mit der Zollbegünstigung oder einer<br />
Geldanhülfe zu unterstützen. Wieder setzte sich die Regierung <strong>für</strong> die Fabrik<br />
ein, wieder kam im März 1840 eine Ablehnung aus München.<br />
Erst nach dreieinhalb Jahren erreichte die Redwitzer Fabrik dank neuer Vereinbarungen<br />
des Deutschen Zollvereins ihr Ziel: Im August 1841 wurde ihr<br />
der Bezug indischen Rohzuckers zum ermäßigten Zollsatz genehmigt. Verbunden<br />
waren damit jedoch einige bürokratische Auflagen. Nach einigem<br />
Hin und Her wurde an Silvester 1841 Karl Sigmund von Redwitz zur Verarbeitung<br />
indischen Rohzuckers förmlich konzessioniert.<br />
Ab 1842 raffinierte die Redwitzer Fabrik also Rüben- und Rohzucker. Aus<br />
den folgenden Jahren ist wenig bekannt. 1843 erbaute die Gesellschaft ein<br />
neues Haus <strong>für</strong> den Faktor 53 , d. h. den Betriebsleiter. Doch schon im November<br />
1844 kam das Aus. Die Runkelrübenzuckerfabrikgesellschaft verkaufte<br />
ihr Fabrikgebäude mit Nebenhäuschen und einige Grundstücke an den Kaufmann<br />
Marx Gütermann 54 . Die Gesellschaft bestand übrigens noch 1851 55 .<br />
Der neue Besitzer der Fabrik, Marx Gütermann, betrieb die Zuckerherstellung<br />
wohl nicht weiter. Jedenfalls wurde die Redwitzer Fabrik 1845 in einer Auf-<br />
Günter Dippold<br />
229<br />
229
230 230<br />
230<br />
230 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Korbindustrie 56<br />
Belegschaft der Firma<br />
Gutmann 1932<br />
zählung der oberfränkischen Zuckerfabriken nicht genannt. Gütermann nutzte<br />
das Fabrikgebäude, das nach Forschungen von Thilo Hanft auf der Freifläche<br />
um die heutige katholische Kirche stand, wohl entweder anderweitig<br />
oder riss es ab.<br />
Die Fabrik, gescheitert vor allem an der Unbeweglichkeit der Behörden wie<br />
der Landwirtschaft, arbeitete nur acht Jahre. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />
von Redwitz hat sie daher nicht merklich beeinflusst.<br />
Den wirtschaftlichen und sozialen Wandel im Redwitz des 19. Jahrhunderts<br />
hat die Korbindustrie herbeigeführt. 1835 notierte der Obristfelder Pfarrer,<br />
Redwitz habe einen leichten Ackerbau und in dem Flößgeschäfte ziemlichen<br />
Erwerb 57 ; die Korbmacherei schien nicht erwähnenswert. 80 Jahre später<br />
berichtete sein Amtsnachfolger, 3 /4 der Gemeindeglieder [seien] industriell<br />
in der Korbmacherei tätig 58 . Redwitz gehörte zu den wichtigsten Korbmacherdörfern<br />
im Dreieck Lichtenfels-Coburg-Kronach.<br />
Korbmacherei lässt sich am Obermain seit Anfang des 17. Jahrhunderts nachweisen.<br />
Einen Aufschwung nahm das Handwerk aber erst um die Mitte des<br />
18. Jahrhunderts. 1770<br />
wurde eine Zunft <strong>für</strong> die<br />
Weißkorbmacher im Amt<br />
Burgkunstadt gegründet,<br />
der allerdings die Flechter<br />
in den ritterschaftlichen<br />
Dörfern wie Redwitz fernblieben.<br />
1807/08 erneuerte<br />
der Landrichter von<br />
Banz die Zunftorganisation,<br />
die nun auch die<br />
Hintersassen der einst<br />
reichsritterlichen Familien<br />
einschloss.<br />
Zur Ausübung des Korbmacherberufes<br />
war bis<br />
1825 eine obrigkeitliche<br />
Konzession notwendig,
die vor allem handwerkliche Fähigkeiten voraussetzte. Man wies diese im<br />
allgemeinen dadurch nach, dass man das Handwerk zunftmäßig erlernte. 1825<br />
wurde das Korbmachen zur freien Erwerbsart erklärt, die jeder Heimatberechtigte<br />
ergreifen konnte, ohne Prüfung seiner fachlichen Qualifikation.<br />
Die Folge hiervon war ein großer Zulauf zur Korbmacherei (besonders als<br />
Nebenberuf). Nach 1834 war die Flechterei im Landgericht Lichtenfels wieder<br />
konzessionspflichtig; gleichzeitig stand sie dennoch allen Heimatberechtigten<br />
offen. Dieser Zwitterzustand führte zum Niedergang der Zunft;<br />
das Handwerk wurde überlaufen.<br />
Seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zogen Korbmacher mit Schubkarren<br />
ohne genau festgelegten Reiseplan über Land, vor allem ins Ausland,<br />
um ihre Ware dort zu verkaufen. Der Kreis der Korbhändler verengte sich im<br />
Laufe einer jahrzehntelangen, quellenmäßig schwer fassbaren Entwicklung,<br />
die der Nationalökonom Emanuel Hans Sax 1888 wie folgt umriss: an die<br />
Stelle eines naiven Hausierer-Kleinverkaufs von meist selbstgefertigen Waaren<br />
durch die Arbeiter selbst trat immer bedeutsamer und ausschließlicher ein<br />
vielgestaltiger spekulativer Großhandel mit fremden Erzeugnissen, die der<br />
berufsmäßige Unternehmer [...] <strong>für</strong> eigene Rechnung vom Kleinmeister übernahm<br />
und fortan kaufmännisch zu vertreiben suchte. Der alte bescheidene<br />
Korbführer starb aus, oder entwickelte sich in einzelnen Begünstigten zum<br />
ansehnlichen Handelsherrn 59 . Diese modernen Korbgroßhändler gründeten<br />
Niederlassungen in europäischen Metropolen. Schriftverkehr und gezielte<br />
Reisen, namentlich zu Messen und Ausstellungen, kennzeichneten ihren Handelsbetrieb.<br />
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich eine klare Scheidung<br />
zwischen Korbmacher und Korbhändler heraus. Der Letztere entwickelte<br />
sich zum Verleger, <strong>für</strong> den oft Hunderte von Korbmachern in Heimarbeit die<br />
Handelsware anfertigten. Die Arbeitsform des Korbmachers änderte sich über<br />
alle wirtschaftlichen Entwicklungen hinweg wenig. Der Korbmacher blieb<br />
formal selbständig, wenn auch vielfache Abhängigkeiten vom Großhändler<br />
bestanden.<br />
In Redwitz wird 1720 der Körbmacher Johann Schmidt erwähnt 60 . In der<br />
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint diese Berufsbezeichnung in<br />
den Kirchenbüchern von Obristfeld nicht. Das heißt freilich nicht, dass es<br />
Günter Dippold<br />
231<br />
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232 232<br />
232<br />
232 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Geschäftshaus der Firma<br />
Samuel Zinn & Co. in<br />
Lichtenfels<br />
Postkarte um 1910<br />
Handelshaus Pauson<br />
(Bildmitte) am Bahnhofsplatz<br />
in Lichtenfels, 1906<br />
damals keine Korbmacher in Redwitz gegeben habe. Betrieb jemand die<br />
Flechterei nur nebenbei, so werden wir kaum erwarten dürfen, einen Hinweis<br />
darauf zu finden.<br />
Denkbar ist beispielsweise, dass Korbmacherei die Winterarbeit der Flößerfamilien<br />
war. Das würde zu einer Notiz aus dem Jahre 1780 passen: Die Korbmacher<br />
außerhalb der Zunft wurden von den <strong>für</strong>stbischöflichen Beamten und<br />
den Zunftmitgliedern als Pfuscher bezeichnet, wie gut ihre Arbeit auch sein<br />
mochte. Und diese Pfuscher betrieben, so heißt es 1780, mit ihren Körben<br />
regen Handel nach Holland. Flößer, die den Rhein hinabfuhren, könnten Körbe<br />
auf ihren Flößen mitgenommen und am Zielort verkauft haben.<br />
Erst um 1800 erscheint wieder ein als Korbmacher bezeichneter Mann in<br />
Redwitz: Lorenz Gagel aus Michelau, der 1799 nach Redwitz geheiratet hatte<br />
61 . In einer Einwohnerliste von 1815 werden bereits drei Korbmacher genannt:<br />
Lorenz Gagel (Haus Nr. 59 / Hauptstraße 46), Peter Martin (Haus Nr.<br />
94 / Am Berg 11) und Georg Ebitsch (Haus Nr. 116 / Gässla 3) 62 .<br />
Weitere Korbmacherfamilien kamen hinzu; Redwitzer ergriffen das damals<br />
zukunftsträchtig erscheinende Handwerk. Auch jüdische Einwohner, die seit<br />
dem Edikt von 1813 Handwerksberufe ausüben durften, ja sollten, wandten<br />
sich der Korbmacherei zu. Bemerkenswert ist, dass christliche Meister jüdische<br />
Lehrlinge und Gesellen ausbildeten und beschäftigten und umgekehrt.<br />
Der erste jüdische Korbmachermeister in Redwitz war Baruch Zinn<br />
(1792–1858), der Stammvater einer bedeutenden Korbhändlerfamilie 63 . Nachdem<br />
er sich 1821 als Meister niedergelassen hatte – ihm gehörte Haus Nr. 13<br />
(Gässla 6) –, begann er 1830 mit Körben zu handeln. Sein 17jähriger Sohn<br />
Carl Zinn reiste 1845, gewiss im Auftrag des Vaters, nach Amerika, um neue<br />
Kunden zu gewinnen.<br />
Weitergeführt wurde das Handelshaus jedoch vom anderen Sohn, Samuel<br />
Zinn, der 1862 an der Weltausstellung in London teilnahm 64 . 1868 heißt es<br />
über die Korbwaarenfabrik von Samuel Zinn & Co., sie liefere Körbe in<br />
ungefähr 10,000 Nummern in Weiden in Verbindung mit Schilf und Esparo 65 ,<br />
sowie in Rohr in Verbindung mit Hanfschnüren, theilweise gebleicht, theils<br />
weiss und bemalt, theils ganz farbig durch Anwendung von Anilin. Die Produkte<br />
gingen nach allen Weltrichtungen 66 .<br />
Zinn verlegte die Firma 1876 nach Lichtenfels, wo er bald darauf am Bahnhofsplatz<br />
Geschäftsbauten errichten ließ. Er galt damals als der wohlhabendste
und hoechstbesteuerte Mann der Stadt 67 . In Lichtenfels verstarb Samuel Zinn<br />
61jährig am 24. April 1887. Das Geschäft ging an seine Söhne Philipp<br />
(1853–1926) und Sigmund (1857–1939) über, beide in Redwitz geboren.<br />
1936 mussten die Zinn den Korbhandel infolge der antisemitischen Hetze<br />
des NS-Regimes schließen.<br />
Ähnlich stellt sich die Geschichte eines anderen großen Redwitzer Korbhandelshauses<br />
dar, der Firma Pauson 68 . Ihr Begründer war Salomon Pausan<br />
(erst seit den 1860er Jahren nennt sich die Familie Pauson). Pausan (1809 - 1869),<br />
als Sohn des Viehhändlers und Schächters Michel Hirsch geboren, arbeitete seit<br />
1840 als Korbmachermeister im Haus Nr. 51 (Hauptstraße 39), handelte aber<br />
auch mit Flechtartikeln, ebenso wie sein Bruder, der Korbmachermeister<br />
Moses Pausan/Pauson (1806–1869).<br />
Salomons Söhne Adolph (1846–1914) und Pankraz Pauson (1852–1910),<br />
führten das Geschäft nach dem Tod des Vaters gemeinschaftlich weiter; ihre<br />
drei Brüder Max, Martin und Herrmann Pauson lebten in den USA 69 . 1880<br />
zogen Adolph und Pankraz Pauson – wie einige Jahre zuvor Zinn – nach<br />
Lichtenfels, erwarben ein Haus am Bahnhofsplatz, in unmittelbarer Nachbarschaft<br />
zu Zinn, und erweiterten es 1881 zu einem prächtigen Geschäftshaus<br />
im neugotischen Stil. Das Gebäude verrät noch heute, wie erfolgreich<br />
auch diese Redwitzer Firma<br />
gewesen sein muss. Adolph<br />
Pauson, der 1907 nach<br />
München zog, war übrigens<br />
ein international anerkannter<br />
Fachmann <strong>für</strong> Weidenanbau<br />
und -verwertung 70 .<br />
1938 löste sich die Firma<br />
Pauson unter dem Druck<br />
der politischen Umstände<br />
auf.<br />
Eine Redwitzer Korbhandelsfirma,<br />
die das Dritte<br />
Reich überstand, sei gleich<br />
an dieser Stelle genannt:<br />
1867 gründete der zwanzig-<br />
Günter Dippold<br />
Belegschaft der Firma<br />
Krötenheerdt ca. 1935<br />
233<br />
233
234 234<br />
234<br />
234 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Schreibbuch von Georg<br />
Harthan. Eintragungen<br />
von 1818 bis 1846/47<br />
jährige Emanuel Gutmann (1848–1909) aus Schwebheim bei Schweinfurt –<br />
mit Jette Pauson (1847–1889), einer Tochter des Korbmachers und Korbhändlers<br />
Moses Pauson und Nichte von Salomon Pauson, verheiratet – ein<br />
Korbhandelsunternehmen71 . Er wohnte und arbeitete zunächst im Haus seines<br />
Schwiegervaters (Nr. 105a / Kirchberg 12). Zehn Jahre darauf erwarb er<br />
von Samuel Zinn dessen Haus Nr. 74 (Am Markt 5) 72 .<br />
Gutmann stellte regelmäßig auf der Leipziger Messe aus und erhielt zahlreiche<br />
Aufträge aus dem Ausland, besonders aus England. Sein Haupthandelsobjekt<br />
waren neben feinen Korbwaren Einkaufskörbe aus Weide und Rohr.<br />
Emanuel Gutmanns Sohn aus zweiter Ehe, Ludwig Gutmann (1891–1936),<br />
mit einer Christin verheiratet, erweiterte die Firma 1926 um den Großhandel<br />
mit Weiden. Bis in unsere Zeit wird das Unternehmen mit großem Erfolg<br />
von der Familie weitergeführt.<br />
Der Gründer eines weiteren Handelshauses war Salomon<br />
A. Gosser (1812–1879), Sohn eines Schnittwarenhausierers.<br />
Er wandte sich ebenfalls dem Schnittwarenhandel<br />
zu, betrieb ihn jedoch – wie das Judenedikt von 1813 vorschrieb<br />
– nicht als Hausierer, sondern ab 1836 in einem<br />
Laden in seinem Haus Nr. 62 (Hauptstraße 36). Schon bald<br />
versuchte er sein Geschäft auszuweiten: 1840 brachte er<br />
von der Leipziger Messe Schuhe mit und verkaufte sie,<br />
worüber sich der Schuhmacher Jakob Pauson erfolgreich<br />
beschwerte73 .<br />
1845 wurde Gosser vom Landgericht Lichtenfels zum<br />
Korbhandel konzessioniert. Die damals bereits schwer<br />
angeschlagene Zunft machte vergebens dagegen Front.<br />
Bis zu seinem Tod betrieb Salomon Gosser, der als sehr<br />
wohlhabender Geschäftsmann galt74 , erfolgreich den<br />
Handel mit Körben und Spezereien. Bereits 1854 erhielt<br />
er bei der Industrie-Austellung in München eine<br />
Ehrenmedaille 74a . 1868 hatte er Korbwaaren jeder Gattung<br />
[...] aus allen bis jetzt bekannten Rohmaterialien<br />
im Angebot; 300 Korbmacher belieferten ihn. Seine<br />
Hauptabsatzgebiete waren Frankreich, England, Amerika<br />
und die dem Zollverein angehörenden deutschen
Staaten 75 . Auf der Wiener Weltausstellung 1873 erhielt er ein Anerkennungsdiplom<br />
76 .<br />
Der Sohn Arnold (1839–1906) erlernte den Kaufmannsberuf wie sein Vater<br />
und machte sich 1867 als Korbhändler in Lichtenfels ansässig, wo er nicht<br />
nur erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch engagierter Kommunalpolitiker<br />
war. Von 1875 bis zu seinem Wegzug nach Nürnberg 1905 war er<br />
Gemeindebevollmächtigter. Dann führte Arnolds Bruder Ludwig Gosser<br />
(1855–1910) die Firma in Lichtenfels weiter; nach seinem Tod ging sie an<br />
die Aktiengesellschaft <strong>für</strong> Korbwaren- und Kinderwagen-Industrie<br />
(Hordeaux-Bergmann) über. Das Haus von Salomon Gosser in Redwitz kaufte<br />
1882 der aus Sonnefeld stammende Kaufmann August Heinrich, 1888 dann<br />
der Lehrer Hermann Krötenheerdt, seinerseits Stammvater einer Korbhändlerfamilie.<br />
Um 1870 hatte der Korbhandel in Redwitz einen denkbar hohen Stellenwert<br />
erreicht; wie die Handels- und Gewerbekammer <strong>für</strong><br />
<strong>Oberfranken</strong> 1872 feststellte, belief sich der geschäftliche<br />
Umsatz in Redwitz allein in Korbwaaren auf eine halbe<br />
Million Gulden 77 .<br />
Allerdings ging die Firma Gosser 1879 mit dem Tod ihres<br />
Begründers ein, und um dieselbe Zeit zogen die beiden bedeutendsten<br />
Korbhandelsfirmen von Redwitz nach Lichtenfels.<br />
Neben verkehrstechnischen Gründen – Lichtenfels war<br />
Sitz großer Speditionen – könnten Motive gesellschaftlicher<br />
Art <strong>für</strong> den Umzug nach Lichtenfels maßgeblich gewesen<br />
sein: Vor allem folgten Zinn und Pauson dem allgemeinen<br />
Trend. Sie erkannten, dass seit etwa 1850 Lichtenfels<br />
auf dem Weg zum Korbhandelszentrum war, und wollten<br />
nicht ins Abseits gedrängt werden.<br />
Den genannten Handelshäusern, zu denen noch die offenbar<br />
kurzlebigen Unternehmungen von Theodor Greif 78 und<br />
August Heinrich 79 kamen, stand nur eine Firma von Bedeutung<br />
in christlicher Hand gegenüber: Harthan. Im Gegensatz<br />
zu jenen drei Firmen war der Harthansche Betrieb bis<br />
zu seiner Auflösung 1953 in Redwitz ansässig. Gründer war<br />
Georg Harthan, geboren 1792, der aus einer Maurerfamilie<br />
Günter Dippold<br />
Eine Seite aus dem<br />
Schreibbuch von Georg<br />
Harthan<br />
235<br />
235
236 236<br />
236<br />
236 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
stammte. In den Kirchenbüchern erscheint er bis 1832 als Korbmachermeister,<br />
erst ab 1834 als Korbhändler. Wir wissen jedoch, dass Harthan schon seit<br />
1818 Korbhandel trieb.<br />
Für die Handelsgeschäfte Harthans steht uns eine überaus aussagekräftige<br />
Quelle zur Verfügung: sein Schreibbuch, ein Geschäfts- und Haushaltsbuch,<br />
das als solches von 1818 bis etwa 1846 in Gebrauch war 80 .<br />
Georg Harthan begann sein Handelsgeschäft 1818 zusammen mit Sebastian<br />
Fischer. Schon im nächsten Jahr handelte er teils zusammen mit Fischer,<br />
teils allein. In Zukunft verlor die Zusammenarbeit mit Fischer immer mehr<br />
an Bedeutung. Ab 1829 scheint er ohne Kompagnon gearbeitet zu haben.<br />
Das Handelsgeschäft warf um diese Zeit beträchtliche Gewinne ab; die Einnahmen<br />
überstiegen die Einkaufs- und Geschäftskosten bei weitem. Die Gewinnsätze<br />
schwankten zwischen 7,3 und 27,2 Prozent.<br />
Um mehrere hundert Gulden Gewinn pro Jahr zu erhalten, investierte Harthan<br />
bei Einkauf und Geschäftsbetrieb alljährlich 2000 bis 5000 Gulden. Dieses<br />
Geld musste er sich oft durch kurzfristige Kredite bei anderen Redwitzern –<br />
Christen und Juden – beschaffen. Der Zahlungsverkehr mit den weit entfernten<br />
Kunden war mühselig und langsam; daher überstiegen die Außenstände<br />
meist 1000 Gulden.<br />
Harthan versandte um 1830 pro Jahr 15 bis 35 Kisten, durchschnittlich etwa<br />
25. 85 bis 90 Prozent dieser Lieferungen gingen nach Wien, die restlichen<br />
nach Graz und Linz. In Wien belieferte Harthan etwa 20 Kunden. Vereinzelt<br />
schickte er Ende der 30er und in den 40er Jahren auch Ware an andere Orte,<br />
so nach Nürnberg, Fürth, Schweinfurt, Zeil, Sassanfarth, Sonneberg,<br />
Kleinschmalkalden und Dresden. Von 1845 datiert die erste Rechnung Harthans<br />
<strong>für</strong> eine Firma in New York. Für Geschäfte mit den USA konnte Georg<br />
Harthan seine dortige Verwandtschaft von Nutzen sein. 1839 war sein Bruder,<br />
der Maurer Georg Heinrich Harthan, ausgewandert und hatte sich in<br />
Cincinnati niedergelassen. Ihm folgte 1840 eine Nichte. 1843 schließlich<br />
ging deren Vater, ein Schwager Georg Harthans, in die Vereinigten Staaten 81 .<br />
Überhaupt waren familiäre Verbindungen in jener Zeit nützlich, da das Netz<br />
der Bankverbindungen sehr weitmaschig war. Harthan erhielt 1834 Zahlungen<br />
von Matthäus Karg in Marktzeuln <strong>für</strong> Lieferungen an seinen Bruder<br />
Georg Karg in Wien und von Margaretha Schmitt in Burgkunstadt <strong>für</strong> ihren<br />
Sohn Joseph im ungarischen Mezökövesd.
Es war unerlässlich, dass der Händler seine Kunden aufsuchte. Georg Harthan<br />
tat dies bis in die 30er Jahre. Dann ließ er reisen, vielleicht weil er 1837<br />
Ortsvorsteher wurde. Das Reisen besorgte nun <strong>für</strong> ihn meist sein Schwager,<br />
der Korbmacher Johann Topf, der da<strong>für</strong> Taglohn erhielt. Bereits als 14jährigen<br />
schickte Georg Harthan seinen Sohn Johann Peter mit dem Onkel auf<br />
Geschäftsreise, um ihn frühzeitig ins Geschäft einzuweisen. Aus dem Jahr<br />
1841 ist ein Pass des 15- bzw. 16jährigen Peter erhalten, mit dem er zweimal<br />
nach Wien reiste. Der Weg führte über Regensburg, Passau und Linz. Es ist<br />
aufgrund dieser Route und aufgrund gewisser Notizen im Schreibbuch zu<br />
vermuten, dass die Ware auf dem Wasserweg nach Wien geschickt wurde.<br />
Georg Harthan führte sein Schreibbuch anscheinend bis kurz vor seinem<br />
Tod 1847. Dann leitete seine Witwe Christiana geb. Martin (1795–1864) den<br />
Betrieb; ihr folgte der älteste Sohn, der bereits erwähnte Johann Peter Harthan<br />
(1825–1897). Unter ihm nahm die Firma an der Wiener Weltausstellung 1873<br />
teil, wo sie ein Anerkennungsdiplom erhielt 82 . Peter Harthans Nachfolger<br />
war sein Sohn Karl Harthan (1869–1957).<br />
Zu den jüdischen Korbhändlern und dem Protestanten Harthan kam noch der<br />
katholische Korbindustrielle Georg Geßlein (1837–1908). Er kaufte 1877 von<br />
Samuel Zinn das Haus Nr.<br />
28 (Kronacher Straße 6) 83<br />
und betrieb hier ein Handelshaus,<br />
das sich ab 1880<br />
nachweisen lässt. In seinem<br />
Todesjahr 1908 verkaufte<br />
er das Anwesen und<br />
zog nach Bamberg 84 .<br />
Das Landgericht Lichtenfels<br />
kannte im Jahr 1855<br />
15 Korbhändler von Bedeutung:<br />
Fünf davon lebten<br />
in Michelau, vier in<br />
Redwitz, nur zwei in<br />
Lichtenfels 85 . 1908 zählte<br />
man im <strong>Bezirk</strong>samt Lichtenfels<br />
32 Korbhandels-<br />
Günter Dippold<br />
Kronacher Straße 6,<br />
bis 1877 im Besitz von<br />
Samuel Zinn, danach<br />
Handelshaus Geßlein,<br />
später Konsum<br />
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238 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Das Bürgerrecht hatte man<br />
nicht automatisch,es musste<br />
verliehen werden<br />
betriebe. Davon waren 14 in Lichtenfels, sieben in Michelau und nur vier in<br />
Redwitz ansässig, und letztere zählten zu den kleineren Unternehmen. Die<br />
14 Firmen in Lichtenfels hatten 273 Beschäftigte, die vier Firmen in Redwitz<br />
nur elf – einschließlich der Inhaber 86 . 1901 betrug der Umsatz der oberfränkischen<br />
Korbindustrie 10 Millionen Mark. Davon fielen 5 Millionen auf<br />
Lichtenfels, auf Redwitz aber nur 150000.<br />
Redwitz war, so können wir zusammenfassend sagen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
einer der Hauptorte des Korbhandels; 50 Jahre später hatte es bestenfalls<br />
noch Bedeutung <strong>für</strong> die engere Umgebung.<br />
Die Zahl der Flechterfamilien im Dorf hingegen stieg. 1866 gab es mindestens<br />
30 Familien hier, welche mit Lehrlingen oder ihren Kindern arbeiten” 87 .<br />
Im Jahr 1905 zählte man in Redwitz 159 Flechter 88 .<br />
Solange sich die Zahl der Korbmacher in Grenzen hielt, hing der Verdienst<br />
vom handwerklichen Geschick des einzelnen und der Konjunktur des gesamten<br />
Wirtschaftszweiges ab. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
war jedoch die Korbmacherei ein überbesetzter<br />
Beruf. Es bestand ein Überangebot an Arbeitskräften.<br />
Dies bot den Händlern, die oft nebenbei einen Material-<br />
und Spezereiwarenladen unterhielten, eine Chance,<br />
ihren Gewinn zu vergrößern. Emanuel Sax hat die<br />
Entwicklung im Rückblick einfühlsam beschrieben: Man<br />
lernte zunächst den Profit an den Weiden schätzen, die<br />
man zu übermäßig hohen Preisen an die hausindustriellen<br />
Arbeiter abgab, ‚sah es dann gerne‘, wenn<br />
diese auch ihren sonstigen Bedarf im Kramladen deckten,<br />
und machte zuletzt, ohne erst viel darüber zu reden,<br />
den Bezug von Weiden und Lebensmitteln zur unerläßlichen<br />
Vorbedingung <strong>für</strong> die Abnahme von Körben und<br />
sonstiger Flechtwaare. 89 Man nennt dieses Geschäftsgebaren<br />
Trucksystem. Das dies in Redwitz praktiziert<br />
wurde, zeigte die Aussage eines Redwitzer Bauern 1855,<br />
in der es heißt: Ich selbst habe gelegentlich im Gosserschen<br />
Laden gehört, daß den Korbflechtern bedeutet<br />
wurde, es würden Körbe nur dann angenommen, wenn<br />
sie an Zahlungs statt Waaren nehmen würden, was die
Arbeiter dann nothgedrungen thun mußten. 90 Auch Samuel Zinn betrieb 1858<br />
neben dem Korbhandel einen Spezereiwarenladen 91 .<br />
Zunächst freilich hing das Gelingen solcher Methoden noch von der Konjunktur<br />
ab. Dazu die Aussage des Ortsvorstehers 1855: Solches Bezahlen<br />
der Waaren geht hauptsächlich zu der Zeit, wo der Handel stockt. Vor zwei<br />
Jahren waren die Korbwaaren sehr gesucht, und da ließen sich’s die Korbmacher<br />
nicht gefallen. 92<br />
Doch je mehr die Zahl der Korbmacher stieg, desto leichter konnten die<br />
Händler die Arbeiter zur Bezahlung mit Material und Lebensmitteln nötigen,<br />
die obendrein oft überteuert waren. Denn der Händler war auf den einzelnen<br />
Korbmacher immer weniger angewiesen.<br />
Beschwerden der Korbmacher bei den Behörden, selbst beim König brachten<br />
wenig Erfolg. Abhilfe schuf erst 1884 eine Korbmacherversammlung in<br />
Schney, die auf Anregung des Nürnberger Sozialdemokraten Karl Grillenberger<br />
(1848–1897) beschloss, einen gewerkschaftsartigen Korbmacher-<br />
Verein zu gründen. An der Versammlung nahmen nur wenige Redwitzer teil;<br />
und auch das Gerücht, in Redwitz solle eine solche Versammlung abgehalten<br />
werden, erwies sich als falsch. Redwitz ist der Platz und die Leut nicht<br />
hiezu, kommentierte der Marktgraitzer Bürgermeister 93 . Als Nationalliberale<br />
standen die meisten Redwitzer Grillenbergers Ideen skeptisch gegenüber.<br />
Dennoch nutzte die Schneyer Versammlung auch den Redwitzern. Auf die<br />
Vereinsgründung hin beschlossen die Korbhändler des <strong>Bezirk</strong>s, die Verhältnisse<br />
selbst verbessern zu wollen. So erklärte Samuel Zinn als erster, daß er<br />
bisher Zucker, Caffee u. Cichorien an Zalungsstatt abgegeben habe, solches<br />
aber <strong>für</strong> die Zukunft unterlassen werde. Die Redwitzer Harthan und Gutmann<br />
hingegen waren zurückhaltend. Schließlich besäßen sie offene<br />
Specereygeschäfte, und es sei unerläßlich [...], daß sie an Korbmacher, wenn<br />
sie ihnen Körbe abliefern, auf deren Verlangen und zu den gewöhnlichen<br />
Ladenpreisen Spezereiartikel an Zalungsstatt abgeben 94 .<br />
Der unmittelbare Truck, das Aufnötigen von Ware statt Geld, ging durch die<br />
Beschlüsse der Korbhändler und durch die strafrechtliche Verfolgung 95 stark<br />
zurück. Aber schon 1888 beklagte das <strong>Bezirk</strong>samt: Direkter Truck ist allenthalben<br />
zurückgegangen, an dessen Stelle ist jedoch in großem Umfang<br />
indirekter Truck dadurch getreten, daß der Arbeiter an Geldesstatt <strong>für</strong> seine<br />
fertige Waare Material annehmen und zu entschieden höherm Preise, als er<br />
Günter Dippold<br />
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240 KAPITEL 9<br />
Industrialisierung im Dorf<br />
Geschäftshaus der Firma<br />
Julius Schwender,<br />
Inh. Georg Schwender, 1938<br />
es bei vollkommen freien oder genossenschaftlichen Ankaufe erhalten würde,<br />
sich anrechnen laßen muß. 96 Es war kein Zufall, dass um 1900 der Hälfte<br />
der Korbfirmen eine Materialhandlung angegliedert war, und manches Unternehmen<br />
zog den größeren Teil seines Gewinns aus letzterer. Erst die Gründung<br />
von Genossenschaften ab 1901 auf Anregung des <strong>Bezirk</strong>samtmanns<br />
Friedrich Edler von Braun entspannte die Situation, indem es nun <strong>für</strong> die<br />
Flechter eine weitere Möglichkeit gab, ihr Material zu beziehen oder sogar<br />
ihre Ware abzusetzen.<br />
Die Behörden ergriffen ferner Maßnahmen, die Lage der Korbmacher zu<br />
verbessern, indem sie die fachliche Aus- und Fortbildung förderten. Seit 1889<br />
war im <strong>Bezirk</strong>samt Lichtenfels ein Wanderzeichenlehrer <strong>für</strong> die Korbmacher<br />
angestellt, der in gewissen Abständen auch in Redwitz lehrte. Seit 1904 besteht<br />
in Lichtenfels die Korbfachschule, die jedoch von den Korbmachern<br />
zunächst recht zögernd angenommen wurde. Der erste Redwitzer, der sie<br />
besuchte, war offenbar ab dem Schuljahr 1912/13 der Korbpackerssohn Ludwig<br />
Müller97 . Der Marktzeulner Bürgermeister und Landtagsabgeordnete<br />
Leonhard Partheymüller hatte 1904 wohl recht, als er nach München schrieb:<br />
Die Ortschaften Marktzeuln, Schwürbitz, Lettenreuth, Marktgraitz, Redwitz,<br />
welche das Hauptkontigent [!] der Korbmacher im <strong>Bezirk</strong>e bilden, stellten<br />
bis jetzt noch keinen Teilnehmer zur Fachschule, vorzugsweise deshalb, weil<br />
der Weg nach Lichtenfels<br />
zu weit mit Unkosten und<br />
Zeitversäumnis verbunden<br />
ist und der ständige Aufenthalt<br />
dortselbst <strong>für</strong> die<br />
beteiligten Schüler zu große<br />
Geldopfer erheischt. 98<br />
Dagegen besuchten die<br />
angehenden Korbmacher<br />
aus Redwitz, aber auch<br />
andere Lehrlinge den vor<br />
Ort stattfindenden Fachzeichenunterricht.<br />
1889<br />
war, um die Fähigkeiten<br />
der Flechter zu heben, ein
Wanderzeichenlehrer angestellt worden, der einmal in der Woche in Redwitz<br />
unterrichtete. Später übernahm dies ein der Korbfachschule zugeordneter<br />
Wanderzeichenlehrer in Küps.<br />
Am Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit<br />
der Korbmacher im Obermaingebiet 15 bis 16 Stunden. An den Liefertagen<br />
wurde, wenn die Lieferung drängt, und am vorhergegangenen Montag<br />
,blau gemacht wurde, oft die ganze Nacht durchgearbeitet. Die Einkommensverhältnisse<br />
hingen von einer Reihe von Faktoren ab: von den Rohstoff-preisen,<br />
von der Nachfrage, von der Begabung und dem Fleiß des einzelnen, von<br />
der Zahl der Arbeitskräfte in der Familie, von der möglicherweise nebenher<br />
betriebenen Landwirtschaft oder Kleintierzucht. Eine Feinflech-terfamilie verdiente<br />
etwa 18 bis 25 Mark wöchentlich, Mustermacher noch mehr, bei Grünund<br />
Weißkorbmachern waren es 10 bis 12 Mark. Zum Vergleich: Ein Fabrikarbeiter<br />
arbeitete 10 bis 11 Stunden pro Tag und erhielt da<strong>für</strong> 7 bis 26 Mark<br />
pro Woche. Der Lohn des einzelnen Fabrikarbeiters kam also annähernd dem<br />
einer Korbmacherfamilie gleich.<br />
Im Ersten Weltkrieg verbesserten sich die Erwerbsverhältnisse der Korbmacher<br />
dank der Heeresaufträge<br />
(Geschosskörbe)<br />
schlagartig. Viele Ungelernte<br />
strömten in den lohnenswertenKorbmacherberuf.<br />
Nach Kriegsende<br />
fielen die Heeresaufträge<br />
weg, das Exportgeschäft<br />
lief aber nur sehr zögernd<br />
an. Die Folge war Arbeitslosigkeit.<br />
Auswirkungen des Arbeitsalltags<br />
auf Lebenshaltung<br />
und Mentalität der<br />
Menschen blieben nicht<br />
aus. Der Obristfelder Pfarrer<br />
Max Sommer beschrieb<br />
1914 das Wesen<br />
Günter Dippold<br />
Georg Schwender 1938. Er<br />
war in der dritten Generation<br />
in Redwitz als Schlossermeister<br />
tätig. Die Firma<br />
bestand seit 1838<br />
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Industrialisierung im Dorf<br />
Am Berg 2<br />
Anwesen der Bäckerei<br />
Räthlein um 1910<br />
seiner Pfarrkinder, wobei er das bäuerliche Obristfeld dem industriellen Redwitz<br />
gegenüberstellte. Die Redwitzer Einwohner charakterisierte er wie folgt:<br />
Die industrielle Bevölkerung hat im allgemeinen einen leichten Sinn. Sie ist<br />
wohl durchschnittlich sehr fleißig, aber auch schnell bereit, den erworbenen<br />
Verdienst alsbald wieder auszugeben. Eine große Vergnügungssucht, gefördert<br />
durch alle möglichen Vereinsfestlichkeiten; ein Bestreben, namentlich<br />
bei der weiblichen Bevölkerung, alles an Putz und Tand zu hängen, ist leider<br />
nicht zu verkennen. 99 Elf Wirte gab es damals in Redwitz. Einige Vereine<br />
müssen dazu herhalten, daß bald in diesem, bald in jenem Wirtshause irgendeine<br />
Unterhaltung oder eine Tanzmusik oder ein Stiftungsfest abgehalten<br />
wird, so daß [...] fast an jedem Sonntag etwas los ist. Leider weiß man da<br />
sehr oft nicht das rechte Ende zu finden und manche arbeiten dann auch am<br />
Montag nichts und bringen ihre Zeit wiederum im Wirtshaus zu. 100<br />
Ferner beklagte der Pfarrer die Spiele in den Wirtshäusern, lobte aber andererseits<br />
die geistige Offenheit der Korbmacher: Durch den fortwährenden<br />
Verkehr mit den benachbarten Städten, in welchen die<br />
Korbmacher ihre Erzeugnisse wöchentlich abliefern, hat<br />
sich der Sinn <strong>für</strong> die außerhalb ihres Heimatdorfes liegende<br />
Welt mit all den Fortschritten der Neuzeit geweitet.<br />
Infolgedessen ist auch der Gesichtskreis ein größerer<br />
und der Geist geweckter, was sich [...] schon bei den<br />
Schulkindern zeigt, die meist eine rasche Auffassungsgabe<br />
besitzen 101 .