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CDA Themen 2013-1

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Karl-Josef Laumann (Hg.)<br />

<strong>Themen</strong><br />

Die Zeitschrift der Christlich-Sozialen<br />

Ausgabe 1/13<br />

<strong>CDA</strong>-Verlagsgesellschaft, Zinnowitzer Str. 1, 10115 Berlin • ISBN-Nr.: 978-3-00-042131-0<br />

Renaissance der Subsidiarität:<br />

Die kleinen Einheiten stärken<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 2


Impressum<br />

<strong>Themen</strong>heft Nr. 1<br />

Die Zeitschrift der Christlichen-Sozialen<br />

Subsidiarität<br />

Berlin, Mai <strong>2013</strong><br />

Redaktion<br />

Martin Kamp, Anselm Kipp, Karsten Matthis<br />

Das <strong>Themen</strong>heft erscheint in unregelmäßigen Abständen.<br />

Herausgeber<br />

Karl-Josef Laumann MdL<br />

<strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender<br />

<strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsstelle<br />

Postfach 040149<br />

10061 Berlin<br />

Telefon: (030) 92 25 11-0<br />

Fax: (030) 92 25 11-21 10<br />

E-Mail: info@cda-bund.de<br />

Grafik: Petra Nyenhuis, Bonn<br />

Druck: Heider Druck GmbH, Bergisch Gladbach<br />

Bilder: Fotolia, Titel/Photo-K, S.15/P. Tilly; S.18/R. Heim; S.25/mankale;<br />

S.37/A. Rodriguez; S.65/G. Sanders; Photocase: S.4/madochab;<br />

S.30/Jenzig71; S.46/P. Naumann; S.63/complize; S.67/markusspiske;<br />

S.70/O. Barmbold; Pixelio: S.9 & 77/D. Schuẗz; S.22/J. Bork; S.33/H.<br />

Lang; S.42 & 73/S. Hofschlaeger; S.52/T. Wengert; S.55/R. Rudolph;<br />

S.60/R.D; C. Ahrens: S.81<br />

Auflage: 2.000 Exemplare<br />

Realisierung<br />

<strong>CDA</strong>-Verlagsgesellschaft GmbH, Berlin<br />

Martin Kamp, Geschäftsführer<br />

ISBN-Nr.: 978-3-00-042131-0


Editorial<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

sehr geehrte Damen und Herren!<br />

„Eine solidarische Gesellschaft steht Hilfsbedürftigen bei, wenn sie<br />

in Not sind. Sie ermächtigt die Hilfsbedürftigen aber vor allem, wieder<br />

für sich selbst zu sorgen.“<br />

Bundespräsident Joachim Gauck<br />

Besser als Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede nach seiner<br />

Wahl vor der Bundesversammlung kann man Subsidiarität<br />

nicht definieren. Jenes Grundprinzip der christlichen Soziallehre<br />

ist für christlich-sozial denkende Menschen maßgeblich und politisch<br />

höchst aktuell. In einer Zeit, in der die einen alles dem freien<br />

Markt und dem Spiel der Kräfte überlassen möchten; und die anderen<br />

alles dem Staat überantworten wollen, tut Subsidiarität unserem<br />

Staat und der Gesellschaft Not. Das vorgelegte Aufsatzheft<br />

regt zum Nachdenken an und will Impulse für die Arbeit vor Ort<br />

geben.<br />

Allen Autorinnen und Autoren sagen wir ein herzliches Dankeschön<br />

für ihre Mitarbeit und Mitwirkung an diesem Startheft.<br />

Danke sagen wir auch für die geschalteten Anzeigen.<br />

Auf die Reaktionen unserer Leserinnen und Leser sind wir gespannt.<br />

Die Redaktion:<br />

Martin Kamp, Hauptgeschäftsführer der Christlich-Demokratischen<br />

Arbeitnehmerschaft<br />

Anselm Kipp, Pressesprecher und gesellschaftspolitischer Referent<br />

Karsten Matthis, Geschäftsführer Stiftung Christlich-Soziale Politik<br />

e.V.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 1


Inhalt<br />

Teilhaben. Mitgestalten. Zusammenhalten – Für eine Politik im Geiste des Subsidiaritätsprinzips<br />

Karl-Josef Laumann MdL, <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender<br />

Subsidiarität: Visionär begründet und fast vergessen – Theologisches Plädoyer für ein christlich-soziales Prinzip<br />

Dr. Dr. Elmar Nass<br />

Über das gute Leben<br />

Dr. Matthias Zimmer MdB<br />

Familien – Keimzellen und Lastesel unserer Gesellschaft<br />

Karl Schiewerling MdB<br />

4<br />

9<br />

15<br />

18<br />

Tarifautonomie – gute Rahmenbedingungen für eine subsidiäre Lohnfindung<br />

Dr. Ralf Brauksiepe MdB<br />

22<br />

Subsidiarität in den Arbeits- und Sozialbeziehungen<br />

Dr. Regina Görner<br />

Infrastruktur für ambulante Pflege – Herausforderung in der alternden Gesellschaft<br />

Willi Zylajew MdB<br />

Die Sozialwahlen legitimieren die Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung<br />

Gerald Weiss<br />

25<br />

30<br />

33<br />

Wie betriebliche Gesundheitsförderung die Psyche im Job schützen kann<br />

Anselm Kipp<br />

Genossenschaften – Relikte des 19. Jahrhunderts oder weltweite Chancen für Selbsthilfe,<br />

Selbstverantwortung und Selbstverwaltung<br />

Josef Zolk<br />

Strom in Bürgerhand<br />

Martin Kamp<br />

37<br />

42<br />

46<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 2


Bilanz nach dem Internationalen Jahr der Genossenschaften –<br />

Ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden des DGRV, Dr. Eckhard Ott<br />

Energiepolitik und Subsidiarität<br />

Dr. Christian Bäumler<br />

Parteien und Ehrenamt<br />

Dr. Markus Gloe<br />

Der Stellenwert des ehrenamtlichen Engagements des Deutschen Roten Kreuz in einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft<br />

Rudolf Seiters<br />

50<br />

52<br />

55<br />

60<br />

Licht ins Dunkel des Schuhkartons bringen<br />

Gespräch mit Joachim Specht und Michael Rother<br />

63<br />

Ehrenamt in der Selbsthilfe – Ein Erfahrungsbericht<br />

Hans-Joachim Schneider<br />

Von Möglichkeiten und Nöten eines Kreistagsabgeordneten<br />

Bernd Schulze-Waltrup<br />

Wenn immer mehr stiften gehen – Die Bedeutung von Stiftungen in der Zivilgesellschaft<br />

Stefanie Wahl<br />

65<br />

67<br />

70<br />

Europa und Subsidiarität<br />

Elmar Brok MdEP<br />

Subsidiarität und internationale Verantwortung<br />

Peter Weiss MdB<br />

73<br />

77<br />

Subsidiarität und politische und soziale Arbeitnehmerbildung<br />

Werner Schreiber<br />

81<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 3


Karl-Josef<br />

Laumann<br />

„Teilhaben. Mitgestalten.<br />

Zusammenhalten.“<br />

Für eine Politik im Geiste des Subsidiaritätsprinzips<br />

1. Lebendige Gesellschaft, funktionierendes Gemeinwesen<br />

Wo weisen wir Bauland aus? Wie können wir eine weiterführende<br />

Schule im Ort halten? Wie viele Kita-Plätze fehlen noch, damit wir<br />

den Rechtsanspruch auf Betreuung für Unter 3-jährige erfüllen? –<br />

Jeden Tag beschäftigen sich Tausende von Menschen in den Stadtund<br />

Gemeinderäten mit diesen und anderen Fragen. Ehrenamtlich,<br />

für eine Aufwandsentschädigung, die kaum der Rede wert ist, verbringen<br />

sie ungezählte Nachmittage und Abende in Rats-, Ausschuss-<br />

und Fraktionssitzungen.<br />

Andere sind im wahrsten Sinne des Wortes zur Stelle, wenn es<br />

brennt – als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren. Wieder andere<br />

engagieren sich als Elternvertreter in der Schule, als Übungsleiter in<br />

Sportvereinen, in Kirchen, in Selbsthilfegruppen, in Eine-Welt-Initiativen<br />

und in vielen anderen Vereinen, Verbänden, Institutionen.<br />

Nicht zu vergessen die vielen Millionen Menschen, die ohne Einbindung<br />

in irgendwelche Organisationen ganz einfach helfen – der<br />

alten Nachbarin, dem Obdachlosen, dem plötzlich verwaisten Kind.<br />

Meist im Stillen, ohne viel Aufhebens darum zu machen.<br />

Auch in unserem Arbeitsleben und in unseren sozialen Sicherungssystemen<br />

gibt es viele Menschen, die sich einsetzen – für Kolleginnen<br />

und Kollegen, für Mitmenschen, für das Gemeinwesen. Etwa<br />

die Betriebsräte, Personalräte und Mitglieder von Mitarbeitervertretungen<br />

sowie Jugend- und Auszubildendenvertretungen; die<br />

Gewerkschafter und Vertrauensleute; diejenigen, die den Selbstverwaltungsorganen<br />

der Sozialversicherungen angehören; die ehrenamtlichen<br />

Arbeits- und Sozialrichter.<br />

Unser Gemeinwesen lebt von diesem Engagement. Nächstenliebe,<br />

Barmherzigkeit und freiwillige Hilfe können eine Politik, die auf<br />

Gerechtigkeit abzielt und strukturelle Ursachen von Ungerechtigkeit<br />

beseitigt, nicht ersetzen. Aber alles der Politik und dem Staat<br />

zu überlassen in der Hoffnung, so ließen sich Wohlergehen und<br />

Glück der Menschen auf geradezu mechanische Weise perfektionieren,<br />

wäre zutiefst unmenschlich. Eine funktionierende Gesellschaft<br />

braucht die konkrete Hilfe von Menschen für Mitmenschen,<br />

das ehrenamtliche Engagement, die Übernahme von Verantwortung<br />

für sich und für andere.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 4


2. Das Subsidiaritätsprinzip<br />

Das christliche Menschenbild, Freiheit und Gerechtigkeit, Solidarität<br />

und Nachhaltigkeit – das alles gehört zu den ethischen Eckpfeilern<br />

unserer Politik. Und ganz wichtig ist für uns Christlich-Soziale<br />

das Subsidiaritätsprinzip. In der Enzyklika „Quadragesimo Anno“<br />

aus dem Jahr 1931 – die wesentlich von dem Nestor der katholischen<br />

Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, verfasst wurde – ist<br />

es definiert:<br />

„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit<br />

seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit<br />

zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen<br />

die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen<br />

leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere<br />

und übergeordneten Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen …<br />

Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung<br />

von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt<br />

also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch<br />

nur umso freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben,<br />

die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen<br />

gewachsen sind.“ (Quadragesimo Anno, 1931, Ziffern 79 f.)<br />

Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Ordnungsprinzip. Aber es hat nicht<br />

allein technisch-organisatorischen Charakter, sondern es gründet<br />

auf dem Kern unseres Menschenbildes: Der Mensch ist Freiheitswesen<br />

und Sozialwesen zugleich. Ihm ist Freiheit geschenkt, er soll<br />

sich selbst entfalten. Aber er ist auch auf Gemeinschaft mit anderen<br />

angelegt. Er entfaltet sich im Zusammenleben und Zusammenwirken<br />

mit anderen. Wir wollen dauerhafte, langfristige Bindungen<br />

und Beziehungen stärken. Denn sie geben Halt und stiften Zusammenhalt.<br />

Wir setzen auf kleine Lebenskreise, weil sie näher an den Bedürfnissen,<br />

Wünschen und Nöten der Menschen sind. Doch wir lassen<br />

den Staat nicht aus der Verantwortung: Größere Einheiten sollen<br />

dort tätig werden, wo die kleinen überfordert sind; und vor allem<br />

sollen sie den Einzelnen und kleine Gemeinschaften befähigen,<br />

Verantwortung zu übernehmen.<br />

Was kleine Lebenskreise regeln, wird nicht nur im Ergebnis vielfach<br />

eher den Menschen gerecht als Regelungen eines anonymen Kollektivs.<br />

Auch der Prozess selbst ist wichtig: Viele Menschen erfüllt<br />

es mit Freude, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.<br />

Partizipation ist ein Wert an sich. Mitmachen, mitgestalten, mitbestimmen<br />

– das macht Spaß!<br />

3. Familie<br />

Eine Politik, die sich am Subsidiaritätsprinzip orientiert, muss zuallererst<br />

die Familien stärken. Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft.<br />

Hier stehen Generationen füreinander überein, übernehmen<br />

Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung. Sie ist<br />

die einzige Gemeinschaft, in der die Zugehörigkeit des Einzelnen<br />

nicht von seiner Leistung und anderen Voraussetzungen abhängig<br />

ist. Auch Familien sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen.<br />

Auch Familie ist keine reibungslose Idylle. Auch in ihr gibt es<br />

Spannungen und Konflikte. Auch Familie kann scheitern. Und doch<br />

kann die Bedeutung von Familien kaum überschätzt werden. Sie<br />

geben Geborgenheit. In Familien wird Sozialverhalten eingeübt.<br />

Gesellschaft gelingt, wenn Familien gelingen. Und wo Familie<br />

scheitert, bedeutet das nicht nur persönliches Unglück. Sondern<br />

die Gesellschaft hat die Folgekosten zu tragen – die rapide wachsenden<br />

kommunalen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe<br />

zeugen davon.<br />

Gerade deshalb betrachten wir Christlich-Soziale nicht nur das Individuum<br />

auf der einen und den Staat auf der anderen Seite. Weder<br />

Individualismus und „Laissez-faire“-Liberalismus noch Kollektivismus<br />

und Zentralverwaltungswirtschaft werden dem Menschen<br />

gerecht. Stattdessen wollen wir eine lebendige, bunte Gesellschaft.<br />

Zu unserem Bekenntnis zur Familie gehört das Bekenntnis zur Ehe,<br />

die unser Grundgesetz in Artikel 6 nicht ohne Grund – neben der<br />

Familie – unter den besonderen Schutz des Staates stellt. Wir stehen<br />

daher zum Ehegattensplitting. Wenn zwei Eheleute auf Dauer<br />

füreinander einstehen, so müssen sie steuerlich anders behandelt<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 5


werden als zwei Individuen, die lediglich in einer Wohngemeinschaft<br />

zusammenleben.<br />

Wir wollen die Rahmenbedingungen für Familien weiter verbessern<br />

– dafür, den immer wieder von einer großen Mehrheit der jungen<br />

Generation artikulierten Kinderwunsch verwirklichen zu können;<br />

dafür, dass Familie gelingt. Grundlegend dafür, dass Menschen<br />

sich für Kinder entscheiden, ist Sicherheit – auch materielle Sicherheit,<br />

deren Grundlage für die allermeisten Menschen gute, anständig<br />

bezahlte Arbeit ist. Deshalb ist es schon aus familienpolitischen<br />

Gründen ein Skandal, dass jede zweite Neueinstellung befristet erfolgt<br />

und mehr als ein Fünftel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich<br />

arbeiten.<br />

Zu guten Rahmenbedingungen für Familien gehört auch die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf. Hier gefragt sind insbesondere<br />

Arbeitgeber bzw. Sozialpartner: Vor allem durch eine kluge Arbeitszeitpolitik<br />

müssen sie ihren Beitrag dazu leisten, dass die Arbeitswelt<br />

familiengerecht ist.<br />

Unser Leitbild ist Wahlfreiheit. Wenn Eltern sich dafür entscheiden,<br />

dass beide Elternteile berufstätig sind, ist das ebenso zu respektieren<br />

wie die Entscheidung dafür, dass ein Elternteil zugunsten der<br />

Kindererziehung (zeitweise) nicht berufstätig ist.<br />

Deshalb brauchen wir ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuungsplätzen;<br />

in diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, dass<br />

der Bund den Ausbau der Betreuungseinrichtungen für Unter-<br />

3-jährige zu mehr als einem Drittel finanziert hat. Deshalb brauchen<br />

wir aber auch weiterhin steuerliche Entlastungen und gezielte<br />

finanzielle Hilfen für Familien; hier ist die Erhöhung von Kinderfreibeträgen<br />

und Kindergeld in dieser Wahlperiode zu nennen.<br />

Die Ergänzung des Ehegattensplittings um ein Familiensplitting –<br />

das freilich so ausgestaltet sein müsste, dass auch Geringverdienende<br />

davon profitieren – könnte ein nächster Schritt sein.<br />

Und insbesondere brauchen wir echte Toleranz für die unterschiedlichen<br />

Entscheidungen, die Eltern treffen. Dazu gehört verbale Abrüstung!<br />

Kampfbegriffe wie „Rabenmutter“ auf der einen Seite<br />

und „Herdprämie“ auf der anderen Seite werden dem Anspruch<br />

der Wahlfreiheit jedenfalls nicht gerecht.<br />

4. Arbeit, soziale Sicherung und Mitbestimmung<br />

Seinen Lebensunterhalt durch seiner Hände Arbeit zu verdienen<br />

und deshalb gerade nicht auf staatliche Transferleistungen angewiesen<br />

zu sein: Auch das entspricht dem Geist des Subsidiaritätsprinzips.<br />

Deswegen muss der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen<br />

für eine gerechte Entlohnung weiterentwickeln: Ergänzend<br />

zum tarifvertraglichen Schutz benötigen wir einen Mindestlohn,<br />

der – wiederum im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – von den<br />

Sozialpartnern (und nicht vom Staat) festgelegt werden sollte.<br />

Wir brauchen aber mehr als nur einen Mindestlohn. Unser Leitbild<br />

ist das dauerhafte Zusammenwirken von Menschen in einem Unternehmen.<br />

Dazu gehört das unbefristete Beschäftigungsverhältnis.<br />

Arbeit hat eine Würde. Sie hat Vorrang vor dem Kapital. Damit<br />

ist unvereinbar, sie lediglich wie eine Ware zu behandeln, Produktionsfaktoren<br />

auftrags- und projektbezogen fallweise zusammenzustellen<br />

und anschließend wieder abzustoßen und zu diesem<br />

Zweck vor allem auf Leiharbeit, Outsourcing, Werkverträge sowie<br />

Solo- und Scheinselbständige zu setzen.<br />

Unternehmen sollen sich an Arbeitnehmer binden. Deshalb gehört<br />

die sachgrundlose Befristung auf den Prüfstand. Deshalb brauchen<br />

wir endlich flächendeckend „gleichen Lohn für gleiche Arbeit am<br />

gleichen Ort“, so dass sich der Einsatz von Leiharbeit als Kostensenkungsinstrument<br />

nicht mehr lohnt. Deshalb brauchen wir eine<br />

verpflichtende soziale Absicherung für Soloselbständige. Und deshalb<br />

müssen wir den missbräuchlichen Einsatz von Werkverträgen<br />

bekämpfen, zum einen durch mehr Kontrollen, zum anderen durch<br />

mehr Mitbestimmung der Betriebsräte.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 6


Wir müssen das dauerhafte Arbeitsverhältnis stärken – vor allem<br />

um der Betroffenen willen, aber auch, weil prekäre Beschäftigung<br />

Aufstocker und Transferempfänger produziert. Wenn totale Flexibilisierung<br />

dauerhafte Bindungen, bewährte Institutionen und<br />

kleine Lebenskreise zerstört, so führt das am Ende nicht zu weniger,<br />

sondern zu mehr Staat. Und die besondere Pointe ist ja, dass sich<br />

Radikalliberale und ganz Linke nicht selten in ihren Forderungen<br />

treffen – etwa in ihrer Forderung nach einem wie auch immer gearteten<br />

(bedingungslosen) Grundeinkommen. Ein solches Grundeinkommen<br />

würde Arbeit und Einkommen entkoppeln und wäre<br />

damit ein Schlag ins Gesicht des Subsidiaritätsprinzips.<br />

Wir brauchen kein Grundeinkommen und keinen allmächtigen Verteilungsstaat,<br />

sondern soziale Sicherungssysteme, die subsidiär tätig<br />

werden – und in denen Menschen, wo immer möglich, durch eigene<br />

Beiträge Ansprüche erwerben. Arbeitnehmer und Rentner<br />

sollen ihrem Staat auf Augenhöhe gegenübertreten können – und<br />

nicht als Bittsteller, denen gönnerhaft Leistungen gewährt werden.<br />

Die Sozialversicherungen in unserem Land werden dem gerecht.<br />

Freilich bedarf es nun einiger Weichenstellungen, damit das auch<br />

auf Dauer so bleibt. Denn das durch die Dämpfungsfaktoren in der<br />

Rentenformel bewirkte Sinken des Rentenniveaus führt zu neuen<br />

Herausforderungen: Menschen, die ein Leben lang zu einem vergleichsweise<br />

geringen Lohn gearbeitet und Beiträge gezahlt haben,<br />

kommen unter Umständen kaum noch auf eine Rente oberhalb<br />

der Grundsicherung bzw. der Sozialhilfe. Sie landen damit in<br />

staatlicher Abhängigkeit – und das hat mit Subsidiarität nichts<br />

mehr zu tun. Vor diesem Hintergrund sind Maßnahmen erforderlich,<br />

die sicherstellen, dass auch Geringverdienende eine Rente<br />

oberhalb der Grundsicherung erhalten, wenn sie ein Leben lang<br />

vollschichtig gearbeitet haben. Deshalb plädiere ich seit langem<br />

für eine Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Genauso<br />

dringlich ist eine deutliche Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes.<br />

Seit rund zehn Jahren sinken die Zahlbeträge der<br />

Erwerbsminderungsrenten. Keine 600 Euro monatlich sind es bei<br />

Neurentnern im Durchschnitt. Die gesetzliche Rentenversicherung<br />

– die Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Invaliditätsversicherung<br />

gegründet worden ist – bietet heute keinen hinreichenden<br />

Erwerbsminderungsschutz mehr. Weil das Invaliditätsrisiko privat<br />

nur schwer (und für viele gar nicht) versicherbar ist, sind viele wiederum<br />

auf Transferleistungen, also Grundsicherung, angewiesen.<br />

Schon heute bezieht jeder zehnte Erwerbsminderungsrentner ergänzend<br />

Sozialhilfe. Deshalb müssen wir gegensteuern – nicht nur,<br />

indem wir die Zurechnungszeiten ausweiten, sondern auch, indem<br />

wir die Abschläge in ihrer heutigen Form abschaffen.<br />

Subsidiäre Sozialversicherungen tragen durch Prävention und Rehabilitation<br />

auch dazu bei, dass der „Schadensfall“ möglichst nicht<br />

eintritt bzw. Versicherungsleistungen in möglichst geringem Umfang<br />

in Anspruch genommen werden müssen. Dazu gehören die<br />

Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, die betriebliche<br />

Gesundheitsförderung der Krankenkassen, die Reha-Leistungen<br />

der Rentenversicherung und die Förderung der Weiterbildung<br />

durch die Arbeitslosenversicherung. Und subsidiäre Sozialversicherungen<br />

sind eben nicht staatliche Vollzugsorgane, sondern<br />

Institutionen mit Selbstverwaltung durch Versicherte und Arbeitgeber.<br />

Prävention, Rehabilitation und Selbstverwaltung: Auch das<br />

müssen wir stärken.<br />

Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist Ausdruck gelebter<br />

Sozialpartnerschaft – so wie die Tarifautonomie und die Mitbestimmung.<br />

Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Mitbestimmung<br />

sollen nicht Konflikte zwischen Kapital und Arbeit zukleistern;<br />

sie sind mitnichten Schönwetterveranstaltungen. Aber wir<br />

Christlich-Soziale sind niemals dem Glauben erlegen, durch Klassenkampf<br />

oder staatliche Kollektivierung würden die Probleme der<br />

arbeitenden Menschen gelöst. Gerade im Interesse der Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer bedarf es differenzierter Regelungen,<br />

Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen und damit eines zutiefst<br />

subsidiären Ansatzes in den Arbeitsbeziehungen.<br />

Daher wollen wir die Tarifautonomie stärken – auch durch eine Erleichterung<br />

der Allgemeinverbindlicherklärung. Und deshalb bekennen<br />

wir uns nicht nur zur Mitbestimmung am Arbeitsplatz, zur<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 7


Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte und zur Unternehmensmitbestimmung<br />

in Aufsichtsräten. Sondern wir wollen<br />

die Mitbestimmung ausweiten. Konkret setzen wir uns dafür ein,<br />

den Betriebsräten ein echtes Mitbestimmungsrecht beim Einsatz<br />

von Leiharbeit und Werkverträgen zu geben. Leiharbeit und Werkverträge<br />

müssen weiter reguliert werden. Staatliche Regelungen<br />

zu treffen, die für alle Unternehmen passend sind, ist aber schwer.<br />

Deshalb spricht vieles dafür, den Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen<br />

in die Mitbestimmung zu geben. Kein Betriebsrat wird<br />

die Vergabe eines Werkvertrages, der in der Sache gerechtfertigt<br />

ist, torpedieren. Aber jeder Betriebsrat wird Werkverträge, deren<br />

einziges Ziel es ist, Stammpersonal zu ersetzen und Arbeitsbedingungen<br />

zu verschlechtern, verhindern. Und das zu Recht!<br />

5. Handlungsfähige Kommunen, handlungsfähiger Staat<br />

Christlich-Soziale stehen zum Föderalismus. Insbesondere die kommunale<br />

Selbstverwaltung hat für uns einen äußerst hohen Stellenwert.<br />

Gute Kommunalpolitik stellt vor Ort für die Menschen<br />

nicht nur Infrastruktur und öffentliche Güter bereit, sondern sie<br />

schafft auch öffentliche Räume. Und mehr noch: Sie schafft ein<br />

Stück Heimat.<br />

Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips betonen wir die Bedeutung dezentraler,<br />

lokaler Entscheidungen. Vor Ort werden Bürgernähe und<br />

Bürgerbeteiligung gelebt. Deswegen treten wir für eine Stärkung<br />

der Autonomie und der Handlungsspielräume der Kommunen ein.<br />

Dazu zählt nicht nur formale Zuständigkeit, sondern auch faktische,<br />

fiskalische Handlungsfähigkeit. Die ist aber vielfach nicht<br />

mehr gegeben. So zeigt eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />

Ernst and Young aus dem November 2012, dass fast jede<br />

zweite deutsche Kommune in den vergangenen drei Jahren ein<br />

Haushaltssicherungskonzept verabschieden musste. Vielen Kommunen<br />

fällt es schwer, ihren Pflichtaufgaben nachzukommen.<br />

Noch schwerer fällt es ihnen, freiwillige Leistungen zu übernehmen.<br />

Und das, wo doch gerade auf lokaler Ebene mit geringer öffentlicher<br />

Förderung großes zivilgesellschaftliches Engagement<br />

ausgelöst oder abgesichert werden kann.<br />

Die christlich-liberale Koalition hat die Kommunen auf unterschiedliche<br />

Weise entlastet; an erster Stelle ist hier die volle Übernahme<br />

der Kosten der Grundsicherung und bei Erwerbsminderung<br />

zu nennen. Leider lassen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen<br />

viele Kommunen im Stich. Nach meiner Auffassung ist es unerlässlich,<br />

die Finanzkraft der Kommunen weiter zu stärken – und das<br />

Konnexitätsprinzip strikt einzuhalten: Wer die Musik bestellt, muss<br />

sie auch bezahlen.<br />

Verkehrsinfrastruktur, öffentliche Güter, Bildung, sozialer Ausgleich:<br />

Nicht nur die Kommunen, sondern die öffentliche Hand insgesamt<br />

muss angemessen ausgestattet sein, um ihre wichtigen<br />

Aufgaben wahrnehmen zu können. Zugleich muss es Anreize zu<br />

sparsamem Wirtschaften geben. Völlig unverantwortlich ist eine<br />

Verschuldungspolitik auf dem Rücken unserer Kinder und Enkel.<br />

Doch auch ständiges Drehen an der Steuerschraube ist – bei allem<br />

berechtigten Eintreten für eine solide Einnahmebasis des Staates<br />

– nicht vertretbar.<br />

So kommt es nicht nur auf einen effizienten Einsatz öffentlicher<br />

Mittel an. Sondern wir müssen ständig aufs Neue die Frage beantworten,<br />

was Aufgabe des Staates, was Aufgabe der kommunalen<br />

Selbstverwaltung, was Sache der Zivilgesellschaft ist. Ich bin davon<br />

überzeugt: Das Subsidiaritätsprinzip ist dabei ein guter Kompass.<br />

Karl-Josef Laumann, Jg. 1957, MdL, Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft<br />

Deutschlands, Fraktionsvorsitzender der CDU NRW und Mitglied des<br />

Präsidiums der CDU Deutschlands<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 8


Dr. Dr.<br />

Elmar<br />

Nass<br />

Subsidiarität: Visionär begründet<br />

und fast vergessen<br />

Theologisches Plädoyer für ein christlich-soziales Prinzip 1<br />

Sozialistische Parteien meiden heute den Subsidiaritätsbegriff deshalb,<br />

um ihre angemaßte Deutungshoheit über Solidarität und soziale<br />

Gerechtigkeit zu zementieren. Denn Subsidiarität als Sozialprinzip<br />

entstammt ja einer christlichen Tradition in ausdrücklicher<br />

Opposition zum Sozialismus. Die Liberalen wiederum als vermeintliche<br />

Anwälte von Eigenverantwortung und Leistung wittern bei<br />

diesem Begriff die Verwässerung der von ihnen gehüteten Freiheit<br />

mit christlich-sozialen Ideen. Im vielseitigen Ausschweigen der Subsidiarität<br />

zeigt sich das alte Dilemma im Gegeneinander von Sozialismus<br />

und Liberalismus, denen christliche Sozialethik den inzwischen<br />

ziemlich vernebelten Dritten Weg einfordert. Spannend zur<br />

Bewertung der Gegenwart ist die ursprüngliche Einbettung des<br />

Subsidiaritätsprinzips in die katholische Vision einer Gesellschaftsordnung,<br />

die wie sie selbst inzwischen weitgehend vergessen ist.<br />

Was ist eigentlich Subsidiarität?<br />

Zunächst ein Blick auf das, was das Sozialprinzip Subsidiarität bedeutet.<br />

Sozialprinzipien sind Instrumente zur gesellschaftlichen<br />

Verwirklichung der Menschenwürde und damit der sozialen Werte<br />

wie Freiheit und Gerechtigkeit, wobei auch Frieden und die Bewahrung<br />

der Schöpfung dazu gezählt werden. Es gibt drei Sozialprinzipien:<br />

Personalität macht den Dreh- und Angelpunkt der Sozialethik<br />

in der geforderten Entfaltung des Menschen als Person fest. Jede<br />

Bewertung sozialer Gerechtigkeit muss sich daran orientieren, ob<br />

das menschliche Zusammenleben so organisiert ist und sich so in<br />

der Wirklichkeit darstellt, dass jeder Mensch seine Freiheits- und<br />

seine Sozialnatur entfalten kann. Solidarität und die Subsidiarität<br />

sind Rechtsprinzipien. Das heißt: Aus ihnen folgen unmittelbar juristisch<br />

einklagbare Rechte und Pflichten. Beide Rechtsprinzipien<br />

sind untrennbar miteinander verbunden. Solidarität meint in diesem<br />

Sinne keineswegs das Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen,<br />

sondern den unbedingten Rechtsanspruch bedürftiger Menschen<br />

auf eine Unterstützung durch die Solidargemeinschaft und<br />

damit die Rechtspflicht der Starken zu einer solchen Hilfe. Das Subsidiaritätsprinzip<br />

ist weniger populär. Das lateinische Wort subsidium<br />

kann mit „Hilfe“ übersetzt werden. Zur Erklärung des Subsi-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 9


diaritätsprinzips halte ich es mit Oswald von Nell-Breuning: „Man<br />

soll die Kirche nicht aus dem Dorf tragen.“ Zuerst übernimmt immer<br />

die kleinere Einheit die ihr mögliche Verantwortung. Erst wenn sie<br />

ihre Aufgabe nicht mehr schafft, tritt die Hilfe der nächstgrößeren<br />

Einheit ein. Subsidiarität betont die Verpflichtung zur Übernahme<br />

von Eigenverantwortung und damit auch das Recht der Starken,<br />

ihre Hilfe einzustellen, wo die Schwächeren wieder in der Lage sind,<br />

sich selbst zu helfen.<br />

Die Idee der Subsidiarität hat drei Facetten: Größere institutionelle<br />

Gebilde (etwa der Staat) dürfen nicht Kompetenzen an sich ziehen,<br />

die kleinere Gebilde (etwa Familien) eigenverantwortlich leisten<br />

können (subsidiäre Kompetenz). Größere Gebilde sollen solche Kompetenzen<br />

übernehmen, die die kleineren, in Not geratenen Gebilde<br />

in die Lage versetzen, wieder eigenverantwortlich agieren zu können<br />

(subsidiäre Assistenz). Die subsidiäre Assistenz schließlich versteht<br />

sich als die Hilfe zur Selbsthilfe, die dann endet, wenn die kleineren<br />

Gebilde wieder eigenverantwortlich agieren können (subsidiäre Reduktion).<br />

Also: Zuerst kommt Selbstverantwortung, dann die Familie,<br />

dann die Gemeinde, dann etwa der Staat. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

Sie endet, wo die Befähigung wieder hergestellt ist. So ist etwa die<br />

Erziehung natürliche Aufgabe der Familien. Öffentliche Ämter treten<br />

erst dann auf den Plan, wenn Familien überfordert sind.<br />

Ökumenisches Fundament im Menschenbild des Christentums<br />

Soziale Werte und Prinzipien sind nicht das Ergebnis demokratischer<br />

Abstimmungen oder anderer politischer Setzungen. So leitet<br />

sich auch das Subsidiaritätsprinzip aus dem Menschenbild ab und<br />

gilt deshalb aus christlicher Sicht zeitlos und universal. Das ist heute<br />

keineswegs selbstverständlich. In das Vakuum zur Begründung gesellschaftlich<br />

relevanter Werte und daraus abgeleiteter sozialethischer<br />

Prinzipen sind inzwischen verschiedene utilitaristische oder<br />

kollektivistische Ethiken eingetreten. Eine solche massiv voranschreitende<br />

Entfremdung der Ethik von christlichen Wurzeln fordert<br />

die evangelische und katholische Sozialethik gleichermaßen heraus,<br />

Begründung und Inhalt ihrer im Verhältnis von Gott, Schöpfung<br />

und Mensch begründeten Normativität neu zu bedenken.<br />

Die christliche Tradition erkennt den wahren Menschen in Jesus<br />

Christus als das Menschenbild des Christentums. Wichtig für ein<br />

ökumenisches Profil in aktuellen sozialethischen Diskursen ist die<br />

Einigkeit darüber, dass das christliche Menschenbild unvereinbar<br />

mit einem sich immer wieder neu definierten Wesen des Menschen<br />

und deshalb immer wieder relativierten Rechten und Pflichten<br />

ist. Es gilt als die Grundlage zur christlichen Begründung der<br />

Sozialprinzipien. 2 Danach ist der Mensch als Gottes Ebenbild von<br />

Natur aus Person und kein Produkt des Zufalls. Er ist Sozialwesen,<br />

letztlich begründet aus seiner Beziehung zu seinem Schöpfer und<br />

der praktizierten Liebe Jesu Christi. Eigenwohl und Gemeinwohl<br />

bedingen einander. Zu unserem Wesen gehören auch die im Sündenfall<br />

begründete Fehlerhaftigkeit und Schwachheit, die den<br />

Menschen zum Egoismus verleitet. Wo es um das Humane geht,<br />

müssen sie mitgedacht werden. Der Mensch weist aber auch über<br />

sich hinaus. Das ermutigt zu Gelassenheit gegenüber irdischen<br />

Heilsprophetien. Eine solche Perspektive sollte Christen vor den<br />

Fängen vergänglicher Ideologien bewahren. Dem Menschen wohnen<br />

Zielbestimmung und Hoffnung inne, den Ruf Gottes zu hören<br />

und sein Wesen zu realisieren. Er hat ein Gewissen und einen freien<br />

Willen. Freiheit heißt immer auch Verantwortlichkeit. Die Freiheit<br />

ist rückgebunden an die Grundwerte von Gott gegebener Wahrheit<br />

und Gerechtigkeit sowie an die Grundprinzipien von Solidarität<br />

und Subsidiarität. Hieraus ist auch die geforderte Motivation zur<br />

Leistung abzuleiten.<br />

Diese Vorstellung vom Menschen bezeichnet das christliche Humanum.<br />

Es ist das ökumenisch konsensfähige Kriterium für ethische<br />

Bewertungen gesellschaftlicher Zusammenhänge. Wenn der<br />

Mensch seine individuelle Freiheit (Kreativität und Phantasie, Fleiß<br />

und Ehrgeiz) und seine soziale Veranlagung (Freundschaft, Partnerschaft,<br />

Familie), seine Eigen- und Sozialverantwortung entfalten<br />

kann, lebt er seiner Bestimmung entsprechend. Ist dieses humane<br />

Ziel erreicht, lebt der Mensch sein Personsein. Dazu gehören<br />

zeitlos gültige Abwehrrechte jedes Menschen wie Lebensschutz,<br />

Religionsfreiheit, Pressefreiheit (so genannte negative Freiheit) sowie<br />

soziale Befähigungsrechte wie die auf Gesundheit, Kleidung,<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 10


Bildung (so genannte positive Freiheit). Den zeitlos gültigen Rechten<br />

stehen die zeitlos gültigen Pflichten gegenüber, etwa die durch<br />

die Subsidiarität geforderte Pflicht, seine Kreativität zum Wohl der<br />

Gemeinschaft einzubringen. Wo der Mensch daran gehindert ist,<br />

entsprechend seiner physischen, psychischen und geistigen Möglichkeiten<br />

seine Bestimmung zu entfalten, liegt ein Verstoß vor gegen<br />

das „Prinzip der zentralen Stellung der menschlichen Person“<br />

(CiV 47).<br />

Die Sozialprinzipien erklären also Gesetze, Regeln und Normen<br />

nicht für gerecht, weil sie von Mehrheiten so beschlossen wurden,<br />

sondern weil sie dem Plan Gottes zum Heil des Menschen entsprechen.<br />

Dies verbietet jede Relativierung. Und so hat etwa auch der<br />

Bedürftige im Sinne der Solidarität einen unbedingten Anspruch<br />

auf Hilfe. Ebenso hat er im Sinne der Subsidiarität die unbedingte<br />

Pflicht, sobald er dazu in der Lage ist, sich selbst für die Gemeinschaft<br />

einzubringen. Dies beschreibt das christlich begründete Zusammenspiel<br />

der beiden Prinzipien. Solidarität und Subsidiarität,<br />

Eigen- und Sozialverantwortung sind untrennbar verbunden, wenn<br />

wir christlich von sozialer Gerechtigkeit sprechen.<br />

Katholisches Sozialprinzip für ein visionäres Ordnungsmodell<br />

Für die Katholische Soziallehre ist das kirchliche Lehramt bestimmend,<br />

vor allem in Form der Sozialenzykliken. Die Werte und Sozialprinzipien,<br />

die aus dem christlich-personalen Verständnis vom<br />

Menschen und seiner Würde im Heilskontext abgeleitet werden,<br />

sind die theologisch maßgeblichen Dreh- und Angelpunkte für das<br />

Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Subsidiarität als Sozialprinzip<br />

gilt dabei als zeitlos gültiger Maßstab zur Beurteilung einer gerechten<br />

Gesellschaftsordnung. Es lässt sich also mit verschiedenen<br />

Modellen vereinbaren, wie der folgende Blick in die Geschichte beweist.<br />

Denn es ist ursprünglich nicht im Kontext Sozialer Marktwirtschaft<br />

gedacht. Zeitlos legitim und gültig ist das Prinzip, nicht<br />

aber eine konkrete Ordnungsidee.<br />

Subsidiarität wurde 1931 als Sozialprinzip in der Sozialenzyklika<br />

„Quadragesimo Anno“ (QA) von Papst Pius XI. vorgestellt. Der Sozialkatholizismus<br />

des 19. Jahrhunderts hat diese lehramtliche<br />

Herausstellung aber bereits vorweggenommen. So beflügelten in<br />

dieser Zeit die sozialen Fragen etwa Bischof Wilhelm Emmanuel<br />

von Ketteler u.a. zu einem mutigem Eintreten für die Rechte der<br />

Arbeiter. Ihr Solidaritätsgedanke unterschied sich gravierend vom<br />

sozialistischen Kampfbegriff. Das Recht auf Entfaltung seiner Personalität<br />

hat in christlichem Sinn jeder Mensch, weil er Abbild<br />

Gottes ist. Und mit diesem Gottesgeschenk der Personalität sind<br />

Kollektiv und Partei entmachtet. Jeder hat vor sich, vor der Gesellschaft<br />

und vor Gott die Pflicht, seine Talente selbst zu entfalten<br />

und nicht zu schnell nach dem Staat zu rufen. Als dann Faschismus<br />

und Kommunismus die Menschen nach und nach unter Parteidiktaturen<br />

entmündigten, setzte Papst Pius XI. den totalitären Systemen<br />

mutig ein Ordnungsmodell entgegen. Auf der Grundlage des<br />

christlichen Menschenbildes wird hier unter Einfluss von Oswald<br />

von Nell-Breuning die Freiheit betont und dazu lehramtlich der<br />

Subsidiaritätsgedanke eingeführt.<br />

Heute ist die Subsidiarität ein Sozialprinzip Sozialer Marktwirtschaft,<br />

die als Ordnungsform von der Katholischen Soziallehre befürwortet<br />

wird. Die Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips in<br />

der Enzyklika QA Nr. 79 ist aber der Vorspann für das Bekenntnis<br />

zur Vision einer Berufsständischen Ordnung: Die „Erneuerung einer<br />

ständischen Ordnung also ist das gesellschaftspolitische Ziel“ (QA<br />

82). Diese Ordnung setzte noch mehr auf autonome Zünfte und<br />

soziale Tugenden und weniger auf Marktfreiheit und politische<br />

Eliten als es später die Soziale Marktwirtschaft tat. Dieses Ordnungsmodell,<br />

für das das Subsidiaritätsprinzip ursprünglich formuliert<br />

wurde, ist inzwischen in Vergessenheit geraten. Was<br />

steckte dahinter? Der Staat wird dort verstanden als der Selbstordnungswille<br />

der Gesellschaft im Dienst am Gemeinwohl. Er gibt den<br />

Ordnungsrahmen vor, innerhalb dessen die wirtschaftlichen (etwa<br />

Bergbau) oder außerwirtschaftlichen (etwa Bildung) Fachbereiche<br />

die sie betreffenden Regelungen treffen und in einem Kulturrat<br />

Richtlinien für Wirtschafts- und Kulturpolitik entwerfen. 3 Damit<br />

soll die Lobbybildung eines Gegeneinanders von Arbeitgeber- und<br />

Arbeitnehmerinteressen überwunden werden. Die Berufsständi-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 11


sche Ordnung ist mit einer parlamentarischen Demokratie vereinbar,<br />

nicht aber ist sie auf diese angewiesen. Legitimationskriterium<br />

ist nicht der Wille der Mehrheit, sondern die Ausrichtung am<br />

Gemeinwohl. Bei allen Übereinstimmungen mit den Ideen der Sozialen<br />

Marktwirtschaft verwirft Joseph Höffner diesen Traum Karl<br />

Freiherr von Vogelsangs u.a. von einem „sozialpolitisch inkarnierte(n)<br />

Christentum“ dennoch nicht, welcher keineswegs als Aufforderung<br />

zur Restauration der vorrevolutionären Feudalordnung<br />

missverstanden wurde. 4 Die freie Berufswahl ist vorausgesetzt. Das<br />

starke Band zur gesellschaftlichen „Einheit in wohlgegliederter<br />

Vielheit“ (QA 84) fordert die Verantwortung voreinander und vor<br />

dem Gemeinwohl. In starken Familien sollen die Menschen Verantwortung<br />

für sich und füreinander erlernen, um dort eine soziale<br />

Identität zu entwickeln. Die Stände (beziehungsweise die Leistungsgemeinschaften)<br />

konstituieren gegenüber den Familien die<br />

nächst höhere Ebene. Sie fordern Eigenverantwortung der Familien<br />

ein und sollen ihnen subsidiär zur Seite stehen. Ausdrücklich zu<br />

genau dieser Gewährleistung wird das Subsidiaritätsprinzip lehramtlich<br />

eingeführt.<br />

Die Berufsgenossen schließen sich zur Überwindung des Gegensatzes<br />

von Arbeit und Kapital als „wohlgefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus“<br />

(QA 83) in autonomen Körperschaften öffentlichen<br />

Rechts zu Standesvertretungen zusammen. Diese wiederum<br />

bestimmen „‚bewährte Leute‘ und nicht ‚politische Streber‘ in die<br />

Kammern“. 5 Stände sind die aus unterschiedlichen Fachberufen<br />

zusammengesetzten Fachbereiche, die durch eine leistungsverbundene<br />

Selbstverwaltung subsidiär den fachfremden Staat von<br />

Regelungspflichten und Verantwortungen (etwa für Kultur und berufsspezifische<br />

Fragen) entlasten. Die Stände konstituieren damit<br />

im Kontext einer das Gemeinwohl sichernden Staatsform (sei sie<br />

nun parlamentarisch oder monarchisch) eine selbst gewählte Obrigkeit,<br />

die über die gemeinsame Verpflichtung gegenüber dem<br />

Gemeinwohl miteinander verbunden ist.<br />

Die Berufsständische Ordnung ist damit als eine an der Katholischen<br />

Soziallehre orientierte Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus<br />

zu verstehen, der sich auch evangelische Sozialbewegungen<br />

anschließen konnten. Sie will die Rahmenbedingungen für die<br />

soziale Sicherung stärker als die Soziale Marktwirtschaft vom Bekenntnis<br />

zum marktwirtschaftlichen Kapitalismus ablösen. Die<br />

Einhaltung der Subsidiarität führt also keineswegs unmittelbar in<br />

die Marktwirtschaft oder in eine ihrer Facetten. Sie meint etwa in<br />

QA eine Zurückdrängung des Staates zugunsten starker Berufsstände,<br />

die wiederum auf engen familiären Bindungen aufbauen.<br />

Mehr als die Soziale Marktwirtschaft baute dieses Ordnungsmodell<br />

auf die Tugenden der Individuen: auf Ehre, Pflicht und Sitte.<br />

Denn es soll nicht die als „Diktatur der Interessen“ manipulierbare<br />

Mehrheitsentscheidung, sondern die Tugend sozialer Liebe den<br />

Geist einer wirksamen Sozialreform bestimmen. In Familien, Ständen<br />

und Kammern herrscht dann der Idee nach ein Geist der Brüderlichkeit<br />

und der wechselseitigen Fürsorge. So kann Franz Hitze<br />

in der genossenschaftlich-ständischen Ordnung die „wahre Solidarität“<br />

ausmachen, da sie den Geist sozialer Liebe mit der juristischen<br />

Pflicht vereint. Die Zustimmung zu einer solchen Pflicht wird<br />

von den „sittlichen Persönlichkeiten“ 6 nicht als Zwang empfunden.<br />

Selbst Kritiker der Berufsständischen Ordnung wie Augustin Lehmkuhl<br />

bestritten nicht, dass eine solche Ständeordnung „dem Ideale<br />

der christlichen Liebe am besten entsprechen“ könne, doch hielten<br />

sie ihr entgegen, man könne doch nicht die ganze Gesellschaft<br />

(oder gar die Welt) in ein Kloster verwandeln, in dem ein solcher<br />

benediktinischer Geist der Brüderlichkeit herrscht, wie ihn Hitze<br />

beschwor. 7 Höffner verwirft diese Vision dennoch nicht grundsätzlich,<br />

denn auch er sieht in starken Familien die Keimzellen von Verantwortung<br />

und Subsidiarität und bekennt sich zum genossenschaftlichen<br />

Prinzip wie zur notwendigen Gesinnungsreform im<br />

Geist sozialer Liebe. Damit macht Höffner Ernst mit dem Selbstverständnis<br />

der Katholischen Soziallehre, allgemeine Prinzipien anzubieten,<br />

die sich mit den geschichtlichen Möglichkeiten je anders<br />

verbinden lassen. So konnte sich auch in der späteren kirchlichen<br />

Abwendung von der Vision der Berufsständischen Ordnung die<br />

Subsidiarität als lehramtlich legitimiertes Sozialprinzip behaupten.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 12


Adoption durch die Soziale Marktwirtschaft<br />

Anders als die Berufsständische Ordnung vertraut die Soziale<br />

Marktwirtschaft mit dem Gebot grundsätzlicher Marktkonformität<br />

zunächst den Wirkungen des Marktes, fordert aber anders als<br />

die freie Marktwirtschaft eine positive Freiheit der Menschen, welche<br />

Sozialtransfers aus dem unbedingten Recht jedes Menschen<br />

auf Entfaltung der Personalität begründet. Diese Ordnung gilt aus<br />

christlicher Sicht solange als legitim, wie sie durch Einhaltung der<br />

Sozialprinzipien allen Menschen die Entfaltung ihres Personseins<br />

ermöglicht. Die Individuen sollen in der sozial gerahmten Wettbewerbswirtschaft<br />

dem Gedanken des „Forderns und Förderns“ entsprechend<br />

in die Lage versetzt werden, möglichst eigenverantwortlich<br />

zu handeln und so die ihnen mögliche Leistung subsidiär<br />

zu erbringen. Sozialstaatliche Transfers sind Eingriffe in Eigentumsrechte,<br />

die mit Verweis auf die Menschenwürde oder die Sozialprinzipien<br />

gerechtfertigt werden müssen. Die positive Freiheit im<br />

Sinne der Sozialen Marktwirtschaft muss befähigen zu all dem,<br />

„was den Menschen zum Menschen macht, von der Biologie seiner<br />

Leiblichkeit bis zum Seelischen, Geistigen, Ethischen, Religiösen.“ 8<br />

Ein Wohlfahrts- als Versorgungsstaat wird abgelehnt, da er eine<br />

Anspruchsmentalität fördert, die dem Subsidiaritätsprinzip (und<br />

damit der natürlichen menschlichen Bestimmung) widerspricht<br />

und die Effizienz am Markt zusätzlich durch Trittbrettfahrermentalität<br />

desavouiert. Ein solcher Staat tötet die Eigenverantwortlichkeit<br />

ab und versklavt den Menschen. Individuen und kleine Gebilde<br />

sollen am Markt befähigt werden, tatsächlich die ihnen zumutbare<br />

Verantwortung zu übernehmen. Eingriffe des Staates sind<br />

somit begründungspflichtig, aber als subsidiäre Assistenz legitimiert,<br />

während eigenverantwortliches Handeln als die Grundvoraussetzung<br />

der Selbstbestimmung angesehen wird. Die Subsi -<br />

diarität fördert am Markt die Eigenverantwortung, indem zulässige<br />

Eingriffe in den Markt beschränkt und Anspruchsdenken<br />

zurückgedrängt werden. Dies erfordert die Einübung von Eigenund<br />

Sozialverantwortung, vermeidet Trittbrettfahrerverhalten und<br />

schafft dem marktwirtschaftlichen Sozialstaat ein moralisches<br />

Fundament, das die Gesellschaft im Bewusstsein gegenseitiger<br />

Verantwortung eint statt sie kämpferisch zu spalten.<br />

Christlich begründete Subsidiarität ist in der Sozialen Marktwirtschaft<br />

eng mit den freiheitlichen Gedanken der Leistungsgerechtigkeit<br />

und der Marktkonformität verbunden, geht aber in ihrer<br />

Bindung an die positive Freiheit und den Solidaritätsgedanken darüber<br />

hinaus. Danach hat der Staat seine Bürger aus einer Versorgungsmentalität<br />

herauszuführen. Andererseits muss er die persönliche<br />

Entfaltung und Leistungsbereitschaft ermöglichen und<br />

einfordern. Es bestehen damit objektive, verteilungsrelevante soziale<br />

Ansprüche auf die Entfaltung der individuellen Eigenverantwortlichkeit<br />

einerseits, auf die Existenzsicherung derjenigen, die<br />

zu eigenverantwortlichem Handeln nicht fähig sind, andererseits.<br />

Theologische und politische Schärfung des Prinzips<br />

Es besteht seit jeher eine Spannung zwischen der Lehre zu Begründung<br />

und Sinn des Subsidiaritätsprinzips und seiner praktischen<br />

Relevanz. Über seine konkrete Auslegung herrschte schon bei den<br />

Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft Uneinigkeit. Der Forderung<br />

nach einem Maximum an Individualfürsorge (Alexander<br />

Rüstow) etwa wird die Auffassung entgegengehalten, zentral gestaltete<br />

Sozialversicherungssysteme gingen mit dem Subsidiaritätsgedanken<br />

durchaus konform (Alfred Müller-Armack). Was also<br />

meint die Subsidiarität konkret? Diese Diskussion setzt sich bis<br />

heute fort, und das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft wird im<br />

Zuge einer zunehmenden Subsidiaritätsvergessenheit vor allem<br />

über die Solidarität definiert. Die gleichberechtigte Beachtung der<br />

Subsidiarität aber bedeutet eine in der politischen Praxis unbedingt<br />

gebotene Materialisierung der Idee des „Forderns und Förderns“.<br />

Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit werden<br />

nur so miteinander in Ausgleich gebracht. Nur beide Sozialprinzipien<br />

gemeinsam garantieren die Beachtung unbedingter sozialer<br />

Rechte und Pflichten und verhindern zugleich ein einseitiges Abgleiten<br />

der Gesellschaftsordnung in einen Nachtwächter- oder in<br />

einen vorsorgenden Wohlfahrtsstaat. Dies ist ein großer Verdienst<br />

einer Gleichberechtigung der Subsidiarität mit der Solidarität.<br />

Für die konkrete politische Entscheidung (etwa über Grundeinkommen,<br />

Mindestlohn, Krippenplätze, Vermögenssteuer, Währungs-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 13


krise o. a.) bleiben aber bisweilen sehr weite Interpretationsspielräume,<br />

bei denen die Idee der Subsidiarität schnell unter die Räder<br />

kommt. Eine theologische wie politische Schärfung des christlichsozialen<br />

Miteinanders der Sozialprinzipien, die politisch vereinnahmende<br />

Verfremdungen klarer als bislang für illegitim erklärt, halte<br />

ich deshalb für geboten, um das aus dem christlichen Menschenbild<br />

als wahr Erschlossene wieder stärker zu einer orientierenden<br />

Hilfe für die Fragen praktischer Politik zu machen. Mit der theologischen<br />

Hausaufgabe werde ich mich selbst wohl weiter beschäftigen.<br />

Die politische Hausaufgabe ist mit dieser Aufsatzsammlung<br />

der <strong>CDA</strong> mutig angegangen.<br />

Dr. Dr. Elmar Nass, Jg. 1966, Professor für Wirtschafts- und Sozialethik, Wilhelm Löhe<br />

Hochschule, Fürth<br />

1 Vgl. das Interview „Subsidiarität ist Hilfe zur Selbsthilfe“, in: Soziale Ordnung<br />

4/2012: 10–11.<br />

2 Vgl. in der Bibel: Gen 1,26–28; 2,15-17; 3,1-13.20–24.<br />

3 Vgl. O. von Nell-Breuning (1956): Wirtschaft und Gesellschaft heute. Band I. Grundfragen,<br />

Freiburg i.Br: 224, 232.<br />

4 Vgl. J. Höffner (1962): Sozialreform, in: Staatslexikon. Bd. 7. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft,<br />

Freiburg i.Br.: Sp. 388.<br />

5 J. Höffner (1962): 389.<br />

6 W. Schwer (1932): Die berufsständische Ordnung als natürliches Verhältnis von Gesellschaft<br />

und Staat, in: J. van der Velden (Hg.): Die berufsständische Ordnung. Idee<br />

und praktische Möglichkeiten, Köln: 71–88 (hier: 72).<br />

7 Vgl. J. Höffner (1962): 391.<br />

8 A. Rüstow (1957): Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche<br />

Kulturkritik, III. Band, Herrschaft oder Freiheit? Erlenbach-Zürich: 509.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 14


Dr. Matthias<br />

Zimmer<br />

Über das gute Leben<br />

Menschen leben in einer Vielzahl von Lebensentwürfen. Sein Leben<br />

nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, zum Autor der<br />

eigenen Biographie werden zu können, ist nicht selbstverständlich.<br />

Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat hat hierfür den Rahmen<br />

geschaffen unter Verzicht auf eine eigene Definition, was<br />

denn ein gutes und gelingendes Leben ausmacht. Er schreibt den<br />

Menschen also nicht den Inhalt ihres Lebens vor. Anders gesprochen:<br />

Der moderne Staat kennt keine teleologische Bestimmung,<br />

weder für sich noch für die Menschen, die in seiner Rechtsordnung<br />

leben. Er kennt weder die Zielbestimmung einer „sozialistischen<br />

Persönlichkeit“ noch das nationalsozialistische Idealbild eines<br />

Volksgenossen. Er schreibt keinem vor, ob und was er zu glauben<br />

hat, welcher Weltanschauung er sich verpflichtet fühlen muss.<br />

Aber er schafft ein freiheitliches Grundgerüst, in dem sich Lebensentwürfe<br />

verwirklichen können. Dazu legt er inhaltliche und formale<br />

Spielregeln fest. Inhaltlich sind die Spielregeln wesentlich<br />

durch die Grundrechte abgesteckt. Grundrechte sind aber nicht<br />

nur Abwehr- und Anspruchsrechte im Verhältnis von Bürger und<br />

Staat, sondern sie entfalten auch eine mittelbare Drittwirkung. Sie<br />

durchtränken auch die Rechtsbereiche, die das Verhältnis der Bürger<br />

zueinander regeln.<br />

Diese inhaltlichen Bestimmungen des Grundgesetzes werden<br />

durch drei formale Prinzipien ergänzt: Das Rechtsstaatsgebot, das<br />

Demokratiegebot und das Bundesstaatsgebot. Entscheidungen<br />

sind an Recht und Gesetz gebunden, die Legitimation von Herrschaft<br />

ist eine demokratische, und die Struktur des Staates ist<br />

föderal, kennt also neben der klassischen horizontalen Gewaltenteilung<br />

in Legislative, Exekutive und Judikative auch die vertikale<br />

Gewaltenteilung unterschiedlicher miteinander verflochtener<br />

Handlungsebenen: Bund, Länder, Kommunen, aber zunehmend<br />

auch die Europäische Union.<br />

Die weltanschauliche Neutralität des modernen Verfassungsstaates<br />

– bei gleichzeitiger Normierung eines demokratischen Minimalkonsenses<br />

als nicht-kontroversem Sektor 9 – ist gleichzeitig<br />

auch eine Achillesferse der Demokratie. Anders als der Markt als<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 15


Handlungsrahmen von Akteuren, die nur ihren Interessen folgen,<br />

leben moderne Gesellschaften auch zu einem erheblichen Teil von<br />

Handlungsorientierungen, die auf Gemeinschaftsbildung abzielen,<br />

auf das Gemeinwohl. Eine solche normative Zielbestimmung ist<br />

dem modernen Staat freilich fremd. Die Feststellung, dass der moderne<br />

Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht mehr garantieren<br />

oder reproduzieren kann, 10 ist daher sowohl zutreffend<br />

als auch tendenziell bedrohlich. Was passiert, wenn der normative<br />

Kitt einer Gesellschaft verloren geht? Zerfällt dann eine Gesellschaft<br />

oder zerbricht sie gar an den zentrifugalen Kräften? Oder ist<br />

unsere staatliche Ordnung im Sinne der Aufklärung so vernünftig,<br />

dass sie selbst dann, wenn sie nur von Teufeln bewohnt würde, die<br />

lediglich ihren eigenen Interessen folgten, noch stabil wäre? 11<br />

Dieses Bild von Kant, dem letztendlich eine Vermischung des Bourgeois<br />

(also des rein interessengesteuerten Marktteilnehmers) und<br />

des Citoyen (also des Bürgers im politischen Sinn) zugrunde liegt,<br />

vermag nicht zu überzeugen. Eine Gesellschaft ist, wie es Edmund<br />

Burke einmal spitz angemerkt hat, mehr als eine Vereinigung von<br />

Pfefferhändlern. Wir leben unser Leben nicht als voraussetzungslose<br />

Individuen – das ist der Irrtum des Liberalismus. Wir sind immer<br />

schon eingeboren 12 in soziale Handlungszusammenhänge, die<br />

normativ aufgeladen sind, die eine Geschichte haben, die sich vor<br />

der Folie eines kulturellen Selbstverständnisses, einer Tradition<br />

vollziehen. Damit eng zusammen hängt immer auch unser Bild<br />

vom Menschen, seinen Rechten und Pflichten, seinen Möglichkeiten,<br />

vielleicht auch seiner Bestimmung.<br />

Die Soziallehre trägt dieser Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit<br />

des Menschen Rechnung. Indem sie den Menschen als Person<br />

bezeichnet, ordnet sie ihn einerseits auf andere Menschen zu – in<br />

Abgrenzung zum lediglich egoistischen Nutzenmaximierer des<br />

Liberalismus. Indem sie den Menschen als Person zur Freiheit und<br />

Selbstverantwortung befähigt sieht, grenzt sie sich zum Sozialismus<br />

ab, der die Gesellschaft zur Voraussetzung individueller Rechte<br />

macht. Die beiden Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität<br />

sind nicht nur vertikale und horizontale Gestaltungsprinzipien der<br />

Gesellschaft, sondern sie transportieren auch einen normativen<br />

Kern, in dem Freiheit und Eigenverantwortung in einer antitotalitären<br />

Spitze zum Ausdruck kommen. Das Prinzip der Nachhaltigkeit<br />

ist die Ausbuchstabierung der Solidarität in der Zeit. Es trägt<br />

der Geschichtlichkeit des Menschen Rechnung und anerkennt die<br />

Verantwortung, die Generationen füreinander haben.<br />

Person sein heißt, zur Welt gekommen zu sein. Zur Welt kommen,<br />

heißt zur Sprache kommen, denn Personalität verwirklicht sich im<br />

Medium der Sprache. Diese strukturiert unsere Wirklichkeit und<br />

damit die Möglichkeit unserer Erkenntnis. Menschen bilden im<br />

Medium der Sprache den Unterschied von „Ich“ und „Du“ aus, sie<br />

eignen sich über Sprache Kenntnisse über ihre Herkunft an, entwerfen<br />

sich selbst mit Blick auf ihre Zukunft. Anders als Tiere leben<br />

Menschen nicht im Augenblick, sondern immer in der Reflektion<br />

des Augenblicks auf Vergangenes und Zukünftiges. Dies kann rein<br />

instrumentell erfolgen als strategisches Lernen aus Erfahrungen,<br />

aber eben auch als Reflektion auf die Möglichkeit eines guten Lebens<br />

jenseits einer reinen Befriedigung grundlegender Bedürfnisse.<br />

Jede Kultur stellt hierfür entsprechende Leitbilder zur Verfügung,<br />

die positiv besetzt sind: Das Leitbild des Zusammenlebens in<br />

der Familie, der Freundschaft, der Liebe; das Bild des für die Gemeinschaft<br />

Engagierten, des Selbstlosen, des Erfolgreichen, des<br />

Angesehenen, des Schönen, des Ruhmvollen, des Tugendhaften,<br />

des Weisen, des Gläubigen, des Heiligen und vieles mehr. Einige<br />

davon sind volatil, andere dauerhaft; einigen ist die Möglichkeit<br />

des guten Lebens eingeschrieben, anderen nicht. Aber wir wissen<br />

beinahe instinktiv, was erstrebenswert ist und was nicht, und zwar<br />

sowohl aus einem Bedürfnis der Anerkennung heraus als aus einem<br />

Gefühl dafür, was gut ist und was nicht. Nun ist die Frage der<br />

Anerkennung Ausdruck der Personalität, weil sich jede Identität<br />

vornehmlich im Dialog ausbildet, also sich auch über die soziale<br />

Stellung spiegelt. Spannender ist aber die Frage, woher wir dieses<br />

Grundwissen darüber haben, was gut im moralischen Sinn ist und<br />

was nicht.<br />

Ich meine, dass uns die Idee des Guten als Menschen mitgegeben<br />

ist als Möglichkeit. Wir sind befähigt zu moralischem Urteil, nicht,<br />

weil uns diese Kategorie Gut oder Böse anerzogen oder vermittelt<br />

wurde, sondern weil wir schon immer als Menschen ein vorgängi-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 16


ges Verständnis davon haben. Das macht uns als Menschen aus.<br />

Die griechische Philosophie war der Meinung, wir hätten schon ein<br />

vorgängiges Wissen über das Gute, es müsse nur durch die Philosophie<br />

als „Geburtshelfer“ aus uns herausgeholt werden; wir müssen<br />

es uns bewusst machen. In der christlichen Tradition ist es das<br />

Gewissen, das über moralische Fragen entscheidet. Auch hier war<br />

nie die Vorstellung, dass die Urteilskraft des Gewissens etwas ist,<br />

das ausschließlich von außen an uns herangetragen wird, sondern<br />

als vorgängiges Wissen uns beigegeben ist.<br />

Unsere Befähigung, moralische Urteile zu treffen, ist also nichts<br />

Angelerntes. Immanuel Kant spricht hier von einem Apriori, also<br />

einem Vorgängigen, der praktischen Vernunft. Freilich ist es damit<br />

alleine wohl nicht getan, denn wenn von Gewissensbildung die<br />

Rede ist, dann weitet sich das Gewissen in die kulturellen Praktiken<br />

und Wertvorstellungen hinein, die nur dialogisch, also im Gespräch<br />

mit Anderen, erworben werden können. Das ist mit dem Prinzip<br />

der Personalität gemeint. Einerseits ist der Mensch von Gott geschaffen.<br />

Er kann, wie es John Newman einmal formuliert hat, das<br />

Echo der Worte Gottes vernehmen. 13 Darüber hinaus ist er als<br />

Mensch dialogisch angelegt, er wird also Mensch im vollen Sinn<br />

erst im Austausch mit anderen Menschen, also: Wenn er in Wertkontexte<br />

gestellt wird, in kulturelle Überlieferungen, in das Reservoir<br />

gesellschaftlicher Projekte und Hoffnungen, wenn er also zur<br />

Reflektion über Vergangenes und dem Entwurf in die Zukunft befähigt<br />

wird. Hier, an dieser Stelle, werden die Schnittpunkte von<br />

„gutem Leben“ und den Prinzipien der Soziallehre besonders deutlich.<br />

Gutes Leben ist ein permanenter Entwurf in die Zukunft, der<br />

wertfrei nicht zu denken ist. Er ist zwar abhängig von den äußeren<br />

Bedingungen, aber nicht vollständig von ihnen determiniert. 14 Er<br />

wird strukturiert durch die Bedingungen, ein gutes Leben in Freiheit<br />

und Gerechtigkeit führen zu können: Subsidiarität, Solidarität,<br />

Nachhaltigkeit. Und er zielt, wegen der sozialen Einbindung des<br />

Menschen, notwendig nicht auf das Eigeninteresse, sondern das<br />

Gemeinwohl ab.<br />

Das ist nicht eben wenig, sagt aber über die konkreten Inhalte des<br />

guten Lebens nichts aus. Es garantiert auch nicht, dass sich Menschen<br />

der durchaus anspruchsvollen Aufgabe stellen, sich über Herkunft,<br />

Ziel und Zweck ihrer Existenz Auskunft zu geben. Sie können<br />

es, sind aber nicht dazu verpflichtet. Der freiheitliche Rechtsstaat<br />

hat, wie oben ausgeführt, eben auch auf verpflichtende Vorgaben<br />

verzichtet. Unsere Gesellschaft wäre aber zweifellos reicher, wenn<br />

sich mehr Menschen auf den Weg machten, für sich selbst Antworten<br />

zu suchen. Diese Wanderschaft zu fördern wäre eine Aufgabe<br />

unserer Bildungseinrichtungen: Nicht im affirmativen Sinn, sondern<br />

auf dem Wege der Ermutigung. Diese sind freilich heute mehr<br />

auf die Vermittlung unmittelbar anwendbaren Wissens, auf die<br />

praktischen Tätigkeiten hin, orientiert; Sinnzusammenhänge zu erklären<br />

ist offenbar heute eine extracurriculare Aktivität. Aber brauchen<br />

wir nicht in einer zunehmend arbeitsteilig orientierten, in<br />

Spezialwissen zerfallenden, komplexer werdenden Gesellschaft<br />

Menschen, die die verwirrende Vielfalt moderner Welten für sich<br />

normativ integrieren können? Brauchen wir nicht Menschen, die –<br />

von der Idee eines guten Lebens informiert – die Möglichkeiten<br />

moderner Gesellschaften bewusst nutzen statt wie die Feder im<br />

Wind der Möglichkeiten und Moden zu leben? Die Idee des guten<br />

Lebens ist aktueller denn je, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen,<br />

im Sog unserer Artefakte zu verschwinden und, wie es Rabindranath<br />

Tagore einmal formuliert hat, einen langsamen Selbstmord<br />

durch das Zusammenschrumpfen unserer Seele zu begehen.<br />

Dr. Matthias Zimmer, Jg. 1961, MdB, Stellvertretender <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender und<br />

<strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in Hessen<br />

9 Hierzu Stephan Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie. Eine Studie<br />

zur Akzeptanz der Grundlagen demokratischer Ordnung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Paderborn: Schöningh 1986<br />

10 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie<br />

und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 60<br />

11 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795)<br />

12 Der Begriff Nation leitet sich aus dem lateinischen Wort für die Geburt ab, bezeichnet<br />

also ursprünglich eine Abstammungsgemeinschaft.<br />

13 John Henry Newman, Sermon Notes of John Henry Cardinal Newman, 1849–1878.<br />

Herefordshire – Notre Dame: University of Notre Dame Press 2000, S. 327<br />

14 Der häufig zitierte Aphorismus von Theodor W. Adorno, es gebe kein richtiges Leben<br />

im falschen, ist deswegen auch unsinnig. Das Gewissen ist die letzte Instanz des<br />

Richtigen. Hätte Adorno Recht, wäre der Widerstand gegen Hitler, der Aufstand des<br />

Gewissens von Stauffenberg bis zur Weißen Rose, kein richtiges Leben gewesen –<br />

ein Vorwurf, der sich nur damit erklären lässt, dass Adornos Welt nur sterbliche<br />

Götter kennt.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 17


Karl<br />

Schiewerling<br />

Familien – Keimzellen und<br />

Lastesel unserer Gesellschaft<br />

Wir leben in einer Zeit, die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />

Veränderungen geprägt ist. Unsere Gesellschaft ist mit den<br />

Folgen des raschen demographischen Wandels konfrontiert. Wir<br />

erleben, wie unser Zusammenleben durch eine zunehmende Internationalisierung,<br />

eine wachsende Individualisierung und damit<br />

leider auch verbundene Vereinzelung des Menschen bestimmt ist.<br />

Auch die Familien- und Lebensformen sind einem starken Wandel<br />

unterworfen. Die Geburts- und Heiratsraten gehen zurück und es<br />

entstehen neue Familienmodelle. Kinder wachsen in Familien von<br />

Alleinerziehenden oder in Patchworkfamilien auf. Andere werden<br />

in Familien geboren, die seit Generationen von Sozialhilfe leben.<br />

Ihnen fehlt Bildung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.<br />

Mit der Veränderung traditioneller familiärer Strukturen geht auch<br />

eine Veränderung der Beziehung von Generationen untereinander<br />

einher. Immer weniger ältere Angehörige werden in ihren Familien<br />

betreut und vertraute Beziehungen gehen in die Brüche. Menschen<br />

verlieren bislang tragende und gewohnte Sicherheiten.<br />

Diese zu beobachtende Entwicklung wirft die Frage auf, welche<br />

Rolle wir den Familien in unserer Gesellschaft zuschreiben.<br />

Ist Familie der Ort, der zur Keimzelle unserer Gesellschaft wird, weil<br />

die Menschen dort Nächstenliebe, Eigenverantwortung, Sicherheit<br />

und Geborgenheit finden?<br />

Oder ist die traditionelle Familie schon längst ein Auslaufmodell,<br />

weil sie einerseits mit individuellen Lebensstilen kollidiert und ihr<br />

andererseits Verantwortung z. B. in Erziehung und Pflege zugewiesen<br />

wird, die sie nicht mehr tragen kann oder will?<br />

Familie ist Keimzelle unserer Gesellschaft<br />

In Deutschland leben derzeit rund 11,7 Millionen Familien. Doch oft<br />

gehen Beziehungen in die Brüche, erleben Kinder und Jugendliche<br />

die Trennung und Scheidung ihrer Eltern. Diese Erfahrung prägt –<br />

auch wenn viele Eltern sich noch so sehr mühen. Denn Kinder brauchen<br />

Sicherheit und feste Rahmen. Und es sind die Familien, die<br />

unseren Kindern die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben eröff-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 18


nen und dem Einzelnen Raum zur menschenwürdigen Entfaltung<br />

geben. Das ist Voraussetzung für eine freie und demokratische Gesellschaft.<br />

Somit sind gerade Familien von fundamentaler Bedeutung<br />

für die Zukunft unseres Gemeinwesens.<br />

Für den Priester und Sozialreformer Adolph Kolping bedeutete das<br />

Schicksal der Familie „über kurz oder lang das Schicksal des Landes.“<br />

Er sah Familie als den Ort, wo Kinder Geborgenheit erfahren<br />

und erzogen werden, wo Kinder lernen, Verantwortung zu tragen<br />

und zu lebenstüchtigen Menschen heranwachsen. Der frühere Verfassungsrichter<br />

Prof. Dr. Böckenförde hat den Satz geprägt, dass<br />

„Staat und Gesellschaft von Voraussetzungen leben, die sie selbst<br />

nicht schaffen können“. Das gilt ebenso für die Wirtschaft. Ohne<br />

stabile Familien keine gesunde Wirtschaftsentwicklung. Auch unsere<br />

sozialen Probleme werden wir zukünftig nur lösen können,<br />

wenn wir die Familien in allen politischen Bereichen als Ganzes berücksichtigen.<br />

Die Familie ist die Keimzelle unserer Gesellschaft.<br />

Familie ist Solidargemeinschaft<br />

Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind tragende Prinzipien<br />

unseres Staates. Die Entfaltung des Einzelnen geschieht in der<br />

Familie. Sie fängt auch die großen und kleinen „Lebenskatastrophen“<br />

auf. Nur wenn die Familie überfordert ist, hat der Staat zu<br />

helfen. Aber zuerst der Einzelne und die Familie.<br />

Heute gibt es immer mehr Lebensbereiche, in denen Menschen<br />

auf sich selbst gestellt sind und eine große Unsicherheit erleben.<br />

Wichtige Leitplanken in ihrem Leben sind weggebrochen. Mit dieser<br />

Entwicklung sind oft auch existenzielle Fragen verbunden. Bin<br />

ich in einer Welt zunehmender Individualisierung meiner Beziehungen<br />

noch sicher? Wird meine Ehe, meine Familie noch Bestand<br />

haben? Wird es im Alter noch Menschen geben, die mich pflegen?<br />

Was gibt mir in meinem Leben noch die nötige Sicherheit? Woran<br />

halte ich mich, wenn es schwierig wird? Wie erziehe ich meine Kinder?<br />

Welche Lebensgrundlagen und Werte möchte ich ihnen vermitteln?<br />

Wie weit bin ich bereit, eigene Wünsche zurückzustellen?<br />

In diesen Situationen ist Familie eine Solidargemeinschaft. Sie<br />

schützt den Einzelnen und sichert Freiheit. Es ist gerade die solidarische<br />

Gemeinschaft der Familie, die moralische und geistige Armut<br />

bekämpft. Dort, wo Familien ihre Freiheit und Verantwortung<br />

gebrauchen, werden sie gleichzeitig auch zu tragenden Säulen für<br />

unsere Gesellschaft. Durch die Betreuung und Pflege von Verwandten,<br />

durch die Erziehung ihrer Kinder entlasten Männer und Frauen<br />

unsere Solidargemeinschaft. Durch ihre Arbeit entstehen solidarische<br />

Netzwerke. Sie geben der Gesellschaft als Ganzes und jedem<br />

Einzelnen mehr Sicherheit. Dort, wo Familienangehörige aufhören,<br />

sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich in Phasen der Not allein<br />

auf die Hilfe des Staates verlassen, kann unser Zusammenleben<br />

nicht funktionieren. Daher hängt die Funktionstüchtigkeit unseres<br />

Zusammenlebens und auch die der Wirtschaft letztlich davon<br />

ab, dass sich Menschen für Kinder entscheiden und sie zu lebenstüchtigen<br />

Menschen erziehen.<br />

Familie sichert Freiheit des Einzelnen<br />

In unserer Gesellschaft gibt es viele Formen und Vorstellungen<br />

über das Familienleben. Doch trotz niedriger Geburtenrate steht<br />

fest, dass sich junge Menschen Kinder wünschen und in einer intakten<br />

Familie leben möchten. Es besteht die tiefe Sehnsucht nach<br />

familiärem Zusammenhalt – gerade in Krisenzeiten. Die Familie ist<br />

daher immer noch eine feste Institution und kein Auslaufmodell in<br />

unserer Gesellschaft. Sie verdient politische Anerkennung und den<br />

besonderen Schutz durch unsere Verfassung.<br />

Ausgangspunkt für den besonderen Schutz der Ehe und Familie ist<br />

Artikel 6 unseres Grundgesetzes. Für Ehen wurde dieser besondere<br />

Schutzrahmen in die Verfassung aufgenommen, weil dort Kinder<br />

geboren und erzogen werden. Dabei regeln die folgenden Absätze<br />

in besonderer Weise, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das<br />

natürliche Recht der Eltern ist. Der Staat greift in dieses Recht auf<br />

eigenverantwortliches Handeln erst dann ein, wenn das Kindeswohl<br />

gefährdet ist.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 19


Dieser Rechtsrahmen hat seine Wurzeln in dem Naturrecht, das für<br />

die christliche Sozialethik und das christliche Menschenbild eine<br />

zentrale Rolle spielt. Demnach kann der Einzelne seine Freiheit und<br />

Würde nur behalten, solange er das Prinzip der Subsidiarität,<br />

welches in der Sozialenzyklika Quadragesimo Anno verankert ist,<br />

wahrt. Es gewährleistet, dass die Erstverantwortung für die freie<br />

Entfaltung der Kinder von den Eltern getragen wird. Solange ein<br />

Mensch eigenständig Verantwortung übernehmen und nach seinen<br />

Kräften arbeiten kann, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt<br />

zu verdienen, wäre es falsch, ihn von dieser Selbstverpflichtung<br />

zu entbinden.<br />

Familie braucht Schutz, Förderung und Begleitung<br />

Seit Ende der 60er, spätestens in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

entwickelte sich in bestimmten Kreisen in Wissenschaft<br />

und Politik der Blick von der Familie weg auf die einzelnen Fami -<br />

lienmitglieder. In der Rechtssprechung und der Gesetzgebung<br />

spielte Familie als Verantwortungsgemeinschaft eine zunehmend<br />

untergeordnete Rolle. Die einzelnen Familienmitglieder – insbesondere<br />

Kinder, Jugendliche und Frauen – wurden individuell gefördert.<br />

Diese Entwicklung wird verstärkt durch eine Entwicklung,<br />

die im „Gender-Mainstream“ ihre Wurzeln hat. Die Geschlechterunterschiede<br />

werden geleugnet. Es geht oft nicht um die berechtigte<br />

Gleichstellung von Mann und Frau, sondern um die Negierung<br />

der Unterschiede in den Geschlechtern. Die tiefsten Wurzeln<br />

dieser Entwicklung liegen in der Überzeugung, dass Familien überflüssig<br />

sind. Sie fordert ausschließlich das Recht des Einzelnen und<br />

setzt die Lebensbeziehung homosexueller Menschen gleich mit<br />

der Beziehung von Mann und Frau. Diese wiederum hat Verfassungsrang.<br />

Für den Zusammenhalt von Familien müssen wir nicht die einzelnen<br />

Angehörigen, sondern die Familie als Ganzes betrachten. Der<br />

Mensch ist kein Einzelwesen, sondern ein Sozialwesen, auf andere<br />

bezogen und familiär untrennbar mit anderen verbunden. Es hat<br />

sich eingebürgert, Familien aus dem Blickwinkel gescheiterter Beziehungen<br />

her zu betrachten. In der Tat hat der weitaus überwiegende<br />

Teil der Sozialhilfe in Deutschland gescheiterte Beziehungen,<br />

zwischen Elternteilen oder Eltern und Kindern, mit zum Hintergrund.<br />

Das ist aber kein Grund, Familie in Frage zu stellen. Familie<br />

gelingt ganz überwiegend. Eltern nehmen in den allermeisten<br />

Fällen ihre Verantwortung wahr.<br />

In 2011 haben Bund, Länder und Kommunen 140 Milliarden Euro<br />

für Familien zur Verfügung gestellt. Mutterschafts-, Kinder- und<br />

Elterngeld sind zu wichtigen Stützen geworden. Das Ehegattensplitting<br />

gibt Eltern die notwendige Gestaltungsfreiheit für die Erziehung<br />

ihrer Kinder. Trotzdem entscheiden sich viele Paare nicht<br />

für ein Kind, weil die Erziehung und der Familienalltag von zeitlichem<br />

Stress, Organisations- und Leistungsdruck begleitet werden.<br />

Vielen Familien fehlen die Leitlinien und die Zeit, um sich den Anforderungen<br />

einer Erziehung zu stellen.<br />

Deshalb muss die Hilfe staatlicher Systeme gerade da ansetzen,<br />

wo Menschen in ihren Ressourcen eingeschränkt sind und unsere<br />

Unterstützung für die Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben<br />

benötigen. Wir müssen für Familien einen zuverlässigen Rahmen<br />

schaffen, in dem sie ihre Aufgaben wahrnehmen können. Gelingt<br />

uns dies nicht, werden uns mit dem Wegbrechen familiären Zusammenlebens<br />

die sozialen Bindungen, die Solidarität und Sicherheit<br />

in unserer Gesellschaft fehlen.<br />

Die Unterstützung zur Verantwortungsfähigkeit, gegenseitiger<br />

Hilfe und persönlicher Entfaltung richtet sich an alle Familien. Insbesondere<br />

sind kinderreiche Familien, Familien mit Migrationshintergrund,<br />

mit behinderten Kindern und mit pflegebedürftigen Angehörigen<br />

darauf angewiesen. Dabei darf man nicht ignorieren,<br />

dass es neben der Ursprungsfamilie auch die Alleinerziehenden<br />

oder die sogenannten Patchworkfamilien gibt. Auch diese Lebensentwürfe<br />

sind auf Schutz und Unterstützung des Staates angewiesen.<br />

Es geht um Chancen- und Teilhabegerechtigkeit. Dies wird deutlich<br />

an der Lebenssituation von Männern und Frauen, die ihren Erzie-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 20


hungs- und Fürsorgepflichten nachkommen und hinterher mit Gehaltseinbußen<br />

rechnen müssen. Sie haben schlechtere Wiedereinstiegsmöglichkeiten<br />

in ihren Beruf und keine faire Chance auf dem<br />

Arbeitsmarkt, um für sich selbst und ihre Familie Verantwortung<br />

zu übernehmen. Dabei haben sie jahrelang das Gewicht getragen,<br />

das die Anforderungen an eine Erziehung darstellt. Staat und Wirtschaft<br />

sind hier gefordert.<br />

Soziale Gerechtigkeit ist dabei nicht nur eine Frage der individuellen<br />

und moralischen Bewertung. Sie ist auch die Frage nach gesellschaftlichen<br />

Zuständen. Dabei geht es um die künftige Belastung<br />

von Familien. Welche Lasten können wir den jeweiligen Generationen<br />

aufbürden? Wie sorgen wir für eine gerechte Verteilung zwischen<br />

den Geschlechtern? Wie eröffnen wir jedem einzelnen Kind<br />

eine Lebensperspektive? Und nicht zuletzt: Wie geben wir der Familie<br />

als Familie Teilhabechancen in unserer Gesellschaft?<br />

Deswegen sind Einrichtungen wie Familienzentren mit Erziehungsberatung,<br />

Betreuungs- und Bildungsangeboten notwendig.<br />

Deshalb ist auch die Förderung von Orten, wo Familie sich als Familie<br />

erlebt und mit anderen austauscht, wichtig. Dazu gehören<br />

auch Familienbildungsstätten und die gemeinnützige Familienerholung<br />

und ihre Einrichtungen. Es geht um die konsequente Förderung<br />

von Organisationen, Verbänden und Vereinen, die gezielt in<br />

Familienkreisen oder anderen Formen den Familien Halt und Orientierung<br />

durch gegenseitige Hilfe geben.<br />

Wir müssen dafür sorgen, den Familien Schutz zu bieten. Denn gerade<br />

in Krisenzeiten sehnen sich die Menschen nach Sicherheit und<br />

nach menschlicher Zuwendung. Dafür kann der Staat die notwendigen<br />

rechts- und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen schaffen.<br />

Letztendlich kann er jedoch auf die fürsorgliche Arbeit der Menschen<br />

innerhalb der Familie nicht verzichten. Es sind die Paare, Mütter,<br />

Väter und Kinder, die die für sie lebenserhaltenden Werte vermitteln.<br />

Sie sind das schützenswerte Kapital unserer Gemeinschaft<br />

und unseres Staates oder wie Adolph Kolping gesagt hat: „Das Familienleben<br />

und sein Wohlstand ist wichtiger als alle Wissenschaft<br />

der Gelehrten, als alle Kunst großer Geister, als alle Macht der<br />

Mächtigen, und vermögen sie tausende aus dem Boden zu stampfen.“<br />

Starke Familien sind die Voraussetzung für eine freiheitlich demokratische<br />

Gesellschaft. Deswegen müssen sie in dieser Verantwortung<br />

gefördert und dürfen nicht überfordert werden. Das ist Aufgabe<br />

aller – von Staat, Wirtschaft, gesellschaftlichen Gruppen und<br />

auch den Religionsgemeinschaften. Es geht auch zentral um die<br />

dort entwickelten Werte. Darauf sind nicht nur Familien, darauf ist<br />

die ganze Gesellschaft und der Staat angewiesen, wie es der frühere<br />

Bundesverfassungsrichter Böckenförde uns allen ins Stammbuch<br />

geschrieben hat.<br />

Karl Schiewerling, Jg. 1951, MdB, Mitglied des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstandes und Sozialpolitischer<br />

Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

Nur in einer Chancengesellschaft lernen Menschen solidarisch miteinander<br />

umzugehen, über Generationen hinaus zusammenzuhalten<br />

und in Verantwortung und Freiheit zu leben. Deshalb müssen<br />

wir Werte wie Solidarität, Nächstenliebe und die Unantastbarkeit<br />

der Menschenwürde wieder neu würdigen und schätzen. Sie sind<br />

die integrierende Kraft, auf der auch unser gesellschaftlicher Zusammenhalt<br />

beruht. Sie sind die Grundlage unseres Zusammenlebens,<br />

ohne sie kann unsere Gesellschaft nicht bestehen.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 21


Dr. Ralf<br />

Brauksiepe<br />

Tarifautonomie<br />

Gute Rahmenbedingungen für eine<br />

subsidiäre Lohnfindung<br />

Die deutsche Wirtschaft und der Arbeitsmarkt hierzulande befinden<br />

sich derzeit nach wie vor in einer guten Verfassung. Trotz Euround<br />

Staatsschuldenkrise können sich die Zahlen, die die Bundesagentur<br />

für Arbeit für den Berichtsmonat März vermeldet, sehen<br />

lassen: So waren in diesem Monat 3,098 Mio. Menschen arbeitslos.<br />

Damit hat die Zahl der Arbeitslosen gegenüber dem Vorjahresmonat<br />

zwar leicht zugenommen, doch ist das Niveau nach wie vor erfreulich<br />

niedrig. Die Zahl der Erwerbstätigen ist gegenüber dem<br />

Vorjahr erneut um 284.000 auf 41,415 Mio. gestiegen. Ähnlich<br />

nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegenüber<br />

Januar 2012 um 362.000 auf 28,97 Mio. Menschen zu. Die<br />

Beschäftigung ist damit bezogen auf den aktuellen Berichtsmonat<br />

so hoch wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland.<br />

Die christlich-liberale Koalition trägt zu diesem Erfolg durch eine<br />

gute Arbeits- und Sozialpolitik bei. Dass ihr dies gelingt, hat auch<br />

viel mit dem Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft zu tun.<br />

Ein wichtiger Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft ist die Koalitionsfreiheit<br />

des Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. Diese schützt vor allem<br />

das Recht der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen<br />

ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Dem Staat kommt<br />

in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, frei gebildeten Koalitionen<br />

die Möglichkeit zu eröffnen, insbesondere Löhne unabhängig<br />

von staatlicher Rechtsetzung in eigener Verantwortung durch<br />

unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen. Die<br />

Tarifautonomie fällt insofern unter Verfassungsgarantie, und sie<br />

ist es auch, die einen wesentlichen Beitrag zur Wohlstandsentwicklung<br />

in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet hat.<br />

Das im Tarifvertragsgesetz geregelte Tarifvertragssystem stellt den<br />

Rahmen dar, in dem sich die Sozialpartner bewegen. Innerhalb dieses<br />

Rahmens kommt ihnen insbesondere die Aufgabe zu, gemeinsam<br />

über die Lohnhöhe und andere wesentliche Arbeitsbedingungen<br />

zu entscheiden. Dies erfolgt durch den Abschluss von Tarifverträgen,<br />

die den kollektiven Rahmen für den Inhalt individueller<br />

Arbeitsverhältnisse darstellen. Der Tarifvertrag liegt im öffentli-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 22


chen Interesse, da ein gerechter Interessenausgleich zwischen<br />

Arbeitgeber und Beschäftigtem aufgrund der instrumentalen<br />

Schwäche des Einzelarbeitsvertrages nicht dem individuellen<br />

Wettbewerb überlassen werden kann. Anders formuliert: Die Gesellschaft<br />

profitiert insgesamt davon, wenn Unternehmen und Beschäftigte<br />

das Recht der Vereinbarung von Arbeitsbedingungen an<br />

die Sozialpartner, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften,<br />

delegieren. Etwa 67.000 Tarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg<br />

der Unternehmen sind eindrucksvoller Beleg dafür, dass das<br />

System im Grundsatz gut funktioniert.<br />

Ungeachtet dessen steht das System der kollektiven Vereinbarungen<br />

vor Herausforderungen. Ein Grund dafür ist der insgesamt abnehmende<br />

Organisationsgrad. So verfügten die unter dem Dach<br />

des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zusammengeschlossenen<br />

Gewerkschaften am 31.12.2011 über 6,156 Mio. Mitglieder. Damit<br />

hat der DGB seit dem Jahr 1992 knapp 5 Mio. Mitglieder verloren.<br />

Die Mitgliederentwicklung im dbb beamtenbund und tarifunion,<br />

dem zweitgrößten gewerkschaftlichen Dachverband, ist im<br />

Gegensatz dazu stabil. So waren im Jahr 2011 1,266 Mio. Mitglieder<br />

dort organisiert. Insgesamt ging unter Einbeziehung auch aller anderen<br />

Gewerkschaften die Tarifbindung, also der Anteil der Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer, die von einem Tarifvertrag erfasst<br />

werden, in Deutschland im Jahr 2011 auf 63 % im Westen und nur<br />

noch 49 % im Osten zurück. 1998 waren dies noch 76 % (West) und<br />

63 % (Ost).<br />

Diese Entwicklung hat Auswirkungen. So hat das Statistische Bundesamt<br />

festgestellt, dass 31 Prozent aller bei einem nicht-tarifgebundenen<br />

Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer einen Niedriglohn<br />

bekommen. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern liegt diese<br />

Quote lediglich bei 11,9 %. Danach gibt es also einen positiven Zusammenhang<br />

zwischen Lohnhöhe einerseits und Existenz eines<br />

Tarifvertrages andererseits. Insofern ist es richtig, wenn vom Staat<br />

Instrumente zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems zur Verfügung<br />

gestellt werden.<br />

Wichtigstes Instrument ist in diesem Zusammenhang die Allgemeinverbindlicherklärung<br />

eines Tarifvertrages gemäß § 5 Absatz 4<br />

Tarifvertragsgesetz. Danach wird die Tarifgeltung im Geltungsbereich<br />

eines Tarifvertrages auf die bisher nicht-tarifgebundenen<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erstreckt. Wichtige Voraussetzung<br />

dafür ist, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens<br />

50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden<br />

Arbeitnehmer beschäftigen. Die Allgemeinverbindlicherklärung<br />

wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im<br />

Einvernehmen mit dem aus jeweils drei Vertretern der Spitzenorganisationen<br />

von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehenden<br />

Tarifausschuss per Verordnung erlassen.<br />

Um zu verhindern, dass nationale Arbeitsbedingungen durch ausländische<br />

Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterlaufen werden,<br />

sieht das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einen Rahmen vor, um tarifvertragliche<br />

Mindestlöhne für alle Arbeitnehmer einer Branche<br />

verbindlich zu machen. Das Gesetz nennt die Branchen, in denen<br />

branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt werden können:<br />

• Bauhauptgewerbe oder Baunebengewerbe,<br />

• Gebäudereinigung,<br />

• Briefdienstleistungen,<br />

• Sicherheitsdienstleistungen,<br />

• Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken,<br />

• Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft,<br />

• Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst,<br />

• Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem Zweiten<br />

oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch,<br />

• Altenpflege und ambulante Krankenpflege.<br />

Die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärungsverordnung<br />

des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ähneln<br />

jenen nach Tarifvertragsgesetz, wobei eine Mehrheit im Tarifausschuss<br />

für den Erlass der Verordnung ausreichend ist.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 23


CDU-geführte Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren<br />

das Instrument häufig in Anspruch genommen, so dass heute<br />

in zahlreichen Branchen mit etwa 4 Millionen Beschäftigten insgesamt<br />

11 Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz<br />

bundesweit in Kraft sind. Zudem wurden – nicht zuletzt Dank des<br />

Engagements der <strong>CDA</strong> – im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die<br />

Voraussetzungen für einen Mindestlohn in der Zeitarbeit geschaffen,<br />

der mittlerweile per Rechtsverordnung in Kraft getreten ist.<br />

Insofern bleibt festzuhalten, dass unter Verantwortung von CDU<br />

und CSU einige Anstrengungen zur Stützung der Tarifautonomie<br />

unternommen wurden. Doch wir wollen an dieser Stelle nicht stehen<br />

bleiben. Vielmehr sehen wir Handlungsbedarf in den Bereichen,<br />

in denen aus unterschiedlichen Gründen keine funktionsfähigen<br />

Tarifstrukturen bestehen, in denen also keine Möglichkeit<br />

besteht, mit Hilfe des bestehenden Instrumentariums ein Absinken<br />

des Lohnniveaus zu verhindern.<br />

Deshalb hat die CDU auf ihrem Bundesparteitag in Leipzig im Jahr<br />

2011 einen Beschluss gefasst, wonach eine allgemein verbindliche<br />

Lohnuntergrenze in allen Bereichen geschaffen werden soll, in denen<br />

ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Festlegung<br />

der Lohnuntergrenze soll einer Kommission der Tarifpartner<br />

obliegen. Eine Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

hat diesen Beschluss konkretisiert und entsprechende Eckpunkte<br />

vereinbart. Bestandteil der Vereinbarung ist auch eine Überprüfung<br />

der bestehenden Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung<br />

von Tarifverträgen, wobei in diesem Zusammenhang<br />

vorstellbar ist, dass das 50 %-Quorum durch die Repräsentativität<br />

eines Tarifvertrages ersetzt werden könnte.<br />

und Wählern ein sachgerechtes Angebot zur Lösung bestehender<br />

Herausforderungen unseres bewährten Modells der Sozialpartnerschaft<br />

machen können. Die Oppositionsparteien wollen einen politischen<br />

Mindestlohn; nach ihrer Vorstellung soll der Staat die Sozialpartner<br />

von ihrer Aufgabe entbinden, die wesentlichen Arbeitsbedingungen<br />

für ihre Mitglieder festzulegen. Dies ist der falsche<br />

Weg, denn er untergräbt die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie.<br />

Vielleicht ist es einfacher, wenn der Staat die Löhne<br />

festlegt. Sachgerechter ist es hingegen, die Verantwortung bei denjenigen<br />

zu belassen, die viel besser als der Staat über „gerechte“<br />

Löhne entscheiden können, nämlich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.<br />

Nur wenn wir die Tarifautonomie im Grundsatz<br />

bewahren und sie an die Herausforderungen unserer Zeit anpassen,<br />

wird es uns gelingen, Wohlstand und Wachstum in Deutschland<br />

dauerhaft zu sichern.<br />

Dr. Ralf Brauksiepe, Jg. 1967, MdB, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für<br />

Arbeit und Soziales, Stellv. <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender und <strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in<br />

NRW<br />

An unserem Ziel, die vereinbarten Eckpunkte noch in dieser Legislaturperiode<br />

umzusetzen, halten wir fest. Der Koalitionspartner<br />

lässt derzeit jedoch wenig Bereitschaft dazu erkennen. Sollten wir<br />

in der Koalition zu keinem Ergebnis kommen, bin ich aber überzeugt,<br />

dass das kommende Wahlprogramm unserer Partei diese<br />

Forderung erneut aufgreifen wird und wir damit den Wählerinnen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 24


Dr. Regina<br />

Görner<br />

Subsidiarität in den Arbeitsund<br />

Sozialbeziehungen<br />

Chancen und Grenzen der Tarifautonomie<br />

in der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Eine Gesellschaft, die sich dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet<br />

weiß, sucht die Entscheidungsstrukturen so einzurichten, dass Vermachtungen<br />

vermieden werden und eine möglichst große Nähe<br />

zu den Sachproblemen gegeben ist. Dies gilt auch für die Regelung<br />

der Arbeits- und Sozialbeziehungen. Zwar werden in vielen Ländern<br />

Tarifverträge direkt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern<br />

ausgehandelt, aber der Staat behält sich oft vor, seinerseits<br />

wenigstens Leitlinien vorzugeben oder sich unmittelbar am Regelungsgeschäft<br />

zu beteiligen. Im Grundgesetz ist wegen des Subsidiaritätsprinzips<br />

ein ganz anderer Ansatz gewählt worden: Der<br />

Staat hat seine Regelungskompetenz ausdrücklich an die Tarifpartner<br />

abgetreten.<br />

Das Subsidiaritätsprinzip ist aber mehr als ein Verzicht auf staatliche<br />

Eingriffe: Es verpflichtet den Staat, Rahmenbedingungen zu schaffen,<br />

damit die Tarifautonomie funktionieren kann. Dies geschieht<br />

u.a. mit dem Tarifvertragsgesetz, das so ausgestaltet sein muss, dass<br />

die Tarifparteien an freien Verhandlungen nicht gehindert werden.<br />

Dem Staat verbleibt auch die Pflicht, die Ergebnisse dieser Verhandlungen<br />

zu akzeptieren und ihnen Rechtscharakter zu verleihen.<br />

Tarifvertragliche Ansprüche können Arbeitnehmer deshalb<br />

vor ordentlichen Gerichten einklagen.<br />

Subsidiär, also unterstützend tätig zu werden, bedeutet letztlich<br />

aber, dass der Staat seine Verantwortung nicht einfach auf die<br />

Tarifparteien abschieben kann. Falls die Tarifparteien aus irgendwelchen<br />

Gründen nicht in der Lage sind, ihre Aufgabe zu erfüllen,<br />

die Arbeits- und Sozialbeziehungen für die Gesellschaft zu regeln,<br />

muss der Staat handeln, z. B. indem er die Gültigkeit von Tarifverträgen<br />

über Allgemeinverbindlicherklärungen durchsetzt oder<br />

Mindestlöhne sowie Mindestanforderungen an Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen,<br />

Gesundheitsschutz etc. festlegt, die von Tarifverträgen<br />

nicht unterschritten werden dürfen.<br />

Tarifautonomie setzt handlungsfähige Gewerkschaften voraus,<br />

aber auch verhandlungsbereite Arbeitgeber. Nur dann kann sie<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 25


funktionieren und die Arbeits- und Sozialbeziehungen sinnvoll und<br />

unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklungen in einer<br />

Branche regeln. Offenkundig ist zunächst, dass niemand so gut<br />

wie die Betroffenen selbst in der Lage ist, die Verhältnisse in der<br />

Wirtschaft, in den Betrieben und Verwaltungen und an den Arbeitsplätzen<br />

zu beurteilen. Deshalb sind die Tarifparteien immer<br />

zuerst gefragt und, wo immer Tarifparteien zu einer gemeinsamen<br />

Überzeugung gelangen, sollte sich der Staat mit eigenen Wertungen<br />

zurückhalten. Das gilt z. B. auch für Vorschläge, die die Sozialpartner<br />

zur Regelung neuer Ausbildungsordnungen machen. Hier<br />

gab es in den letzten Jahren leider immer wieder Übergriffe der<br />

Bundesregierung.<br />

Subsidiaritätsprinzip heißt aber nicht zuletzt, dass den Teileinheiten,<br />

denen eine öffentliche Aufgabe übertragen wird, nichts zugemutet<br />

wird, was sie selbst nicht bewerkstelligen können. Tarifregelungen<br />

sind immer das Ergebnis von Verhandlungen zwischen<br />

den Tarifparteien. Sie kommen nur zustande, wenn es eine Einigung<br />

zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften gibt. Eine solche<br />

Einigung setzt immer voraus, dass Gewerkschaften in den Betrieben<br />

stark genug sind, Arbeitgeber zum Verhandeln und schließlich<br />

zum Abschluss zu veranlassen. Das ist nicht selbstverständlich.<br />

Selbst da, wo zu einem früheren Zeitpunkt Tarifergebnisse erzielt<br />

werden konnten, bedeutet das nicht, dass ihre Anpassung auch regelmäßig<br />

wieder durchgesetzt werden kann. Solche „ungepflegten“<br />

Tarifverträge besitzen weiter Gültigkeit, sind aber nicht mehr<br />

in der Lage, die tatsächliche ökonomische Situation einer Branche<br />

widerzuspiegeln. Dies ist z. B. in einigen Handwerksbranchen der<br />

Fall, in denen in der Vergangenheit Innungen in Ermangelung eigener<br />

Arbeitgeberverbände die Funktion der Arbeitgeber im Tarif -<br />

geschäft wahrgenommen haben. Nachdem die Innungen diese<br />

Funktion abgelehnt haben, ohne dass verhandlungswillige Arbeitgeberverbände<br />

an ihre Stelle getreten sind, gibt es für die Gewerkschaften<br />

keinen Ansprechpartner mehr. Die alten Tarifbedingungen<br />

gelten als Mindestnorm zwar weiter, aber sie entfernen sich<br />

immer weiter von der Wirklichkeit in der Branche. Fällt einer der<br />

Sozialpartner auf diese Weise aus, ist der Staat in der Pflicht.<br />

Tarifpolitik kann vieles selbst regeln, aber das gilt nur, wenn die<br />

Grundbedingungen tarifpolitischen Handelns gegeben sind. Gewerkschaftliche<br />

Forderungen werden nicht wegen der schönen Argumente<br />

der Verhandlungsführer umgesetzt. Letztlich müssen Gewerkschaften<br />

für jede Tarifforderung kämpfen, d.h. ihre Mitglieder<br />

müssen zu Arbeitskampfmaßnahmen bereit und in der Lage sein.<br />

Das setzt voraus, dass sie von der Notwendigkeit ihrer Forderung<br />

selbst überzeugt sein müssen. Nur dann werden sie in der Lage<br />

sein, sich auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern auseinanderzusetzen<br />

und Kompromisse zu suchen.<br />

Dafür praktizieren die Gewerkschaften – und übrigens auch die<br />

Arbeitgeberverbände! – aufwändige Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse,<br />

die sicherstellen sollen, dass eine Tarifforderung<br />

auch wirklich von den Mitgliedern getragen wird. Nur dann<br />

gibt es Aussicht auf Erfolg.<br />

Auch wenn in Deutschland Arbeitskämpfe nach wie vor sehr selten<br />

sind: Wenigstens die Drohung damit ist eine unabdingbare Voraussetzung<br />

für das Funktionieren der Tarifautonomie. Eine Tarifforderung<br />

zu formulieren, macht nur Sinn, wenn die Beschäftigten<br />

davon so überzeugt sind, dass sie notfalls auch zu einem Streik<br />

bereit sind.<br />

Arbeitskämpfe sind kein Sport, den man nach Lust und Laune aufnimmt:<br />

Ein Streik ist immer ein Risiko für Beschäftigte: Sie verdienen<br />

während eines Arbeitskampfes kein Geld. Deshalb sichern sie<br />

sich innerhalb ihrer Gewerkschaft für den Fall eines Streiks ab. Nur<br />

wenn die Streikkasse gut gefüllt ist, können sich die Beschäftigten<br />

einen Streik leisten. Deshalb müssen die Mitgliedsbeiträge für Gewerkschaften<br />

in einem angemessenen Verhältnis zu der Höhe der<br />

damit abzusichernden Einkommen stehen. In Deutschland wird<br />

das bei 1 Prozent der Bruttoeinnahmen gesehen.<br />

In den letzten Jahren hat die Politik mit Verweis auf ihren Respekt<br />

vor der Tarifautonomie immer wieder abgelehnt, bestimmte Fragen<br />

zu regeln, und die Tarifparteien aufgefordert, selbst Lösungen<br />

zu entwickeln. So etwa für die Mindestlohnproblematik oder die<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 26


Entwicklungen in der prekären Beschäftigung. Damit ist die Tarifpolitik<br />

aber oft überfordert, nicht nur, weil nur der Gesetzgeber<br />

bestimmte Sachverhalte regeln kann, etwa die Mitbestimmungsrechte<br />

der Betriebsräte in Entleihfirmen für die im Betrieb eingesetzten<br />

prekär Beschäftigten. Schon die Verabredung von Branchenzuschlägen<br />

für die Leiharbeit verlangt von den Tarifparteien<br />

einen schwierigen Balanceakt: Erkämpft werden müssen sie nämlich<br />

von den Gewerkschaftsmitgliedern in der Industrie, zugute<br />

kommen sollen sie Beschäftigten, die rechtlich zu einer ganz anderen<br />

Branche gehören.<br />

Es bedarf also großer solidarischer Anstrengungen, wenn Arbeitnehmer<br />

dafür kämpfen, einen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden<br />

Verteilungsmasse in den Unternehmen für KollegInnen zu reservieren,<br />

die sich selbst am Arbeitskampf allenfalls symbolisch<br />

beteiligen können.<br />

Tatsächlich ist es ja so, dass ein Arbeitskampf nur denkbar ist, wenn<br />

er in der Interessenlage der Gewerkschaftsmitglieder liegt, die das<br />

Risiko des Arbeitskampfes auf sich nehmen. Nur dann kann man<br />

erwarten, dass ein Thema über die Tarifpolitik gelöst werden kann.<br />

Generell stellt sich dieses Problem nicht nur mit Blick auf die „Randbelegschaften“<br />

wie Leiharbeiter oder Werkvertragsarbeitnehmer.<br />

In jedem Unternehmen gibt es Beschäftigte mit unterschiedlichen<br />

Interessenlagen: Akademisch Qualifizierte haben andere Anforderungen<br />

als Unqualifizierte, Teilzeitbeschäftigte andere als „Normalarbeitnehmer“,<br />

Auszubildende andere als Ältere, Frauen andere<br />

als Männer – je nach ihrer Lebenssituation. Wenn es um die<br />

Befriedigung solcher Ansprüche aus dem zur Verfügung stehenden<br />

Verteilungsvolumen geht, muss ein Ausgleich zwischen den verschiedenen<br />

Interessengruppen gefunden werden. Einheitsgewerkschaften,<br />

die nach dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“<br />

für alle MitarbeiterInnen eines Unternehmens eintreten müssen,<br />

müssen diesen Interessenausgleich intern gewährleisten, sonst<br />

verlieren sie Mitglieder bzw. können nicht genügend von ihnen<br />

werben.<br />

Das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ ist in den letzten Jahren<br />

von der Arbeitsgerichtsbarkeit zunehmend infrage gestellt<br />

worden. Damit erhalten Spartengewerkschaften, die nur einen<br />

kleinen Teil der Beschäftigten im Unternehmen repräsentieren, Betätigungsfelder.<br />

Dadurch muss der notwendige Interessenausgleich<br />

nun im Wettbewerb der Gewerkschaften gegeneinander<br />

ausgehandelt werden. Wer nur die Belange einer kleinen Beschäftigtengruppe<br />

berücksichtigen muss, hat oft bessere Durchsetzungsmöglichkeiten<br />

für die eigenen Forderungen, kann aber nicht<br />

solidarisch für die anderen handeln. Das stärkt einzelne Beschäftigte,<br />

schwächt aber die Interessenvertretung aller anderen. Mittlerweile<br />

haben viele Unternehmen verstanden, dass sie von der<br />

Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander selbst keineswegs<br />

profitieren. Die wesentlichen Vorteile des Flächentarifsystems –<br />

die Sicherung gleicher Wettbewerbsbedingungen innerhalb der<br />

Branche und die Friedenspflicht während der Laufzeit der Tarifverträge<br />

– werden hinfällig. Zudem ist die Verlässlichkeit der Rahmenbedingungen<br />

für die Unternehmen nicht mehr gegeben. Deshalb<br />

haben die DGB-Gewerkschaften gemeinsam mit der Bundesvereinigung<br />

Deutscher Arbeitgeberverbände den Bundestag aufgefordert,<br />

dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ wieder zum<br />

Durchbruch zu verhelfen.<br />

Flächentarifverträge zu haben, ist nämlich auch für Arbeitgeber<br />

von Interesse. Nicht nur, dass sie sich die Aufwände für Einzelverhandlungen<br />

über Einkommens- und Arbeitsbedingungen ersparen:<br />

Sie dürfen bei Flächentarifverträgen davon ausgehen, dass die<br />

im Arbeitgeberverband zusammengeschlossenen Unternehmen<br />

ihre Arbeitnehmer nach einheitlichen Kriterien behandeln und bezahlen.<br />

Flächentarifverträge, die für eine bestimmte Region oder<br />

sogar landesweit abgeschlossen werden, vereinheitlichen auf<br />

diese Weise die Wettbewerbsbedingungen für alle einbezogenen<br />

Betriebe. Konkurrenz findet also nicht mehr über die Löhne statt,<br />

sondern über die Qualität der Produkte und Produktionsprozesse.<br />

Damit sind sie auch ein Motor für Innovation und ständige Qualitätssteigerungen.<br />

Unternehmenstarifverträge spielen demgegenüber<br />

in Deutschland nur eine geringe Rolle.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 27


Die große Fülle unterschiedlicher Branchentarifregelungen und<br />

ihre Ausdifferenzierungen für einzelne Regionen erlauben weitgehend<br />

maßgeschneiderte Lösungen für die Unternehmen. Tarifverträge<br />

setzen allerdings immer nur Mindestnormen, die nicht überschritten<br />

werden dürfen. Diese Mindestnormen schöpfen bei wirtschaftlich<br />

erfolgreichen Unternehmen das Verteilungsvolumen<br />

natürlich nicht aus. Die Feinjustierung erfolgt in diesem Fall gewöhnlich<br />

über Betriebsvereinbarungen, die zwischen Arbeitgeberseite<br />

und Betriebsräten ausgehandelt werden.<br />

Solche Vereinbarungen können zwar die betrieblichen Gegebenheiten<br />

besser abbilden als betriebsübergreifende, sie haben aber<br />

aus Arbeitnehmersicht einen entscheidenden Nachteil: Betriebsparteien<br />

dürfen ihre Auseinandersetzungen nicht durch Arbeitskampfmaßnahmen<br />

klären – die Durchsetzungsmöglichkeiten einer<br />

einzelnen Belegschaft sind also deutlich geringer als die ihrer<br />

Gewerkschaft. Sie sind folglich aus der Sicht der Beschäftigten<br />

keine Alternative zu Tarifverträgen, können sie aber ergänzen.<br />

Sogenannte „Betriebliche Bündnisse“ kommen aus Arbeitnehmersicht<br />

nicht infrage, auch wenn die Beschäftigten in einem einzelnen<br />

Unternehmen Wettbewerbsvorteile für ihren Arbeitgeber unter<br />

Umständen durchaus bevorzugen. Aber Flächentarifverträge<br />

suchen immer Regelungen, die für eine ganze Branche tragfähig<br />

sind. Wenn es aus bestimmten Gründen Ausnahmen geben muss,<br />

können diese sinnvollerweise nur von den vertragschließenden<br />

Parteien verabredet werden. In der Metall- und Elektroindustrie<br />

gibt es für solche „Pforzheim-Abkommen“ ein geregeltes Verfahren,<br />

das auf beiden Seiten die Interessen des antragstellenden Unternehmens<br />

mit denen der Branche als Ganzem abgleicht.<br />

Beiden Tarifparteien muss der Blick auf die Branche wichtig sein,<br />

weil sich ihre Vertreter regelmäßig Wahlen stellen müssen, die sie<br />

nur gewinnen können, wenn ihr tarifpolitisches Handeln mit den<br />

Erwartungen ihrer Mitglieder übereinstimmt. Da die Verhandlungsführer<br />

der Gewerkschaften wie der Arbeitgeberverbände immer<br />

wieder die Erfahrung machen müssen, dass sie persönlich Verantwortung<br />

tragen für die Tarifergebnisse, sind sie gehalten, die<br />

Anliegen ihrer Mitglieder sehr ernst zu nehmen, ihre Kampfbereitschaft<br />

immer genau zu ermitteln und ihre Forderungen an ihren<br />

Erwartungen für deren Erreichbarkeit auszurichten. Eine Tarifauseinandersetzung<br />

nicht so beenden zu können, dass die Mitglieder<br />

davon überzeugt sind, dass das Bestmögliche erreicht worden ist,<br />

beendet die Karriere jedes Verhandlungsführers. Fehler kommen<br />

natürlich vor, aber im Großen und Ganzen funktionieren die Selbstregulierungsmechanismen<br />

in der Tarifpolitik durchaus.<br />

Das Subsidiaritätsprinzip gibt den Tarifparteien das Recht, ihre Angelegenheiten<br />

selbst zu regeln. Dazu müssen Gewerkschaften und<br />

Arbeitgeberverbände sich zu Koalitionen zusammenschließen und<br />

selbständig handeln können. Damit dies aber funktionieren kann,<br />

steht der Koalitionsfreiheit kein Zwang zum Eintritt in eine Koalition<br />

gegenüber, denn nur freiwillige Mitglieder können letztlich<br />

den Druck aufbauen, der gute Tarifergebnisse ermöglicht.<br />

Tarifverträge gelten folglich auch nur für die Mitglieder von Koalitionen<br />

selbst– also für die den jeweiligen Organisationen angeschlossenen<br />

Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Tarifgebundene Arbeitgeber<br />

machen jedoch in aller Regel keinen Unterschied zwischen<br />

gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten<br />

Beschäftigten, weil sie sonst dazu beitragen würden, dass mehr<br />

Menschen Mitglieder der Gewerkschaft würden und sich dadurch<br />

die Machtverhältnisse zu ihren eigenen Ungunsten verschieben<br />

würden.<br />

Auch nicht tarifgebundene Unternehmen orientieren sich häufig<br />

an den in ihren Branchen geltenden Tarifverträgen. Dies bedeutet<br />

aber nicht, dass sie alle vereinbarten Regelungen übernehmen<br />

müssen. Einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der Tarifverträge<br />

besteht für die Beschäftigten in diesem Fall ohnehin nicht. Wer<br />

also glaubt, dass er als „Trittbrettfahrer“ alle Vergünstigungen, die<br />

Gewerkschaftsmitglieder für ihn erkämpft haben, genießen<br />

könnte, kann sich schnell getäuscht sehen. Wenn er sich als Nichtmitglied<br />

an den Diskussionen um die Aufstellung von Tarifforde-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 28


ungen und ihre Durchsetzung nicht beteiligen kann, muss er hinnehmen,<br />

dass seine konkreten Belange unter den Tisch fallen und<br />

andere Beschäftigtengruppen sich im Verteilungsprozess durchsetzen.<br />

Und immer häufiger versuchen Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen<br />

auch Regelungen zu erreichen, die ausschließlich<br />

ihren Mitgliedern zugute kommen.<br />

Die Wirkmechanismen des Tarifvertragssystems sind also komplex<br />

und vielschichtig. Sie enthalten Selbststeuerungs- und Mässigungszwänge,<br />

die dem Funktionieren des Systems sowie dem Finden<br />

guter Ergebnisse dienen. Sie müssen verstanden und beachtet<br />

werden, wenn der Staat Aufgaben an die Sozialpartner delegieren<br />

will. So begründet die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der<br />

Tarifautonomie im Allgemeinen sind, eines darf nicht vergessen<br />

werden: Tarifautonomie kann viel, aber sie kann nicht alles. Und<br />

dann muss die zweite Seite des Subsidiaritätsprinzips greifen:<br />

Dann ist der Staat gefordert.<br />

Dr. Regina Görner, Jg. 1950, Gewerkschaftssekretärin IG Metall, Mitglied in den Bundesvorständen<br />

der CDU und der <strong>CDA</strong> Deutschlands<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 29


Willi<br />

Zylajew<br />

Infrastruktur für ambulante Pflege<br />

Herausforderung in der alternden Gesellschaft<br />

Das Thema „Pflegebedürftigkeit“ ist für viele Menschen mit<br />

Ängsten behaftet. Es ist gleichbedeutend mit alt sein, Krankheit,<br />

Einsamkeit. Fragt man weiter, wie sich Menschen ihren Lebensabend<br />

bei Pflegebedürftigkeit vorstellen, stehen die Betreuung<br />

durch Familienangehörige und der Verbleib in den eigenen vier<br />

Wänden ganz oben auf der Wunschliste. Das spiegelt sich auch in<br />

folgenden Zahlen wider. Zwei Drittel der etwa 2,4 Mio. Pflegebedürftigen<br />

werden zu Hause betreut. Von diesen werden wiederum<br />

fast 70 % durch Angehörige versorgt. Die restlichen 30 % werden<br />

durch professionelle Pflegedienste, teils in Kombination mit<br />

Ehrenamtlichen bzw. Angehörigen gepflegt. Damit ist die Angehörigenpflege<br />

das wichtigste Fundament der pflegerischen Versorgung<br />

in Deutschland. Das ist übrigens seit Menschengedenken so.<br />

Durch den demografischen Wandel wird es aber langfristig zu<br />

einem Rückgang des familialen Pflegepotentials kommen. Problematisch<br />

wird es, wenn es keine Angehörigen gibt oder sie nicht in<br />

der Nähe wohnen bzw. durch Berufstätigkeit zeitlich sehr eingeschränkt<br />

sind oder die Beziehung nicht mehr funktioniert. In der<br />

Summe bedeutet dies eine steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen,<br />

denen eine abnehmende Zahl an potentiellen Helfern gegenübersteht.<br />

Hinzu kommt eine um fast ein Drittel schrumpfende<br />

Erwerbspersonenzahl und damit Sozialversicherungspflichtiger.<br />

Die Bertelsmann Stiftung weist in ihrem aktuellen „Pflegereport<br />

2030“ zutreffend auf „das doppelte Kernproblem der Pflegezukunft<br />

hin: Zum einen stellt sich die Frage, wie die zukünftige Versorgung<br />

der Pflegebedürftigen überhaupt sichergestellt werden<br />

kann angesichts sinkender relativer familialer Pflegekapazitäten<br />

und Kapazitätsrückgängen in der beruflichen Pflege. Zum anderen<br />

ist zu fragen, inwieweit die Versorgungsarten dann den Wünschen<br />

der Pflegebedürftigen entsprechen, die eine häusliche Pflege durch<br />

Familien und/oder Pflegedienste weit überwiegend bevorzugen<br />

(…).“ 15 Auch dies ist seit Menschengedenken so: Wer keine Kinder<br />

hat, kann auch nicht mit einer Versorgung durch sie im Alter rechnen<br />

und muss Dienste anderer in Anspruch nehmen.<br />

Was also tun? Wo kann man ansetzen, damit die Infrastruktur der<br />

ambulanten Pflege nachhaltig gestärkt werden kann? Dass mög-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 30


lichst schnell Lösungen gefunden werden müssen, um einem Fachkräftemangel<br />

vorzubeugen oder diesen zumindest abzuschwächen,<br />

bedarf eigentlich keiner weiteren Diskussion. Die Zahlen<br />

sprechen für sich. Laut einer Studie der Prognos AG im Auftrag der<br />

Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) fehlen bis zum<br />

Jahr 2030 etwa 506.000 Pflegekräfte. Zusammen mit dem Rückgang<br />

des informellen Pflegepotentials ergibt sich in knapp 20 Jahren<br />

eine Pflegelücke in Höhe von 737.000 Personen. 16 Was wir brauchen,<br />

ist ein Mix aus verschiedenen Maßnahmen. Dies betrifft zum<br />

einen den Bereich Ausbildung – dieser muss attraktiv in seinen Inhalten<br />

gestaltet und für möglichst viele Menschen (auch für<br />

Hauptschulabsolventen) zugänglich sein. Auf politischer Ebene<br />

wird daher mit Hochdruck an einer Reform der Berufsausbildung<br />

im Bereich der Kranken- und Altenpflege gearbeitet. Vorrangiges<br />

Ziel ist dabei die Zusammenführung der Ausbildungen in der Altenpflege,<br />

Gesundheits- und Krankenpflege sowie Gesundheitsund<br />

Kinderkrankenpflege in einem Gesetz, um die Qualifikationen<br />

in den Pflegeberufen breiter anzulegen. Während sich Bund und<br />

Länder weitgehend über die inhaltliche Ausrichtung der Reform<br />

einig sind, gibt es noch Diskussionsbedarf darüber, wie dies künftig<br />

finanziert werden soll. Erste Erfolge sind dennoch bereits vorzuweisen.<br />

So wurde im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der beruflichen<br />

Aus- und Weiterbildung in der Pflege, das der Bundestag im<br />

März verabschiedet hat, die Finanzierung des 3. Umschulungsjahres<br />

auf den Weg gebracht. Künftig werden nicht verkürzbare berufliche<br />

Weiterbildungen im Bereich der Altenpflege wieder durch die<br />

Bundesagentur für Arbeit (BA) finanziert. Dies ist eine wichtige Voraussetzung,<br />

um mehr Menschen, die ihre Zukunft in Pflegeberufen<br />

sehen, auch dort auszubilden. Bereits im Rahmen des Konjunkturpaketes<br />

II wurde das 3. Umschulungsjahr durch die BA finanziert,<br />

was zu einem deutlich höheren Interesse und einem Anstieg<br />

der Umschüler geführt hatte. Weiterhin schafft das Gesetz Verkürzungsmöglichkeiten<br />

von Altenpflegeumschulungen für lebensund<br />

berufserfahrene Menschen vor, die bereits zwei Jahre Aufgaben<br />

im Bereich der Pflege und Betreuung in Pflegeeinrichtungen<br />

wahrgenommen haben. Hierdurch sollen insbesondere Frauen<br />

nach Erwerbsunterbrechungen mit Interesse an einer Altenpflegeausbildung<br />

verbesserte Perspektiven zum Berufseinstieg als<br />

Fachkraft in einem wachsenden Beschäftigungsfeld erhalten.<br />

Neben einer attraktiven Ausbildung ist aber auch die Gestaltung<br />

des beruflichen Umfeldes von großer Bedeutung. Beispielhaft<br />

seien an dieser Stelle eine auskömmliche Vergütung, Maßnahmen<br />

zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Möglichkeiten zur Weiterbildung<br />

und zum beruflichen Aufstieg genannt. Der Gesetzgeber<br />

hat mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz geregelt, dass im Rahmen<br />

der Finanzierung der Aufwendungen bei stationären und<br />

ambulanten Pflegeleistungen einer Pflegeeinrichtung bei wirtschaftlicher<br />

Betriebsführung ermöglicht werden muss, ihre Personalaufwendungen<br />

und ihre Sachkosten zu finanzieren. Es muss<br />

eine angemessene und leistungsgerechte Vergütung der Beschäftigten<br />

gewährleistet und damit den Leistungsbringern ermöglicht<br />

werden, ausreichend qualifiziertes Personal zu gewinnen. Damit<br />

wird gleichzeitig klargestellt, dass zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung<br />

auch eine tarifliche Arbeitsvergütung für Pflegekräfte<br />

gehört. Es darf nicht weiter angehen, dass überörtliche Träger<br />

der Sozialhilfe und Pflegekassen Dumpinglöhne in Einrichtungen<br />

erzwingen.<br />

Mit der Familienpflegezeit gibt es seit Anfang des Jahres 2012 eine<br />

große Hilfe, wenn Angehörige für ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder<br />

da sein und eine Betreuung in den eigenen vier Wänden<br />

ermöglichen wollen. Die Familienpflegezeit gibt ihnen Zeit für die<br />

Pflege, sichert dabei einen Großteil ihres Einkommens und hält die<br />

Perspektiven für ihre berufliche Entwicklung offen. Die Familienpflegezeit<br />

verbindet somit Bedürfnisse und Interessen sowohl der<br />

Beschäftigten als auch der Unternehmen. Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter können ihre nahen Angehörigen selbst pflegen und den<br />

Unternehmen bleibt das Know-how erfahrener Kräfte erhalten.<br />

Neben den Anstrengungen im Bereich der Personalsicherstellung<br />

gibt es im ambulanten Bereich aber noch zahlreiche weitere Herausforderungen,<br />

in denen gleichzeitig hohe Chancen für die Hilfe<br />

zur Selbsthilfe liegen. Eine ganz wichtige Rolle wird den Kommunen<br />

als zentrale Orte der Daseinsvorsorge zukommen. Sie werden<br />

sich stärker als bisher in die Pflicht nehmen müssen, auf geeigneten<br />

und bezahlbaren Wohnraum zu achten und vernetzte Struktu-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 31


en im Sinne einer wohnortnahen Versorgung aufzubauen. Leitbilder<br />

müssen hierbei individuelle Bedarfe und das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Betroffenen sein. Soll die stationäre Unterbringung<br />

möglichst lange hinausgezögert oder auch verhindert werden,<br />

ist es unvermeidlich, sowohl bestehenden als auch neuen<br />

Wohnraum altersgerecht zu gestalten. Genannt sei an dieser Stelle<br />

die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die ein entsprechendes<br />

Förderprogramm „altersgerecht Umbauen“ aufgelegt hatte. Bis<br />

2011 wurde das Programm mit Bundesmitteln unterstützt, nunmehr<br />

führt die KfW das Programm mit eigenen Mitteln fort. Damit<br />

werden alle Baumaßnahmen, die zu einer Barrierereduzierung führen<br />

und eine angenehme Wohnqualität gewährleisten, oder der<br />

Kauf frisch umgebauter Wohngebäude gefördert. Aber auch unabhängig<br />

davon ist die Schaffung von altersgerechtem Wohnraum<br />

möglich, beispielsweise im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung,<br />

deren Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Gefördert werden<br />

u.a. Maßnahmen zur Barrierereduzierung im Bestand, der barrierefreie<br />

Mietwohnungs- und Eigenheimneubau für ältere und behinderte<br />

Menschen oder die Modernisierung von Altenwohn- und<br />

Pflegeheimen. Städte und Gemeinden können Mittel der Städtebauförderungen<br />

auch für bauliche Maßnahmen der altersgerechten<br />

Anpassung von Stadtquartieren nutzen. Den Kommunen somit<br />

bieten sich bereits heute schon vielfältige Möglichkeiten, das Wohnen<br />

im Alter möglichst angenehm und bezahlbar zu gestalten. Es<br />

gilt, diese Möglichkeiten weiterzuentwickeln, um dem Grundsatz<br />

und Wunsch „ambulant vor stationär“ auch tatsächlich gerecht zu<br />

werden.<br />

In diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind altersgerechte<br />

Assistenzsysteme für das Wohnen im Alter, auch unter<br />

dem Schlagwort „Ambient Assisted Living (AAL)“ bekannt. Damit<br />

ist es möglich, den zentralen Lebensraum – die eigene Wohnung –<br />

so auszugestalten, dass ältere Menschen ihren Alltag weitgehend<br />

ohne fremde Hilfe bewältigen können. Konkret verbergen sich hinter<br />

AAL natürlich der klassische Hausnotruf, der sich seit vielen Jahren<br />

bewährt hat, aber auch technische Innovationen wie Schranksysteme<br />

mit motorischer Unterstützung, Bett- und Bettumgebung<br />

mit intelligenter Ausstattung, barrierefrei gestaltete Bad- und Küchenkomponenten,<br />

Sensoren, die bei Stürzen automatisch den Rettungsdienst<br />

informieren, und vieles mehr.<br />

Doch trotz aller Innovationen, Ehrenamt und sonstiger Errungenschaften;<br />

ohne fremde menschliche Hilfe wird es niemals gehen.<br />

Tritt Pflegebedürftigkeit ein, ist dies in der Regel mit starken körperlichen<br />

und/oder geistigen Einschränkungen verbunden. Hier ist<br />

eine professionelle Pflege absolut notwendig. Unsere Fachkräfte<br />

erbringen die Pflege mit Herz, Händen und Verstand und leisten<br />

einen unschätzbaren Wert am pflegebedürftigen Menschen. Die<br />

professionelle Pflege könnte durch die Zusammenarbeit mit Ärzten<br />

– insbesondere Hausärzten – noch weiter optimiert werden.<br />

Die Vernetzung von Teamarbeit zwischen ambulant tätigen Ärzten<br />

und Pflegekräften, verbunden mit einem abgestimmten Überleitungsmanagement<br />

aus dem Krankenhaus in die Häuslichkeit,<br />

sichert die ambulante Versorgung, gerade auch in den ländlich<br />

geprägte Regionen. Und nicht zuletzt haben wir in Deutschland<br />

hervorragende stationäre Einrichtungen, zu denen es eben oft auch<br />

keine Alternative gibt. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung und -Versorgung<br />

in jeder Straße, jedem Wohnquartier, jedem Ort ist personell<br />

und finanziell kaum darstellbar. Für eine optimale pflegerische<br />

Versorgung benötigen wir beides, sowohl die ambulante als auch<br />

die stationäre Pflege. Es kann zu Situationen kommen, in denen<br />

Hilfe zur Selbsthilfe eben nicht mehr ausreichend ist. Dann können<br />

sich die Menschen in unserem Land auf eine gute stationäre Versorgung<br />

verlassen.<br />

Willi Zylajew, Jg. 1950, MdB, <strong>CDA</strong>-Bundesschatzmeister, Pflegepolitischer Berichterstatter<br />

der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

15 Bertelsmann Stiftung (2012) „<strong>Themen</strong>report 2030“, S. 18<br />

16 vbw (2012), Studie Pflegelandschaft 2030<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 32


Gerald<br />

Weiss<br />

Die Sozialwahlen legitimieren<br />

die Selbstverwaltung in der<br />

deutschen Sozialversicherung<br />

Die enge Verknüpfung von Selbstverwaltung und Sozialversicherung<br />

bildet einen starken Traditionsstrang in der deutschen Sozialgeschichte.<br />

Dies begann vor 750 Jahren mit der Gründung der<br />

Knappschaft und erreichte am 17. November 1881 eine wichtige<br />

Wegmarke. An diesem Tag verlas Reichskanzler Otto von Bismarck<br />

die „Kaiserliche Botschaft”. Die „Geburtsurkunde“ der deutschen<br />

Sozialversicherung enthielt das sozialpolitische Programm für den<br />

Aufbau einer Sozialversicherung mit Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung:<br />

„Der engere Anschluss an die realen Kräfte dieses<br />

Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form<br />

corporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und<br />

staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von<br />

Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem<br />

Umfang nicht gewachsen sein würde.”<br />

Der Ursprung der deutschen Sozialversicherung liegt in den Selbsthilfeeinrichtungen<br />

der Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter<br />

(Knappschaftsvereine im Bergbau). Das Kennzeichen der damaligen<br />

Einrichtungen war die enge Verbundenheit von Selbsthilfe<br />

und Selbstverwaltung. Daher lag es nah, dieses Verwaltungssystem<br />

bei Einführung der deutschen Sozialversicherung gewissermaßen<br />

fortzuschreiben. Die Selbstverwaltung spielte damals fast<br />

nur im kommunalen Bereich eine große Rolle. Mit der Übernahme<br />

der Selbstverwaltung in die neuen Sozialversicherungen wurde<br />

dieses Prinzip erstmals auch außerhalb der Kommunen im großen<br />

Stil angewandt. Dies bot sich auch deshalb an, weil die frühen Sozialversicherungen<br />

die Finanzautonomie als notwendige Basis des<br />

eigenverantwortlichen Handelns besaßen. Staatliche Zuschüsse zu<br />

den Beiträgen der Arbeiter und Arbeitgeber waren zunächst nicht<br />

vorgesehen. Die Beteiligungsrechte der Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />

richteten sich nach ihrem Finanzierungsanteil.<br />

Diktaturen sind keine Anhänger der Selbstverwaltung. Deshalb<br />

wurde sie während der NS-Herrschaft abgeschafft und auch in der<br />

Sozialversicherung durch das Führerprinzip ersetzt. Die SED hielt<br />

ebenfalls nichts von der Selbstverwaltung. So musste die Selbst-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 33


verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg neu begründet werden<br />

und konnte sich nach der Wende 1989/1990 auch in den neuen<br />

Ländern wieder etablieren. Allerdings war die Wiederbelebung der<br />

Selbstverwaltung nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit. Es<br />

bedurfte auch des Engagements christdemokratischer und christlich-sozialer<br />

Politikerinnen und Politiker. So sagte Konrad Adenauer<br />

in seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949:<br />

Die Selbstverwaltung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung<br />

verfügt über drei Bänke. Die „Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte“<br />

sind hier die dritte Kraft.<br />

Drei Bänke gibt es auch im Verwaltungsrat der Bundesagentur für<br />

Arbeit. Neben den Arbeitgebern und den Versicherten findet man<br />

dort die Bank der öffentlichen Hand.<br />

„Die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern<br />

müssen zeitgemäß neu geordnet werden. Die Selbstverwaltung<br />

der Sozialpartner muss an die Stelle der staatlichen Bevormundung<br />

treten.“<br />

Mit dem Selbstverwaltungsgesetz vom 13. August 1952 wurde die<br />

Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland wieder eingeführt.<br />

Zusammensetzung der Selbstverwaltungsorgane<br />

Bei den gesetzlichen Krankenkassen heißt das Selbstverwaltungsorgan<br />

„Verwaltungsrat“. Dieses ist in der Regel paritätisch mit Versicherten-<br />

und Arbeitgebervertretern besetzt. Bei vielen Betriebskrankenkassen<br />

ist die Anzahl der Arbeitgebervertreter geringer als<br />

die Anzahl der Versichertenvertreter. Allerdings haben die Arbeitgeber<br />

das gleiche Stimmgewicht wie die Versicherten. Bei einigen<br />

Ersatzkassen findet man eine reduzierte oder sogar eine fehlende<br />

Arbeitgeberbank. So gehören zum Beispiel dem Verwaltungsrat<br />

der BARMER GEK nur Versichertenvertreter an.<br />

Bei den Renten- und Unfallversicherungen gibt es eine zweistufige<br />

Selbstverwaltung: die „Vertreterversammlung“ und den ehrenamtlichen<br />

Vorstand. Diese Gremien sind in der Regel paritätisch<br />

besetzt. Bei einer Reihe von Unfallkassen findet man in der Vertreterversammlung<br />

und im Vorstand eine reduzierte Anzahl von Arbeitgebervertretern,<br />

die jedoch das gleiche Stimmgewicht wie die<br />

Versichertenvertreter besitzen.<br />

Sozialwahlen legitimieren die Selbstverwaltung<br />

Die Mitglieder der Selbstverwaltung sind dies nicht per Geburtsrecht,<br />

sondern sie werden im Rahmen der Sozialwahlen bestimmt.<br />

Dies gilt nicht für die Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit.<br />

Ihre Mitglieder werden von der/dem Bundesarbeitsminister/-<br />

in berufen.<br />

Das aktuell geltende Sozialwahlrecht definiert „Wahl“ wesentlich<br />

breiter, als dies in einem demokratischen Rechtsstaat gemeinhin<br />

der Fall ist. Dies sind die vier Möglichkeiten:<br />

1. Die Urwahlen finden in der Öffentlichkeit die größte Resonanz.<br />

Hierbei konkurrieren mindestens zwei Listen um die Stimmen<br />

der Wahlberechtigten. Bei den Sozialwahlen 2011 wurden 4 % der<br />

Mandate per Urwahl vergeben. Weil bei der Deutschen Rentenversicherung<br />

Bund urgewählt wurde, konnte etwa die Hälfte der<br />

Sozialversicherten zumindest bei diesem Versicherungsträger an<br />

den Sozialwahlen teilnehmen.<br />

2. Der übergroße Anteil der Mandate wird per „Wahl ohne Wahlhandlung“,<br />

bei so genannten „Friedenswahl”, vergeben. Diese<br />

findet immer dann statt, wenn zur Wahl nur eine Liste zugelassen<br />

wurde oder die Anzahl der Kandidatinnen und Kandidaten<br />

der Anzahl der zu vergebenden Mandate entspricht. In diesen<br />

Fällen werden die Wählerinnen und Wähler nicht mehr beteiligt.<br />

Es findet keine Wahl statt. Die Kandidatinnen und Kandidaten<br />

gelten ohne Abstimmung der Wahlberechtigten als gewählt. Voraussetzung<br />

dieser Variante ist, dass sich die beteiligten Organisationen<br />

auf die Verteilung der Mandate einigen. Organisationen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 34


lassen sich gerne auf diese Absprachen ein, weil sie eine hohe<br />

Planungssicherheit mit sich bringen. Wahlen können niemals die<br />

Planungssicherheit dieser Vereinbarungen gewähren.<br />

3. Bei den geschlossenen Betriebskrankenkassen werden die Arbeitgebervertreter/-innen<br />

von den beteiligten Unternehmen bestimmt.<br />

Reform der Sozialwahlen - Abschaffen der Friedenswahlen?<br />

Den Bericht über die Sozialwahlen 2011 habe ich gemeinsam mit<br />

dem stellvertretenden Bundeswahlbeauftragten Klaus Kirschner<br />

verfasst. Beim Erstellen des Berichtes wurden wir maßgeblich von<br />

Wolfgang Becker unterstützt, dem Leiter der Geschäftsstelle des<br />

Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen. Er ist<br />

zugleich Mitglied im Bundesvorstand der <strong>CDA</strong>.<br />

4. Bei den Unfallkassen legen unterschiedliche staatliche Ebenen<br />

fest, welche Personen auf der Arbeitgeberseite vertreten sind.<br />

100 Jahre Sozialwahlen<br />

Die ersten Sozialwahlen wurden 1913 – vor genau 100 Jah ren –<br />

durchgeführt. Wir blicken also auf eine lange Tradition zurück. Die<br />

ersten Sozialwahlen nach dem Krieg fanden 1953 – vor genau 60<br />

Jahren – statt. In der Regel wird alle sechs Jahre gewählt. Die letzten<br />

Sozialwahlen fanden 2011 statt. Den ausführlichen Bericht über<br />

diese Wahlen findet man unter www.sozialversicherungs<br />

wahlen.de. Solange der Vorrat reicht, kann man auch gedruckte<br />

Exemplare bestellen.<br />

In unserem Bericht machen wir eine Reihe von Vorschlägen für die<br />

Modernisierung des Sozialwahlrechtes. Unsere Empfehlungen für<br />

eine größere Transparenz und für die Rückübertragung von Kompetenzen<br />

auf die Selbstverwaltung finden relativ breite Zustimmung.<br />

Auch der Forderung nach der Einführung von Online-Wahlen<br />

wird zunehmend mit Sympathie begegnet.<br />

Wir fordern die Abschaffung der Friedenswahlen. Erwartungsgemäß<br />

findet diese Forderung bei den betroffenen Verbänden kaum<br />

Unterstützung. Nur vier Prozent der Mandate wurden in Urwahlen<br />

vergeben, der Rest in Friedenswahlen beziehungsweise im Rahmen<br />

von Benennungen durch die Arbeitgeberseite. Auch deshalb gibt<br />

es viele Anhänger der Friedenswahlen.<br />

Die wichtigsten Daten zu den Sozialwahlen 2011:<br />

• Von 206 Versicherungsträgern haben zehn eine Urwahl durchgeführt.<br />

• Mit annähernd 50 Millionen Wahlberechtigten wurde ein neuer<br />

Rekord in der Nachkriegszeit aufgestellt.<br />

• Es wurden etwa 15 Millionen Stimmen abgegeben. Dies sind über<br />

1,3 Millionen Stimmen mehr als 2005.<br />

• Die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag bei 30,15 % (2005:<br />

30,78 %).<br />

• Anzahl der vergebenen Mandate: 4.215 Mandate in den Verwaltungsräten<br />

und den Vertreterversammlungen sowie 741 Mandate<br />

in den ehrenamtlichen Vorständen.<br />

• Kosten der Sozialwahlen: 46,3 Millionen Euro / 93 Cent pro Wahlberechtigten.<br />

Mich stört bereits der Begriff „Friedenswahlen“. In der Konsequenz<br />

müsste man die Urwahlen als „Kriegswahlen“ bezeichnen.<br />

Die Friedenswahlen sind ein legaler Weg, aber wir stellen ein Legitimationsdefizit<br />

fest, weil die Rückbindung zum Souverän (Wählerinnen<br />

und Wähler) fehlt.<br />

Gerne wird mit dem Verweis auf die Praxis demonstriert, dass die<br />

Zusammensetzung der Selbstverwaltungen durch Organisationen<br />

bestimmt wird. Schließlich legen diese seit Jahrzehnten für einen<br />

Großteil der Versicherungsträger fest, welche Personen in die<br />

Selbstverwaltungen einziehen. Diese Beobachtung ist richtig, aber<br />

die Rechtskonstruktion ist eine andere. Das Sozialwahlrecht sieht<br />

vor, dass die Entscheidung über die Zusammensetzung der Selbstverwaltung<br />

durch die Wählerinnen und Wähler erfolgt. Die Frie-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 35


denswahl ist eine im Sozialwahlrecht vorgesehene Ausnahme, die<br />

zur Regel geworden ist. Wir wollen die zur Regel gewordene Ausnahme<br />

abschaffen. Für manchen Betroffenen ist dies schwer zu<br />

verstehen. Die Jahrzehnte währende Praxis der Friedenswahlen<br />

führt oftmals dazu, dass schon der Gedanke an Urwahlen als Zumutung<br />

empfunden wird.<br />

In einem demokratischen Staat erscheint mir der Rückgriff auf die<br />

Wählerinnen und Wähler doch die höchste und die beste Form der<br />

Legitimation. Ich freue mich sehr, dass der Bundesvorstand der <strong>CDA</strong><br />

meine Reformüberlegungen in seiner großen Mehrheit grundsätzlich<br />

unterstützt.<br />

Gerald Weiß, Jg. 1945, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen,<br />

Ehrenvorsitzender der <strong>CDA</strong> Deutschlands<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 36


Anselm<br />

Kipp<br />

Wie betriebliche<br />

Gesundheitsförderung die<br />

Psyche im Job schützen kann<br />

„Rekord bei Burn-Out-Frühverrentungen“: So betitelte eine Nachrichtenagentur<br />

im Januar <strong>2013</strong> die Meldung, 41 Prozent der Anträge<br />

auf Erwerbsminderungsrenten seien 2011 mit psychischen Leiden<br />

begründet worden. Die Deutsche Rentenversicherung hatte neue<br />

Zahlen vorgestellt: Mehr als 70.000 Beschäftigte haben demnach<br />

ihr Berufsleben wegen seelischer Störungen vorzeitig beendet bzw.<br />

beenden müssen. Fast zeitgleich präsentierten die Krankenkassen<br />

Fakten zu den Ursachen für Krankschreibungen. Tenor: Immer öfter<br />

begründen Ärzte temporäre oder dauerhafte Arbeitsunfähigkeit<br />

mit psychischen Leiden. Droht eine Welle von Angststörungen, Depressionen<br />

und anderen seelischen Erkrankungen? Und: Wo liegt<br />

die Ursache der Krankheiten?<br />

„Burn-Out“: Volkskrankheit oder Mode-Diagnose?<br />

Die Antworten variieren mit den Interessen. Gewerkschafter und<br />

Sozialpolitiker jeder Couleur beobachten mit Sorge, wie sich die<br />

Symptome eines „Ausgebrannt-Seins“ ausbreiten. Sie stellen einen<br />

Zusammenhang her zur Entwicklung der Arbeitswelt: Leistungsdruck<br />

und Arbeitshetze würden viele psychisch überfordern, seelische<br />

Störungen seien die Folge. Nicht wenige reden gar von der<br />

„Volkskrankheit Burn-Out“. Es gibt aber auch andere Stimmen:<br />

Nicht nur Arbeitgeber spotten über die vermeintliche „Mode-Diagnose“:<br />

Auch Mediziner von Rang bezweifeln, dass dem Anstieg bei<br />

den Diagnosen tatsächlich eine Häufung psychischer Leiden zugrunde<br />

liegt. Für die oben genannten Zahlen machen sie ein verändertes<br />

Diagnoseverhalten verantwortlich: Depressionen seien mittlerweile<br />

enttabuisiert und gesellschaftlich „vorzeigbar“. Außerdem<br />

könne niemand sagen, ob nicht persönliche, private Probleme oder<br />

Vorerkrankungen Auslöser der Störung seien – und nicht Faktoren,<br />

die mit dem Arbeitsplatz oder dem Beruf zu tun haben.<br />

Volkskrankheit oder Mode-Diagnose? Für die Arbeits- und Gesundheitspolitik<br />

ist das nachrangig. Denn Fakt bleibt: Die psychischen<br />

Störungen sind da, und sie treten am Arbeitsplatz auf. Da verbringt<br />

der Mensch nun einmal einen Gutteil der Lebenszeit. Er oder sie<br />

hat dort Anspruch auf Schonung der Gesundheit und Linderung<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 37


des „Arbeitsleids“. Grund genug für Medizin, Psychologie und Politik,<br />

genauer auf den Gesundheitsschutz im Job zu schauen.<br />

1. Welche Gefahren drohen der Psyche im Job?<br />

Wenn Beschäftigte nicht mehr arbeiten können, liegt es heutzutage<br />

in den meisten Fällen an (ärztlich diagnostizierten) psychischen<br />

Leiden. Die Vermutung ist plausibel, dass zu ihrer Entstehung<br />

Faktoren beitragen, die in der Arbeit und ihren Umständen<br />

wurzeln. In der Industriegesellschaft waren Unfallverletzungen sowie<br />

Muskel- und Skelettschädigungen nach körperlicher Abnutzung<br />

typische Gründe für Erwerbsminderung. Die Dienstleistungsgesellschaft<br />

birgt andere Gefahren: Die Art der Gesundheitsgefährdung<br />

in der Arbeitswelt hat sich offenbar gewandelt – und<br />

betrifft zunehmend die Psyche.<br />

Belastungen der Psyche sind normal – und erwünscht<br />

Medien und Politikbetrieb verdächtigen als Gefahrenherd oft pauschal<br />

„psychische Belastungen“, die aus „Druck und Hetze“ resultieren;<br />

sie seien für Stress und Angst verantwortlich. Diese einseitig negative<br />

Verwendung des Begriffs „Belastung“ leitet fehl: In Bezug auf<br />

die Beschreibung der psychischen Gesundheit ist er – laut der einschlägigen<br />

Norm DIN EN ISO 10075 „Ergonomische Grundlagen bezüglich<br />

psychischer Arbeitsbelastung“ – wertneutral. Denn psychische<br />

Belastungen sind alle Einflüsse auf die Psyche, die bei der Arbeit<br />

(Arbeitsplatz, Aufgabe, Ablauf und Umfeld der Arbeit) wirken:<br />

mentale Beschäftigung, Erfolgs- oder Misserfolgserlebnisse, Streit<br />

usw. Damit ist nichts über die Auswirkung auf den Einzelnen gesagt:<br />

Arbeitsbelastung ist normal und für das Wohlbefinden sogar notwendig.<br />

Belastungen der Psyche münden also nicht zwangsläufig in<br />

Fehlbeanspruchungen, die ermüden, stressen und krank machen. Das<br />

hängt von der Arbeit selbst und der individuellen Konstitution der<br />

Arbeitenden ab: Wer gesund, motiviert, sozial verankert und belastbar<br />

ist, wer sich bei der Arbeit an Leib und Seele gut fühlt, der oder die<br />

kann psychische Anstrengungen schultern und ausgleichen. Mediziner<br />

sprechen erst dann von Fehlbelastungen, wenn Belastungen<br />

schädigende Wirkung entfalten: Wenn die Balance zwischen den Beanspruchungen<br />

und den Ressourcen zu ihrer Bewältigung kippt.<br />

Experten gehen davon aus, dass die psychische Belastung in der<br />

Arbeitswelt tendenziell gestiegen ist; sie verlangt den Beschäftigten<br />

immer mehr Konzentration und Anstrengung ab. Folglich steigt<br />

bei vielen die schädliche Beanspruchung, die das Wohlbefinden<br />

stört. Beispiele dafür sind die Folgen von Über- und Unterforderung:<br />

Stress und Ermüdung. Beide sind Nährboden für psychische<br />

Störungen, die sich dann in den oben genannten Statistiken niederschlagen.<br />

2. Was tun, damit aus Belastungen nicht Fehlbeanspruchungen<br />

werden?<br />

Unter dem Strich steht: Die Gefahr von Fehlbeanspruchungen der<br />

Psyche im Arbeitsleben ist gestiegen, offenbar auch im Zusammenhang<br />

mit dem Wandel der Arbeitswelt. Auf Organisationsebene<br />

(in allen Arbeitsstätten: in Privatwirtschaft und Öffentlichem<br />

Dienst, im Produktions- und Dienstleistungssektor) bieten<br />

sich zwei Ansatzpunkte an, um Beschäftigte zu schützen: Erstens<br />

die Arbeit selbst und zweitens die individuelle Gesundheit und die<br />

Gesundheitskompetenz der einzelnen Beschäftigten.<br />

Risikoanalyse durch Gefährdungsbeurteilung<br />

Das Arbeitsschutzgesetz regelt den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.<br />

Es zielt – wie das Betriebsverfassungsgesetz – auf die<br />

„menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ insgesamt, nicht nur<br />

auf die Verhinderung von Unfällen und Standards der Arbeitssicherheit.<br />

Zur menschengerechten Gestaltung gehört implizit der<br />

Schutz der Psyche: Ein Hinweis darauf im Gesetz fehlt allerdings:<br />

bei den Grundsätzen des Arbeitsschutzes und den Regelungen zu<br />

den vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen. Bundesarbeitsministerium<br />

und Koalition wollen das nun ändern. Gewerkschaften<br />

und Parteien fordern darüber hinaus eine „Anti-Stress-Verordnung“,<br />

eine Durchführungsverordnung zum Arbeitsschutzgesetz.<br />

Die IG Metall hat dazu einen Entwurf vorgelegt: Demnach sollen<br />

unter anderem Vorschriften zur Gestaltung von Arbeitsaufgabe<br />

und Arbeitszeit gelten. Kontrovers diskutiert wird vor allem der<br />

Vorschlag, auch Regelungen zu sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz<br />

vorzugeben. Wirtschaftsverbände und andere Skeptiker be-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 38


mängeln, der persönliche Bereich lasse sich nun einmal nicht per<br />

Paragraph regeln.<br />

Psychische Fehlbelastungen resultieren oft aus mangelhafter Arbeitsgestaltung;<br />

arbeitswissenschaftlich gesprochen: aus ungünstigen<br />

Konstellationen im Arbeitssystem. Die Arbeitsaufgabe kann<br />

überfordern, unterfordern oder monoton sein. Auch der Arbeitsplatz<br />

birgt Gefahren, beispielsweise Lärmbelastung oder unzureichende<br />

Beleuchtung. Die beste Prävention von schädigenden Beeinträchtigungen<br />

ist eine bewusste Arbeitsgestaltung, abgeleitet<br />

aus einer Analyse der Risiken, bezogen auf den einzelnen Beschäftigten,<br />

seine Tätigkeit und seinen Arbeitsplatz. Diese Gefährdungsbeurteilung<br />

zeigt, wo welcher Handlungsbedarf besteht. Darauf<br />

aufbauend wird geplant, was zu tun ist. Leider gehört es in vielen<br />

Chefetagen zum guten Ton, diese Vorschrift zu ignorieren: Das zeigen<br />

Untersuchungen des Bundesamtes für Arbeitsschutz und der<br />

Gewerkschaften.<br />

Fitness, Ernährung: Die individuelle Konstitution entscheidet<br />

Es ist normal, dass Arbeit den Menschen belastet: Schon die biblische<br />

Schöpfungsgeschichte weiß davon zu berichten. Die Belastungen<br />

treffen Körper und Psyche; die Frage ist nur, mit welcher<br />

Konstitution die Beschäftigten ihnen entgegentreten. Prävention<br />

soll die gesundheitlichen Ressourcen an Leib und Seele stärken.<br />

Dabei helfen Bewegung und gesunde Ernährung. Ein gutes Arbeitsklima<br />

schützt die Psyche, wie auch stabile Beziehungen zu<br />

Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen. Fühlen sich Beschäftigte<br />

am Arbeitsplatz gut aufgehoben, können sie kritische und<br />

stressige Situationen besser abfedern.<br />

Fazit: Gesundheitsschutz heißt Risiken minimieren und Ressourcen<br />

stärken. Zu beidem kann die betriebliche Gesundheitsförderung<br />

beitragen.<br />

3. Was ist betriebliche Gesundheitsförderung?<br />

Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) ist ein Oberbegriff für<br />

Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit bei der Arbeit; im Idealfall<br />

systematisch auf Betriebsebene geplant, unter Beteiligung von<br />

Belegschaft und Unternehmensleitung, finanziell oder organisatorisch<br />

gefördert von den Krankenkassen. „Betriebliche Gesundheitsförderung“<br />

wird meist zusammen und synonym mit „Arbeitsschutz“<br />

und „Gesundheitsschutz“ verwendet. Letztere beschreiben<br />

eher den Schutz vor unmittelbaren Gefahren bei der Ausübung der<br />

Tätigkeit, „Betriebliche Gesundheitsförderung“ benennt hingegen<br />

Aktivitäten, die präventiv Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten<br />

stärken und die Arbeitsumstände verbessern. Gesundheitsschutz<br />

sei die gesetzlich normierte grobe Arbeit, Gesundheitsförderung<br />

die freiwillige Feinjustierung: Auf diese griffige Formel<br />

bringt es ein aktueller Praxis-Leitfaden der Bundesvereinigung der<br />

Deutschen Arbeitgeberverbände. Arbeits- und Gesundheitsschutz<br />

setzten am Arbeitsplatz oder der beruflichen Tätigkeit an und seien<br />

die Pflicht, die „personenbezogene“ BGF die Kür.<br />

Arbeitsschutz vs. Gesundheitsförderung: Die Grenzen sind<br />

fließend<br />

In der Praxis in Unternehmen und Behörden sind die Grenzen zwischen<br />

Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung<br />

fließend. Insbesondere große Organisationen haben ein Gesundheitsschutzmanagement,<br />

das Teil der Unternehmenspolitik<br />

ist: Es ist genauso für die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zuständig<br />

wie für Raucherentwöhnung oder gesundes Kantinenessen. In<br />

den Medien wird BGF oft verengt auf sportliche Angebote wie Rücken-Training<br />

oder Laufgruppen. Doch die „Luxemburger Deklaration“,<br />

die „Fibel“ der BGF, definiert sie als „gemeinsame Maßnahmen<br />

von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung<br />

von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz“.<br />

Dazu gehören Bemühungen um eine bessere Arbeitsorganisation<br />

oder die Einbindung der Belegschaft und ihrer Vertretungen. In den<br />

Qualitätskriterien des Europäischen Netzwerkes für BGF wird sogar<br />

ein „Umweltschutz-Management“ und ein verantwortlicher Umgang<br />

„mit den natürlichen Ressourcen“ als Kriterium für gelin-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 39


gende BGF beschrieben. Zur BGF zählen jedenfalls auch die ergonomische<br />

Gestaltung des Arbeitsplatzes oder Maßnahmen, die<br />

Stress verhindern oder das Betriebsklima bessern.<br />

Idealtypisch beginnt ein Prozess der BGF mit einer Bedarfsbestimmung,<br />

etwa durch eine Betriebsbegehung oder eine Mitarbeiterbefragung.<br />

Betriebs- und Personalräte werden dabei eingebunden<br />

– wie in alle weiteren Schritte. Analyse und Maßnahmen-Planung<br />

sind individuell und personenbezogen: Sie haben die einzelnen Beschäftigten<br />

und ihre konkreten Arbeitssituationen im Blick. Welche<br />

Belastungen bringt die Arbeit mit sich? Wie kann sie verändert<br />

werden, damit sie keine Fehlbeanspruchungen hervorruft? Welche<br />

Angebote helfen dabei, sie zu tragen? Das Instrumentarium der<br />

BGF ist vielfältig. Zur Analyse üblich sind Gesundheitszirkel, zur<br />

Prävention werden häufig Kurse angeboten, die auf die besonderen<br />

Situationen in den Organisationen abgestellt werden: Körperlich<br />

anstrengende Arbeit braucht gezieltes Training zur Stärkung von<br />

Muskeln und Skelett, mentalen Belastungen begegnet man beispielsweise<br />

mit Bewegung oder Entspannungsübungen.<br />

4. Wie will die Politik BGF fördern?<br />

Die Parteien fordern unisono einen besseren Schutz des seelischen<br />

Wohlbefindens im Job. Auch wenn sie in vielen Fragen zerstritten<br />

sind: Alle setzen auf Prävention – und BGF. Folglich gilt ihre Etablierung<br />

über Parteigrenzen hinweg als eine der wichtigsten Aufgaben<br />

der Präventionspolitik. So sieht es auch die Union. Im Abschlussbericht<br />

des <strong>CDA</strong>-Arbeitskreises „Humanisierung der Arbeitswelt“<br />

vom November 2012 spielt die Ausweitung der BGF eine Schlüsselrolle.<br />

Die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

hatte bereits im März 2012 einen Forderungskatalog für einen besseren<br />

Schutz der seelischen Gesundheit im Job vorgelegt. Darin ist<br />

der Ausbau der Förderung der BGF durch die Krankenkassen eine<br />

Hauptforderung. Die CDU appellierte im Leitantrag zum Parteitag<br />

in Hannover im Dezember 2012 unter der Überschrift „Menschengerechte<br />

Arbeitswelt“ an Betriebe und Verwaltungen, „das Instrument<br />

des betrieblichen Gesundheitsmanagements stärker zu<br />

nutzen“.<br />

Noch ist BGF eine Sache der „Großen“<br />

Die Politik hat vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen<br />

(KMU) im Blick. Denn noch bieten vor allem größere Betriebe und<br />

Verwaltungen BGF an. Gesundheitsmanagement hält dort schon<br />

aus ökonomischen und personalwirtschaftlichen Gründen Einzug.<br />

Schließlich steigen Lebensarbeitszeit und Fachkräftebedarf: Beides<br />

setzt gesunde Mitarbeiter voraus. In KMUs fehlt es hingegen oft<br />

an Initiative und Unterstützung aus Belegschaft, Arbeitnehmervertretungen<br />

und Betriebsleitung. Kleinstunternehmen sind organisatorisch<br />

überfordert: Das „Tagesgeschäft“ überlagert alles. Doch<br />

BGF funktioniert im Grundsatz subsidiär: Die Maßnahmen sollen<br />

auf der unteren Ebene, nah bei der Belegschaft, im Betrieb selbst<br />

entwickelt (und am besten dort auch durchgeführt) werden. Noch<br />

gilt: Je kleiner die Einheit, desto seltener sind Maßnahmen der BGF,<br />

geschweige denn ein systematisches „Gesundheitsmanagement“.<br />

Ein bedrückender Befund: Schließlich arbeitet bundesweit jede<br />

und jeder achte in einem Unternehmen mit weniger als neun Beschäftigten.<br />

Mehr Förderung, mehr Hilfen: Das Präventionskonzept<br />

der Koalition<br />

Wie kann man BGF auch in KMUs schrittweise zum Standard machen?<br />

Fachpolitiker der Koalitionsparteien haben im Dezember<br />

2012 ein Präventionskonzept vorgelegt. Sie wollen, dass KMUs besser<br />

über BGF informiert werden. Dazu sollen kassenfinanzierte regionale<br />

Koordinierungsstellen eingerichtet werden. Sie sollen „einen<br />

niedrigschwelligen und unbürokratischen Zugang für Unternehmen<br />

zu Leistungen der betrieblichen Gesundheitsförderung“<br />

ermöglichen. Sprich: KMUs sollen sich einfach und kostengünstig<br />

an Angeboten beteiligen können. Die Betriebe sollen mit den Kammern<br />

zusammenarbeiten.<br />

Vorgeschlagen wird ein neuer Mindestbeitrag der Krankenkassen<br />

für präventive Maßnahmen: „Im SGB V wird ein Mindestbetrag der<br />

Krankenkassen jeweils für Leistungen zur Gesundheitsförderung<br />

in Betrieben (2 Euro) und für Leistungen in anderen alltäglichen<br />

Lebensbereichen (1 Euro) festgelegt“. So wollen die Fachpolitiker<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 40


sicherstellen, dass auch die Belegschaften der KMUs in den Genuss<br />

der Förderung kommen: „Wird der Mindestbetrag für Leistungen<br />

zur Gesundheitsförderung in Betrieben gleichwohl unterschritten,<br />

soll der Differenzbetrag der Förderung von Projekten der regionalen<br />

gemeinsamen Koordinierungsstellen der Krankenkassen für<br />

betriebliche Gesundheitsförderung zugutekommen“.<br />

5. Fazit: Die Richtung stimmt<br />

Politik, Gesellschaft, Tarifpartner, Betriebspartner: Alle haben ein<br />

Interesse daran, BGF flächendeckend durchzusetzen – vor allem<br />

mit Blick auf die Entwicklung der psychischen Beanspruchungen<br />

in der Arbeitswelt. BGF ist kein „Muss“, sie ist abhängig von Offenheit<br />

und Engagement von Chefs, Belegschaft und Arbeitnehmervertretungen.<br />

Staat und Sozialversicherungen können motivieren,<br />

finanzieren und – wo nötig – organisieren. Die Vorschläge der Koalition<br />

weisen in diese Richtung; sie haben die Unterstützung von<br />

Regierung und Parlament verdient.<br />

Anselm Kipp, Jg. 1972, <strong>CDA</strong> Bundespressesprecher<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 41


Josef Zolk<br />

Genossenschaften –<br />

Relikte des 19. Jahrhunderts oder weltweit Chancen für<br />

Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung?<br />

Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der<br />

Genossenschaften ausgerufen, um auf die weltweite Bedeutung<br />

von Genossenschaften aufmerksam zu machen und ihre Rolle für<br />

die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vieler Länder zu betonen.<br />

UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begründet diese Entscheidung<br />

mit der Verbindung von Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung,<br />

die von den Genossenschaften der internationalen<br />

Gemeinschaft vorgelebt werde.<br />

Genossenschaften widerstehen bei aller Größe, die sie heute erreichen,<br />

auf Grund der inneren Aufsichts- und Kontrollstrukturen besser<br />

als viele andere Finanzinstitute den oft irrsinnigen Verlockungen<br />

der Finanzindustrie, sie bilden Gegenpole zu unkontrollierten<br />

„ökonomischen Raumschiffen“ und sind trotz aller Fehler im Detail,<br />

bei denen man auch hier und da den algorithmischen Verlockungen<br />

zu ungezügelter Gewinnmaximierung nachgegeben hatte,<br />

Garanten soliden Wirtschaftens. Die Unternehmensstrategien sind<br />

gemäß Selbstverständnis von langfristigen Überlegungen und unternehmerischem<br />

Augenmaß geprägt. Unbestritten nehmen Genossenschaften<br />

soziale Verantwortung in der Gesellschaft wahr.<br />

In Deutschland ist die Genossenschaftsgruppe die bei Weitem mitgliederstärkste<br />

Wirtschaftsorganisation. Mit 26 Millionen Mitgliedern<br />

und mehr als 800.000 Mitarbeitern in über 7.500 Genossenschaften<br />

sind sie eine treibende Kraft für Wirtschaft und Gesellschaft.<br />

Die Zahl der genossenschaftlichen Eigentümer ist um ca.<br />

das Fünffache höher als die Zahl der Aktionäre.<br />

Genossenschaften gibt es in vielen Bereichen und Branchen:<br />

1. Genossenschaftsbanken<br />

Nähe zum Kunden, Verantwortung in der Region und Partner des<br />

Mittelstandes – nach diesen Grundsätzen arbeiten die über 1.100<br />

deutschen Volks- und Raiffeisenbanken sowie die Verbundunternehmen<br />

der genossenschaftlichen Finanzgruppe. Den Kreditgenossenschaften<br />

schlossen sich zwischen 2008 und 2010 rund<br />

460.000 neue Mitglieder an. Der Marktanteil der Volks- und Raiff-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 42


eisenbanken stieg nach dem Beginn der Bankenkrise auf über 18 %<br />

an. Auf Grund ihrer Stabilität, der höheren Rücklagen und dem<br />

Grundsatz, dass die Anteile der Genossenschaftsmitglieder nicht<br />

auf den (internationalen) Finanzmärkten gehandelt werden, kamen<br />

die genossenschaftlichen Finanzinstitute auch in und nach<br />

der Krise ohne staatliche Hilfen aus.<br />

5. Konsumgenossenschaften<br />

Das Genossenschaftsgesetz von 1889 definierte Konsumgenossenschaften<br />

als „Vereine zum gemeinschaftlichen Einkauf von Lebensoder<br />

Wirtschaftbedürfnissen“. Dabei bedeutet „Einkauf“ nicht,<br />

dass ausschließlich Handel betrieben wird. Die eigene Produktion<br />

ist traditionell Teil des konsumgenossenschaftlichen Konzepts.<br />

2. Wohnungsgenossenschaften<br />

Mit ihren rund 2,2 Millionen Wohnungen bieten die rund 2.000<br />

Wohnungsgenossenschaften für mehr als 5 Millionen Menschen<br />

Wohnungen. Der Anteil der Genossenschaftswohnungen am Mietwohnungsbestand<br />

in Deutschland von 24 Millionen Mietwohnungen<br />

beträgt ca. 10 %.<br />

3. Raiffeisengenossenschaften<br />

Über 2.500 landwirtschaftliche Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften<br />

mit 1,7 Millionen Mitgliedern berufen sich auf die<br />

Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Die selbstständigen Waren-<br />

und Dienstleistungsgenossenschaften sind stark auf dem<br />

Land vertreten und versorgen ihre Mitglieder z. B. mit Futtermitteln,<br />

Düngemitteln und Maschinen. Sehr viele Landwirte und Winzer<br />

sind Mitglieder von ländlichen Genossenschaften, seit der deutschen<br />

Vereinigung auch in den neuen Ländern.<br />

4. Gewerbliche Genossenschaften<br />

In Deutschland gibt es zu Beginn des Jahres 2012 rund 1600 gewerbliche<br />

Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften mit rund<br />

300.000 Mitgliedern und einem addierten Jahresumsatz (Umsatz<br />

aller Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften zusammen)<br />

von ca. 103 Milliarden Euro .Die beiden großen Genossenschaften<br />

dieses Bereichs sind in Deutschland EDEKA (Einkaufsgenossenschaft<br />

der Kolonialwarenhändler; E.d.K), gegründet 1898, und REWE<br />

(Revisionsverband der Westkauf-Genossenschaften), gegründet<br />

1927.<br />

Kooperation ist keine neue Erfindung. In der Menschheitsgeschichte<br />

haben in allen Kulturen, in allen Weltregionen und zu allen<br />

Zeiten Menschen für gemeinsame Zwecke zusammengearbeitet.<br />

Dabei haben sich unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit<br />

herausgebildet: Ad-hoc-Zusammenschlüsse, auf Langfristigkeit<br />

angelegte Kooperationen und informelle bzw. traditionelle Formen.<br />

Die Entstehung des modernen Genossenschaftswesens im 19. Jahrhundert<br />

und die Rolle der Pioniere Raiffeisen und Schulze-Delitzsch<br />

werden im UNO-Jahr der Genossenschaften zu Recht herausgestellt.<br />

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Sohn des Westerwaldes, folgte<br />

zunächst seiner christlichen Überzeugung unter dem Leitspruch:<br />

„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,<br />

das habt ihr mir getan“. Seine ursprünglichen Ideen basierten auf<br />

einem karitativen Ansatz.<br />

Hermann Schulze-Delitzsch, preußischer Politiker, Kaufmann, Jurist,<br />

war dagegen der Meinung, dass sich die Menschen selbst helfen<br />

müssen, um ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Auch<br />

Raiffeisen erkannte bald, dass ein karitativer Ansatz allein die Not<br />

nicht nachhaltig überwinden konnte. Die Menschen müssen den<br />

Willen haben und die Chance erhalten, sich selbst zu helfen. Selbsthilfe,<br />

Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, die „drei S“,<br />

wurden die Grundlagen des genossenschaftlichen Handelns.<br />

Heute sind Genossenschaften in vielen Ländern wichtige Elemente<br />

der Wirtschaft und Gesellschaft. Sie schaffen und sichern Marktzu-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 43


gang, Größenvorteile und eigenständige Marktpositionen. Ihr Fundament<br />

sind Stabilität, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Die Sozialund<br />

Wirtschaftsstruktur eines Landes wird durch Genossenschaften<br />

positiv beeinflusst. Genossenschaften im Finanzsektor, Handel,<br />

Handwerk und in der Landwirtschaft sind in vielen Ländern das<br />

Rückgrat der wirtschaftlichen Aktivitäten. Sie basieren auf lokaler<br />

Initiative und Wirtschaftskraft und tragen wesentlich zur Entwicklung<br />

bei. Sie sind in ihren Strukturen regionalbezogen und überschaubar,<br />

sie unterliegen nicht anonymen Konstrukten weltweit<br />

operierender Finanzkonzerne.<br />

Genossenschaften brauchen gute Partner<br />

Erfolgreiche genossenschaftliche Systeme umfassen mehrere Ebenen:<br />

lokale Genossenschaften und regionale bzw. nationale Zentralen<br />

und Verbände. Sie sind dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend<br />

aufgebaut, das Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt,<br />

müssen aber auch geprüft und kontrolliert werden. Schon 1872<br />

schrieb Raiffeisen: „Die Organisation ist das einzige Mittel, die Darlehns-Vereine<br />

für die ganze Zukunft zu erhalten, durch sie sind die<br />

einzelnen Vereine nicht mehr allein stehend, nicht mehr den Zufälligkeiten<br />

und Wechselfällen der Zeit unterworfen“. Spar- und Kreditgenossenschaften<br />

müssen lizenziert sein und der Regulierung<br />

und Aufsicht durch staatliche Stellen unterliegen. Auch kleinste Ersparnisse<br />

müssen sicher sein; hier spielt neben der Bankenaufsicht<br />

auch ein Einlagensicherungssystem eine wichtige Rolle. Ein wesentlicher<br />

Erfolgsfaktor moderner genossenschaftlicher Sys teme ist die<br />

umfassende genossenschaftliche Prüfung und Kontrolle.<br />

Gerade wegen der Globalisierung nimmt die Bedeutung der lokalen<br />

und regionalen Wirtschaft als eine der Grundlagen für die gesamtwirtschaftliche<br />

Entwicklung zu, die von unterschiedlichen<br />

Faktoren wie Ressourcenausstattung, fachlichem Know-how, Infrastruktur,<br />

Existenz eines leistungsfähigen Finanzsektors und effizienten<br />

Märkten abhängt. Um den Menschen Teilhabe an der Entwicklung<br />

zu ermöglichen, muss ihnen die Chance zur Selbsthilfe<br />

gegeben werden. Der Staat setzt den (wirtschafts-) politischen<br />

Rahmen, innerhalb dessen sich „Entwicklung“ vollziehen kann.<br />

Selbstbestimmung statt Instrumentalisierung<br />

Genossenschaften werden in der entwicklungspolitischen Diskussion<br />

bis heute sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite<br />

findet sich eine völlige Überschätzung als „Instrument“ zur Entwicklung,<br />

auf der anderen Seite gibt es undifferenzierte Ablehnung.<br />

Es wurde oft versucht, einen Organisationstyp, der sich zum<br />

Beispiel in Europa organisch entwickelt hat, ohne Beachtung der<br />

spezifischen Bedingungen eines einzelnen Entwicklungslandes<br />

oder der Bedürfnisse der Menschen zu übertragen oder gar als Instrument<br />

des Staates bzw. von Geberorganisationen zu benutzen.<br />

Landespezifische Bedingungen, wie sozialer Zusammenhalt und<br />

betriebswirtschaftliche Aspekte als Grundlage unternehmerischen<br />

Handelns, wurden ebenso vernachlässigt wie notwendige landeseigene<br />

gesetzliche Rahmenbedingungen.<br />

Genossenschaften können staatliches Handeln nicht ersetzen.<br />

Wollen sie ihrem eigentlichen Auftrag gerecht werden, sind sie:<br />

Unternehmen ihrer Mitglieder, für diese tätig, von diesen getragen,<br />

finanziert und kontrolliert. „Dabei verstehen sich Genossenschaften<br />

nicht nur als ein Unternehmenstyp, sondern als gesellschaftliches<br />

Mikrosystem von ganz besonderer, auch kultureller<br />

Sensibilität“. (E. Dülfer)<br />

Entscheidend ist die Situation vor Ort<br />

Es gibt weltweit viele Beispiele erfolgreicher genossenschaftlicher<br />

Strukturen, die aus eigener Kraft und Initiative heraus entstanden<br />

sind oder erfolgreich „behutsam“ von außen gefördert wurden.<br />

Wesentliche Bedingung dafür aber war und ist immer, dass sich<br />

die Genossenschaften an den Zielen und Bedürfnissen der Mitglieder<br />

orientieren.<br />

Eine der wichtigsten Lehren aus dem Aufbau genossenschaftlicher<br />

Strukturen ist: Jedes Land ist anders, jede Kultur ist anders. Deshalb<br />

kann es auch kein Standardmodell geben. Aber es gibt Erfahrungen,<br />

die genutzt werden können:<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 44


Jede Genossenschaft muss für ihre Mitglieder leistungsfähig und<br />

attraktiv sein. Dazu sind in der einzelnen Genossenschaft eine konsequente<br />

wirtschaftliche Ausrichtung, eine adäquate interne Organisation<br />

und gut ausgebildete Führungskräfte und Mitarbeiter<br />

erforderlich. Die Genossenschaften müssen Teil von subsidiär aufgebauten<br />

Netzwerken sein, denn dann können sie von den Leistungen<br />

spezialisierter Zentralunternehmen und Verbänden profitieren.<br />

Genossenschaften bieten die Chancen, die Menschen an<br />

der regionalen Wertschöpfung zu beteiligen, ja regionale Wertschöpfung<br />

erst zu ermöglichen und zu stabilisieren.<br />

• Der Staat hat dabei „nur“ die Pflicht, einen angemessenen rechtlichen<br />

und regulatorischen Rahmen für genossenschaftliches<br />

Handeln zu schaffen. Genossenschaften können staatliches Handeln<br />

nicht ersetzen und haben auch keinen öffentlichen Auftrag.<br />

Sie sind Unternehmen ihrer Mitglieder, für diese tätig, von diesen<br />

getragen, finanziert und kontrolliert. Jedes Mitglied hat unabhängig<br />

von der Höhe der Einlage eine Stimme (§ 43 des Deutschen<br />

Genossenschaftsgesetzes). Auch das unterscheidet Genossenschaften<br />

grundlegend von den Finanzkonzernen. Und: Was die<br />

genossenschaftlichen Unternehmen erwirtschaften, fließt den<br />

Mitgliedern auf drei Wegen zu:<br />

• Über die Konditionen und Qualitätsstandards der Leistungen<br />

• Über die Verzinsung der Geschäftsanteile<br />

• Über die Investitionen in die Genossenschaft<br />

Der langfristige Nutzen für die Mitglieder steht im Vordergrund,<br />

nicht die kurzfristige Verzinsung (Shareholder-Value). Gerade deswegen<br />

sind Genossenschaften heute wieder modern.<br />

Josef Zolk, Jg. 1949, Bürgermeister Verbandsgemeinde Flammersfeld/Westerwald,<br />

Mitglied des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstands und Mitglied des Kreistages Altenkirchen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 45


Martin<br />

Kamp<br />

Strom in Bürgerhand<br />

Boom bei Energiegenossenschaften:<br />

Neuer Auftrieb für ein unterschätztes Modell<br />

Mehr als 800.000 Deutsche sind Mitglieder von über 600 Energiegenossenschaften<br />

– Tendenz steigend. Ob im überschaubaren Bioenergiedorf<br />

oder bei der Bürger-Energie Berlin: Engagierte Bürger<br />

mischen so bei der Energiewende mit – und verdienen auch an ihr.<br />

Energiegenossenschaften boomen. Dass die Bilanz nach dem „Internationalen<br />

Jahr der Genossenschaften“ 2012 positiv ausfällt,<br />

liegt nicht zuletzt daran.<br />

Wenn man sich dem Polizeipräsidium in Potsdam-Eiche nähert,<br />

dann sieht man schon von weitem die Solarmodule auf den schrägen<br />

Dächern der vier Garagen: Unten Polizeiautos, oben Stromproduktion.<br />

Doch das Land Brandenburg hat die Dächer nur vermietet<br />

– an die Neue Energie-Genossenschaft (NEG) Potsdam. Seit knapp<br />

zwei Jahren speist die NEG den Garagenstrom ins Potsdamer Netz<br />

– immerhin genug für 55 Haushalte.<br />

Auch Jens Aasmann setzt auf erneuerbare Energien. Aasmann ist<br />

Amtsdirektor des Amtes Rhinow, zu dem einige kleine Gemeinden<br />

im westlichen Brandenburg gehören. So weit wie in der Landeshauptstadt<br />

ist man dort noch nicht. Doch auch im Westhavelland<br />

haben Gemeinden, Volksbank und engagierte Bürger eine Energiegenossenschaft<br />

gegründet – gleichfalls mit dem Ziel, öffentliche<br />

Gebäude mit Solaranlagen auszustatten. Die Region brauche einen<br />

Akteur, der die Chancen der Energiewende nutzen könne. „Den<br />

Kommunen selbst sind durch Haushaltsrecht und Kommunalverfassung<br />

zu enge Grenzen gesetzt“, findet Aasmann. Daher habe<br />

man die Energiegenossenschaft Westhavelland gegründet.<br />

Lisa Neumann-Cosel hat viel weitergehende Ambitionen; mit ein<br />

paar Sonnenmodulen gibt sie sich nicht ab. Zusammen mit rund<br />

500 Genossinnen und Genossen will sie das Berliner Stromnetz<br />

übernehmen. Zwar gehört das Netz noch dem schwedischen Energieversorger<br />

Vattenfall. Doch einen Wert hat es für den Eigentümer<br />

nur zusammen mit einer Konzession – und die läuft Ende nächsten<br />

Jahres aus. Wer danach die Konzession erhält, entscheidet der Berliner<br />

Senat. Geht Vattenfall leer aus, muss das Unternehmen das<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 46


Netz verkaufen. Neumann-Cosel sitzt im Vorstand der Genossenschaft<br />

Bürger-Energie Berlin (BEB) – und hofft auf den Zuschlag.<br />

Wie viel das Netz wert ist, ist umstritten. Die Zahlen schwanken<br />

zwischen 400 Millionen und mehreren Milliarden Euro. Drei Millionen<br />

Euro haben die Genossenschaftsmitglieder inzwischen für<br />

ihre Geschäftsanteile eingezahlt. „Uns ist natürlich bewusst, dass<br />

unser Vorhaben ambitioniert ist“, sagt Lisa Neumann-Cosel. Für<br />

besonders realistisch hält sie die gemeinsame Übernahme des Netzes<br />

durch die BEB und das Land Berlin – zumal in Berlin ein Volksbegehren<br />

für eine Rekommunalisierung des Stromnetzes läuft.<br />

Energiegenossenschaften boomen im ländlichen Raum<br />

Energiegenossenschaften erleben einen Boom. Gut 600 gibt es<br />

mittlerweile im Land. Die meisten wurden in den vergangenen<br />

fünf Jahren gegründet, vor allem in ländlichen Regionen und kleineren<br />

Städten. Dazu gehören Genossenschaften wie die in Potsdam<br />

und im Havelland, die Strom aus erneuerbaren Energien produzieren<br />

und einspeisen. Andere – nicht nur in Berlin – wollen das<br />

Stromnetz übernehmen. In Jena etwa beteiligt sich die dortige<br />

Energiegenossenschaft an den Stadtwerken. Doch auch Bioenergiedörfer<br />

zählen dazu, die – meist mit Kraft-Wärme-Kopplung –<br />

kleinere Orte mit Strom und Wärmeenergie versorgen. Und im<br />

Volks wagenwerk in Emden hat der Betriebsrat gar den Anstoß zur<br />

Gründung einer Belegschaftsgenossenschaft gegeben. Während<br />

die meisten Energiegenossenschaften regional tätig sind, gibt es<br />

unter ihnen auch einige große Player: Greenpeace Energy eG liegt<br />

mit 22.000 Mitgliedern an der Spitze und bietet bundesweit Strom<br />

an. Auch die Elektrizitätswerke Schönau (EWS), nach der Katastrophe<br />

von Tschernobyl von den „Stromrebellen aus dem Schwarzwald“<br />

mit dem Ziel der Übernahme des städtischen Stromnetzes<br />

gegründet, verkaufen längst im ganzen Land Energie.<br />

Die Stromrebellen aus dem Schwarzwald sind zwar erst vor drei Jahren<br />

von einer GmbH zu einer Genossenschaft geworden. Doch die<br />

EWS sind nicht ganz untypisch. So unterschiedlich die Energiegenossenschaften<br />

im Einzelnen auch sein mögen: Die Gründer eint<br />

meist nicht nur die Ablehnung der Atomkraft und Skepsis gegenüber<br />

der klimaschädlichen Kohle, sondern auch Vorbehalte gegenüber<br />

großen Energieversorgern mit entsprechend großer Marktmacht.<br />

Rund ein Viertel des deutschen Stroms kommt inzwischen aus erneuerbaren<br />

Energien, allein der Anteil des Solarstroms hat sich in<br />

den vergangenen drei Jahren vervierfacht.<br />

Schon mit wenigen Euro wird man Genosse<br />

Da erneuerbare Energien nicht in Riesenkraftwerken gewonnen werden,<br />

sondern mit durchaus erschwinglichen Anlagen, haben Private<br />

und regionale Genossenschaften hier leichtes Spiel. Die großen Energieversorger<br />

haben mit dem Boom denn auch kaum etwas zu tun.<br />

Helene Maron vom Kölner Klaus-Novy-Institut (KNI) hat die Entwicklung<br />

der Energiegenossenschaften in einer Studie für das Bundesumweltministerium<br />

genauer unter die Lupe genommen. Allein im<br />

Jahr 2011 ist ihre Zahl um 35 Prozent gestiegen. 2001 gab es erst 77<br />

Energiegenossenschaften – zehn Jahre später schon 586, und 2012<br />

dürfte die Zahl abermals gestiegen sein. Rund 800.000 Deutsche<br />

sind Mitglieder von Energiegenossenschaften. Dabei ist die regionale<br />

Verteilung sehr unterschiedlich: Verfügte Baden-Württemberg<br />

2011 über 107 und Bayern sogar über 151 Energiegenossenschaften,<br />

so gab es im bevölkerungsreichsten Bundesland, Nord rhein-West -<br />

falen, nur 68. Ein Grund: die Ballungszentren und vielen Großstädte<br />

an Rhein und Ruhr. Denn die Untersuchung des KNI zeigt auch: In<br />

den kleineren Gemeinden findet man – pro Kopf der Bevölkerung –<br />

deutlich mehr Energiegenossenschaften als in großen Städten. „Je<br />

geringer die Einwohnerdichte je Quadratkilometer ist, desto höher<br />

ist die Dichte an Energiegenossenschaften“, heißt es.<br />

Und auch das geht aus der Studie hervor: Schon mit überschaubarem<br />

Einsatz ist man dabei. Meist muss man zwischen 100 und 500<br />

Euro für die erforderlichen Genossenschaftsanteile berappen. In<br />

einem Fall reichen sogar fünf Euro, um Genossenschaftsmitglied<br />

zu werden.<br />

Oft stehen Volks- und Raiffeisenbanken Pate bei der Gründung von<br />

Energiegenossenschaften. Die verfügen nicht nur über genossen-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 47


schaftliche Expertise, sondern sie haben auch eine gute Marktposition<br />

im Agrarbereich.<br />

„Genosse“: So heißen nicht nur die Mitglieder einer Genossenschaft.<br />

Auch Sozialisten und Sozialdemokraten sprechen sich so an. Und in<br />

der Tat waren es Frühsozialisten wie der Brite Robert Owen, die die<br />

Genossenschaftsidee schon ab Ende des 18. Jahrhunderts propagierten.<br />

Doch die Gründungsväter der Genossenschaftsbewegung im<br />

19. Jahrhundert in Deutschland waren eher Liberale: Friedrich Wilhelm<br />

Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. Ihre Maximen lauteten:<br />

Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Das<br />

findet seinen Niederschlag auch im Genossenschaftsgesetz, das immerhin<br />

aus dem vorletzten Jahrhundert datiert und 2006 zum letzten<br />

Mal geändert worden ist. Demnach ist eine Genossenschaft eine<br />

Gesellschaft „von mindestens drei Mitgliedern“. Der Gesetzgeber<br />

stellt Genossenschaften Kaufleuten im Sinne des Handelsgesetzbuchs<br />

gleich. Das heißt freilich nicht, dass sie wie Aktiengesellschaft<br />

oder GmbH vor allem darauf aus sind, Gewinne zu machen und anschließend<br />

an die Anteilseigner auszuschütten. Zweck von Genossenschaften<br />

ist es, „den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder“<br />

durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern. So sind Genossenschaftsmitglieder<br />

meist zugleich auch Kunden, Mieter oder<br />

Lieferanten: Mitglieder von Agrargenossenschaften kaufen günstig<br />

gemeinsam Saatgut und vermarkten Getreide oder Milch, Mitglieder<br />

von Volks- und Raiffeisenbanken nehmen Kredite auf. Auch viele<br />

Einzelhändler schließen sich zusammen, um günstig Waren einkaufen<br />

und mit einem gemeinsamen Label werben zu können. Die prominentesten<br />

Genossenschaften sind Rewe und Edeka. Theresia<br />

Theurl, Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen in Münster,<br />

spricht vom „Membership Value“. Und so ist es auch bei Energiegenossenschaften:<br />

Meist nehmen deren Mitglieder auch Strom und<br />

Wärmeenergie ab.<br />

„One man, one vote“<br />

Wer schlechte Erfahrungen mit Vattenfall, EnBW und Co. gemacht<br />

hat, findet in Genossenschaften ein Gegenmodell. Sie sind schon<br />

rechtlich gegen die Dominanz einzelner finanzstarker Anteilseigner<br />

gewappnet. Denn jedes Mitglied hat in der Gesellschafterversammlung<br />

nur eine Stimme – ein Grund dafür, dass sie bei den energiepolitisch<br />

Engagierten so beliebt sind. Weiterer Vorteil: Genossenschaften<br />

gehen fast nie pleite, die Insolvenzquote ist niedrig. Doch auch<br />

energiepolitische Weichenstellungen haben zum Boom der Energiegenossenschaften<br />

beigetragen, ist Genossenschaftsexpertin Theurl<br />

überzeugt. Sie hält die Vergütungsregeln das Erneuerbare-Energien-<br />

Gesetz (EEG) für die wichtigste Ursache. Denn das EEG garantiert<br />

beides: den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien ins Netz und<br />

feste Preise. Wer etwa in Solarmodule investiert, muss nicht fürchten,<br />

dass keiner seinen Strom kauft oder die Preise verfallen. Das ist<br />

der Grund dafür, dass auf vielen Einfamilienhäusern und Scheunen<br />

inzwischen Photovoltaikanlagen stehen – so viele, dass manch einer<br />

schon eine soziale Schieflage sieht. Denn oft sind es gutsituierte Eigenheimbesitzer,<br />

die so eine risikolose Rendite kassieren. Und gleichzeitig<br />

klagen Geringverdiener über steigende Strompreise – nicht<br />

zuletzt aufgrund der EEG-Umlage, mit der die Solar- und Windenergieförderung<br />

finanziert wird. Energiegenossenschaften bieten auch<br />

Mietern und Menschen mit überschaubarem Budget die Gelegenheit,<br />

an der Energiewende zu verdienen. So verweist Katherina Reiche,<br />

Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium,<br />

darauf, dass Energiegenossenschaften meist offen für Beteiligungen<br />

mit niedrigen Beträgen seien. „Sie eröffnen somit auch<br />

Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit, direkt in die<br />

Energiewende zu investieren und hiervon zu profitieren“, so die<br />

CDU-Politikerin.<br />

Theresia Theurl bestätigt das, warnt aber davor, ausschließlich mit<br />

der Rendite zu argumentieren. „Das hat letztlich nichts mit Genossenschaft<br />

zu tun.“ Sei der Einzugsbereich regional und fehle ein unrealistisches<br />

Renditeversprechen, habe man das Geschäftsmodell<br />

mit seinen Vorzügen und Schwächen richtig verstanden. Auch Eckhard<br />

Ott, Vorsitzender des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes<br />

(DGRV), hebt „die lokale Verwurzelung, den hohen<br />

Grad an Mitbestimmung und Transparenz“ hervor. Bei genossenschaftlichen<br />

Energieprojekten komme es daher nur sehr selten zu<br />

Akzeptanzproblemen, sagt Ott.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 48


„Demokratisches Experiment“<br />

Dabei birgt die Energiewende durchaus Sprengstoff. Nicht ohne<br />

Grund wird mancherorts die „Verspargelung“ der Landschaft durch<br />

immer neue Windräder beklagt. Auch großflächige Solaranlagen<br />

sind nicht gerade eine Augenweide. Und landauf, landab regt sich<br />

Protest gegen Übertragungsnetze. Für Amtsdirektor Aasmann aus<br />

dem brandenburgischen Rhinow ist daher klar: „Wenn der ländliche<br />

Raum die Belastungen tragen muss, dann soll er, dann soll<br />

die Bevölkerung dort auch von den Erträgen profitieren.“ Martin<br />

Berger hat die Bürger-Energie Jena mitgegründet, gehört dem ehrenamtlichen<br />

Vorstand an. Für ihn ist seine Energiegenossenschaft<br />

sogar ein „demokratisches Experiment“.<br />

Genossenschaften bieten also die Möglichkeit zur Mitwirkung –<br />

wobei das am ehesten in überschaubaren Genossenschaften gelingt.<br />

Henrik Düker, Pressesprecher der Greenpeace Energy eG, gibt<br />

zu: Mit mittlerweile mehr als 22.000 Mitgliedern sei es natürlich<br />

schwierig, alle im Tagesgeschäft zu integrieren. Doch auch bei der<br />

größten deutschen Energiegenossenschaft ist man bemüht, die<br />

Mitgliederbindung zu stärken – etwa durch einen eigenen Mitgliederbereich<br />

auf der Homepage und einen Energiekongress, zu dem<br />

die Mitglieder alle zwei Jahre eingeladen werden.<br />

Auch daran wird klar: Eine bloße Unternehmensform ist die Genossenschaft<br />

nicht. Nicht selten sind die Vorstände ehrenamtlich<br />

tätig – wie in Vereinen, aber kaum denkbar bei Kapitalgesellschaften.<br />

Martin Berger etwa steckt zehn bis fünfzehn Stunden pro Woche<br />

in die Bürger-Energie Jena, ganz ohne Bezahlung. Theresia<br />

Theurl macht denn auch – neben finanziellen, technischen und<br />

rechtlichen Hintergründen –„ideelle Motive“ aus, die bei der Gründung<br />

von Energiegenossenschaften eine Rolle spielten.<br />

In Gewerkschaften und Politik sieht man in Genossenschaften gar<br />

Ansätze einer „solidarischen und sozialen Ökonomie“, wie Sven<br />

Giegold, Europaabgeordneter der Grünen, es formuliert. Im Idealfall<br />

bildeten die Genossenschaften „ein Gegenmodell zum Shareholder-Value<br />

und Finanzmarkt-getriebenen Kapitalismus“, heißt<br />

es in einem Papier des DGB.<br />

Giegold kennt die Gesellschaftsform Genossenschaft aus eigener<br />

Erfahrung: Vor fünfzehn Jahren hat er in Verden eine Wohnungsgenossenschaft<br />

gegründet. Die genossenschaftliche Unternehmensform<br />

liege ihm am Herzen, sagt er – und macht sich daher für<br />

mehr Flexibilität stark. Er findet, der Aufwand für Genossenschaftsgründer<br />

sei zu groß. So müssen die Finanzen der Genossenschaften<br />

regelmäßig extern geprüft werden. Was einerseits für Sicherheit<br />

sorgt, führt andererseits zu Bürokratie und Kosten.<br />

„Aufschwung der Genossenschaftsidee“<br />

DGRV-Chef Eckhard Ott sieht gleichwohl politisch keinen großen<br />

Handlungsbedarf. Er verweist auf die Reform des Genossenschaftsgesetzes<br />

2006. Dafür zieht Ott nach dem Internationalen Jahr der<br />

Genossenschaften ein positives Fazit. 20 Millionen Deutsche seien<br />

Mitglieder von Genossenschaften: Kredit-, Einkaufs-, Wohnungs-,<br />

Energiegenossenschaften. Für Ott ist damit das Ende Fahnenstange<br />

noch längst nicht erreicht. „Die Genossenschaft eignet sich für alle<br />

Vorhaben, bei denen gemeinsam mehr erreicht werden kann“, sagt<br />

er – und nennt Beispiele: Freibäder, Kinos, sogar Kinderbetreuungseinrichtungen.<br />

Auch Theresia Theurl spricht von einem „Aufschwung<br />

der Genossenschaftsidee“. Sie macht das allein an der Anzahl an Anfragen<br />

für Beratungen und Vorträge fest, die sie als „Genossenschaftsexpertin“<br />

erreichen. Und sie hat Zahlen parat. Ihr Münsteraner<br />

Institut hat die Menschen zusammen mit den Marktforschern<br />

von der GfK befragt. Fazit: Das Image der Genossenschaften ist gut.<br />

81 Prozent der Befragten sagen: Genossenschaften müssen zum<br />

Wohle ihrer Mitglieder handeln.<br />

Lisa Neumann-Cosel will sich für ihre Mitglieder auch weiter engagieren,<br />

wenn die Bürger-Energie Berlin den Zuschlag fürs Berliner<br />

Stromnetz nicht bekommt. Dann könne man wie andere Genossenschaften<br />

auch selbst in erneuerbare Energien investieren. Erst einmal<br />

wirbt sie: „Wir bemühen uns, möglichst viele Bürger zu begeistern.“<br />

Martin Kamp, Jg. 1969, <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsführer<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 49


Interview<br />

Bilanz nach dem Internationalen<br />

Jahr der Genossenschaften –<br />

Ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden<br />

Deutscher Genossenschafts- und<br />

Raiffeisenverband e.V. (DGRV), Dr. Eckhard Ott<br />

Wie fällt die Bilanz nach dem „Internationalen Jahr der Genossenschaften“<br />

in Deutschland aus? Ist es gelungen, in der breiten Bevölkerung<br />

für die genossenschaftliche Idee zu werben?<br />

Ott: Sehr positiv. Im Internationalen Jahr der Genossenschaften ist<br />

die Aufmerksamkeit für diese Rechts- und Unternehmensform erheblich<br />

gesteigert worden. Über Genossenschaften und das Internationale<br />

Jahr ist in vielen Medien berichtet worden. Zahlreiche<br />

lokale, regionale und überregionale Zeitungen sowie Radio- und<br />

Fernsehsender haben sich im Jahr 2012 mit dem Thema Genossenschaften<br />

befasst. Es gab zum Beispiel Sendereihen zu Genossen -<br />

schaf ten in verschiedenen Radiosendern sowie Artikel und Son -<br />

der beilagen in großen deutschen Tageszeitungen. Auch viele prominente<br />

Redner und Schirmherren haben sich im Verlauf des<br />

Jahres positiv über Genossenschaften geäußert. Viele Veranstaltungen<br />

in Berlin, aber auch in den Regionen, haben in den vergangenen<br />

Monaten dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit für Genossenschaften<br />

zu steigern. Die erhöhte Aufmerksamkeit ist gewiss<br />

auch auf die von den Genossenschaftsverbänden gestartete Kampagne<br />

„Ein Gewinn für alle“ zurückzuführen. Hier werden Genossenschaften<br />

als regional verankerte und verantwortungsvolle Unternehmen<br />

bekannter gemacht.<br />

Wie erklären Sie sich den Erfolg von Energiegenossenschaften?<br />

Was spricht dafür, bei der regionalen Umsetzung der Energiewende<br />

gerade auf die Rechtsform der Genossenschaft zu setzen?<br />

Ott: Die Bürger haben erkannt, dass sie beim Thema Energie selber<br />

mitgestalten können. Sie wollen die Energiewende nicht nur finanziell<br />

unterstützen, sondern auch aktiv teilhaben und in ihre Region<br />

investieren. Die Genossenschaft ist ein regionales Unternehmen<br />

der Mitglieder, nicht einfach nur eine Anlagemöglichkeit. Anders<br />

als zum Beispiel Fonds fördern Genossenschaften die<br />

regionale Wertschöpfung, indem etwa ortsansässige Handwerksbetriebe<br />

oder Banken eingebunden werden. Die Genossenschaft<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 50


ermöglicht zudem die Nutzung von Dächern öffentlicher Gebäude,<br />

zu denen Privatpersonen keinen Zugang bekämen. Genossenschaften<br />

sind demokratische Unternehmen, d. h. unabhängig vom investierten<br />

Kapital hat jeder nur eine Stimme. Die Beteiligungs- und<br />

Mitbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen fördern die Verantwortung<br />

für das gemeinsame Energieprojekt. Es kann nicht an einen<br />

externen Investor, beispielsweise die Kommune oder ein Energieunternehmen<br />

delegiert oder sogar verkauft werden. Die lokale<br />

Verwurzelung, der hohe Grad an Mitbestimmung und Transparenz<br />

sowie der klare Fokus auf die Mitgliederförderung sind Hauptgründe,<br />

warum es bei genossenschaftlich organisierten Energieprojekten<br />

nur sehr selten zu Akzeptanzproblemen kommt. Die<br />

Menschen sind viel eher bereit, ein Windrad oder eine Biogasanlage<br />

im eigenen Heimatort zu akzeptieren, wenn sie selbst daran<br />

beteiligt sind und nicht ein anonymer Investor profitiert, sondern<br />

die Wertschöpfung in der Region bleibt.<br />

Sehen Sie weitere Bereiche oder Branchen, in denen es ein bisher<br />

ungenutztes Potenzial für die Gründung von Genossenschaften<br />

gibt?<br />

Ott: Die Genossenschaft eignet sich für alle Vorhaben, bei denen<br />

gemeinsam mehr erreicht werden kann. Ihre Potenziale werden<br />

immer stärker auch in anderen Bereichen der regionalen Entwicklung<br />

erkannt und genutzt. Bürger kooperieren bspw. in Genossenschaften,<br />

um im ländlichen Raum durch Einkaufsmöglichkeiten vor<br />

Ort die Nahversorgung mit Waren des täglichen Bedarfs zu sichern,<br />

um Freizeit- und Kultureinrichtungen wie Schwimmbäder oder Kinos<br />

zu erhalten, die die Kommunen nicht mehr finanzieren können,<br />

um qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen für ihre Kinder<br />

zu etablieren oder um in Eigenregie eine flächendeckende Versorgung<br />

mit Breitband-Internet auch in strukturschwachen Räumen<br />

verfügbar zu machen. Lokale Wirtschaftsunternehmen schließen<br />

sich in Genossenschaften zusammen, um zum Beispiel eine gemeinsame<br />

regionale Marke als Qualitätssiegel zu etablieren, um<br />

durch gemeinsame Marketingaktivitäten Standortvorteile für ihre<br />

Stadt oder Region zu erzielen oder um bezahlbare Kinderbetreuungsangebote<br />

für ihre Belegschaften zu organisieren. Ärzte und<br />

Pflegeeinrichtungen kooperieren, um eine flächendeckende und<br />

qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu sichern. Auch<br />

Kommunen und öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser haben<br />

erkannt, dass sich durch genossenschaftliche Kooperation viele<br />

Vorteile, wie zum Beispiel Einsparungen durch gemeinsamen Einkauf,<br />

erzielen lassen. Dies sind nur einige Beispiele für die vielfältigen<br />

Potenziale, die sich Bürgern, Wirtschaft und Kommunen durch<br />

Genossenschaften bieten.<br />

Gibt es nach Ihrer Auffassung mit Blick auf den rechtlichen Rahmen<br />

für Genossenschaften politischen Handlungsbedarf?<br />

Ott: Die Novelle des Genossenschaftsgesetzes in 2006 hat bereits<br />

viele Erleichterungen für die Genossenschaften gebracht, z. B. die<br />

Verringerung der Gründerzahl von sieben auf drei Mitglieder. Mit<br />

Blick auf die jungen und kleinsten Genossenschaften sollten weitere<br />

Erleichterungen bei der Bilanzaufstellung und Veröffentlichung<br />

geschaffen werden. Viel wichtiger für diese Gruppe ist aber,<br />

dass öffentliche Förderprogramme für Existenz- und Unternehmensgründer<br />

derart ausgestaltet werden, dass sie auch von Genossenschaften<br />

genutzt werden können.<br />

Dr. Eckhard Ott, Jg. 1970, Vorstandsvorsitzender Deutscher Genossenschafts- und<br />

Raiffeisenverband e.V. (DGRV)<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 51


Dr. Christian<br />

Bäumler<br />

Energiepolitik und<br />

Subsidiarität<br />

Papst Franziskus sprach bei Antritt seines Pontifikats von der Verantwortung<br />

des Menschen für die Schöpfung und die Bewahrung<br />

der Umwelt. Damit hat der Papst hervorgehoben, dass es der<br />

Katholischen Kirche nicht nur um geistliche und soziale Fragen,<br />

sondern auch um ökologische Fragestellungen gehen muss. Mit<br />

dem Gedanken der Subsidiarität, der 1891 erstmals in dem päpstlichen<br />

Rundschreiben „Rerum Novarum“ in den Rang einer kirchlichen<br />

Doktrin erhoben wurde, hat die Katholische Soziallehre auch<br />

ein Konzept zur Verwirklichung dieser Ziele. Zumindest bei der Umsetzung<br />

und Ausgestaltung der Energiewende kann der Grundsatz<br />

der Subsidiarität ähnliches leisten wie bei der Beantwortung der<br />

sozialen Frage.<br />

Subsidiarität kommt vom lateinischen „Hilfe, Reserve“. Subsidiarität<br />

strebt die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, der Selbstbestimmung<br />

und der Eigenverantwortung an. Gegenüber dem<br />

Staat bedeutet dies, dass die nationale oder europäische Ebene<br />

nicht solche Aufgaben an sich reißen darf, die Initiativen, Vereine,<br />

Genossenschaften oder auch die örtliche Ebene übernehmen können.<br />

Wenn aber diese kleineren Einheiten mit konkreten Aufgaben<br />

überfordert sind, so ergibt sich aus dem Subsidiaritätsgrundsatz<br />

die Verpflichtung der übergeordneten Ebene, sich der Aufgabe anzunehmen,<br />

die Angelegenheit zu übernehmen oder die kleinere<br />

Einheit bei der Erledigung zu unterstützen. Dies bedeutet zum einen,<br />

den Handlungsvorrang der kleineren Einheit, zum anderen die<br />

Unterstützungspflicht der größeren Einheit gegenüber der kleineren.<br />

Subsidiarität hat zwei Seiten.<br />

So verstanden ist Subsidiarität ein grundlegendes Element des ordnungspolitischen<br />

Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft und damit<br />

auch ein Maßstab für den Umbau der Energieversorgung.<br />

Von der zentralen zur dezentralen Energieversorgung<br />

Bis zum Einstieg in die Förderung der erneuerbaren Energien war<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 52


die Energieversorgung zentralistisch ausgerichtet. Die Betreiber<br />

großer Kraftwerke in Deutschland, wie RWE, Eon, EnBw stellten<br />

Energie zu Verfügung. Übertragungsnetzbetreiber wie Tennet sind<br />

für den flächendeckenden Transport zuständig und sorgen zugleich<br />

in geographisch abgegrenzten Regionen für die Stabilität<br />

des Energiesystems. Sie sind auf Grund ihrer Monopolstellung hinsichtlich<br />

des Netzzugangs und der Preisgestaltung staatlich reguliert.<br />

Verteilernetzbetreiber sind für die sogenannte letzte Meile<br />

zum Kunden verantwortlich. Da sie ebenfalls eine Monopolstellung<br />

haben, sind sie ebenfalls staatlich reguliert. Dieses System ist genau<br />

das Gegenteil von Subsidiarität.<br />

Es entspricht dem Subsidiaritätsgrundsatz, wenn sich die Stromversorgung<br />

von den Energiekonzernen zu kommunalen Versorgungsunternehmen,<br />

Energiegenossenschaften, Energielandwirten<br />

und den vielen Bürgern verlagert, die Photovoltaikanlagen installiert<br />

haben. Energieversorgung war immer mehr als eine Dienstleistung,<br />

es ging immer auch um wirtschaftliche und politische<br />

Macht. Je größer der Energieversorger, desto größer die Machtkonzentration.<br />

Dier Aufbau einer dezentralen Energieversorgung in<br />

Deutschland würde den Grundsatz des Vorrangs der kleineren Einheiten,<br />

in der Energieversorgung umsetzen.<br />

Die dezentral organisierten erneuerbaren Energien müssen aber<br />

auch in der Lage sein, eine stabile Energieversorgung zu Preisen zu<br />

gewährleisten, die sich die Mehrheit der Stromkunden auch leisten<br />

kann. Es ist auch eine Frage der Solidarität, die Auswirkungen dieser<br />

Entwicklung auf die Arbeitsplätze in den Gas- und Kohlekraftwerken<br />

im Auge zu behalten. Das unterscheidet die Politik der Christlich-Sozialen<br />

von der Politik der Grünen.<br />

Der Aufbau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen erfordert und<br />

ermöglicht dagegen den Aufbau einer dezentralen Stromversorgung.<br />

Bei einer dezentralen Energieversorgung wird Energie verbrauchernah<br />

erzeugt. Dies bedeutet Stromerzeugung in der Nähe<br />

von Wohngebieten und Industrieanlagen. Im Gegensatz zur zentralen<br />

Stromerzeugung wird elektrische Energie nicht in das Hochspannungsnetz,<br />

sondern in Mittel oder Niederspannungsnetze<br />

eingespeist. Dies ist ein Vorteil, da weniger Übertragungsverluste<br />

stattfinden.<br />

Allerdings erfordert diese dezentrale Energieversorgung dann auch<br />

den Aus- und Umbau dieser Netze. Dabei geht es vor allem auch<br />

um eine intelligente Vernetzung der kleinteiligen Erzeugeranlagen<br />

und der Verbraucher. Die damit verbundenen Investitionen erfordern<br />

im Sinne der Subsidiarität die Unterstützung der übergeordneten<br />

Ebenen bei der Finanzierung und der damit verbundenen<br />

Koordinierung.<br />

Die Grenzen und Möglichkeiten der dezentralen Energieversogung<br />

Eine stabile Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen<br />

ist für die Industrieproduktion in Deutschland und für die Verbraucher<br />

unverzichtbar. Licht ist ein Menschenrecht. Wenn die Sonne<br />

scheint und der Wind weht, sind Windkraftanlagen und Photovoltaikanlagen<br />

konkurrenzlos günstig und drängen Kohle- und Gaskraftweke<br />

aus dem Markt. Wenn dies nicht der Fall ist, sind Kraftwerke<br />

mit fossilen Brennstoffen gegenwärtig unverzichtbar. Ein<br />

Lösungsansatz sind intelligente Verknüpfungen von Windkraftund<br />

Photovoltaikanlagen mit Biomassekraftwerken. Dieser Weg<br />

allein wird die Stromversorgung für ein Hochtechnologieland wie<br />

Deutschland nicht zuverlässig sichern. Auch Pumpspeicherkraftwerke<br />

in Deutschland und die Zusammenarbeit mit den Alpenländern<br />

und Skandinavien werden vorraussichtlich nicht reichen.<br />

Ohne Speichermedien, die auch erhebliche Schwankungen auffangen<br />

können, werden wir in Deutschland nicht in der Lage sein, auf<br />

moderne Kohle- und Gaskraftwerke zu verzichten.<br />

Ein technisch möglicher Ansatz, erneuerbare Energien dezentral zu<br />

einer stabilen Energieversorgung auszubauen, ist „power to gas“.<br />

Im power-to-gas Konzept wird überschüssiger Strom aus Windkraftanlagen<br />

dazu verwendet, Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff<br />

zu zerlegen. Wasserstoff kann als Kraftstoff verwendet oder in<br />

Methan umgewandelt werden. Methan lässt sich in herkömmlichen<br />

Gaskraftwerken einsetzen. In Erdgasleitungen und -speichern<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 53


kann es die Stromversorgung Deutschlands für vier Monate sichern.<br />

Die Kosten für so hergestelltes Methan sind aber gegenwärtig zu<br />

hoch, um sofort auf diese Form der Energieerzeugung umzutellen.<br />

Die Kostenreduzierung bei der Photovoltaik zeigt jedoch, dass die<br />

technologische Entwicklung zu Kostensenkungen führen kann, deren<br />

Ergebnis die Marktfähigkeit einer neuen Form der Energieversorgung<br />

ist. Bis wir dieses Ziel erreicht haben, müssen moderne<br />

Kohlekraftwerke und Gakraftwerke mit Erdgas am Markt gehalten<br />

werden.<br />

Die Verteilung der Kosten nach dem Subsidaritätsgrundsatz<br />

Bisher tragen die Verbraucher, die Stromkunden, die Lasten der<br />

Förderung der erneuerbaren Energien, den Aus- und Umbau der<br />

Stromnetze, das Risiko des Anschlusses der Netze an Windkraftanlagen<br />

auf See, die Bereithaltung von konventionellen Kraftwerken<br />

und die Befreiung energieintensiver Betriebe von Netzentgelten<br />

und EEG Umlage. Dieses Konzept führt bei nicht „befreiten“ mittelständischen<br />

Betrieben und einkommensschwachen Haushalten<br />

zu erheblichen Belastungen. Diese Kosten sollten deshalb von der<br />

größeren Einheit des Steuerzahlers mitgetragen werden.<br />

Dr. Christian Bäumler, Jg. 1965, 1. stellv. Bundesvorsitzender der <strong>CDA</strong> Deutschlands und<br />

<strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 54


Dr. Markus<br />

Gloe<br />

Parteien „wurzeln (…) mit den<br />

Füßen in der Gesellschaft, reichen<br />

mit dem Kopf aber in den Staat“ –<br />

Parteien und Ehrenamt<br />

Mit diesem Bild von Parteien als Bindeglied zwischen Gesellschaft<br />

und politischen Eliten beschrieb Heinrich Oberreuter, der langjährige<br />

Leiter der Akademie für politische Bildung in Tutzing, die Parteien<br />

(Oberreuter 1990, S. 24). Im Gegensatz zu dieser Metapher<br />

wird dagegen in der medialen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft<br />

in Bezug auf die Diskussion um die Bürgergesellschaft eine<br />

Trennung zwischen Bürgern und Parteien bzw. Bürgern und Staat<br />

gezogen.<br />

Politikverdrossenheit als Parteienverdrossenheit<br />

„Politikverdrossenheit“ als Schlagwort der öffentlichen Diskussion<br />

in den letzten Jahren wird oft als Parteienverdrossenheit oder Politikerverdrossenheit,<br />

also eine Unzufriedenheit mit den führenden<br />

Repräsentanten der Parteien, spezifiziert. Die Vorstellung einer politischen<br />

Klasse, die aus Berufspolitikern besteht, die sich einigeln<br />

und abschotten, den Staat als Selbstbedienungsladen sehen und<br />

lediglich ihre eigenen Interessen befriedigen, befördert eine solche<br />

Parteienverdrossenheit. Durch ihre Immobilität, ihre Starrheit und<br />

Selbstbezogenheit würden sie einer notwendigen Modernisierung<br />

von Staat und Gesellschaft im Wege stehen. Dabei erfolgt die Kritik<br />

nicht nur durch die Medien, sondern auch Politikwissenschaftler<br />

oder führende Persönlichkeiten wie der damalige Bundespräsident<br />

Richard von Weizsäcker kritisieren die Parteien scharf. So warf von<br />

Weizsäcker im Jahr 1992 den Parteien vor, sich nicht mehr um die<br />

Lösung der langfristigen Probleme dieses Landes zu bemühen, sondern<br />

nur noch um den Sieg bei der nächsten Wahl (von Weizsäcker<br />

1992). Die Skepsis, die sich leicht zu Misstrauen bis hin zur Aversion<br />

gegenüber Parteien auswachsen kann, sind aber auch immer noch<br />

durch die historischen Erfahrungen im Kaiserreich und in der Weimarer<br />

Republik bedingt.<br />

Bundesrepublik als Parteiendemokratie<br />

In der „Berliner Resolution zum Ehrenamt“ vom 6. November 1995<br />

heißt es: „Die Qualität einer Demokratie hängt entscheidend davon<br />

ab, ob eine große Zahl von Menschen bereit ist, durch freiwilliges<br />

und unbezahltes Engagement an ihrer Gestaltung mitzuwirken.“<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 55


Ehrenamtliche Tätigkeit in Parteien sowie bei der Ausübung kommunaler<br />

Mandate und Ämter sorgt für mehr Bürgernähe von Staat<br />

und Politik und gibt dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zur Einflussnahme.<br />

Entgegen der vielfach beschworenen Trennung von<br />

Bürgern und Parteien muss daher konstatiert werden, dass die Parteien<br />

in der Bundesrepublik zum überwiegenden Teil als Mitgliederparteien<br />

Teil der Bürgergesellschaft selbst sind.<br />

Die Bundesrepublik wird als „Parteiendemokratie“ bezeichnet. Damit<br />

kommt der besondere Stellenwert der Parteien im politischen<br />

System zum Ausdruck. Sie ist im Grundgesetz fest verankert: „Die<br />

Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“<br />

(Art. 21 Abs. 1 GG). Jedoch sind Parteien kein Selbstzweck und besitzen<br />

keine Ewigkeitsgarantie. Parteien sind gezwungen, sich dem<br />

gesellschaftlichen Wandel anzupassen – und sie tun es. Der ehemalige<br />

CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen<br />

Rüttgers, bezeichnete die Parteien einmal als „Dinosaurier der Demokratie“<br />

(Rüttgers 1992). Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth<br />

stellte bei der Anhörung der Enquete-Kommission des Deutschen<br />

Bundestages „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagement“<br />

fest: „Ohne Parteien ist die Willensbildung auf allen politischen<br />

Ebenen undenkbar – dies trifft auch für die kommunale und regionale<br />

Ebene zu, in der sich bürgerschaftliche Aktivitäten in besonderer<br />

Weise manifestieren.“ (Langguth 2002). Die Politik vor Ort<br />

beschäftigt sich mit den konkreten Lebenssituationen der Menschen.<br />

Und ehrenamtliche Tätigkeit in Parteien sowie die Ausübung<br />

kommunaler Mandate und Ämter sorgen für mehr Bürgernähe<br />

von Staat und Politik und geben der einzelnen Bürgerin und<br />

dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zur Einflussnahme. Ohne<br />

Parteien ist eine Demokratie nicht denkbar, denn unsere freiheitlich-demokratische<br />

Grundordnung lebt von der Mitwirkung der<br />

Bürgerinnen und Bürger!<br />

Eine Krise der Parteien?<br />

Der bei fast allen deutschen Parteien zu beobachtende Mitgliederrückgang<br />

wird von vielen als Krise der Parteien interpretiert. Titel<br />

wie „Die Volksparteien in der Krise“ (Jesse 2006), „Abstieg der Parteiendemokratie“<br />

(Kleinert 2007) oder „Im Herbst der Volksparteien?“<br />

(Walter 2009) zeugen davon. Als Gründe für den Mitgliederrückgang<br />

nennt Langguth beispielsweise das schlechte Image der Parteien,<br />

die Enttäuschung, dass sich ein politisches Engagement nicht wirklich<br />

„lohne“, den Einflussverlust der Parteien durch die veränderten<br />

medialen Rahmenbedingungen oder ein verändertes Partizipationsverhalten<br />

der Bürgerinnen und Bürger (vgl. Langguth 2002). Wissenschaftliche<br />

Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Mitglieder<br />

sich nicht in Parteien engagieren, um ihr eigenes politisches Fortkommen<br />

zu betreiben, sondern um sich für bestimmte politische<br />

Ziele und Inhalte einzusetzen. Dagegen spielt in der öffentlichen<br />

Meinung – befördert durch die Darstellung in den Medien – gerade<br />

diese Vorstellung eine zentrale Rolle. Zudem verschrecken Parteien<br />

auch mögliche Neumitglieder. Denn häufig werden die Partizipationsbemühungen<br />

neuer Mitglieder als störend, auf lokaler Ebene<br />

auch als Gefährdung der bisherigen Machtposition empfunden. Außerdem<br />

erfordert die aktive Mitarbeit in Parteien auch „die Fähigkeit<br />

zur Argumentation und öffentlichen Rede, die Kenntnis grundlegender<br />

politischer Zusammenhänge und Rechte sowie praktische Fähigkeiten<br />

bei der Organisation, Durchführung und gegebenenfalls<br />

Leitung von Versammlungen und Veranstaltungen“ (Klein 2011, S.<br />

40). Zudem stellte die CDU Niedersachsen beispielweise in ihren<br />

„Zehn Thesen zur Volkspartei der Zukunft“, die auf dem Landesparteitag<br />

im August 2010 beschlossen wurden, fest, dass die Ansprüche<br />

an ehrenamtlich engagierte Politiker auf kommunaler Ebene gestiegen<br />

sind. Die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen<br />

seien schwieriger geworden und damit sei es eine besondere Herausforderung,<br />

kommunale Handlungsfelder offen und transparent<br />

zu gestalten (vgl. CDU Niedersachen 2010, S. 4). Dies schreckt manche<br />

Bürgerin und manchen Bürger ab, sich in Parteien zu engagieren.<br />

Es muss auch konstatiert werden, dass die „Krisenerscheinungen“<br />

kein speziell deutsches Phänomen sind, wie manchmal suggeriert<br />

wird.<br />

Dagegen weist der Politikwissenschaftler Spier auf eine dabei oft<br />

übersehene Tatsache hin: „Vergleicht man hingegen die heutigen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 56


Mitgliederzahlen dieser Parteien von rund 1,2 Millionen mit den<br />

rund 0,8 Millionen Mitte der 1950er Jahre, so wird deutlich, dass<br />

die deutschen Volksparteien – noch – mehr Mitglieder als in der<br />

Gründungsphase der Bundesrepublik haben“ (Spier 2011, S. 97).<br />

Parteien sollten jedoch aus den „Krisenerscheinungen“ nicht die<br />

falschen Schlussfolgerungen ziehen und sich nach amerikanischem<br />

Vorbild als „professionalisierte Wählerpartei“ sehen, die<br />

weitgehend auf Parteimitglieder verzichten könnten. Auch wird es<br />

nicht ausreichen, lediglich auf Verbindung zu bzw. Verzahnung mit<br />

so genannten Kollateralorganisationen zu setzen. Kollateralorganisationen<br />

wurden früher oft als politische Vorfeldorganisationen<br />

bezeichnet, treffender sind damit gesellschaftliche Organisationen<br />

gemeint, deren politischen Ziele mit denjenigen einer Partei weitgehend<br />

im Einklang stehen, bspw. Gewerkschaften und SPD oder<br />

katholische Kirche und CDU oder CSU (vgl. Klein u.a. 2010). Sie sollten<br />

als Mitgliederpartei lieber nach Wegen suchen, die Bürgerinnen<br />

und Bürger, die ihnen nahe stehen, aktiv in die Parteiarbeit<br />

einzubinden. Nur so können sie das oben bereits beschriebene Bindeglied<br />

zwischen Gesellschaft und Staat bleiben.<br />

Ehrenamtliches Engagement – auch in Parteien – ist Ausdruck von<br />

Subsidiarität und Solidarität<br />

Gerade die CDU verfügt mit dem Subsidiaritätsprinzip über einen<br />

zentralen Maßstab zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen<br />

Staat und Bürger. In seiner Enzyklika „Quadragesimo Anno“ hatte<br />

Papst Pius XI das Subsidiaritätsprinzip dahingehend konkretisiert,<br />

dass die kleinste Einheit das regeln dürfe und auch solle, was sie alleine<br />

regeln kann. Der Mensch solle die Verantwortung für sich<br />

selbst und sein Umfeld übernehmen. Dafür ist er auch mit den entsprechenden<br />

Fähigkeiten ausgestattet worden. Das Subsidiaritätsprinzip<br />

ergibt sich aus der Achtung vor der Würde des Menschen<br />

und seinem Recht auf Selbstbestimmung. Die Verantwortung soll<br />

dort gelebt werden, wo sie hingehört. So heißt es entsprechend im<br />

Grundsatzprogramm der CDU von 1994: „Was der Bürger allein, in<br />

der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen<br />

ebenso gut leisten kann, soll ihm vorbehalten bleiben. Der Grundsatz<br />

der Subsidiarität gilt auch zwischen kleineren und größeren<br />

Gemeinschaften sowie zwischen freien Verbänden und staatlichen<br />

Einrichtungen. Zur Verpflichtung des Staates und der Gemeinschaft<br />

gehört es, die subsidiäre Aufgabenwahrnehmung zu erleichtern<br />

und zu fördern. Das Prinzip der Subsidiarität verlangt aber<br />

auch, dass die größeren Gemeinschaften, zuletzt auch die staatliche<br />

Ebene, tätig zu werden haben, wenn gesellschaftspolitische<br />

Erfordernisse die Leistungskraft der einzelnen oder der kleineren<br />

Gemeinschaften überfordern.“<br />

Neben dem Subsidiaritätsprinzip zählt auch das Solidaritätsprinzip<br />

zu den Grundpfeilern christlicher Politik. Denn der Mensch ist auch<br />

ein Gemeinwesen. So können die Bürgerinnen und Bürger, wenn<br />

sie ihre Kräfte und Fähigkeiten bündeln, gemeinsame Ziele verwirklichen.<br />

Ehrenamtliches Engagement in Parteien fördert auch<br />

den Kontakt mit anderen, oft mit Menschen, die man sonst nie<br />

kennengelernt hätte.<br />

Ehrenamtliches Engagement – auch in Parteien – ist Ausdruck von<br />

Subsidiarität und Solidarität. Es zählt somit zum Kern christlichdemokratischer<br />

Politik. Auch und gerade deshalb sollten die C-Parteien<br />

besonderes darauf achten, dass in Parteigliederungen das<br />

Subsidiaritäts- und das Solidaritätsprinzip zur Geltung kommen.<br />

Wertschätzung für ehrenamtliches Engagement in Parteien ist unerlässlich<br />

Langguth bezeichnet die Parteien als „Ort bügerschaftlichen Engagements<br />

par excellance“ (Langguth 1992). In seiner Parteienstudie<br />

2009 kommt Spier bei der Frage nach dem Aktivitätsniveau für die<br />

CDU auf 7 %, die sich selbst als „sehr aktiv“ bezeichnen. 20% schätzen<br />

sich selber als „ziemlich aktiv“ ein, 43 % als „wenig aktiv“ und<br />

31 % als „überhaupt nicht aktiv“ – natürlich in dem Bewusstsein,<br />

dass die Befragten in einer Befragungssituation dazu neigen, sich<br />

möglichst gut darzustellen. Im Vergleich zur Parteistudie von 1998<br />

ist der Anteil der überhaupt nicht aktiven Mitglieder um 5% zugunsten<br />

der „ziemlich aktiven“ (+4 %) und der „wenig aktiven“<br />

(+1 %) verschoben (vgl. Spier 2011; S. 98f.). Die Unterschiede zu den<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 57


anderen Parteien sind eher marginal. Ausgenommen die Mitglieder<br />

der Linkspartei: Sie schätzen ihr Aktivitätsniveau deutlich höher<br />

ein.<br />

Die Art und Weise, wie sich die Bürgerinnen und Bürger in die Parteien<br />

einbringen können, ist sehr unterschiedlich: Das reicht vom<br />

bloßen Besuch von Parteiveranstaltungen über Aktivitäten im<br />

Wahlkampf bis hin zur inhaltlichen Mitarbeit an Positionen sowie<br />

zur Übernahme von Parteiämtern. Die ehrenamtlichen Parteimitglieder<br />

leisten jedoch einen unersetzlichen Beitrag für die Parteien.<br />

Sie sorgen zum einen für die politische Mobilisierung. Eine direkte<br />

Ansprache von Menschen durch Menschen zeigt sich immer noch<br />

als nachhaltiger und erfolgreicher als die Darbietung medial aufbereiteter<br />

Informationen. Das Internet, in das große Hoffnungen<br />

gesetzt wurden, kann die direkte Kommunikation ergänzen, aber<br />

nicht ersetzen. Gerade deshalb suchen die Parteien auch den Kontakt<br />

zu wichtigen Multiplikatoren in der Gesellschaft. In Wahlkämpfen<br />

kleben sie Plakate, betreuen Canvassingstände, organisieren<br />

und führen Informationsveranstaltungen durch. All dies<br />

müsste sonst durch die Parteien selbst teuer eingekauft werden.<br />

Zudem benötigen Parteien eine Vielzahl von geeigneten Kandidaten<br />

für die große Anzahl an Mandaten, um die sie in Wahlen ringen:<br />

„Neben 99 Sitzen im Europäischen Parlament und derzeit 598<br />

Sitzen im Bundestag gilt es weiterhin, 1.850 Landtags- und ca.<br />

200.000 Kommunalmandate zu besetzen“ (Klein u.a. 2011, S. 25).<br />

Es bleibt für die Parteien viel zu tun<br />

Befragungen der Bevölkerung zeigen, dass sie sich eine Partei wünschen,<br />

die eine Vielzahl von Mitgliedern integriert und diese große<br />

Mitwirkungs-, Mitsprache- und Beteiligungsrechte haben. Dabei ist<br />

jedoch wichtig, dass sich die Mitsprache- und Beteiligungsrechte<br />

nicht auf Situationen beschränken, die durch inhaltliche oder personelle<br />

Auseinandersetzungen der Parteispitze geprägt sind. Die<br />

konsequente Anwendung des Urwahlprinzips ist gefragt. Neben<br />

den Partizipationsmöglichkeiten sind auch geteilte Wert- und Zielvorstellungen,<br />

inhaltliche Kompetenz und erfolgreiches politisches<br />

Handeln für die Attraktivität der Parteien verantwortlich.<br />

Zum einen muss die politische Bildung im Allgemeinen gefördert<br />

werden. Sie fristet insgesamt in der Bundesrepublik eher ein Schattendasein.<br />

Das Ziel der politischen Bildung ist aber ein mündiger<br />

Bürger, der sich aufgrund seiner Partizipationsbereitschaft aktiv in<br />

die Demokratie und Gesellschaft einbringt.<br />

Zudem müssen die Parteien, vor allem die Volksparteien, sich öffnen,<br />

um attraktiver zu werden, indem sie auf die veränderten Bedürfnisse<br />

und Lebensentwürfe der Bürgerinnen und Bürger reagieren.<br />

Die veränderten Strukturen in der Arbeitswelt sowie häufigere<br />

Wechsel von Wohn- und Arbeitsort machen dauerhaftes<br />

ehrenamtliches Engagement schwierig. Die Parteien müssen neue,<br />

zeitlich begrenzte Partizipationsformen kreieren wie zeitlich begrenzte<br />

Projektgruppen. Schaut man sich in der deutschen Parteienlandschaft<br />

um, finden diejenigen Parteimitglieder, die aus persönlichen,<br />

familiären oder beruflichen Gründen nur sporadisch in<br />

der Partei mitwirken wollen und können, keine passenden Angebote.<br />

Die Parteien müssen sich als Dienstleister sehen, ihre Mitglieder<br />

zu unterstützen, ihnen Informationen sowie Gehör und Einfluss<br />

zu verschaffen.<br />

Viele Parteien haben sich auf den Weg gemacht, den Mitgliedern<br />

größere Mitsprachrechte einzuräumen. Die CDU hat auf ihrem Parteitag<br />

in Karlsruhe 1995 eine konsultative Mitgliederbefragung in<br />

Parteiangelegenheiten eingeführt. Diese kann allerdings nur auf<br />

Beschluss des Bundesvorstandes durchgeführt werden. In den letzten<br />

beiden Jahren konnten zudem Mitglieder über das CDU-interne<br />

Netz auch Änderungsanträge zu den Anträgen zu den CDU-<br />

Parteitagen stellen.<br />

Langguth plädiert auch dafür, dass Parteien stärker die Arbeit von<br />

Bürgerbewegungen und Interessengruppen vor Ort in ihre Arbeit<br />

mit einbeziehen. So lautet seine These: „Bürgerinitiativen und<br />

sonstige Bewegungen können politische Parteien nicht ersetzen.<br />

Beide sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Prinzipiell<br />

sind insbesondere die deutschen Volksparteien in ihren von ihnen<br />

selbst deklarierten Zielen gemeinwohlorientiert, währenddessen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 58


Bürgerinitiativen etc. in der Regel lediglich einzelne – wenn gleich<br />

häufig interessengeleitete – Ziele vertreten. Für die Legitimation<br />

der Parteien wäre es aber verhängnisvoll, wenn sie sich immer<br />

mehr, gestützt vor allem auf die jeweiligen Fraktionen, als ‚Serviceparteien‘<br />

definieren und damit Abschied von einer klassischen Mitgliederpartei<br />

nehmen“. (Langguth 2002).<br />

Parteien müssen sich auch stärker für Menschen mit Migrationsgeschichte<br />

öffnen, sie müssen sie ausdrücklich ansprechen und zu<br />

einem parteipolitischen Engagement ermutigen. In fast allen Parteien<br />

sind Menschen mit Migrationsgeschichte nach wie vor deutlich<br />

unterrepräsentiert. Nur so kann ehrenamtliches Engagement<br />

in Parteien auch einen Beitrag zur Integration leisten.<br />

Die Parteien müssen auch ihre Jugendorganisationen stärken, nur<br />

so kann ehrenamtliches Engagement zum Miteinander der Generationen<br />

beitragen. Für eine Gesellschaft im demografischen Wandel<br />

gehört der Zusammenhalt der Generationen zu den zentralen<br />

Herausforderungen. Die Bildung von Parteien, die sich speziell der<br />

Interessen einzelner Generationen annehmen und die Generationen<br />

damit gegeneinander ausspielen, kann nicht die Lösung sein.<br />

Wie bürgerschaftliches Engagement per se, so wird auch parteipoli -<br />

tisches Engagement vor allem von Menschen mit hohem Bildungsniveau<br />

wahrgenommen. Herkunft, Beruf oder Status sollten jedoch<br />

keine Barriere für ein parteipolitisches Engagement darstellen.<br />

Deshalb sollten die Parteien versuchen, aus möglichst allen Schichten<br />

Parteimitglieder zu gewinnen. Die nötigen Voraussetzungen<br />

sollten in eigenen Schulungen und Fortbildungen vermittelt werden.<br />

Zudem verhelfen Parteimitglieder mit bürgerlichen Berufen<br />

Berufspolitikern dazu, die Beziehung zu den normalen Bürgerinnen<br />

und Bürgern nicht zu verlieren.<br />

Auch die thematischen Schwerpunktsetzungen, die von den Parteien<br />

getroffen werden, dürfen nicht außer Acht gelassen werden.<br />

So ergab beispielsweise die Mitgliederbefragung der CDU Niedersachsen<br />

im Vorfeld ihres Parteitages 2010, dass Frauen vor allem<br />

inhaltlich auf „Bildung / Wissenschaft und Forschung“ (50,4 %),„Fa-<br />

milie“ (46,8 %),„Soziales (36,8 %) und „Gesundheit“ (35,9 %) setzen<br />

würden, während der Fokus der Männer bei <strong>Themen</strong> wie „Finanzen“<br />

(52 %),„Arbeit/ Wirtschaft/ Verkehr“ (47 %),„Bildung/Wissen-<br />

schaft und Forschung“ (35, 7%) und „Innere Sicherheit“ (35,4 %) liegen<br />

(vgl. CDU Niedersachsen 2010, S: 5). Parteien müssen daher<br />

schauen, dass sie inhaltliche Angebote für alle Gruppen machen,<br />

die sie ansprechen und repräsentieren wollen.<br />

Parteien müssen sich für eine Kultur der Verantwortung und des<br />

Mitmachens einsetzen und der ständig wachsenden Anspruchshaltung<br />

und Mitnahmementalität etwas entgegensetzen.<br />

Dr. Markus Gloe, Jg. 1974, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft,<br />

Universität München, 2010/11 <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsführer<br />

Literatur:<br />

Jesse, Eckhard: Die Volksparteien in der Krise, in: Das Parlament vom 25.9.2006, S. 8.<br />

Klein, Markus u. a.: Warum brauchen Parteien Mitglieder?, in: Spier, Tim u.a. (Hrsg.):<br />

Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 18 –29.<br />

Klein, Markus: Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt?, in: Spier, Tim u.a.<br />

(Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 39–59.<br />

Kleinert, Hubert: Abstieg der Parteiendemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte<br />

35–36/2007, S. 3–11.<br />

Oberreuter, Heinrich: Politische Parteien. Stellung und Funktion im Verfassungssystem<br />

der Bundesrepublik, in: Mintzel, Alfred/ Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Parteien in der<br />

Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990, S. 15–40.<br />

Rüttgers, Jürgen: Dinosaurier der Demokratie. Wege aus des der Parteienkrise und<br />

Politikverdrossenheit, Hamburg 1992.<br />

Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien, in: Spier, Tim u.a. (Hrsg.):<br />

Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 97–119.<br />

Walter, Franz: Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und<br />

Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeldt 2009.<br />

Von Weizsäcker, Richard: Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann<br />

und Werner A. Perger, Frankfurt am Main 1992.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 59


Rudolf<br />

Seiters<br />

Der Stellenwert des ehrenamtlichen<br />

Engagements im Deutschen<br />

Roten Kreuz und in einer<br />

freiheitlichen, pluralen Gesellschaft<br />

Weltweit engagieren sich mehr als 13,1 Millionen Menschen freiwillig<br />

ehrenamtlich in den 186 Rotkreuz- bzw. Rothalbmondgesellschaften,<br />

in Deutschland immerhin fast 400.000. Addiert man die<br />

3,5 Millionen Fördermitglieder und die mehr als 3 Millionen Blut-,<br />

Sach- und Geldspender noch hinzu, so sind allein für die Rotkreuzaufgaben<br />

in Deutschland gut 8 % der Bevölkerung bürgerschaftlich<br />

engagiert.<br />

Das Deutsche Rote Kreuz zählt damit zu den großen zivilgesellschaftlichen<br />

Akteuren in Deutschland, und ist – nach den Feuerwehren<br />

und den Sportverbänden – eine der mitgliederstärksten<br />

Organisationen in der Bundesrepublik.<br />

Das ehrenamtliche Engagement hat einen sehr hohen Stellenwert<br />

für das DRK, ohne das ehrenamtliche Engagement ist das DRK nicht<br />

denkbar. Freiwilliges, unentgeltliches Engagement gehört zum Wesenskern<br />

unserer Organisation. Schon der Ursprung der weltweiten<br />

Rotkreuzbewegung war durch dieses freiwillige Engagement<br />

gekennzeichnet. Anlässlich der Schlacht von Solferino, 1859, waren<br />

es Freiwillige aus der Umgebung, spontan aktiviert von Henry<br />

Dunant, dem Gründervater des Roten Kreuzes, die uneigennützig<br />

Verwundeten und Verletzten geholfen haben. Heutzutage sind es<br />

ca. 400.000 Bürgerinnen und Bürger, die sich der Idee des Roten<br />

Kreuzes widmen, und zwar auf den aktuellen Schlachtfeldern unserer<br />

Zeit. Neben der – leider immer noch notwendigen – Hilfe für<br />

von kriegerischen Auseinandersetzungen Betroffene, ich denke dabei<br />

an Syrien oder den Sudan, sind dies heutzutage in den allermeisten<br />

Fällen Einsätze bei Katastrophen und größeren Notständen,<br />

beim Rettungsdienst und der Ersten Hilfe, aber auch bei den<br />

vielen Notlagen von Menschen auf den Gebieten des Sozialen, und<br />

schließlich auch viele präventive Tätigkeiten in allen Aufgabenfeldern.<br />

Sie können das, weil wir in Deutschland in einer staatlichen<br />

Verfassung leben, welche auf das Engagement seiner Menschen<br />

baut. Ohne die ca. 210.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer<br />

des DRK, die sich explizit im Zivil- und Katastrophenschutz engagieren,<br />

könnten die Standards im Bevölkerungsschutz in Deutsch-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 60


land nicht aufrecht erhalten werden; ohne die 60.000 Ehrenamtlichen<br />

der Wasserwacht gäbe es noch mehr Ertrinkungstodesfälle<br />

und viel zu wenig bewachte Badeplätze; ohne der ehrenamtliche<br />

Bergwacht könnte eine Rettung aus unwegsamen Gelände oder<br />

aus Seilbahnen nicht erfolgen; ohne die ca. 40.000 ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Wohlfahrts- und Sozialarbeit<br />

gäbe es noch mehr Einsamkeit und Trostlosigkeit unter älteren<br />

Mitbürgern, oder weniger Spaß und Freude in Kindergärten.<br />

Schließlich lernen die ca. 110.000 Kinder und Jugendlichen im Jugendrotkreuz<br />

frühzeitig die Erste Hilfe und sorgen in Schulen für<br />

den Schulsanitätsdienst. Der Beispiele gäbe es noch reichlich mehr.<br />

Es sind aber nicht nur die Menschen, die operativ auf zahlreichen<br />

Feldern tätig sind, wichtig sind auch die mehr als 40.000 Funktionsträger,<br />

die in Vorständen und Präsidien die Vereine leiten und<br />

führen. Das Ehren amt ist konstitutiv für das DRK, dies spiegelt sich<br />

in den Satzungen und Ordnungen des Verbandes der mehr als<br />

5000 Rotkreuzvereine bzw. dem Bayerischen Roten Kreuz in der<br />

Rechtsform der öffentlichen Körperschaft. Die Gestaltung der verbandspolitischen<br />

Grundlagen und Strategien obliegt den ehrenamtlich<br />

besetzen Organen auf allen Verbandsstufen.<br />

Im DRK sind auch ca. 100.000 haupt- und nebenberuflich Tätige<br />

engagiert und die allermeisten von ihnen sind mit ebenso großem<br />

Herzblut bei der Sache wie die Ehrenamtlichen. Dennoch, den<br />

Unterschied machen die Ehrenamtlichen, denn sie erbringen ihre<br />

Leistungen zusätzlich zu Familie und Beruf.<br />

Seit gut 15 Jahren hat auch die Politik das Engagement der Bürgerinnen<br />

und Bürger (wieder)-entdeckt. Vor 10 Jahren wurde das Ergebnis<br />

der Enquetekommission „Bürgerschaftliches Engagement“<br />

dem Bundestag vorgelegt, vor 2 Jahren beschloss die Bundesregierung<br />

eine „Nationale Engagementstrategie“. Das freiwillige Engagement<br />

genießt zweifellos eine viel größere Aufmerksamkeit als<br />

noch vor 15 bis 20 Jahren. Sicherlich spiegelt sich darin auch die<br />

Entwicklung in unserer Gesellschaft, in der sich Engagement nicht<br />

mehr wie von selbst versteht. Ehemals starke Milieus, wie Kirchengemeinden,<br />

Gewerkschaften und Vereine, verlieren an Bindungskraft,<br />

die Einstellungen der Menschen haben sich verändert. Es<br />

geht beim Einsatz für die Gesellschaft nicht mehr um tradierte<br />

„Ehrenämter“, sondern um bewusste Engagement-Entscheidungen<br />

aus persönlicher Motivation und Identifikation. Unser Staatswesen<br />

bietet für freiwilliges Engagement, für ehrenamtliche Betätigung<br />

eine sehr gute Grundlage, da es auf Solidarität, Freiheit und<br />

Verantwortung gründet. Zumindest ein gutes Drittel der Bundesbürgerinnen<br />

und Bürger – glaubt man dem Freiwilligensurvey der<br />

Bundesregierung – nehmen sich die Freiheit, sich zusätzlich zu Familie<br />

und Beruf zu engagieren, weil sie im Grundsatz davon überzeugt<br />

sind, das ihr eigenes Leben erst durch ein gelingendes Miteinander<br />

zur Erfüllung kommt. Ich kann dieses Engagement auch als<br />

gelebte Subsidiarität beschreiben. Subsidiarität, ein Prinzip, welches<br />

sich bis in die Zeit nach der Reformation zurückverfolgen lässt,<br />

aber erst im Zuge der industriellen Revolution Eingang in die Kirchen-<br />

und Staatslehre fand. Heutzutage gilt Subsidiarität in ganz<br />

Europa als „Common Sense“: Was Bürgerinnen und Bürger oder<br />

Kommunen für sich regeln können, das sollen sie auch selbst regeln,<br />

bevor eine höhere Ebene sich ihren Problemen annimmt. Im<br />

deutschen aber auch im europäischen Verfassungsrecht ist dies<br />

verankert. Man muss aber darauf achten, in der Debatte um Ehrenamt<br />

und Engagement nicht ausschließlich auf den so genannten<br />

Dritten Sektor zu schauen, der vermeintlich als Einziger die Qualität<br />

einer Bürgergesellschaft bestimmt und hervorbringt. Ich bin der<br />

Auffassung, dass erst die gelingende Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft<br />

(Dritter Sektor), Staat und Markt die Qualität der Bürgergesellschaft<br />

bestimmt. Erst im Zusammenspiel dieser drei Sektoren,<br />

die miteinander interagieren und viele Nahtstellen zueinander<br />

ausbilden, entsteht die „bürgerschaftliche Qualität“ einer Gesellschaft.<br />

Weiterhin: Ehrenamt, die freiwillige Übernahme von gemeinwohlorientierten<br />

Aufgaben, das bürgerschaftliche Engagement, ist ein<br />

Engagement für die Gesellschaft insgesamt und nicht vorrangig<br />

für den Staat und seine Behörden. Der Staat ist nicht die Gesellschaft;<br />

die Gesellschaft bildet den Staat und bedient sich seiner,<br />

um gesellschaftliche Normen festzulegen und zu realisieren. Der<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 61


Staat bzw. seine Institutionen dienen deshalb keineswegs dazu,<br />

gesellschaftliche Wertschöpfung (z. B. aus bürgerschaftlichem Engagement)<br />

als ihr ureigenstes Prinzip zu vereinnahmen. Vielmehr<br />

müssen sie – als „Servicestelle der Gesellschaft“ – dafür sorgen,<br />

dass dem gesellschaftlichen Willen (z. B. nach bürgerschaftlichem<br />

Engagement) entsprechende Rahmenbedingungen zugute kommen.<br />

Es gibt Stimmen, die davor warnen, der Staat sei angeblich<br />

dabei, die Bürgergesellschaft nur deshalb so hoch zu loben, weil er<br />

ein Alibi für seinen Rückzug aus seiner Verantwortung benötigt.<br />

Die Versuchung, Ehrenamt und Engagement als Entlastung für<br />

Markt und Staat zu funktionalisieren, mag groß sein. Ich denke<br />

aber, angesichts der vier großen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />

– das Zuwendungsbedürfnis einer älter werdenden Gesellschaft,<br />

das Nachlassen gesellschaftlicher und religiöser Bindekräfte,<br />

die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte<br />

und die zum Teil Besorgnis erregenden Lebens- und Bildungsbedin -<br />

gungen von Kindern und Jugendlichen – braucht es eine, mög -<br />

licher weise neue, abgestimmte Geschäftsgrundlage, wer was, angesichts<br />

dieser Herausforderungen, zu tun gedenkt bzw., wer was<br />

dabei am besten kann. Im Bereich des Marketing spricht man gerne<br />

vom Alleinstellungsmerkmal eines Produktes, oder einer Leistung.<br />

Im übertragenen Sinne kann man es auch auf drei Sektoren anwenden.<br />

Das USP (Unique Selling Proposition), das Alleinstellungsmerkmal<br />

des Staates ist die Gesetzgebung, der Staat hat an allererster<br />

Stelle die Aufgabe, Rahmenbedingungen für das Zusammenleben<br />

zu schaffen. Das USP des Marktes, der Wirtschaft, ist die<br />

Wertschöpfung, der Markt trägt zum (finanziellen) Reichtum eines<br />

Staates, gemessen an Arbeitsplätzen und verfügbaren Geld, bei.<br />

Aber nur die Zivilgesellschaft ist in der Lage, das Quantum an Engagement,<br />

an (Nächsten)-Liebe zu produzieren, was für die Bewältigung<br />

gesellschaftlicher, sozialer und humanitärer Aufgaben<br />

erforderlich ist. Das USP, das Alleinstellungsmerkmal der Zivilgesellschaft,<br />

das ist die Freiheit des Einzelnen, sich zusammen mit<br />

anderen für eine bessere Zukunft für alle zu engagieren.<br />

Es wäre daher gut, wenn sich Staat, Markt und Zivilgesellschaft, jeder<br />

mit seinen jeweiligen Stärken, gemeinsam um die großen gesellschaftlichen<br />

Herausforderungen bemühen würden, und somit<br />

auch das Ehrenamt, das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürgerinnen<br />

und Bürger, in seiner Rolle in einer freiheitlichen, demokratischen<br />

Gesellschaft zu Geltung kommt.<br />

Dr. rer. pol. h.c. Rudolf Seiters, Jg. 1937, Bundesminister a. D. und ehemaliger Vizepräsident<br />

des Deutschen Bundestags, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK)<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 62


Gespräch<br />

Licht ins Dunkel<br />

des Schuhkartons bringen<br />

Die einen verstehen ihren ALG-II-Bescheid nicht, andere stöhnen<br />

unter der Last von Zuzahlungen für Medikamente und wieder andere<br />

haben Probleme mit ihrem Rentenantrag. Bei der Sozialberatung<br />

von Joachim Specht und Michael Rother finden sie Hilfe: Hilfe<br />

zur Selbsthilfe.<br />

„Manchmal kommen die Leute einfach mit einem Schuhkarton<br />

voller ungeöffneter Briefe von Ämtern zu uns“, sagt Michael Rother.<br />

Und wenn sie den Weg zu ihm und Joachim Specht finden, läuft es<br />

noch gut. Dann können Rother und Specht mit den Betroffenen in<br />

Ruhe die Post durchgehen, Tipps geben, weiterhelfen. „Es gibt aber<br />

auch Menschen, die die Briefe direkt in die blaue Papiertonne werfen.“<br />

Joachim Specht und Michael Rother, der Vorsitzende der <strong>CDA</strong> in<br />

Treptow-Köpenick und sein Vize, bieten seit rund zehn Jahren in ihrem<br />

Bezirk eine Sozialberatung an – ehrenamtlich. Wer etwa seinen<br />

Bescheid für das Arbeitslosengeld II nicht versteht oder Probleme<br />

mit der Krankenkasse hat, findet dort Unterstützung. „Dabei wollen<br />

wir vor allem Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, sagt Rother. So erklären<br />

er und Joachim Specht den Bürgern, wie sie ihre Rechte geltend<br />

machen können, wo sie weiterführende Informationen bekommen<br />

und in welchen Fällen es Sinn macht, vor das Sozialgericht zu ziehen.<br />

Da war zum Beispiel die Frau, die Geld ans Jobcenter zurückzahlen<br />

sollte. Sie hatte Fahrkostenerstattung bekommen – Geld, das ihr<br />

„on top“ zustand, zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld II als Aufstockerin.<br />

Immerhin um mehr als 400 Euro ging es. Den Betrag<br />

hatte sie längst ausgegeben, als das Jobcenter ihn zurückverlangte.<br />

„Vor dem Gericht hat sie Recht bekommen – und das Jobcenter<br />

wurde geradezu gerüffelt“, erinnert sich Specht.<br />

Fälle, die mit dem Sozialgesetzbuch II und damit dem Arbeitslosengeld<br />

II zu tun haben – den Begriff „Hartz IV“ meiden Rother und<br />

Specht – bilden den Schwerpunkt der Beratungstätigkeit. Dass zu<br />

dem Thema so viele Menschen Rat suchen, führen die beiden<br />

<strong>CDA</strong>’ler auch auf die gesetzlichen Grundlagen zu tun. „Das Gesetz<br />

war handwerklich schlecht gemacht“, sagt Rother. Auch die vielen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 63


Klagen und Rundschreiben der Bundesagentur für Arbeit zeugten<br />

davon.<br />

Auslöser dafür, die Sozialberatung aufzubauen, war indes ein gesundheitspolitischer<br />

Kompromiss zwischen Ulla Schmidt und<br />

Horst Seehofer im Jahr 2002 – mit höheren Zuzahlungen für chronisch<br />

Kranke. „Da hat sich jemand an mich gewandt, weil er wusste,<br />

dass ich etwas mit der CDU zu tun habe“, sagt Joachim Specht. Der<br />

Mann habe verzweifelt bei ihm auf der Terrasse gesessen. Da sei<br />

ihm klar geworden, wie hilflos viele Bürger seien – und dann habe<br />

er die Sozialberatung aufgebaut, zusammen mit Michael Rother.<br />

„Unser Ziel war und ist, uns konkret um die Menschen zu kümmern<br />

– und das Feld nicht den Linken zu überlassen“, so Specht. Inzwischen<br />

biete man die Beratung an zwei verschiedenen Orten in Treptow-Köpenick<br />

an – als <strong>CDA</strong>. Doch die parteipolitische Profilierung<br />

steht nicht im Mittelpunkt. „Das kommt bei uns im Kiez nicht an“,<br />

weiß auch Michael Rother aus Erfahrung. Entscheidend sei Ehrlichkeit.<br />

Dazu gehöre auch, den Menschen zu sagen, was nicht gehe.<br />

Joachim Specht und Michael Rother zehren bei ihrer Beratung auch<br />

von ihrem beruflichen, gewerkschaftlichen und politischen Background.<br />

So gehört Joachim Specht seit vielen Jahren dem <strong>CDA</strong>-<br />

Bundesvorstand an und gilt dort als Fachmann für Arbeitsmarktpolitik.<br />

Und noch aus seiner Studentenzeit und seinem Engagement<br />

beim RCDS kennt er viele prominente Politiker. Michael<br />

Rother hat war von 1992 bis 2005 beim Deutschen Gewerkschaftsbund<br />

tätig, hat dort mit Ulf Fink, Regina Görner und Ingrid Sehrbrock<br />

zusammengearbeitet. Heute ist er unter anderem Bezirksverordneter<br />

in Treptow-Köpenick und Vorsitzender des Beirats<br />

beim örtlichen Jobcenter.<br />

Gelegentlich sind es auch nur ganz kleine Weichenstellungen, für<br />

die sich die Experten aus der Sozialberatung stark machen. So sind<br />

mitunter Informationen aus dem Bundesarchiv erforderlich, um<br />

Rentenbiografien rekonstruieren zu können. Doch die Auskünfte<br />

kosten Geld – meist um die 100 Euro. Joachim Specht: „Das ist für<br />

die Betroffenen ein hoher Betrag. Deshalb trete ich dafür ein, dass<br />

man für Auskünfte in sozialen Angelegenheiten nicht zahlen<br />

muss.“<br />

So machen Rother und Specht weiter: Sie streiten für eine bessere<br />

Politik. Und sie leisten konkret Hilfe zur Selbsthilfe – ganz im Zeichen<br />

der Subsidiarität.<br />

Mit Joachim Specht und Michael Rother sprach Martin Kamp.<br />

Aus vielen ihrer Fälle leiten sie auch politische Forderungen ab. So<br />

kritisiert Michael Rother die großen Unterschiede bei den Vermögensfreigrenzen<br />

für Bezieher von Arbeitslosengeld II einerseits und<br />

Empfänger von Grundsicherung im Alter andererseits. „Da haben<br />

sie mühsam etwas zusammengespart und tasten es auch als Empfänger<br />

von Arbeitslosengeld II nicht an – und wenn sie Grundsicherung<br />

im Alter bekommen, müssen sie fast alles verbrauchen“, sagt<br />

Rother.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 64


Hans-Joachim<br />

Schneider<br />

Ehrenamt in der Selbsthilfe<br />

Ein Erfahrungsbericht<br />

Ehrenamtliches Engagement ist eine wichtige Grundlage für die<br />

Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips in vielen Bereichen unserer<br />

Gesellschaft. Ein Paradebeispiel dafür ist die Selbsthilfe im Gesundheitsbereich:<br />

Hier engagieren und vernetzen sich vor allem Menschen,<br />

die selbst von seltenen oder chronischen Krankheiten betroffen<br />

sind. Meist ohne hauptamtliche Strukturen helfen sie sich<br />

gegenseitig, tauschen Erfahrungen aus und stehen einander mit<br />

Rat und Tat zur Seite. Ihre Gruppen sind in der Regel auf lokaler<br />

oder regionaler Ebene organisiert.<br />

Die 100.000 Selbsthilfegruppen finden in Deutschland viel Unterstützung.<br />

Beratung bieten ihnen 280 Selbsthilfekontaktstellen<br />

bundesweit, die meist in Trägerschaft von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden<br />

stehen. Hilfe kommt auch von der Rentenversicherung<br />

oder Initiativen von Bund, Ländern oder Kommunen. Nach<br />

§ 20c des SGB V fördern die Krankenkassen Selbsthilfegruppen und<br />

–organisationen sowie die Selbsthilfekontaktstellen finanziell.<br />

Qualität und Quantität der „Arbeit vor Ort“, in den Gesprächsgruppen<br />

und Arbeitskreisen, bleiben aber abhängig vom Engagement<br />

der Ehrenamtler.<br />

Auch mein Weg in die Selbsthilfearbeit führte über die Diagnose<br />

einer schweren Krankheit, der Schlafapnoe. Ich habe gelernt, damit<br />

zu leben, und wollte anderen dabei helfen, mit dieser tückischen<br />

Krankheit zurechtzukommen. Als Gründer und Betreuer mehrerer<br />

Selbsthilfegruppen möchte ich Mut machen, sich der Schlafapnoe<br />

ohne Angst zu stellen.<br />

Ich habe meine „Schlaf-Beschwerden“ zunächst auf Stress zurückgeführt<br />

und mir nichts weiter dabei gedacht. Ein wenig geschnarcht<br />

hatte ich schließlich schon länger. Allerdings fiel mir<br />

langsam selber auf, dass ich ständig müde und gereizt war, mich<br />

unwohl fühlte. Das wirkte sich auf meinen Arbeitsalltag aus: Ärger<br />

im Kollegenkreis, Müdigkeit mitten am Tag und Konzentrationsstörungen<br />

wurden meine ständigen Begleiter. Das Autofahren<br />

wurde zum Stress: Ich baute drei „Beinahe-Unfälle“ durch Sekun-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 65


denschlaf – und benötigte einmal für 100 Kilometer fast zwei Stunden,<br />

weil ich eine Schlafpause einlegen musste. Aus Angst<br />

schränkte ich das Autofahren so stark ein wie möglich.<br />

Erst im Januar 2001 ging ich zum Hausarzt. Der tippte auf Burn-<br />

Out – oder eine Schlafapnoe. Zwei Wochen später saß ich in der<br />

Praxis eines Lungenfacharztes. Er gab mir ein merkwürdiges Gerät<br />

mit nach Hause, das ich nachts im Schlaf „aufsetzen“ solle. Die Auswertung<br />

der nächtlichen Messungen brachte dann die oben genannte<br />

Diagnose.<br />

Von Anfang an wollte ich mich meiner Krankheit offensiv stellen.<br />

Doch das war gar nicht so einfach: Es war zum Beispiel schwierig,<br />

schnell einen Platz im Schlaflabor zu bekommen. Mit Glück, Geschick<br />

und Hartnäckigkeit ergatterte ich eine Untersuchung im<br />

Schlaflabor in Kirchen an der Sieg. Dort diagnostizierte man bei<br />

mir eine Schlafapnoe mit 73 Stillständen pro Stunde und dem<br />

längsten Aussetzer von 97 Sekunden.<br />

Selbsthilfe der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und<br />

Schlafmedizin (DGSM) engagiert.<br />

2003 gründete ich mit einigen Leidensgenossen die Selbsthilfegruppe<br />

Schlafapnoe Mainz-Bingen. Zuerst waren wir nur 15; nach<br />

wenigen Monaten schon 90. Wir starteten bald ein Präventionsprojekt<br />

mit der AOK und eine Vortragsreihe mit insgesamt 2.000<br />

Zuhörern. 2005 wurde mir und einigen Mitstreitern der Preis SOM-<br />

NUS der Zeitschrift „Schlafmagazin“ verliehen.<br />

Selbsthilfe heißt Ehrenamt, und ehrenamtliche Arbeit macht Spaß.<br />

Das liegt zum Beispiel daran, dass sie so vielfältig ist. Das zeigt ein<br />

Blick auf meine Aufgaben in der Schlafapnoe-Selbsthilfe auf regionaler<br />

und überregionaler Ebene: Ich habe Info-Broschüren entwickelt,<br />

zum Beispiel über den Sekundenschlaf, Schlafstörungen bei<br />

Schichtarbeit oder bei Kindern. Das Heftchen „Schnarchen – lästige<br />

Störung oder ernsthafte Erkrankung?“ wurde mittlerweile in einer<br />

Auflage von 30.000 Exemplaren herausgegeben.<br />

Drei Monate später begann die „Continuous positive airwave pressure“<br />

(CPAP)-Therapie. Dabei wird dem Patienten nachts im Schlaf<br />

von einem kleinen Gerät über eine Maske Atemluft in leichtem<br />

Überdruck zugeführt. Das lindert die Atemaussetzer. Schon nach<br />

einer Nacht fühlte ich mich wie neugeboren. Müdigkeit und Anspannung<br />

waren verflogen. Ich konnte wieder ohne Schlafpause<br />

Auto fahren und lange Unterhaltungen führen.<br />

Im Februar 2003 entdeckte ich einen Veranstaltungshinweis zu einem<br />

Gruppenabend einer Schlafapnoe-Selbsthilfegruppe in Alzey<br />

– und ging einfach mal hin. Schon bald darauf wurde ich zum stellvertretenden<br />

Vorsitzender des Bundesverbandes Schlafapnoe<br />

Deutschlands (BSD) gewählt – obwohl ich noch fast ein Neuling<br />

war. Dafür hatte ich aber einige nützliche Erfahrungen aus meiner<br />

beruflichen Tätigkeit in der Politik zu bieten. Die habe ich dann vor<br />

allem in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eingebracht. Im<br />

Januar 2004 übernahm ich dann die Aufgabe, den BSD als Vorsitzender<br />

zu führen. Gleichzeitig habe ich mich in der Kommission<br />

Das tägliche Brot der Selbsthilfe und der Verbandsarbeit war und<br />

ist das Gespräch mit Krankenkassen und Politikern. Oft ging es darum,<br />

Menschen ganz konkret zu helfen, beispielsweise bei Problemen<br />

mit Leistungserbringern oder Krankenkassen. Patientenanfragen<br />

aus ganz Deutschland haben uns erreicht.<br />

Die Vorsitze in BSD und der Selbsthilfegruppe musste ich 2008 aufgegeben:<br />

Es ließ sich mit meinem Job einfach nicht mehr vereinbaren.<br />

Der Selbsthilfe bin ich immer noch treu geblieben. Beratend<br />

unterstütze ich die Selbsthilfegruppe in Mainz und den Allgemeinen<br />

Verband chronische Schlafstörungen Deutschlands (AVSD). Im<br />

Mai 2012 hat mich mein Beruf nach Berlin verschlagen. Selbstverständlich<br />

will ich auch hier helfen, eine neue Gruppe zu gründen.<br />

Internet-Link: www.avsd.eu (Allgemeiner Verband chronische<br />

Schlaf störungen Deutschlands e. V. (AVSD))<br />

Hans-Joachim Schneider, Jg. 1954, <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsstelle, Selbsthilfe Schlafapnoe<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 66


Bernd<br />

Schulze-<br />

Waltrup<br />

Von Möglichkeiten und Nöten<br />

eines Kreistagsabgeordneten<br />

Ein kommunalpolitisches Amt zu übernehmen, hat wohl für jede/n<br />

unterschiedliche Gründe. Warum macht man das? Diese Frage<br />

muss jede/r Abgeordnete für sich beantworten. Meine eigene war<br />

und ist: Ich möchte die Gesellschaft in Stadt und Kreis meiner Heimat<br />

mitgestalten. Mag es auch abgedroschen klingen: Das ist immer<br />

noch der Kern, auf dessen Basis ich mich oft mehrmals in der<br />

Woche neu motiviere, nach der Arbeit an Sitzungen, Versammlungen,<br />

Bürgergesprächen oder anderen im weitesten Sinne politische<br />

Terminen teilzunehmen.<br />

Die <strong>Themen</strong> sind dabei erst einmal vorgegeben. Sie ergeben sich<br />

aus den gesetzlichen Aufgaben einer Kreisverwaltung bzw. eines<br />

Kreistages. Als untere staatliche Aufsichtsbehörde etwa im Bereich<br />

Umweltschutz, Straßenverkehr oder im Gesundheitsamt muss die<br />

Verwaltung in der Aufgabenwahrnehmung im Wesentlichen begleitet<br />

werden. Hier ist der Einfluss des Kreistages und damit jedes<br />

einzelnen Mitgliedes eher begrenzt.<br />

Politisches Arbeiten im Korsett von Gesetzen und Vorschriften<br />

Dennoch: Unterschätzen darf man diese Tätigkeit nicht. Oft ist im<br />

Rahmen der Gesetze ein Auslegungsspielraum vorgesehen; viele<br />

kennen das etwa aus der Bauleitplanung. Genauso wie im Flächennutzungs-<br />

oder Bebauungsplan gestalterische Möglichkeiten bestehen,<br />

kann etwa in der Landschaftsplanung der Schwerpunkt<br />

entweder auf den Naturschutz oder den Landschaftsschutz gelegt<br />

werden. Für den Laien mag das kaum einen Unterschied machen.<br />

Doch daran wird deutlich, dass von den Abgeordneten ein hohes<br />

Maß an Sachkompetenz erwartet wird. Denn einen Einfluss auf die<br />

konkreten inhaltlichen Festlegungen in einem Landschaftsplan<br />

kann ich als Abgeordneter nur dann nehmen, wenn ich zum einen<br />

den Planungsraum genau kenne. Und wenn ich zum anderen die<br />

planerischen, gesetzlichen und ökologischen Notwendigkeiten<br />

beurteilen, abwägen und – falls nötig auch detailliert – in meine<br />

Position einbeziehen kann. Ansonsten bleibt nur das „Abnicken“<br />

der Vorgaben der Verwaltung. Und das honorieren die Bürgerinnen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 67


und Bürger auf Dauer nicht – selbst wenn es im Einzelfall noch<br />

funktioniert.<br />

Den persönlichen Gestaltungsspielraum muss sich ein/e Abgeordnete/r<br />

wirklich erarbeiten. Denn Abgeordnete bringen zwar oft<br />

Sachkompetenz in bestimmten Bereichen mit, aber sie können<br />

nicht immer nur in den Ausschüssen mitarbeiten, in denen sie<br />

diese anwenden können. Oft bekommen die Abgeordneten zusätzliche<br />

Ausschüsse zugeteilt – zu <strong>Themen</strong>gebieten, auf denen diese<br />

bisher nicht zu Hause waren. Das bedeutet, dass man sich in neue<br />

<strong>Themen</strong> einarbeiten muss. Konkret muss ein Kommunalpolitiker<br />

dann die gesetzlichen Bestimmungen studieren, aber vor allem<br />

auch die regionalen Strukturen kennenlernen. Das sieht man am<br />

Beispiel Rettungsdienst: Da muss man die Aufgaben von Feuerwehr<br />

und Notärzten genauso verstehen wie die komplexen Finanzierungsströme<br />

durch Krankenkassen oder die Gebührensatzungen.<br />

Wichtig ist vor allem der persönliche Kontakt mit den Beteiligten.<br />

Nur im persönlichen Gespräch bekommt man das nötige Verständnis<br />

für das Thema und kann eine ausgewogene Entscheidung treffen.<br />

So muss der oder die Abgeordnete z. B. bei einem Landschaftsplan<br />

mit den Landwirten, den Anglern und Jägern sprechen – aber<br />

auch mit den Umweltverbänden wie BUND oder dem Naturschutzbund.<br />

Alle diese Gruppen haben berechtigte Interessen, die es in<br />

den Entscheidungsfindungsprozess einzubinden gilt. In diese Gespräche<br />

sollte der oder die Abgeordnete mit Fachkompetenz gehen,<br />

damit er dem jeweiligen Gegenüber auch Paroli bieten kann.<br />

Denn im politischen Diskurs erhält meist nie eine „Seite“ zu 100<br />

Prozent Zustimmung. Stattdessen muss fast immer ein Kompromiss<br />

erarbeitet werden, der jeder „Seite“ Zugeständnisse abverlangt.<br />

Politisches Gestalten durch Sachkenntnis vor Ort<br />

In den Politikbereichen, in denen man sich auskennt, kann man viel<br />

erreichen. Das gelingt am besten, wenn man das Gespräch mit Bürgerinnen<br />

und Bürgern sucht – und sie einbindet.<br />

Lebenslanges Lernen ist eine Forderung, die in der Bildungspolitik<br />

immer stärker in den Blick rückt. Für eine Wahlperiode einer/s Abgeordneten<br />

gilt dies ganz besonders. Nicht nur die lokalen Strukturen<br />

und die Menschen verändern sich und stellen neue Anforderungen.<br />

Auch die Gesetze und Verordnungen werden ständig weiterentwickelt.<br />

Da müssen europäische Vorgaben umgesetzt werden,<br />

oder es ergehen Gerichtsurteile, die eine andere Handhabung<br />

vor Ort zur Folge haben. Für die Politik bedeutet dies, den Veränderungsprozess<br />

zu begleiten und als Vermittler zwischen Bürgerinnen<br />

und Bürgern und der Verwaltung aufzutreten.<br />

Gestalten mit den Menschen in den vorhandenen Strukturen – das<br />

ist Politik<br />

Den Menschen ist oft nicht bewusst, dass in der Entscheidungsfindung<br />

die vorhandenen Strukturen eine wesentliche Rolle spielen.<br />

In der aktuellen Schulpolitik z. B. haben die einzelnen Kommunen<br />

ein hohes Eigeninteresse, die Schulen in ihrer Stadt oder Gemeinde<br />

auf Dauer zu sichern. Dabei wird oft nicht über die Stadtgrenze geschaut.<br />

Eine Schulentwicklung endet aber gerade im ländlichen<br />

Raum nicht an der Stadtgrenze. Die Eltern entscheiden oft nach<br />

der Qualität, dem Angebot oder auch nur dem Ruf der Schule. Und<br />

die Schülerinnen und Schüler gehen nicht selten in der Nachbarkommune<br />

zur Schule. Sich bei sinkenden Schülerzahlen für oder<br />

gegen eine Schule zu entscheiden oder eine neue Schulform zu<br />

wählen, hat viele Facetten, die für die Städte und Gemeinden im<br />

ländlichen Raum konkrete Zukunftsfragen sind. Eine einfache<br />

Lösung liegt deshalb eben nicht auf der Hand.<br />

Die Politik wird ja oft in Bausch und Bogen kritisiert. Viele glauben,<br />

Politik sei generell unfähig, richtige Entscheidungen zu treffen. Dabei<br />

wird gerade auf kommunaler Ebene viel und intensiv diskutiert<br />

– und zwar auf der Basis von Argumenten. Und genau das ist Politik:<br />

das Zusammentragen von Meinungen aus der Bevölkerung,<br />

um zur besten Lösung zu kommen.<br />

Barrieren – Haushalt und Bürokratie<br />

Die kommunale Ebene wird aber nicht so mit Kompetenzen und<br />

vor allem nicht mit den Finanzen ausgestattet, wie es sein müsste.<br />

Die bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben werden meist ohne<br />

die kommunale Ebene entschieden. Die Umsetzung und dann oft<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 68


auch die Finanzierung ist aber Sache von Rat und Kreistag. Die Lokalpolitiker<br />

müssen dafür Mittel zur Verfügung stellen und dann<br />

auch noch rechtfertigen, weshalb sie anderes dann eben nicht umsetzen<br />

können. Der Begriff der Konnexität ist eine viel zu technokratische<br />

Umschreibung für die einfache Forderung: Wer die Musik<br />

bestellt, muss auch dafür bezahlen.<br />

Darum wird es immer wichtiger, auch andere Wege für die Realisierung<br />

von guten Ideen und Projekten zu finden. Vor Ort bilden<br />

sich z. B. Bürger-Stiftungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben,<br />

dort einzuspringen, wo der Staat nicht mehr finanzieren kann.<br />

Auch die Tafeln sind ein gutes Beispiel für Hilfe zur Selbsthilfe:<br />

Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden dürfen, werden an<br />

Menschen gegeben, die sich vieles nicht mehr leisten können. Das<br />

ist ein Weg der Gesellschaft, andere Lösungen zu finden. Hier helfen<br />

Menschen Menschen.<br />

Und wenn der Staat nicht an jeder Stelle die Lösung bieten kann,<br />

dann ist das auch nicht immer negativ zu sehen. Die Verantwortung<br />

liegt nicht nur bei „der“ Verwaltung, „der“ Politik oder „dem“<br />

Staat. Sie liegt bei uns allen. Oft sind es die kleinen Ideen, die Auswege<br />

eröffnen. So kann der Staat nicht jede Initiative mit Fördermitteln<br />

unterstützen. Wenn sich aber Menschen etwa zu einem<br />

Förderverein zusammenschließen, der eine unabhängige psychosoziale<br />

Krebsberatungsstelle unterstützen will, dann kann der<br />

Kreistag eine Anschubfinanzierung geben. Die Selbsthilfe, die Subsidiarität<br />

unterstützen, kann die Impulse aus der Bürgerschaft vielleicht<br />

sogar verstärken.<br />

Dass die lokale Ebene nicht mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet<br />

wird, ist aber nur die eine Seite der Belastung. Immer stärker<br />

sind es auch die Vorschriften, die auf Landes- und Bundesebene geschaffen<br />

werden, die in Städten, Gemeinden und Kreisen zu mehr<br />

Personal, mehr Bürokratie und damit zu mehr Kosten führen. Die<br />

Umsetzung von neuen Brandschutzvorschriften führt zu mehr Personal,<br />

das alleine aus dem kommunalen Haushalt finanziert werden<br />

muss. Und wenn der öffentliche Nahverkehr per Gesetz bis<br />

zum Jahr 2020 barrierefrei sein soll, dann müssen für diese Vorschriften<br />

auch Mittel bereitstehen, aus denen das bezahlt werden<br />

soll. Und dies sind nur zwei Beispiele aus einer Vielzahl von Vorschriften<br />

zu Lasten der Kommunen. Auf Dauer müssen die Gesetze,<br />

Vorschriften und Verordnungen aber wieder vor Ort finanziell realisierbar<br />

sein.<br />

Nach all diesen Betrachtungen kann es deshalb nur eine Forderung<br />

geben:<br />

Die kommunale Ebene muss in Politik und Gesetzgebung wieder<br />

eine zentrale Rolle spielen.<br />

Bernd Schulze-Waltrup, Jg. 1966, Mitglied des Kreistages Paderborn und des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstandes<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 69


Stefanie<br />

Wahl<br />

Wenn immer mehr stiften gehen<br />

Die Bedeutung von Stiftungen in der Zivilgesellschaft<br />

Dass materiell wohlhabende Menschen Geld dauerhaft für gemeinnützige<br />

Zwecke stiften und damit zum Wohl der Gesellschaft<br />

beitragen, hat in Deutschland eine lange Tradition. Bereits im<br />

Mittel alter wurden zahlreiche soziale und kirchliche Stiftungen<br />

gegrün det, von denen einige, wie die Bürgerspitalstiftung im bayerischen<br />

Wemding oder die Augsburger Fuggerei, heute noch bestehen.<br />

Die meisten Stifter hofften, durch Mildtätigkeit und Übertragung<br />

von Vermögen an die Kirche das Wohlgefallen Gottes zu<br />

erlangen und das Andenken an sie selbst lebendig zu halten. Im 19.<br />

Jahrhundert kam es zu einer deutlichen Zunahme von Stiftungen,<br />

als Vertreter des Bürgertums oft weit vor dem Staat soziale Verantwortung<br />

übernahmen und wie die Bodelschwinghsche Stiftung<br />

Bethel institutionelle Hilfe für Kranke, Behinderte und arme Menschen<br />

zur Verfügung stellten. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg<br />

wurden viele Stiftungen liquidiert. Nach den Kriegen gab es kaum<br />

Neugründungen. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahm<br />

das Stiftungswesen abermals einen Aufschwung, der bis heute anhält.<br />

Stiftungsboom vor allem im Westen Deutschlands<br />

Allein von 1989 bis 2011 erhöhte sich die Zahl der beim Bundesverband<br />

deutscher Stiftungen erfassten rechtsfähigen Stiftungen von<br />

knapp 5.000 auf knapp 19.000. Hinzu kommen heute ca. 300 Unternehmensstiftungen<br />

und geschätzte 30.000 bis 80.000 nicht<br />

rechtsfähige Stiftungen, deren Stiftungsvermögen von einem Treuhänder<br />

verwaltet wird. Besonders dynamisch verlief die Entwicklung<br />

im Westen Deutschlands und hier vor allem im Münsterland,<br />

im Rheinland, der Region Hannover, im Raum Frankfurt und in den<br />

Großstädten Hamburg, München und Stuttgart. Stiftungshauptstadt<br />

ist derzeit Würzburg, wo 76 Stiftungen auf 100.000 Einwohner<br />

kommen. Im Osten Deutschlands ist die Stiftungsdichte hingegen<br />

deutlich geringer. Vergleichsweise viele Stiftungen gibt es lediglich<br />

in Potsdam und Dresden mit 31 bzw. 21 Stiftungen pro<br />

100.000 Einwohnern.<br />

Der Stiftungsboom der zurückliegenden zehn Jahre ist allerdings<br />

weniger auf die Zunahme von Stiftungen von natürlichen Perso-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 70


nen, das heißt klassischen Stiftern, zurückzuführen, sondern von<br />

Unternehmen, Vereinen und öffentlichen Körperschaften wie<br />

Theatern und Museen, die auf diese Weise zusätzliche Mittel für<br />

ihre Zwecke gewinnen und ihren Förderern die steuerlichen Vorteile<br />

von Stiftungen zukommen lassen wollen. Der Wunsch, sich<br />

ein Denkmal zu setzen, spielt heute für viele Stifter eine untergeordnete<br />

Rolle. 40 Prozent der Stiftungen tragen nicht den Namen<br />

ihres Gründers. Die meisten Stifter wollen hier und heute gestalten<br />

und der Gesellschaft in Form von Geld, Zeit, Erfahrungen und Kontakten<br />

etwas zurückgeben. Viele, bei weitem aber nicht alle der<br />

heutigen Stifter, sind vermögend. Ein Fünftel der Stifter besitzt ein<br />

Privatvermögen von weniger als 250.000 Euro.<br />

Stiftungen als Fortschrittsmotor<br />

Mit einem erfassten Vermögen der zehn größten rechtsfähigen<br />

Stiftungen von knapp 2,7 Milliarden Euro und Ausgaben von knapp<br />

800 Millionen Euro können Stiftungen kaum einen Bruchteil staatlicher<br />

Aktivitäten übernehmen. Sie können jedoch die Staatstätigkeit<br />

sinnvoll ergänzen. Vor allem aber sind sie ein geeignetes Mittel,<br />

privaten Wohlstand für öffentliche Aufgaben zu nutzen. Der gesellschaftliche<br />

Zusammenhalt wird dadurch auf doppelte Weise<br />

gestärkt: Zum einen durch die Mehrung des Gemeinwohls, zum<br />

anderen dadurch, dass die Einkommenskluft verringert wird, indem<br />

Wohlhabende freiwillig einen Teil ihres Einkommens weniger<br />

Wohlhabenden zur Verfügung stellen. Letzterer Aspekt gewinnt in<br />

Zeiten zunehmender Einkommensspreizung an Gewicht.<br />

Aufgrund ihrer finanziellen und personellen Unabhängigkeit sind<br />

Stiftungen wie kaum eine andere Institution aber auch in der Lage,<br />

neue kontroverse <strong>Themen</strong> aufzugreifen sowie unbequeme Lösungen<br />

für Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu entwickeln und<br />

damit die Gesellschaft zu erneuern. Indem Stiftungen Experimente<br />

in Form von Modellvorhaben wagen, Foren zum Austausch neuer<br />

Ideen bieten oder Brücken zwischen Wissenschaft und Politik<br />

schlagen, können sie wertvolle Anregungen für künftiges gesellschaftliches<br />

und politisches Handeln liefern.<br />

Die Bandbreite der Aktivitäten von Stiftungen reicht vom Betrieb<br />

sozialer Einrichtungen über die Vergabe von Forschungsstipendien<br />

bis zur operativen Umsetzung von Reformprojekten und zur Förderung<br />

freiwilligen Engagements. Letzteres ist seit 2007 als steuerlich<br />

begünstigter gemeinnütziger Zweck anerkannt. Eine besondere<br />

Form dieses neuen Engagements sind die so genannten Bürgerstiftungen.<br />

Als Stiftung von Bürgern für Bürger setzen sie sich<br />

fördernd und operativ für das lokale Gemeinwohl ein. Dabei stellen<br />

sie nicht nur Geld, sondern in Form von 345.000 ehrenamtlich geleisteten<br />

jährlichen Stunden auch Zeit zur Verfügung. Bürgerstiftungen<br />

sind hervorragend geeignet, gesellschaftliche Probleme<br />

aufzuspüren und für sie bürgernahe, praktikable Lösungen zu entwickeln.<br />

Bedeutung von Stiftungen wird künftig zunehmen (müssen)<br />

Genau hierin dürften Stiftungen künftig noch stärker gefordert<br />

werden. Denn zunehmende Umwelt- und Ressourcengrenzen, verschärfter<br />

internationaler Wettbewerb, demographischer Wandel,<br />

sich ausbreitende postmaterielle Sicht- und Verhaltensweisen sowie<br />

Schuldenbremsen sprechen dafür, dass der materielle Wohlstand<br />

in Deutschland und anderen früh industrialisierten Ländern<br />

künftig stagnieren oder sogar sinken wird. Damit dies in materiell<br />

fokussierten Gesellschaften wie der deutschen nicht zu sozialen<br />

Spannungen und Unruhen führt, müssen zum einen die weitgehend<br />

auf Materielles verengten Sicht- und Verhaltensweisen um<br />

immaterielle Wohlstandsaspekte erweitert und ökologisch, gesellschaftlich<br />

und finanziell nachhaltigere Wirtschafts- und Lebensformen<br />

entwickelt werden. Zum anderen muss der gesellschaft -<br />

liche Zusammenhalt künftig sehr viel stärker von den Bürgern<br />

gewährleistet werden. Bürgerschaftlichem Engagement, insbesondere<br />

den Stiftungen, kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung<br />

zu. Sie müssen nicht nur in sehr viel größerem Umfang als<br />

früher Aufgaben übernehmen, die der Staat aufgrund begrenzter<br />

öffentlicher Mittel nicht mehr erfüllen kann, sondern auch für den<br />

anstehenden Wandel hin zu nachhaltigen Lebensweisen innovative<br />

Lösungen entwickeln und die Bürger hierfür zu gewinnen suchen.<br />

Und schließlich können Stifter mit hohen Einkommen und<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 71


Vermögen selbst zum sozialen Frieden beitragen, indem sie für die<br />

Gesellschaft sichtbar etwas von dem materiellen Wohlstand zurückgeben,<br />

den sie häufig mit gesellschaftlicher Hilfe erworben<br />

haben. Gerade von ihrem bürgerschaftlichem und vor allem auch<br />

finanziellen Engagement wird künftig die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher<br />

Funktionsfähigkeit maßgeblich abhängen. Wenn<br />

künftig die materielle Leistungsfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten<br />

sowie des Staates sinkt, müssen öffentliche Schwimmbäder,<br />

Parks, Sportplätze, Opernhäuser oder begabte Studenten<br />

aus einkommensschwachen Familien von denjenigen gefördert<br />

werden, die hierzu über die Zahlung staatlicher Steuern und Abgaben<br />

hinaus fähig sind.<br />

Mehr Aufklärung über die Aktivitäten von Stiftungen erforderlich<br />

Um dies zu erreichen, müssen noch mehr Menschen Teile ihres Vermögens<br />

stiften. Voraussetzung hierfür ist eine bessere Kenntnis<br />

über die Aktivitäten von Stiftungen und die Möglichkeiten, Stiftungen<br />

zu gründen. Denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung<br />

hat Umfragen zufolge lediglich eine diffuse Vorstellung<br />

von Stiftungen in Deutschland. Nur 27 Prozent der Menschen meinen,<br />

dass Stiftungen hauptsächlich der Allgemeinheit dienen. 83<br />

Prozent hatten bisher keinen Kontakt mit Stiftungen. Nicht einmal<br />

jeder zweite Bürger weiß, dass grundsätzlich jeder eine Stiftung<br />

gründen kann. Deshalb müssen Stiftungen die Bevölkerung intensiver<br />

über ihre gemeinwohlorientierten Aktivitäten, aber auch über<br />

die Personen, die sie tragen, aufklären. Daneben besteht aber auch<br />

Forschungsbedarf. Klärungsbedürftig ist beispielsweise, inwieweit<br />

Stiftungen wirklich zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen<br />

und wie effizient sie dabei sind oder inwieweit sie helfen,<br />

brachliegendes bürgerschaftliches Engagement zu aktivieren.<br />

Neue finanzielle Herausforderungen für Stiftungen<br />

Der rückläufige materielle Wohlstand der öffentlichen und privaten<br />

Hand wirkt sich auch auf die Stiftungen selbst aus. Anders als<br />

in der Vergangenheit, als das Stiftungsvermögen wachsende Erträge<br />

abwarf, aus denen immer mehr Stiftungsaktivitäten bestritten<br />

werden konnten, dürften mit rückläufigem Wirtschaftswachstum<br />

auch die Vermögenserträge sinken. Um die gewünschten Aktivitäten<br />

aufrecht zu erhalten, dürften viele Stiftungen gezwungen<br />

sein, auf das Vermögen zurückzugreifen und damit zu Verbrauchsstiftungen<br />

zu werden. Dies ist jedoch kein Grund, auf Aktivitäten<br />

oder die Gründung einer Stiftung zu verzichten. Denn die wichtigsten<br />

Beweggründe für die Gründung einer Stiftung, nämlich ein<br />

Problem zu lösen, eine Institution zu erhalten oder ein soziales Anliegen<br />

zu verwirklichen, bleiben davon unberührt. Gleiches gilt für<br />

die hohe persönliche Zufriedenheit, die Stifter aus dem Wissen, anderen<br />

zu helfen und zum Gemeinwohl beizutragen, im Gegensatz<br />

zu der reinen Befriedigung persönlicher Konsumwünsche ziehen.<br />

Bringschuld des Staates<br />

Damit Stiftungen ihre wachsende Rolle unter Bedingungen stagnierenden<br />

bzw. sinkenden materiellen Wohlstands erfüllen<br />

können, muss darüber hinaus der Staat anerkennen, dass bürgerschaftliches<br />

Handeln – exekutiert oder unterstützt von Stiftungen<br />

–, im anstehenden Übergang zu nachhaltigen Wirtschafts- und<br />

Lebensweisen seinem Handeln vielfach überlegen ist. Deshalb<br />

muss er den Bürgern und zivilgesellschaftlichen Institutionen wie<br />

Stiftungen zum Beispiel in den Bereichen Bildung und Erziehung,<br />

gesellschaftliche Integration oder Stadtplanung Aufgaben übertragen,<br />

die er in der Vergangenheit unter Missachtung des Subsidiaritätsprinzips<br />

an sich gezogen hat. Darüber hinaus darf er staatliche<br />

Institutionen im Bereich gesellschaftlicher Aktivitäten nicht<br />

bevorzugen. Zudem muss er bürokratische Hemmnisse abbauen.<br />

Ferner muss er privaten Institutionen, die sich für das Gemeinwohl<br />

einsetzen, in der Öffentlichkeit mehr Anerkennung zollen. Nur so<br />

ist es möglich, dass sinkender materieller Wohlstand nicht zu einer<br />

Staats-, sondern zu einer subsidiären Bürgergesellschaft führt, in<br />

der privater materieller Wohlstand bestmöglich für öffentliche Aufgaben<br />

erschlossen wird.<br />

Stefanie Wahl, Jg. 1951, Geschäftsführerin des Denkwerks Zukunft, Bonn<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 72


Elmar<br />

Brok<br />

Europa und Subsidiarität<br />

An wohl kaum einer anderen Stelle spielt der Begriff der Subsidiarität<br />

heute so eine prominente Rolle wie in der Europapolitik. Die<br />

Subsidiarität war von Anfang an Baustein der europäischen Integration.<br />

Christdemokratische Gründerväter wie Konrad Adenauer,<br />

Alcide De Gasperi und Robert Schuman erlebten die schlimmen<br />

Auswüchse extrem zentralisierter Regime in Europa. Die Wiederherstellung<br />

der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit der<br />

Bürger in ihren vom Krieg zerrütteten Ländern konnte nur durch<br />

einen dauerhaften Frieden und Solidarität zwischen den Völkern<br />

Europas erreicht werden. Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität<br />

mit der Errichtung einer supranationalen Struktur zur Unterstützung<br />

von wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu fördern, war<br />

dabei ein grundsätzlich subsidiärer (also helfender, unterstützender)<br />

Ansatz. In diesem Geiste wurde auch der Vertrag über die<br />

Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl entworfen,<br />

wo es im Artikel 5 heiβt, dass die Gemeinschaft begrenzt<br />

eingreift und das Handeln der Beteiligten erhellt und erleichtert.<br />

Subsidiarität als Leitfaden der europäischen Integration<br />

Erst 1992, im Vertrag von Maastricht, wurde das Subsidiaritätsprinzip<br />

als grundlegendes rechtliches Strukturprinzip der Europäischen<br />

Union (EU) kodifiziert. Mittlerweile muss die Europäische Kommission<br />

bei jeder gesetzgeberischen Initiative die Subsidiarität und<br />

Verhältnismäβigkeit ihres Handelns verantworten. Im Vertrag von<br />

Lissabon (VEU, Artikel 5) lautet die genaue Definition des Prinzips<br />

wie folgt:<br />

„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen,<br />

die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern<br />

und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von<br />

den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder<br />

lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr<br />

wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene<br />

besser zu verwirklichen sind.“<br />

Zweck dieses ordnungspolitischen Leitfadens ist die Transparenz<br />

und Bürgernähe der Politik zu gewährleisten. Bürger sollen vor un-<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 73


nötigem und ineffizientem politischen Zentralismus geschützt<br />

werden. Das bedeutet, dass Entscheidungen möglichst lokal getroffen<br />

werden sollten, dort wo Bürger und Vereine sich direkt an<br />

der Politik beteiligen können. Dennoch stellt das Subsidiaritätsprinzip<br />

auch die Weichen für die Fälle, wo die lokale Ebene überfordert<br />

ist und wo regionales, nationales oder europäisches Auftreten<br />

gefordert ist.<br />

Jacques Delors, der von 1985 bis 1995 an der Spitze der Europäischen<br />

Kommission stand und der seine Karriere in der französischen<br />

christlichen Arbeiterjugend und der christdemokratischen Partei<br />

MRP von Robert Schuman begann 17 , hat diese doppelte Bedeutung<br />

der Subsidiarität auf den Punkt gebracht. Die Subsidiarität, die die<br />

Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Ebenen der politischen<br />

Macht regelt, „ist nicht nur eine Begrenzung des Eingreifens<br />

einer höheren Autorität gegenüber eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft,<br />

die beide in der Lage sind, selbst zu handeln. Es ist<br />

auch eine Verpflichtung für diese Autorität, gegenüber dieser Person<br />

oder dieser Gemeinschaft zu handeln, um ihr die Mittel zur<br />

Selbstverwirklichung zu reichen.“ 18<br />

Stärkung der Subsidiaritätskontrollen<br />

Um die manchmal komplizierte Abgrenzung zwischen Bereichen<br />

geteilter Zuständigkeit der EU und der Mitgliedsstaaten transparenter<br />

und präziser zu regeln, verleiht der Vertrag von Lissabon den<br />

nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten ein Kontrollrecht.<br />

Das sogenannte Subsidiaritätsprotokoll verpflichtet die Europäische<br />

Kommission, den nationalen Parlamenten und den Unionsgesetzgebern<br />

gleichzeitig ihre Gesetzesentwürfe zuzuleiten. Neben<br />

dieser präventiven Kontrollmöglichkeit haben nationale<br />

Parlamente das Recht einer Subsidiaritätsklage nach Abschluss des<br />

Gesetzgebungsverfahrens. Die doppelte Subsidiaritätskontrolle<br />

hat für den deutschen Bundesrat den besonderen Vorteil, dass er<br />

als zweite Kammer des Parlaments voll von diesen gestärkten<br />

Rechten profitieren kann. Damit ist eine alte Forderung der Bundesländer<br />

erfüllt.<br />

Jedes nationale Parlament bekommt zwei Stimmen und jede Parlamentskammer<br />

kann eine begründete Stellungnahme einreichen.<br />

Sofern ein Drittel der nationalen Parlamente und Kammern eine<br />

begründete Stellungnahme mit einer Subsidiaritätsrüge übermittelt,<br />

bekommt die Europäische Kommission eine sogenannte<br />

„gelbe Karte“ und muss sie den Entwurf überprüfen. 19 Wird eine<br />

einfache Mehrheit der Stimmen der nationalen Parlamente und<br />

Kammern erreicht und gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren<br />

für den Rechtsakt, bekommt die Europäische Kommission eine<br />

„rote Karte“. Will sie dennoch an ihrem Entwurf festhalten, so hat<br />

sie dies in einer begründeten Stellungnahme darzulegen, die dann<br />

zusammen mit den Stellungnahmen der nationalen Parlamente<br />

den Unionsgesetzgebern übermittelt wird. Wenn 55 % der Stimmen<br />

im Rat oder die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im<br />

Europäischen Parlament der Ansicht sind, dass das Subsidiaritätsprinzip<br />

verletzt ist, wird der Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter<br />

geprüft.<br />

Das Verfahren der Subsidiaritätsrüge ist kein toter Buchstabe geblieben.<br />

Als die Europäische Kommission am 21. März 2012 ihren<br />

Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Ausübung des<br />

Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext<br />

der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (die sogenannte<br />

„Monti II-Verordnung“) veröffentlichte, präsentierten innerhalb<br />

von acht Wochen 12 Parlamente (insgesamt 19 Stimmen) ihre Vorbehalte.<br />

20 Die Befürchtung, die auch von den europäischen Gewerkschaften<br />

geäuβert wurde, war dass der Vorschlag eine Einschränkung<br />

des Streikrechtes bewirken würde. 21 Das Streikrecht<br />

unterliegt jedoch der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Am<br />

12. September 2012 beschloss die Europäische Kommission ihren<br />

Vorschlag, zurück zu ziehen.<br />

Subsidiarität und die politische Union<br />

Subsidiarität ist mehr als ein Wert oder ein rechtliches Ordnungsprinzip,<br />

sondern auch ein grundlegendes politisches Handlungsprinzip<br />

der europäischen Christdemokratie. Das Subsidiaritätsprinzip<br />

ermöglicht es, den Wunsch nach tieferer europäischer Inte -<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 74


gration oder mehr europäischer Solidarität mit individueller Ver -<br />

antwortung und Selbstverwirklichung der menschlichen Person,<br />

der Familie und der autonomen Strukturen der Zivilgesellschaft in<br />

Einklang zu bringen. Im neuen Grundsatzprogramm der EVP, das<br />

während des Bukarester EVP-Kongresses im Oktober 2012 beschlossen<br />

wurde, wird dieses Gleichgewicht betont:<br />

„Es ergibt sich aus der zunehmenden Vernetzung unserer Gesellschaften<br />

und Volkswirtschaften, dass europäisches Handeln nicht<br />

nur dazu erforderlich ist, einen Binnenmarkt und eine Rechtsgemeinschaft<br />

zu schaffen, sondern auch um Freiheit, Chancengleichheit, Solidarität<br />

und Nachhaltigkeit zu stärken, wo der Nationalstaat allein<br />

nicht mehr in der Lage ist, dies vollständig zu sichern. Aber die Europäische<br />

Union muss sich, nach dem Prinzip der Subsidiarität, selbst<br />

auf jene Aufgaben beschränken, die nur unzureichend auf den unteren<br />

Ebenen und gleichzeitig besser auf europäischer Ebene behandelt<br />

werden können. Eine schlanke Europäische Union beruht auf einer<br />

Selbstverwaltung durch lokale und regionale Behörden sowie der<br />

Identität und der Rolle der Nationalstaaten. Die Europäische Union<br />

ist kein Staat, sondern arbeitet mit Instrumenten einer föderalen<br />

Union in jenen Politikbereichen, in denen sie die Kompetenzen der<br />

Mitgliedsstaaten erhalten hat.“ 22<br />

Ziel der europäischen Integration darf kein zentralisierter europäischer<br />

Superstaat sein. Wir brauchen eine erwachsene und handlungsfähige<br />

politische Union, die die vielen grenzüberschreitenden<br />

Herausforderungen der Wirtschaft, der Forschung, der Migration,<br />

des Klimawandels, der organisierten Kriminalität oder der Energiesicherheit<br />

entschieden entgegnen kann. Diese Fragen kann der Nationalstaat<br />

nicht länger alleine meistern. Es bedarf in vielen Bereichen<br />

mehr gemeinsamer europäischer Politik, zum Beispiel in der<br />

Transportpolitik oder der Auβen- und Verteidigungspolitik. In manchen<br />

Bereichen droht jedoch auch zu viel europäische Steuerung,<br />

wie zum Beispiel in der Agrarpolitik. Das Subsidiaritätsprinzip bildet<br />

den Maβstab, an dem die Europapolitik sich orientieren sollte.<br />

Damit die europäischen Bürger das europäische Projekt weiterhin<br />

tragen, gehört der institutionelle Aufbau der EU natürlich noch<br />

transparenter und demokratischer gestaltet. Ein föderales System<br />

kann eine bürgernahe und ausbalancierte Europäische Union am<br />

besten garantieren. Die Europäische Kommission soll in diesem<br />

Rahmen als „europäische Regierung“ mit voller Verantwortung gegenüber<br />

zwei Kammern – Parlament und Rat – alle Kompetenzen<br />

ausüben, die auf der Ebene der EU besser und effizienter ausgeübt<br />

werden können. Die drei Institutionen sollen dabei ein Initiativrecht<br />

erhalten, flankiert von dem europäischen Bürgerbegehren.<br />

Der Europäische Gerichtshof als oberstes Gericht achtet dann anhand<br />

des Subsidiaritätsprinzips auf die Einhaltung des Gleichgewichts<br />

zwischen den verschiedenen politischen Handlungsebenen.<br />

In einem föderalen Europa darf die europäische Identität keinem<br />

Bürger aufgedrängt werden. Sie muss von unten wachsen und<br />

kann sich nur langsam aufbauen. Sie steht keinesfalls im Gegensatz<br />

zu den historisch gewachsenen nationalen, regionalen oder<br />

lokalen Identitäten, sondern ist komplementär.<br />

Subsidiarität und Soziale Marktwirtschaft in Europa<br />

Das politische und soziale Handlungsprinzip der Subsidiarität ist<br />

einer der wichtigsten Punkte, in denen die europäischen Christdemokraten<br />

sich von anderen politischen Kräften unterscheiden. Es<br />

zeigt den Mittelweg zwischen sozialistischer Planwirtschaft und<br />

neoliberalem Marktfundamentalismus. Dieser Mittelweg manifestiert<br />

sich eindeutig im wirtschaftlichen und sozialen Ordnungskonzept<br />

der Sozialen Marktwirtschaft. Die Europäische Union bezeichnet<br />

die „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft,<br />

die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“<br />

(AEUV-Vertrag, Artikel 3) nunmehr seit Dezember 2009 – vor allem<br />

dank der jahrelangen Arbeit der christdemokratischen Verteidiger<br />

des „Rheinland-Kapitalismus“ – als ihr vertraglich verankertes wirtschaftliches<br />

und gesellschaftliches Modell.<br />

Eine Vernachlässigung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft<br />

– vor allem im globalen Finzansektor – führte zu der schwersten<br />

finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Krise im Europa der<br />

Nachkriegszeit. Der Ruf nach mehr europäischer Solidarität für die<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 75


notleidende Bevölkerung in den am härtesten getroffenen Staaten<br />

erscheint gerade aus christlich-sozialer Perspektive berechtigt.<br />

Doch sollte gesunde Solidarität immer in Zusammenhang mit Subsidiarität<br />

erfolgen. Das heiβt, dass jede politische Handlungsebene<br />

Eigenverantwortung trägt, fiskalische Solidität zu handhaben, gemeinsame<br />

Regeln zu beachten, und die notwendigen Strukturreformen<br />

durchzuführen. Wer dieses Engagement zeigt, dem soll von<br />

der Solidargemeinschaft unter die Arme gegriffen werden.<br />

So basieren die europäischen Solidaritätsmechanismen (wie z. B.<br />

der europäische Rettungsschirm ESM oder die Rettungspakete für<br />

Griechenland, Irland, Portugal, Zypern und die spanischen Banken)<br />

jeweils auf rechtlich verbindlichen Bedingungen. Eine Vergemeinschaftung<br />

der Schulden, wie sie etwa von Sozialisten und (europäischen)<br />

Liberalen gefordert wird, verstöβt gegen die Subsidiarität,<br />

da Mitgliedsstaaten auf die Weise die Eigenverantwortung für ihre<br />

Finanzpolitik verlieren. Gemeinsame Euro-Anleihen könnten allenfalls<br />

der Schlussstein der Neustrukturierung der Europäischen<br />

Wirtschafts- und Währungsunion sein, sobald die Einhaltung und<br />

Durchsetzung der Regeln in allen Mitgliedsstaaten astrein gewährleistet<br />

ist. Vertrauen und Solidarität gedeiht im Nährboden der<br />

Rechtssicherheit und der Verantwortung.<br />

europäischen Wahlkampf energisch zu verteidigen. Beide Pfeiler<br />

müssen sich an der Subsidiarität orientieren. Die Subsidiarität ordnet<br />

die Zuständigkeiten der verschieden Handlungsebenen ein<br />

und wahrt das Gleichgewicht zwischen unseren gemeinsamen<br />

Werten. So, und nicht anders, schaffen wir ein Europa im Dienste<br />

der europäischen Bürger.<br />

Elmar Brok, Jg. 1946, MdEP, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten<br />

des Europäischen Parlamentes und Präsident der EU<strong>CDA</strong><br />

17 Schneider, Heinrich. 2011. Jacques Delors: Mensch und Methode, Reihe Politikwissenschaft<br />

73, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, Seite 4.<br />

18 Rede des Kommissionspräsidenten Jacques Delors am Europäischen Institut für<br />

Öffentliche Verwaltung in Maastricht, 21 März 1991: Das Prinzip der Subsidiarität.<br />

(Le principe de subsidiarité – Originaltext französisch)<br />

19 Wenn der Gesetzesentwurf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

betrifft, reichen ein Viertel der Stimmen.<br />

20 Texte und Stellungnahmen der nationalen Parlamente werden zusammengeführt<br />

auf dem IPEX-Webportal („Interparliamentary EU Information Exchange“):<br />

www.ipex.eu<br />

21 Siehe auch DGB-Pressemitteilung vom 21. März 2012: Monti II muss geändert<br />

werden – Streikrecht darf nicht angetastet werden.<br />

http://www.dgb.de/presse/++co++ 21770262-7431-11e1-5122-00188b4dc422<br />

22 EVP-Grundsatzprogramm, Seite 30<br />

Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft in Europa beinhaltet<br />

zugleich die Aufgabe, dieses Modell der Wettbewerbsfähigkeit und<br />

der sozialen Gerechtigkeit weltweit auszutragen. Was helfen die<br />

strengsten europäischen Regeln für den Finanzsektor, wenn dieser<br />

weltweit aufgestellt ist und sich die Spekulation mit spielender<br />

Leichtigkeit in andere Kontinente verlagert? Was helfen offene<br />

europäische Märkte, wenn Staaten wie China oder Russland ihre<br />

strategischen Branchen abschirmen. Es ist wichtig, dass die europäischen<br />

Mitgliedsstaaten <strong>Themen</strong> wie die Finanzmarktregulierung<br />

oder Marktöffnung gemeinsam angehen in internationalen<br />

Gremien wie der G20 oder dem IWF.<br />

Für die Europäische Volkspartei (EVP) gilt es, den Weg der Sozialen<br />

Marktwirtschaft und der europäischen Integration im kommenden<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 76


Peter<br />

Weiss<br />

Subsidiarität und internationale<br />

Verantwortung<br />

Vor 50 Jahren tagte das Zweite Vatikanische Konzil. Eine der wichtigsten<br />

Konzilsbeschlüsse ist die Pastoralkonstitution Gaudium et<br />

Spes (Freude und Hoffnung). In ihr heißt es: „Das Konzil fordert die<br />

Christen ... auf, nach treuer Erfüllung ihrer irdischen Pflichten zu<br />

streben, und dies im Geist des Evangeliums. ... Ein Christ, der seine<br />

irdischen Pflichten vernachlässigt, versäumt damit seine Pflichten<br />

gegenüber dem Nächsten, ja gegen Gott selbst“ (GS 43). Sprich: Wer<br />

seine irdischen Pflichten vernachlässigt, weil er sich ganz auf das<br />

kommende Reich Gottes ausrichtet und sich lediglich als Gast auf<br />

Erden sieht, der verfehlt die Erfüllung seiner Berufung als Christ. Es<br />

geht nicht darum, das Paradies auf Erden zu verwirklichen, wie es<br />

beispielsweise manche politische Ideologie versucht hat. Aber das<br />

darf keine Ausrede dafür sein, die Welt Welt sein zu lassen. Christen<br />

sind zwar nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt, 23 und so gilt der<br />

Auftrag zur Weltgestaltung insbesondere für sie.<br />

Zielsetzung einer aus christlicher Verantwortung gestalteten Politik<br />

ist es, ein gerechtes (Zusammen-)Leben aller Menschen zu ermöglichen<br />

und das politische Handeln an der Idee der Menschenwürde<br />

auszurichten. Dabei geht es um mehr, als im Alltagsgeschäft<br />

nur dem natürlichen Sittengesetz – das auf Kant rekrutiert und im<br />

Grundgesetz Artikel 2 24 festgeschrieben ist – gerecht zu werden.<br />

Vielmehr entscheidet sich für uns am christlichen Menschenbild,<br />

welchen Weg die Politik und unser Handeln einschlagen.<br />

Diesem christlichen Verständnis des Menschen zu folgen, heißt<br />

immer darauf bedacht sein, die Kräfte zu achten, die ein Mensch<br />

zur Gestaltung seines Lebens selbst aufbringen kann. Elementar<br />

für ein subsidiär organisiertes Gemeinwesen ist daher, den Bürgerinnen<br />

und Bürgern nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern<br />

mit Achtung vor ihren Fähigkeiten, ihren Ziele und dem Zutrauen,<br />

ihre Lebensführung selbst bestimmen zu können. Dies gilt auch<br />

und besonders gegenüber Menschen in den weiniger entwickelten<br />

Ländern dieser Erde. Übertragen auf die Entwicklungszusammenarbeit<br />

bedeutet dies nicht nur Schuldenerlass und finanzielle Hilfe<br />

oder Unterlassen des Überstülpens von Modernisierungs- und<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 77


Ökonomiekonzepten der Industrienationen. Entwicklungszusammenarbeit<br />

bedeutet zuallererst den Wert der jeweiligen Kulturen<br />

zu erkennen und die Menschen mit ihren Potentialen ernst zu nehmen,<br />

ihnen etwas zuzutrauen.<br />

Umfassender Entwicklungsbegriff<br />

Papst Paul VI. erwies bereits 1967 mit seiner Sozialenzyklika Populorum<br />

Progressio diesen Weitblick, indem er Entwicklung als kulturellen<br />

Prozess proklamierte. Die in der Tradition der Pastoralkonstitution<br />

Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils stehende<br />

und von der engsten Verbundenheit der Kirche mit der<br />

Menschheit und ihrer Geschichte ausgehende Enzyklika Populorum<br />

Progressio (PP) befasst sich eingehend mit der menschlichen<br />

Entwicklung und führt erstmals einen umfassenden und differenzierten<br />

Entwicklungsbegriff in die Katholische Soziallehre ein, der<br />

weit über eine rein ökonomische Sichtweise hinausgeht: „Entwicklung<br />

ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem<br />

Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, sie muß jeden<br />

Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“ (PP 14).<br />

Demzufolge muss sich der Mensch in ökonomischer, politischer,<br />

sozialer und kultureller Hinsicht entfalten können.<br />

Politisches und gesellschaftliches Handeln, das dezidiert dem<br />

christlichen Menschenbild folgt, ist immer darauf bedacht und verpflichtet,<br />

sich dafür einzusetzen, dass der Mensch Zentrum und<br />

Ziel, Subjekt und Träger aller Entwicklung ist. Folglich ist Entwicklung<br />

stets „Entwicklung von unten“. Wer in diesem Sinne Entwicklungspolitik<br />

betreibt, stellt sich zuallererst die Frage nach den Bedürfnissen<br />

der Armen und der weniger entwickelten Länder. Der<br />

Ansatz erfolgt dann über deren Eigeninitiative, die es zu fördern<br />

gilt, und deren Nutzung von vorhandenen Ressourcen. Also nicht<br />

Import von Milchpulver, kein Exportdumping, sondern Stärkung<br />

der Bauern in den armen Ländern, Vermeidung von Raubbau und<br />

Nahrungsspekulationen (vgl. hierzu den <strong>CDA</strong>-Antrag „ Spekulationen<br />

mit Nahrungsmitteln reglementieren“ vom 18.02.2011) und<br />

vieles mehr.<br />

Entwicklung und Solidarität<br />

Wer Subsidiarität in der Entwicklungszusammenarbeit ernst nimmt,<br />

fühlt sich nicht nur in der Pflicht, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, sondern<br />

gleichzeitig den hilfebedürftigen Menschen ihr Recht auf Teilhabe<br />

zu gewährleisten. In der Konsequenz bedeutet dies beispielsweise,<br />

Entwicklungsländer an Weltwirtschafts- und Klimagipfeln<br />

teilhaben zu lassen und ihnen eine starke Stimme zu geben.<br />

Papst Paul VI. hat geradezu prophetisch ein wesentliches Zeichen<br />

seiner Zeit erkannt und die Herausforderung der Armutsbekämpfung<br />

unter den Bedingungen der Globalisierung formuliert. Zwar<br />

hat sich das Leitbild Entwicklung seit der Entstehungszeit von Populorum<br />

Progressio in den sechziger Jahren an manchen Punkten<br />

grundlegend verändert. Das Modell nachholender Entwicklung<br />

nach dem Muster des Marshallplans ist einem Modell nachhaltiger<br />

Entwicklung gewichen, das – wie die Weltkommission für Umwelt<br />

und Entwicklung 1987 festhält – „(…) die Ausrichtung technologischer<br />

Entwicklung, die Art der Investitionen und die institutionellen<br />

Veränderungen miteinander harmoniert und sowohl die gegenwärtigen<br />

als auch die zukünftigen Möglichkeiten verbessert,<br />

die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Gleichwohl nimmt<br />

die Enzyklika die sich abzeichnende Globalisierung wirtschaftlicher<br />

Verflechtungen wahr und fordert als Antwort eine weltweite Solidarität,<br />

die sich an der vorrangigen Option Jesu für die Armen orientiert.<br />

Dies beinhaltet auch einen Perspektivwechsel, der aus der<br />

Nähe zu den Armen deren Ängste, Sorgen, Sehnsüchte und Hoffnungen<br />

tiefer begreifen lässt. Dazu beschränkt sich die Enzyklika<br />

zurecht nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern<br />

nimmt desgleichen die Strukturen in den Blick, die als Ursache oder<br />

Verfestigung der Armut einer ganzheitlichen Entwicklung aller<br />

Menschen entgegenstehen.<br />

Entwicklung und Freiheit<br />

Nicht egoistische Freiheit, sondern verantwortete Freiheit und somit<br />

soziale Verpflichtung ist Teil unserer Identität. Diese Verantwortlichkeit<br />

leitet sich von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen<br />

ab und hört nicht an staatlichen oder kontinentalen Grenzen<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 78


auf. Angesichts der Globalisierung haben wir mehr denn je die<br />

Möglichkeit wie die Verpflichtung, in unserem Wirtschaftsleben<br />

den Menschen weltweit in den Blick zu nehmen.<br />

Mit dem Prinzip der Subsidiarität wächst Politik und Gesellschaft<br />

die Aufgabe zu, den Einzelnen dort zu unterstützen und zu helfen<br />

wo er diese Hilfe braucht, ohne dabei seine Freiheit einzuschränken.<br />

Maßen sich Industriestaaten unverantwortlich Kompetenzen<br />

an, sind sie nicht mehr gerecht, rauben Menschen und Entwicklungsländern<br />

die Freiheit und entmündigen sie. Indem Menschen<br />

durch immer mehr Hilfeleistungen unterfordert werden, schwindet<br />

ihr Zutrauen in sich selbst und folglich verfehlt eine an sich<br />

gutgemeinte (Entwicklungs-)Hilfe das christliche Menschenbild.<br />

Sozialpolitik aus christlicher Verantwortung sucht den Weg zwischen<br />

zu wenig und zu viel Unterstützung. Dies bedeutet aber<br />

gleichzeitig, dass arme Menschen und Länder sich ihrer eigenen<br />

Verantwortung bewusst und dieser gerecht werden muss.<br />

Entwicklung und Gerechtigkeit<br />

In Bezug auf die erste Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) zum<br />

gerechten Lohn – wonach Verträge nicht allein dadurch gerecht<br />

sind, dass beide Partner ihr freies Einverständnis geben – reklamiert<br />

Populorum Progressio: „Im Austausch zwischen entwickelten und<br />

unterentwickelten Wirtschaften sind die Situationen zu verschieden<br />

und die gegebenen Möglichkeiten zu ungleich. Die soziale Gerechtigkeit<br />

fordert, daß der internationale Warenaustausch, um<br />

menschlich und sittlich zu sein, zwischen Partnern geschehe, die<br />

wenigstens eine gewisse Gleichheit der Chancen haben. ...“ (PP 61).<br />

Umso wichtiger ist dies, da Entscheidungen in einzelnen Bereich<br />

(z. B. Steuerabkommen, (Börsen-)Handel, Umwelt) zunehmend immer<br />

mehr Länder direkt oder indirekt tangieren. Bisher kommen<br />

Industrienationen und auch ehemalige Schwellenländer (z. B.<br />

China, Brasilien) ihrer Pflicht nicht befriedigend nach, Entwicklungsländer<br />

in Entscheidungsprozesse der Welthandelsorganisation,<br />

der Entwicklungszusammenarbeit und anderen internationalen<br />

Kooperationsfeldern hinreichend einzubeziehen.<br />

Getreu der christlichen Soziallehre bedeutet Gerechtigkeit in erster<br />

Linie Beteiligungsgerechtigkeit. Jeder Person, mit ihrer je eigenen<br />

Begabungen und Vorstellungen vom Leben, ist die grundlegende<br />

Möglichekeit zu geben, ihre Ziele verwirklichen zu können. Da Entwicklung<br />

der Gerechtigkeit bedarf, muss die gerechte Gestaltung<br />

der Globalisierung zum zentralen Thema der internationalen Politik<br />

werden.<br />

Entwicklung und Friede<br />

Nicht zuletzt die Ereignisse des sogenannten Arabischen Frühling<br />

und zahlreiche Konflikte und Bürgerkriege in Afrika (z. B. Eritrea,<br />

Somalia, Sudan, Tschad, Mali) und anderen Erdteilen zeigen, dass<br />

Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden sich gegenseitig bedingende<br />

Faktoren sind. Diese Korrelation hat bereits Paul VI. erkannt<br />

und greift in diesem Zusammenhang in Populorum Progressio die<br />

weltweit drängende „soziale Frage“ und beginnende Globalisierung<br />

auf: „Die zwischen den Völkern bestehenden übergroßen Unterschiede<br />

der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, wie auch<br />

der Lehrmeinungen, sind dazu angetan, Eifersucht und Uneinigkeit<br />

hervorzurufen und gefährden so immer wieder den Frieden. (…)<br />

Das Elend bekämpfen und der Ungerechtigkeit entgegentreten<br />

heißt nicht nur die äußeren Lebensverhältnisse bessern, sondern<br />

auch am geistigen und sittlichen Fortschritt aller arbeiten und damit<br />

zum Nutzen der Menschheit beitragen.“ (PP76). Mit der Aussage<br />

„Entwicklung: Der neue Name für Frieden“ hat der Papst programmatisch<br />

zum Ausdruck gebracht, dass sich Entwicklung und<br />

Frieden gegenseitig bedingen. Diese Erkenntnis hat weiterhin Bestand.<br />

Denn heute wie damals ist klar, dass allein die Abwesenheit<br />

von Krieg noch keinen Frieden ergibt. „Der Friede besteht nicht einfach<br />

im Schweigen der Waffen, nicht einfach im immer schwankenden<br />

Gleichgewicht der Kräfte. Er muß Tag für Tag aufgebaut<br />

werden mit dem Ziel einer von Gott gewollten Ordnung, die eine<br />

vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt.“<br />

(PP76). Es kommt heute zur Bekämpfung von Hunger und Armut in<br />

der Welt mehr denn je darauf an, nachhaltige Entwicklungsprozesse<br />

anzustoßen, zu fördern und zu unterstützen.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 79


Im Nachgang zu seiner Enzyklika Populorum Progressio richtete<br />

Papst Paul VI. den Päpstlichen Rat Justitia et Pax ein. Der Rat und<br />

seine jeweils nationalen Kommissionen leisten bis heute wertvolle<br />

Arbeit, um Armut zu bekämpfen, Gerechtigkeit zu schaffen und<br />

Frieden zu bewahren. Dabei steht das Bemühen im Vordergrund,<br />

die zentralen Aussagen der Enzyklika fortzuentwickeln und für eine<br />

nachhaltige Entwicklung in allen Handlungsbereichen einzutreten.<br />

Subsidiarität und Verantwortung<br />

Die Enzyklika Populorum Progressio erkennt dabei eine dreifache<br />

moralische Pflicht der Menschen: „Diese Pflicht betrifft an erster<br />

Stelle die Begüterten. Sie wurzelt in der natürlichen und übernatürlichen<br />

Brüderlichkeit der Menschen, und zwar in dreifacher Hinsicht:<br />

zuerst in der Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen<br />

Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann in der<br />

Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen<br />

zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund<br />

ist, abzustellen; endlich in der Pflicht zur Liebe zu allen, zur<br />

Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und<br />

empfangen können, ohne dass der Fortschritt der einen ein Hindernis<br />

für die Entwicklung der anderen ist. Diese Angelegenheit<br />

wiegt schwer; von ihr hängt die Zukunft der Zivilisation ab.“ (PP44).<br />

Zurecht ruft die Enzyklika alle Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft<br />

und Gesellschaft auf, sich für die Bekämpfung der weltweiten<br />

Armut stark zu machen sowie für Gerechtigkeit und Frieden in<br />

der Welt einzusetzen – ein Appell, der auch heute hoch aktuell ist.<br />

Peter Weiß, Jg. 1956, MdB, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />

23 vgl. Johannes Evangelium 17, 14 ff.<br />

24 GG Art. 2 Abs. 2: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die<br />

Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />

eingegriffen werden.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 80


Werner<br />

Schreiber<br />

Subsidiarität und politische und<br />

soziale Arbeitnehmerbildung<br />

Die Zeit des Nationalsozialismus war gekennzeichnet von der Entmündigung<br />

und Gleichschaltung der Gewerkschaften und anderen<br />

gesellschaftlichen Gruppierungen. Vermittelt wurde nur die<br />

nationalsozialistische Ideologie bis in die Wurzeln der Gesellschaft.<br />

Die Zeit nach dem verlorenen 2. Weltkrieg war erneut gekennzeichnet<br />

durch Hunger und Elend. Viele Menschen waren entwurzelt.<br />

Familien auseinandergerissen und dezimiert.<br />

Die Zeit des Wirtschaftswunders in Westdeutschland, der Bundesrepublik,<br />

wurde Arbeitnehmerbildung, politische Bildung und Erwachsenenbildung<br />

aktuell. In Ostdeutschland, der DDR, wurde dagegen<br />

der Sozialismus als einzig zugelassene Ideologie als neuer<br />

Heilsbringer bis in Kindergarten und die Familie gepredigt.<br />

Die Organisationsformen der außerschulischen und der politischen<br />

Bildung in der Bundesrepublik waren subsidiär angelegt. Die<br />

sog. öffentliche Hand stellte zwar Mittel zur Verfügung, fasste in<br />

Richtlinien und Verordnungen Verwaltungsabläufe und Schwerpunkte<br />

zusammen. Die Frage dieser Bildungsmaßnahmen sind<br />

jedoch von unterschiedlicher programmatischer und politischer<br />

Ausrichtung und finden sich in der Bundesrepublik Deutschland<br />

von Arnsberg bis Garmisch-Partenkirchen.<br />

Arbeitnehmerbildung, politische Bildung ist ein relativ junges<br />

Thema der Bildungspolitik. In den Anfängen der Industrialisierung<br />

in Deutschland konnte dieses aus vielen Gründen noch keine Rolle<br />

spielen.<br />

Die Industrialisierung Deutschlands beschleunigte sich in der<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts. Es beginnt die Landflucht hin zu den<br />

Zentren der Industrie mit ihrem Arbeitsplatzangebot. Die Arbeit<br />

ist hart, Kinderarbeit an der Tagesordnung. Die Arbeitgeber zahlen<br />

Hungerlöhne. Die Menschen leben in unwürdigen Wohnverhältnissen.<br />

Es entsteht eine neue Klasse des sog. Proletariats, entwurzelter,<br />

besitzloser und ausgebeuteter Lohnarbeiter.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 81


Der 1. Weltkrieg brachte Hunger und Elend. Die Weimarer Republik<br />

kämpfte mit den Folgen dieses Weltkrieges, der Weltwirtschaftskrise<br />

mit Hyperinflation und einem Heer von Arbeitslosen.<br />

Die Diskussion in dieser Zeit dreht sich natürlicherweise nicht um<br />

Arbeitnehmerbildung, sondern um menschenwürdige Bedingungen<br />

für die Menschen, um Arbeitsschutz, Recht der Arbeiter und<br />

um Arbeitsplätze.<br />

Arbeitnehmerbildung christlich-sozial – ein Vierteljahrhundert<br />

Stiftung CSP<br />

Allein in Nordrhein-Westfalen existieren 48 Stiftungen bzw. Bildungswerke,<br />

die sich ausschließlich der politischen Bildung widmen.<br />

Davon zehn Anbieter mit einem eigenen Bildungshaus.<br />

Vielfältige Bildungslandschaften<br />

Die Erwachsenenbildung ordnet sich nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung<br />

in die Berufliche Weiterbildung, in die sogenannte Allgemeine<br />

Weiterbildung und in die Politische Weiterbildung. Unter<br />

Allgemeiner Weiterbildung fallen im Wesentlichen alle aktiven,<br />

aber nicht direkt berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen, an denen<br />

Privatpersonen teilnehmen. Darunter fallen u. a. die Gesundheitsbildung<br />

oder die kulturelle Bildung. Hauptträger der allgemeinen<br />

Weiterbildung sind die kommunalen Volkshochschulen (VHS).<br />

Schwerpunktmäßig finden sich die meisten Angebote der Stiftung<br />

Christlich-Soziale Politik e. V. (CSP) in der Kategorie Politische Bildung<br />

wieder, wobei verschiedene Angebote für Betriebs- und Personalräte<br />

und Bewerbungstrainings für Jugendliche Berührungspunkte<br />

und Überschneidungen zur beruflichen Bildung haben.<br />

Arbeitnehmerbildung<br />

Traditionell ist unsere <strong>CDA</strong>-nahe Stiftung der politischen Arbeitnehmerbildung<br />

verpflichtet. Seit dem Jahr 1986, der Eröffnung des<br />

Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter (AZK), bietet die Stiftung CSP<br />

politische Bildung an, um systematische Kenntnisse über das demokratische<br />

System der Bundesrepublik Deutschland zu vermitteln<br />

und Kompetenzen für demokratisches Handeln zu stärken. Die<br />

methodisch-didaktische Aufbereitung der Seminare hat sich im<br />

Laufe der Jahre verändert, insbesondere wurde der Frontalunterricht<br />

durch Gruppenarbeiten, Planspiele und Exkursionen aufgelockert,<br />

jedoch sind die Inhalte gleich geblieben. Neben der Sozial-,<br />

Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik stehen die Europa- und Internationale<br />

Politik weiterhin im Mittelpunkt der Angebote. Bei<br />

den Betriebs- und Personalräten spielen das kollektive und das individuelle<br />

Arbeitsrecht kontinuierlich eine tragende Rolle. Auch die<br />

Zusammensetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer veränderte<br />

sich, ca. 15 % haben einen Migrationshintergrund.<br />

Politische Bildung<br />

Politische Bildung kann helfen, individuelles Wissen zu vertiefen,<br />

zu erweitern und zu erneuern. In Zeiten von Globalisierung und<br />

Technisierung aller Lebensbereiche tut dies sicherlich Not! Wer<br />

könnte schon von sich behaupten, die demografische Entwicklung<br />

mit all ihren Konsequenzen für die bundesdeutsche Gesellschaft<br />

abschätzen zu können. Wer durchdringt alle weltweiten wirtschaftlichen<br />

Prozesse? Welche Schritte sind in einer fairen Entwicklungszusammenarbeit<br />

in den nächsten Jahren und Jahrzehnten<br />

notwendig? Drei Fragen, alle sogenannte „Mega-Fragen“, die politisch<br />

interessierte Menschen umtreiben und immer wieder beschäftigen.<br />

Die Arbeitnehmerbildung hat in Königswinter eine gute und lange<br />

Tradition. Ihre Wurzeln reichen bis in die Weimarer Republik zurück.<br />

Im Jahre 1925 riefen die Christlichen Gewerkschaften ein Bildungshaus<br />

in der Altstadt ins Leben, welches nach dem Gewerkschaftsführer<br />

und Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald (1875–1945) benannt<br />

wurde. Die Schulungen, zumeist Wochenseminare, wendeten<br />

sich vor allem an hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre, die<br />

im neuen Tarif- und Arbeitsrecht, dem Betriebsrätegesetz und arbeitsrechtlichen<br />

Fragen unterrichtet wurden. In den 20er Jahren<br />

stellte sich immer mehr eine Professionalisierung der Bildungsarbeit<br />

ein, u.a. inspiriert von der Akademie für Arbeit in Frankfurt.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 82


Impulse der kirchlichen Soziallehren<br />

Inhaltlich zeichneten sich die Angebote vor allem aber durch die<br />

Impulse der Katholischen Soziallehre und der Evangelischen Sozialethik<br />

aus. Anders als bei den sozialdemokratischen und sozialistischen<br />

Bildungsträgern waren das christliche Menschenbild und<br />

eine christliche Weltanschauung das tragende Fundament der Inhalte<br />

der Schulungen. Die geistigen Väter der christlich-sozialen<br />

Bewegung wie Adolph Kolping (1808–1865) mit seinen Gesellenvereinen<br />

oder auch Johann Hinrich Wichern (1808–1881) und der<br />

„Inneren Mission“ hatten die Grundlagen für eine moderne Arbeiterbildung<br />

gelegt, damit Arbeiter nicht von Bildung nach Schulzeit<br />

und Ausbildung ausgeschlossen werden sollten. Die Idee der Volksbildung,<br />

heute als Breitenbildung bezeichnet, wurde in Königswinter<br />

seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts praktiziert.<br />

Der Bischof von Mainz und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung,<br />

Wilhelm Freiherr von Ketteler (1811–1877), formulierte<br />

es treffend: „Es ist nicht genug, wenn die Arbeiter eine kleine Lohnerhöhung<br />

oder eine Verkürzung der Arbeitszeit erringen. (…) Die<br />

Arbeiter dürfen nicht stumpfsinnig dahinleben und ihre freie Zeit<br />

mit Spiel und Trunk totschlagen, sondern müssen sich geistig fortbilden<br />

und höhere geistige Genüsse schätzen lernen“.<br />

Christlich-soziale Bildungsarbeit heute<br />

In dieser Tradition und geistigem Fundament steht die christlichsoziale<br />

Bildungsarbeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

heute. Natürlich haben sich die zeitlichen Fundamente und Unterrichtsmethoden<br />

wie ausgeführt verändert, aber die Inhalte, die sich<br />

an christlich-sozialen Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit und<br />

Solidarität orientieren, sind aktuell geblieben. Diese Grundwerte<br />

tragen wie selbstverständlich unsere heutige Bildungsarbeit. Freiheit,<br />

Gerechtigkeit und Solidarität müssen in ganz unterschiedlichen<br />

Kontexten anders definiert und neu gelebt werden. Christlich-soziales<br />

Denken ist dynamisch, nicht ideologisch, es fragt, was<br />

dem Menschen dient und im Arbeitsalltag hilft. Eine bleibende Aufgabe<br />

ist es zu prüfen, inwiefern Produktionsmethoden und Arbeitsabläufe<br />

humanverträglich sind. Der Mensch muss wichtiger als die<br />

Sache sein. Die Würde des Menschen darf nicht Schaden nehmen<br />

und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sein.<br />

Aktuelle Fragen<br />

In Seminaren und Schulungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten<br />

ist immer wieder die Frage nach Mindestlöhnen und allgemeinverbindlichen<br />

Lohnuntergrenzen diskutiert worden. Es ist<br />

eine Frage von Gerechtigkeit, dass Arbeitnehmer ohne staatliche<br />

Transferleistungen von ihren Lohn leben können. Es ist ein Ausdruck<br />

von gelebter Solidarität, wenn sich Christlich-Soziale in Gewerkschaften<br />

für Lohnuntergrenzen einsetzen.<br />

Politische Bildungsangebote möchten nicht nur Wissen vermitteln,<br />

sondern sensibilisieren und zum Nachdenken anregen. Alle Seminare,<br />

Fachgespräche und Kurse ermutigen zur Übernahme von Verantwortung<br />

in Betrieben und Behörden, aber auch in Parteien, Gewerkschaften<br />

und Verbänden.<br />

Bildungsarbeit im Sinne von Subsidiarität<br />

So dient unsere christlich-soziale Bildungsarbeit im Arbeitnehmer-<br />

Zentrum auch der Idee der Subsidiarität. So sollen die individuellen<br />

Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung entfaltet<br />

und gestärkt werden.<br />

Durch die Schulung von Kommunalpolitkern stärken wir die Demokratie<br />

von unten. In den Gemeinde- und Stadträten werden die<br />

Grundlagen für eine lebendige demokratische Gesellschaft in einem<br />

sozialen Rechtsstaat gelegt. In Zusammenarbeit mit allgemeinbildenden<br />

Schulen werden die Prinzipien für demokratisches<br />

Denken vermittelt: Toleranz, bewusster Verzicht auf Gewalt und<br />

soziales Verhalten über die eigene Familie hinaus werden in den<br />

Seminaren nahegebracht. Politische Bildung unter dem Dach des<br />

Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter (AZK) befördert seit über 25<br />

Jahren demokratisches Denken und übt proaktives Verhalten in einer<br />

vielfältigen Bürgergesellschaft ein. Ansprechpartner für unsere<br />

Arbeit sind alle Generationen, Alt- und Neubürger und nicht zuletzt<br />

die Tarifpartner.<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 83


Kooperation mit anderen Trägern<br />

Mit vielen anderen Trägern und Anbietern öffentlicher Erwachsenenbildung<br />

wie Familienbildungsstätten, Heimvolkshochschulen<br />

und Volkshochschulen möchte die Stiftung CSP Breitenbildung, mit<br />

dem Ziel, unsere demokratische Kultur zu stärken, durchführen.<br />

Dass neben staatlichen und kommunalen Trägern viele freie Träger<br />

wie Bildungswerke und Vereine (politische) Weiterbildung anbieten,<br />

ist auch ein Ausdruck von Subsidiarität. Jede Bildungseinrichtung<br />

arbeitet für ihre Region und bestimme Zielgruppen. Die Vielfalt<br />

der Erwachsenenbildung ist uns als christlich-soziale Einrichtung<br />

von großer Wichtigkeit, denn nicht alles soll der Staat regeln<br />

und organisieren müssen.<br />

So ist die Forderung in der Enzyklika „Deus caritas est“ (2005) von<br />

Papst Benedikt XVI. nach mehr Subsidiarität von großer Wichtigkeit<br />

für die Zukunft unserer Gesellschaft: „Nicht den alles regelnden<br />

und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat,<br />

der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen<br />

anerkannt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen<br />

Kräften aufsteigen ...“.<br />

Ausdruck einer aktiven Bürgergesellschaft sind verschiedene Bildungsträger<br />

mit unterschiedlichem Profil. Wir stehen mit den befreundeten<br />

politischen Stiftungen der C-Familie im ständigen Dialog,<br />

suchen aber auch mit gewerkschaftlichen und kirchlichen Trägern<br />

engen Austausch und streben Kooperationen an. Diese<br />

Offenheit ist gute Tradition seit über 25 Jahren in Königswinter.<br />

P.S.<br />

Mehr über die Stiftung CSP und das Tagungs- und Bildungshaus<br />

AZK in unserer Imagebroschüre und auf unserer Homepage<br />

www.azk.de.<br />

Werner Schreiber, Jg. 1941, Minister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Christlich-Soziale<br />

Politik e.V., Königswinter<br />

<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 84


Unkompliziert und entspannt tagen<br />

www.azk.de<br />

Herzlich willkommen im Bildungshaus der Stiftung Christlich-Soziale Politik e.V.<br />

Wer wir sind m<br />

Die Stiftung Christlich-Soziale Politik e.V. ist seit über 25 Jahren anerkannter<br />

Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung und bietet seine Bildungsangebote<br />

ganzjährig an. Wir sind ein Haus aller Generationen und verstehen uns als<br />

Forum des sozialen Dialogs. Die Bildungsarbeit steht in der Tradition christlichsozialer<br />

Arbeitnehmerbildung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes.<br />

Der Trägerverein, die Stiftung CSP, ist den CDU-Sozialausschüssen, der<br />

<strong>CDA</strong>, eng verbunden.<br />

Bildung und Begegnung m<br />

Unsere Seminargäste sind politisch und sozial engagierte Bürger/-innen aus<br />

Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden. Mit unseren Seminaren,<br />

Fachgesprächen und Tagungen wollen wir Menschen auf Augenhöhe zu aktuell<br />

politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bringen.<br />

Neben Jugendgruppen tagen im AZK Senioren aus der gesamten Bundesrepublik.<br />

Traditionell werden Mitbestimmungsakteure aus Betrieben und Behörden<br />

geschult.<br />

Wir bringen Menschen in Kontakt m<br />

Die Bildungsangebote der Stiftung CSP bringen Menschen aus dem In- und Aus -<br />

land, Alt- und Neuburger sowie Generationen in Kontakt und laden zum Meinungsaustausch<br />

ein. Unsere Bildungsprogramme wollen dem interkulturellen<br />

Austausch dienen.<br />

Direkt am Rhein entspannt tagen m<br />

Zehn Tagungs- und Gruppenarbeitsräume stehen fur Veranstaltungen zur<br />

Verfugung und werden Ihren Wunschen entsprechend bestuhlt und technisch<br />

ausgestattet. Auf unserer Rheinterrasse können Sie sich an sonnigen Tagen<br />

entspannen und die romantische Landschaft genießen. Unser Garten lädt zum<br />

Verweilen ein.<br />

Bitte informieren Sie sich auf unserer Homepage www.azk.de oder telefonisch<br />

unter (0 2223) 73-119 (Regina Ochs), (0 2223) 73-134<br />

(Philipp Recht) über unser Bildungs- und Tagungshaus,<br />

unsere Bildungsangebote und die Tagungsmöglichkeiten.


IHR PLUS AN<br />

SOLIDITÄT<br />

Eberhard Weber, Mitarbeiter der<br />

R+V Versicherung und seit 25 Jahren verheiratet.<br />

„Darauf kann ich mich verlassen – ein Leben lang.“ Wer ein unbeschwertes Leben leben<br />

möchte, braucht einen Partner, der einem Sicher heit gibt. Einen Partner, der immer da ist –<br />

in guten wie in schlechten Zeiten. Erfahren Sie Ihr Plus an Solidität. Bei einem persönlichen<br />

Gespräch, in den Volksbanken Raiffeisenbanken, R+V-Agenturen oder auf www.ruv.de

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