CDA Themen 2013-1
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CDA Themen 2013-1
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Karl-Josef Laumann (Hg.)<br />
<strong>Themen</strong><br />
Die Zeitschrift der Christlich-Sozialen<br />
Ausgabe 1/13<br />
<strong>CDA</strong>-Verlagsgesellschaft, Zinnowitzer Str. 1, 10115 Berlin • ISBN-Nr.: 978-3-00-042131-0<br />
Renaissance der Subsidiarität:<br />
Die kleinen Einheiten stärken<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 2
Impressum<br />
<strong>Themen</strong>heft Nr. 1<br />
Die Zeitschrift der Christlichen-Sozialen<br />
Subsidiarität<br />
Berlin, Mai <strong>2013</strong><br />
Redaktion<br />
Martin Kamp, Anselm Kipp, Karsten Matthis<br />
Das <strong>Themen</strong>heft erscheint in unregelmäßigen Abständen.<br />
Herausgeber<br />
Karl-Josef Laumann MdL<br />
<strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender<br />
<strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsstelle<br />
Postfach 040149<br />
10061 Berlin<br />
Telefon: (030) 92 25 11-0<br />
Fax: (030) 92 25 11-21 10<br />
E-Mail: info@cda-bund.de<br />
Grafik: Petra Nyenhuis, Bonn<br />
Druck: Heider Druck GmbH, Bergisch Gladbach<br />
Bilder: Fotolia, Titel/Photo-K, S.15/P. Tilly; S.18/R. Heim; S.25/mankale;<br />
S.37/A. Rodriguez; S.65/G. Sanders; Photocase: S.4/madochab;<br />
S.30/Jenzig71; S.46/P. Naumann; S.63/complize; S.67/markusspiske;<br />
S.70/O. Barmbold; Pixelio: S.9 & 77/D. Schuẗz; S.22/J. Bork; S.33/H.<br />
Lang; S.42 & 73/S. Hofschlaeger; S.52/T. Wengert; S.55/R. Rudolph;<br />
S.60/R.D; C. Ahrens: S.81<br />
Auflage: 2.000 Exemplare<br />
Realisierung<br />
<strong>CDA</strong>-Verlagsgesellschaft GmbH, Berlin<br />
Martin Kamp, Geschäftsführer<br />
ISBN-Nr.: 978-3-00-042131-0
Editorial<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
sehr geehrte Damen und Herren!<br />
„Eine solidarische Gesellschaft steht Hilfsbedürftigen bei, wenn sie<br />
in Not sind. Sie ermächtigt die Hilfsbedürftigen aber vor allem, wieder<br />
für sich selbst zu sorgen.“<br />
Bundespräsident Joachim Gauck<br />
Besser als Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede nach seiner<br />
Wahl vor der Bundesversammlung kann man Subsidiarität<br />
nicht definieren. Jenes Grundprinzip der christlichen Soziallehre<br />
ist für christlich-sozial denkende Menschen maßgeblich und politisch<br />
höchst aktuell. In einer Zeit, in der die einen alles dem freien<br />
Markt und dem Spiel der Kräfte überlassen möchten; und die anderen<br />
alles dem Staat überantworten wollen, tut Subsidiarität unserem<br />
Staat und der Gesellschaft Not. Das vorgelegte Aufsatzheft<br />
regt zum Nachdenken an und will Impulse für die Arbeit vor Ort<br />
geben.<br />
Allen Autorinnen und Autoren sagen wir ein herzliches Dankeschön<br />
für ihre Mitarbeit und Mitwirkung an diesem Startheft.<br />
Danke sagen wir auch für die geschalteten Anzeigen.<br />
Auf die Reaktionen unserer Leserinnen und Leser sind wir gespannt.<br />
Die Redaktion:<br />
Martin Kamp, Hauptgeschäftsführer der Christlich-Demokratischen<br />
Arbeitnehmerschaft<br />
Anselm Kipp, Pressesprecher und gesellschaftspolitischer Referent<br />
Karsten Matthis, Geschäftsführer Stiftung Christlich-Soziale Politik<br />
e.V.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 1
Inhalt<br />
Teilhaben. Mitgestalten. Zusammenhalten – Für eine Politik im Geiste des Subsidiaritätsprinzips<br />
Karl-Josef Laumann MdL, <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender<br />
Subsidiarität: Visionär begründet und fast vergessen – Theologisches Plädoyer für ein christlich-soziales Prinzip<br />
Dr. Dr. Elmar Nass<br />
Über das gute Leben<br />
Dr. Matthias Zimmer MdB<br />
Familien – Keimzellen und Lastesel unserer Gesellschaft<br />
Karl Schiewerling MdB<br />
4<br />
9<br />
15<br />
18<br />
Tarifautonomie – gute Rahmenbedingungen für eine subsidiäre Lohnfindung<br />
Dr. Ralf Brauksiepe MdB<br />
22<br />
Subsidiarität in den Arbeits- und Sozialbeziehungen<br />
Dr. Regina Görner<br />
Infrastruktur für ambulante Pflege – Herausforderung in der alternden Gesellschaft<br />
Willi Zylajew MdB<br />
Die Sozialwahlen legitimieren die Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung<br />
Gerald Weiss<br />
25<br />
30<br />
33<br />
Wie betriebliche Gesundheitsförderung die Psyche im Job schützen kann<br />
Anselm Kipp<br />
Genossenschaften – Relikte des 19. Jahrhunderts oder weltweite Chancen für Selbsthilfe,<br />
Selbstverantwortung und Selbstverwaltung<br />
Josef Zolk<br />
Strom in Bürgerhand<br />
Martin Kamp<br />
37<br />
42<br />
46<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 2
Bilanz nach dem Internationalen Jahr der Genossenschaften –<br />
Ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden des DGRV, Dr. Eckhard Ott<br />
Energiepolitik und Subsidiarität<br />
Dr. Christian Bäumler<br />
Parteien und Ehrenamt<br />
Dr. Markus Gloe<br />
Der Stellenwert des ehrenamtlichen Engagements des Deutschen Roten Kreuz in einer freiheitlichen, pluralen Gesellschaft<br />
Rudolf Seiters<br />
50<br />
52<br />
55<br />
60<br />
Licht ins Dunkel des Schuhkartons bringen<br />
Gespräch mit Joachim Specht und Michael Rother<br />
63<br />
Ehrenamt in der Selbsthilfe – Ein Erfahrungsbericht<br />
Hans-Joachim Schneider<br />
Von Möglichkeiten und Nöten eines Kreistagsabgeordneten<br />
Bernd Schulze-Waltrup<br />
Wenn immer mehr stiften gehen – Die Bedeutung von Stiftungen in der Zivilgesellschaft<br />
Stefanie Wahl<br />
65<br />
67<br />
70<br />
Europa und Subsidiarität<br />
Elmar Brok MdEP<br />
Subsidiarität und internationale Verantwortung<br />
Peter Weiss MdB<br />
73<br />
77<br />
Subsidiarität und politische und soziale Arbeitnehmerbildung<br />
Werner Schreiber<br />
81<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 3
Karl-Josef<br />
Laumann<br />
„Teilhaben. Mitgestalten.<br />
Zusammenhalten.“<br />
Für eine Politik im Geiste des Subsidiaritätsprinzips<br />
1. Lebendige Gesellschaft, funktionierendes Gemeinwesen<br />
Wo weisen wir Bauland aus? Wie können wir eine weiterführende<br />
Schule im Ort halten? Wie viele Kita-Plätze fehlen noch, damit wir<br />
den Rechtsanspruch auf Betreuung für Unter 3-jährige erfüllen? –<br />
Jeden Tag beschäftigen sich Tausende von Menschen in den Stadtund<br />
Gemeinderäten mit diesen und anderen Fragen. Ehrenamtlich,<br />
für eine Aufwandsentschädigung, die kaum der Rede wert ist, verbringen<br />
sie ungezählte Nachmittage und Abende in Rats-, Ausschuss-<br />
und Fraktionssitzungen.<br />
Andere sind im wahrsten Sinne des Wortes zur Stelle, wenn es<br />
brennt – als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren. Wieder andere<br />
engagieren sich als Elternvertreter in der Schule, als Übungsleiter in<br />
Sportvereinen, in Kirchen, in Selbsthilfegruppen, in Eine-Welt-Initiativen<br />
und in vielen anderen Vereinen, Verbänden, Institutionen.<br />
Nicht zu vergessen die vielen Millionen Menschen, die ohne Einbindung<br />
in irgendwelche Organisationen ganz einfach helfen – der<br />
alten Nachbarin, dem Obdachlosen, dem plötzlich verwaisten Kind.<br />
Meist im Stillen, ohne viel Aufhebens darum zu machen.<br />
Auch in unserem Arbeitsleben und in unseren sozialen Sicherungssystemen<br />
gibt es viele Menschen, die sich einsetzen – für Kolleginnen<br />
und Kollegen, für Mitmenschen, für das Gemeinwesen. Etwa<br />
die Betriebsräte, Personalräte und Mitglieder von Mitarbeitervertretungen<br />
sowie Jugend- und Auszubildendenvertretungen; die<br />
Gewerkschafter und Vertrauensleute; diejenigen, die den Selbstverwaltungsorganen<br />
der Sozialversicherungen angehören; die ehrenamtlichen<br />
Arbeits- und Sozialrichter.<br />
Unser Gemeinwesen lebt von diesem Engagement. Nächstenliebe,<br />
Barmherzigkeit und freiwillige Hilfe können eine Politik, die auf<br />
Gerechtigkeit abzielt und strukturelle Ursachen von Ungerechtigkeit<br />
beseitigt, nicht ersetzen. Aber alles der Politik und dem Staat<br />
zu überlassen in der Hoffnung, so ließen sich Wohlergehen und<br />
Glück der Menschen auf geradezu mechanische Weise perfektionieren,<br />
wäre zutiefst unmenschlich. Eine funktionierende Gesellschaft<br />
braucht die konkrete Hilfe von Menschen für Mitmenschen,<br />
das ehrenamtliche Engagement, die Übernahme von Verantwortung<br />
für sich und für andere.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 4
2. Das Subsidiaritätsprinzip<br />
Das christliche Menschenbild, Freiheit und Gerechtigkeit, Solidarität<br />
und Nachhaltigkeit – das alles gehört zu den ethischen Eckpfeilern<br />
unserer Politik. Und ganz wichtig ist für uns Christlich-Soziale<br />
das Subsidiaritätsprinzip. In der Enzyklika „Quadragesimo Anno“<br />
aus dem Jahr 1931 – die wesentlich von dem Nestor der katholischen<br />
Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, verfasst wurde – ist<br />
es definiert:<br />
„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit<br />
seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit<br />
zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen<br />
die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen<br />
leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere<br />
und übergeordneten Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen …<br />
Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung<br />
von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt<br />
also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch<br />
nur umso freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben,<br />
die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen<br />
gewachsen sind.“ (Quadragesimo Anno, 1931, Ziffern 79 f.)<br />
Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Ordnungsprinzip. Aber es hat nicht<br />
allein technisch-organisatorischen Charakter, sondern es gründet<br />
auf dem Kern unseres Menschenbildes: Der Mensch ist Freiheitswesen<br />
und Sozialwesen zugleich. Ihm ist Freiheit geschenkt, er soll<br />
sich selbst entfalten. Aber er ist auch auf Gemeinschaft mit anderen<br />
angelegt. Er entfaltet sich im Zusammenleben und Zusammenwirken<br />
mit anderen. Wir wollen dauerhafte, langfristige Bindungen<br />
und Beziehungen stärken. Denn sie geben Halt und stiften Zusammenhalt.<br />
Wir setzen auf kleine Lebenskreise, weil sie näher an den Bedürfnissen,<br />
Wünschen und Nöten der Menschen sind. Doch wir lassen<br />
den Staat nicht aus der Verantwortung: Größere Einheiten sollen<br />
dort tätig werden, wo die kleinen überfordert sind; und vor allem<br />
sollen sie den Einzelnen und kleine Gemeinschaften befähigen,<br />
Verantwortung zu übernehmen.<br />
Was kleine Lebenskreise regeln, wird nicht nur im Ergebnis vielfach<br />
eher den Menschen gerecht als Regelungen eines anonymen Kollektivs.<br />
Auch der Prozess selbst ist wichtig: Viele Menschen erfüllt<br />
es mit Freude, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.<br />
Partizipation ist ein Wert an sich. Mitmachen, mitgestalten, mitbestimmen<br />
– das macht Spaß!<br />
3. Familie<br />
Eine Politik, die sich am Subsidiaritätsprinzip orientiert, muss zuallererst<br />
die Familien stärken. Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft.<br />
Hier stehen Generationen füreinander überein, übernehmen<br />
Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung. Sie ist<br />
die einzige Gemeinschaft, in der die Zugehörigkeit des Einzelnen<br />
nicht von seiner Leistung und anderen Voraussetzungen abhängig<br />
ist. Auch Familien sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen.<br />
Auch Familie ist keine reibungslose Idylle. Auch in ihr gibt es<br />
Spannungen und Konflikte. Auch Familie kann scheitern. Und doch<br />
kann die Bedeutung von Familien kaum überschätzt werden. Sie<br />
geben Geborgenheit. In Familien wird Sozialverhalten eingeübt.<br />
Gesellschaft gelingt, wenn Familien gelingen. Und wo Familie<br />
scheitert, bedeutet das nicht nur persönliches Unglück. Sondern<br />
die Gesellschaft hat die Folgekosten zu tragen – die rapide wachsenden<br />
kommunalen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe<br />
zeugen davon.<br />
Gerade deshalb betrachten wir Christlich-Soziale nicht nur das Individuum<br />
auf der einen und den Staat auf der anderen Seite. Weder<br />
Individualismus und „Laissez-faire“-Liberalismus noch Kollektivismus<br />
und Zentralverwaltungswirtschaft werden dem Menschen<br />
gerecht. Stattdessen wollen wir eine lebendige, bunte Gesellschaft.<br />
Zu unserem Bekenntnis zur Familie gehört das Bekenntnis zur Ehe,<br />
die unser Grundgesetz in Artikel 6 nicht ohne Grund – neben der<br />
Familie – unter den besonderen Schutz des Staates stellt. Wir stehen<br />
daher zum Ehegattensplitting. Wenn zwei Eheleute auf Dauer<br />
füreinander einstehen, so müssen sie steuerlich anders behandelt<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 5
werden als zwei Individuen, die lediglich in einer Wohngemeinschaft<br />
zusammenleben.<br />
Wir wollen die Rahmenbedingungen für Familien weiter verbessern<br />
– dafür, den immer wieder von einer großen Mehrheit der jungen<br />
Generation artikulierten Kinderwunsch verwirklichen zu können;<br />
dafür, dass Familie gelingt. Grundlegend dafür, dass Menschen<br />
sich für Kinder entscheiden, ist Sicherheit – auch materielle Sicherheit,<br />
deren Grundlage für die allermeisten Menschen gute, anständig<br />
bezahlte Arbeit ist. Deshalb ist es schon aus familienpolitischen<br />
Gründen ein Skandal, dass jede zweite Neueinstellung befristet erfolgt<br />
und mehr als ein Fünftel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich<br />
arbeiten.<br />
Zu guten Rahmenbedingungen für Familien gehört auch die Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf. Hier gefragt sind insbesondere<br />
Arbeitgeber bzw. Sozialpartner: Vor allem durch eine kluge Arbeitszeitpolitik<br />
müssen sie ihren Beitrag dazu leisten, dass die Arbeitswelt<br />
familiengerecht ist.<br />
Unser Leitbild ist Wahlfreiheit. Wenn Eltern sich dafür entscheiden,<br />
dass beide Elternteile berufstätig sind, ist das ebenso zu respektieren<br />
wie die Entscheidung dafür, dass ein Elternteil zugunsten der<br />
Kindererziehung (zeitweise) nicht berufstätig ist.<br />
Deshalb brauchen wir ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuungsplätzen;<br />
in diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, dass<br />
der Bund den Ausbau der Betreuungseinrichtungen für Unter-<br />
3-jährige zu mehr als einem Drittel finanziert hat. Deshalb brauchen<br />
wir aber auch weiterhin steuerliche Entlastungen und gezielte<br />
finanzielle Hilfen für Familien; hier ist die Erhöhung von Kinderfreibeträgen<br />
und Kindergeld in dieser Wahlperiode zu nennen.<br />
Die Ergänzung des Ehegattensplittings um ein Familiensplitting –<br />
das freilich so ausgestaltet sein müsste, dass auch Geringverdienende<br />
davon profitieren – könnte ein nächster Schritt sein.<br />
Und insbesondere brauchen wir echte Toleranz für die unterschiedlichen<br />
Entscheidungen, die Eltern treffen. Dazu gehört verbale Abrüstung!<br />
Kampfbegriffe wie „Rabenmutter“ auf der einen Seite<br />
und „Herdprämie“ auf der anderen Seite werden dem Anspruch<br />
der Wahlfreiheit jedenfalls nicht gerecht.<br />
4. Arbeit, soziale Sicherung und Mitbestimmung<br />
Seinen Lebensunterhalt durch seiner Hände Arbeit zu verdienen<br />
und deshalb gerade nicht auf staatliche Transferleistungen angewiesen<br />
zu sein: Auch das entspricht dem Geist des Subsidiaritätsprinzips.<br />
Deswegen muss der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen<br />
für eine gerechte Entlohnung weiterentwickeln: Ergänzend<br />
zum tarifvertraglichen Schutz benötigen wir einen Mindestlohn,<br />
der – wiederum im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – von den<br />
Sozialpartnern (und nicht vom Staat) festgelegt werden sollte.<br />
Wir brauchen aber mehr als nur einen Mindestlohn. Unser Leitbild<br />
ist das dauerhafte Zusammenwirken von Menschen in einem Unternehmen.<br />
Dazu gehört das unbefristete Beschäftigungsverhältnis.<br />
Arbeit hat eine Würde. Sie hat Vorrang vor dem Kapital. Damit<br />
ist unvereinbar, sie lediglich wie eine Ware zu behandeln, Produktionsfaktoren<br />
auftrags- und projektbezogen fallweise zusammenzustellen<br />
und anschließend wieder abzustoßen und zu diesem<br />
Zweck vor allem auf Leiharbeit, Outsourcing, Werkverträge sowie<br />
Solo- und Scheinselbständige zu setzen.<br />
Unternehmen sollen sich an Arbeitnehmer binden. Deshalb gehört<br />
die sachgrundlose Befristung auf den Prüfstand. Deshalb brauchen<br />
wir endlich flächendeckend „gleichen Lohn für gleiche Arbeit am<br />
gleichen Ort“, so dass sich der Einsatz von Leiharbeit als Kostensenkungsinstrument<br />
nicht mehr lohnt. Deshalb brauchen wir eine<br />
verpflichtende soziale Absicherung für Soloselbständige. Und deshalb<br />
müssen wir den missbräuchlichen Einsatz von Werkverträgen<br />
bekämpfen, zum einen durch mehr Kontrollen, zum anderen durch<br />
mehr Mitbestimmung der Betriebsräte.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 6
Wir müssen das dauerhafte Arbeitsverhältnis stärken – vor allem<br />
um der Betroffenen willen, aber auch, weil prekäre Beschäftigung<br />
Aufstocker und Transferempfänger produziert. Wenn totale Flexibilisierung<br />
dauerhafte Bindungen, bewährte Institutionen und<br />
kleine Lebenskreise zerstört, so führt das am Ende nicht zu weniger,<br />
sondern zu mehr Staat. Und die besondere Pointe ist ja, dass sich<br />
Radikalliberale und ganz Linke nicht selten in ihren Forderungen<br />
treffen – etwa in ihrer Forderung nach einem wie auch immer gearteten<br />
(bedingungslosen) Grundeinkommen. Ein solches Grundeinkommen<br />
würde Arbeit und Einkommen entkoppeln und wäre<br />
damit ein Schlag ins Gesicht des Subsidiaritätsprinzips.<br />
Wir brauchen kein Grundeinkommen und keinen allmächtigen Verteilungsstaat,<br />
sondern soziale Sicherungssysteme, die subsidiär tätig<br />
werden – und in denen Menschen, wo immer möglich, durch eigene<br />
Beiträge Ansprüche erwerben. Arbeitnehmer und Rentner<br />
sollen ihrem Staat auf Augenhöhe gegenübertreten können – und<br />
nicht als Bittsteller, denen gönnerhaft Leistungen gewährt werden.<br />
Die Sozialversicherungen in unserem Land werden dem gerecht.<br />
Freilich bedarf es nun einiger Weichenstellungen, damit das auch<br />
auf Dauer so bleibt. Denn das durch die Dämpfungsfaktoren in der<br />
Rentenformel bewirkte Sinken des Rentenniveaus führt zu neuen<br />
Herausforderungen: Menschen, die ein Leben lang zu einem vergleichsweise<br />
geringen Lohn gearbeitet und Beiträge gezahlt haben,<br />
kommen unter Umständen kaum noch auf eine Rente oberhalb<br />
der Grundsicherung bzw. der Sozialhilfe. Sie landen damit in<br />
staatlicher Abhängigkeit – und das hat mit Subsidiarität nichts<br />
mehr zu tun. Vor diesem Hintergrund sind Maßnahmen erforderlich,<br />
die sicherstellen, dass auch Geringverdienende eine Rente<br />
oberhalb der Grundsicherung erhalten, wenn sie ein Leben lang<br />
vollschichtig gearbeitet haben. Deshalb plädiere ich seit langem<br />
für eine Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Genauso<br />
dringlich ist eine deutliche Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes.<br />
Seit rund zehn Jahren sinken die Zahlbeträge der<br />
Erwerbsminderungsrenten. Keine 600 Euro monatlich sind es bei<br />
Neurentnern im Durchschnitt. Die gesetzliche Rentenversicherung<br />
– die Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Invaliditätsversicherung<br />
gegründet worden ist – bietet heute keinen hinreichenden<br />
Erwerbsminderungsschutz mehr. Weil das Invaliditätsrisiko privat<br />
nur schwer (und für viele gar nicht) versicherbar ist, sind viele wiederum<br />
auf Transferleistungen, also Grundsicherung, angewiesen.<br />
Schon heute bezieht jeder zehnte Erwerbsminderungsrentner ergänzend<br />
Sozialhilfe. Deshalb müssen wir gegensteuern – nicht nur,<br />
indem wir die Zurechnungszeiten ausweiten, sondern auch, indem<br />
wir die Abschläge in ihrer heutigen Form abschaffen.<br />
Subsidiäre Sozialversicherungen tragen durch Prävention und Rehabilitation<br />
auch dazu bei, dass der „Schadensfall“ möglichst nicht<br />
eintritt bzw. Versicherungsleistungen in möglichst geringem Umfang<br />
in Anspruch genommen werden müssen. Dazu gehören die<br />
Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, die betriebliche<br />
Gesundheitsförderung der Krankenkassen, die Reha-Leistungen<br />
der Rentenversicherung und die Förderung der Weiterbildung<br />
durch die Arbeitslosenversicherung. Und subsidiäre Sozialversicherungen<br />
sind eben nicht staatliche Vollzugsorgane, sondern<br />
Institutionen mit Selbstverwaltung durch Versicherte und Arbeitgeber.<br />
Prävention, Rehabilitation und Selbstverwaltung: Auch das<br />
müssen wir stärken.<br />
Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist Ausdruck gelebter<br />
Sozialpartnerschaft – so wie die Tarifautonomie und die Mitbestimmung.<br />
Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und Mitbestimmung<br />
sollen nicht Konflikte zwischen Kapital und Arbeit zukleistern;<br />
sie sind mitnichten Schönwetterveranstaltungen. Aber wir<br />
Christlich-Soziale sind niemals dem Glauben erlegen, durch Klassenkampf<br />
oder staatliche Kollektivierung würden die Probleme der<br />
arbeitenden Menschen gelöst. Gerade im Interesse der Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer bedarf es differenzierter Regelungen,<br />
Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen und damit eines zutiefst<br />
subsidiären Ansatzes in den Arbeitsbeziehungen.<br />
Daher wollen wir die Tarifautonomie stärken – auch durch eine Erleichterung<br />
der Allgemeinverbindlicherklärung. Und deshalb bekennen<br />
wir uns nicht nur zur Mitbestimmung am Arbeitsplatz, zur<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 7
Mitbestimmung durch Betriebs- und Personalräte und zur Unternehmensmitbestimmung<br />
in Aufsichtsräten. Sondern wir wollen<br />
die Mitbestimmung ausweiten. Konkret setzen wir uns dafür ein,<br />
den Betriebsräten ein echtes Mitbestimmungsrecht beim Einsatz<br />
von Leiharbeit und Werkverträgen zu geben. Leiharbeit und Werkverträge<br />
müssen weiter reguliert werden. Staatliche Regelungen<br />
zu treffen, die für alle Unternehmen passend sind, ist aber schwer.<br />
Deshalb spricht vieles dafür, den Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen<br />
in die Mitbestimmung zu geben. Kein Betriebsrat wird<br />
die Vergabe eines Werkvertrages, der in der Sache gerechtfertigt<br />
ist, torpedieren. Aber jeder Betriebsrat wird Werkverträge, deren<br />
einziges Ziel es ist, Stammpersonal zu ersetzen und Arbeitsbedingungen<br />
zu verschlechtern, verhindern. Und das zu Recht!<br />
5. Handlungsfähige Kommunen, handlungsfähiger Staat<br />
Christlich-Soziale stehen zum Föderalismus. Insbesondere die kommunale<br />
Selbstverwaltung hat für uns einen äußerst hohen Stellenwert.<br />
Gute Kommunalpolitik stellt vor Ort für die Menschen<br />
nicht nur Infrastruktur und öffentliche Güter bereit, sondern sie<br />
schafft auch öffentliche Räume. Und mehr noch: Sie schafft ein<br />
Stück Heimat.<br />
Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips betonen wir die Bedeutung dezentraler,<br />
lokaler Entscheidungen. Vor Ort werden Bürgernähe und<br />
Bürgerbeteiligung gelebt. Deswegen treten wir für eine Stärkung<br />
der Autonomie und der Handlungsspielräume der Kommunen ein.<br />
Dazu zählt nicht nur formale Zuständigkeit, sondern auch faktische,<br />
fiskalische Handlungsfähigkeit. Die ist aber vielfach nicht<br />
mehr gegeben. So zeigt eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft<br />
Ernst and Young aus dem November 2012, dass fast jede<br />
zweite deutsche Kommune in den vergangenen drei Jahren ein<br />
Haushaltssicherungskonzept verabschieden musste. Vielen Kommunen<br />
fällt es schwer, ihren Pflichtaufgaben nachzukommen.<br />
Noch schwerer fällt es ihnen, freiwillige Leistungen zu übernehmen.<br />
Und das, wo doch gerade auf lokaler Ebene mit geringer öffentlicher<br />
Förderung großes zivilgesellschaftliches Engagement<br />
ausgelöst oder abgesichert werden kann.<br />
Die christlich-liberale Koalition hat die Kommunen auf unterschiedliche<br />
Weise entlastet; an erster Stelle ist hier die volle Übernahme<br />
der Kosten der Grundsicherung und bei Erwerbsminderung<br />
zu nennen. Leider lassen Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen<br />
viele Kommunen im Stich. Nach meiner Auffassung ist es unerlässlich,<br />
die Finanzkraft der Kommunen weiter zu stärken – und das<br />
Konnexitätsprinzip strikt einzuhalten: Wer die Musik bestellt, muss<br />
sie auch bezahlen.<br />
Verkehrsinfrastruktur, öffentliche Güter, Bildung, sozialer Ausgleich:<br />
Nicht nur die Kommunen, sondern die öffentliche Hand insgesamt<br />
muss angemessen ausgestattet sein, um ihre wichtigen<br />
Aufgaben wahrnehmen zu können. Zugleich muss es Anreize zu<br />
sparsamem Wirtschaften geben. Völlig unverantwortlich ist eine<br />
Verschuldungspolitik auf dem Rücken unserer Kinder und Enkel.<br />
Doch auch ständiges Drehen an der Steuerschraube ist – bei allem<br />
berechtigten Eintreten für eine solide Einnahmebasis des Staates<br />
– nicht vertretbar.<br />
So kommt es nicht nur auf einen effizienten Einsatz öffentlicher<br />
Mittel an. Sondern wir müssen ständig aufs Neue die Frage beantworten,<br />
was Aufgabe des Staates, was Aufgabe der kommunalen<br />
Selbstverwaltung, was Sache der Zivilgesellschaft ist. Ich bin davon<br />
überzeugt: Das Subsidiaritätsprinzip ist dabei ein guter Kompass.<br />
Karl-Josef Laumann, Jg. 1957, MdL, Vorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft<br />
Deutschlands, Fraktionsvorsitzender der CDU NRW und Mitglied des<br />
Präsidiums der CDU Deutschlands<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 8
Dr. Dr.<br />
Elmar<br />
Nass<br />
Subsidiarität: Visionär begründet<br />
und fast vergessen<br />
Theologisches Plädoyer für ein christlich-soziales Prinzip 1<br />
Sozialistische Parteien meiden heute den Subsidiaritätsbegriff deshalb,<br />
um ihre angemaßte Deutungshoheit über Solidarität und soziale<br />
Gerechtigkeit zu zementieren. Denn Subsidiarität als Sozialprinzip<br />
entstammt ja einer christlichen Tradition in ausdrücklicher<br />
Opposition zum Sozialismus. Die Liberalen wiederum als vermeintliche<br />
Anwälte von Eigenverantwortung und Leistung wittern bei<br />
diesem Begriff die Verwässerung der von ihnen gehüteten Freiheit<br />
mit christlich-sozialen Ideen. Im vielseitigen Ausschweigen der Subsidiarität<br />
zeigt sich das alte Dilemma im Gegeneinander von Sozialismus<br />
und Liberalismus, denen christliche Sozialethik den inzwischen<br />
ziemlich vernebelten Dritten Weg einfordert. Spannend zur<br />
Bewertung der Gegenwart ist die ursprüngliche Einbettung des<br />
Subsidiaritätsprinzips in die katholische Vision einer Gesellschaftsordnung,<br />
die wie sie selbst inzwischen weitgehend vergessen ist.<br />
Was ist eigentlich Subsidiarität?<br />
Zunächst ein Blick auf das, was das Sozialprinzip Subsidiarität bedeutet.<br />
Sozialprinzipien sind Instrumente zur gesellschaftlichen<br />
Verwirklichung der Menschenwürde und damit der sozialen Werte<br />
wie Freiheit und Gerechtigkeit, wobei auch Frieden und die Bewahrung<br />
der Schöpfung dazu gezählt werden. Es gibt drei Sozialprinzipien:<br />
Personalität macht den Dreh- und Angelpunkt der Sozialethik<br />
in der geforderten Entfaltung des Menschen als Person fest. Jede<br />
Bewertung sozialer Gerechtigkeit muss sich daran orientieren, ob<br />
das menschliche Zusammenleben so organisiert ist und sich so in<br />
der Wirklichkeit darstellt, dass jeder Mensch seine Freiheits- und<br />
seine Sozialnatur entfalten kann. Solidarität und die Subsidiarität<br />
sind Rechtsprinzipien. Das heißt: Aus ihnen folgen unmittelbar juristisch<br />
einklagbare Rechte und Pflichten. Beide Rechtsprinzipien<br />
sind untrennbar miteinander verbunden. Solidarität meint in diesem<br />
Sinne keineswegs das Zusammengehörigkeitsgefühl von Menschen,<br />
sondern den unbedingten Rechtsanspruch bedürftiger Menschen<br />
auf eine Unterstützung durch die Solidargemeinschaft und<br />
damit die Rechtspflicht der Starken zu einer solchen Hilfe. Das Subsidiaritätsprinzip<br />
ist weniger populär. Das lateinische Wort subsidium<br />
kann mit „Hilfe“ übersetzt werden. Zur Erklärung des Subsi-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 9
diaritätsprinzips halte ich es mit Oswald von Nell-Breuning: „Man<br />
soll die Kirche nicht aus dem Dorf tragen.“ Zuerst übernimmt immer<br />
die kleinere Einheit die ihr mögliche Verantwortung. Erst wenn sie<br />
ihre Aufgabe nicht mehr schafft, tritt die Hilfe der nächstgrößeren<br />
Einheit ein. Subsidiarität betont die Verpflichtung zur Übernahme<br />
von Eigenverantwortung und damit auch das Recht der Starken,<br />
ihre Hilfe einzustellen, wo die Schwächeren wieder in der Lage sind,<br />
sich selbst zu helfen.<br />
Die Idee der Subsidiarität hat drei Facetten: Größere institutionelle<br />
Gebilde (etwa der Staat) dürfen nicht Kompetenzen an sich ziehen,<br />
die kleinere Gebilde (etwa Familien) eigenverantwortlich leisten<br />
können (subsidiäre Kompetenz). Größere Gebilde sollen solche Kompetenzen<br />
übernehmen, die die kleineren, in Not geratenen Gebilde<br />
in die Lage versetzen, wieder eigenverantwortlich agieren zu können<br />
(subsidiäre Assistenz). Die subsidiäre Assistenz schließlich versteht<br />
sich als die Hilfe zur Selbsthilfe, die dann endet, wenn die kleineren<br />
Gebilde wieder eigenverantwortlich agieren können (subsidiäre Reduktion).<br />
Also: Zuerst kommt Selbstverantwortung, dann die Familie,<br />
dann die Gemeinde, dann etwa der Staat. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe.<br />
Sie endet, wo die Befähigung wieder hergestellt ist. So ist etwa die<br />
Erziehung natürliche Aufgabe der Familien. Öffentliche Ämter treten<br />
erst dann auf den Plan, wenn Familien überfordert sind.<br />
Ökumenisches Fundament im Menschenbild des Christentums<br />
Soziale Werte und Prinzipien sind nicht das Ergebnis demokratischer<br />
Abstimmungen oder anderer politischer Setzungen. So leitet<br />
sich auch das Subsidiaritätsprinzip aus dem Menschenbild ab und<br />
gilt deshalb aus christlicher Sicht zeitlos und universal. Das ist heute<br />
keineswegs selbstverständlich. In das Vakuum zur Begründung gesellschaftlich<br />
relevanter Werte und daraus abgeleiteter sozialethischer<br />
Prinzipen sind inzwischen verschiedene utilitaristische oder<br />
kollektivistische Ethiken eingetreten. Eine solche massiv voranschreitende<br />
Entfremdung der Ethik von christlichen Wurzeln fordert<br />
die evangelische und katholische Sozialethik gleichermaßen heraus,<br />
Begründung und Inhalt ihrer im Verhältnis von Gott, Schöpfung<br />
und Mensch begründeten Normativität neu zu bedenken.<br />
Die christliche Tradition erkennt den wahren Menschen in Jesus<br />
Christus als das Menschenbild des Christentums. Wichtig für ein<br />
ökumenisches Profil in aktuellen sozialethischen Diskursen ist die<br />
Einigkeit darüber, dass das christliche Menschenbild unvereinbar<br />
mit einem sich immer wieder neu definierten Wesen des Menschen<br />
und deshalb immer wieder relativierten Rechten und Pflichten<br />
ist. Es gilt als die Grundlage zur christlichen Begründung der<br />
Sozialprinzipien. 2 Danach ist der Mensch als Gottes Ebenbild von<br />
Natur aus Person und kein Produkt des Zufalls. Er ist Sozialwesen,<br />
letztlich begründet aus seiner Beziehung zu seinem Schöpfer und<br />
der praktizierten Liebe Jesu Christi. Eigenwohl und Gemeinwohl<br />
bedingen einander. Zu unserem Wesen gehören auch die im Sündenfall<br />
begründete Fehlerhaftigkeit und Schwachheit, die den<br />
Menschen zum Egoismus verleitet. Wo es um das Humane geht,<br />
müssen sie mitgedacht werden. Der Mensch weist aber auch über<br />
sich hinaus. Das ermutigt zu Gelassenheit gegenüber irdischen<br />
Heilsprophetien. Eine solche Perspektive sollte Christen vor den<br />
Fängen vergänglicher Ideologien bewahren. Dem Menschen wohnen<br />
Zielbestimmung und Hoffnung inne, den Ruf Gottes zu hören<br />
und sein Wesen zu realisieren. Er hat ein Gewissen und einen freien<br />
Willen. Freiheit heißt immer auch Verantwortlichkeit. Die Freiheit<br />
ist rückgebunden an die Grundwerte von Gott gegebener Wahrheit<br />
und Gerechtigkeit sowie an die Grundprinzipien von Solidarität<br />
und Subsidiarität. Hieraus ist auch die geforderte Motivation zur<br />
Leistung abzuleiten.<br />
Diese Vorstellung vom Menschen bezeichnet das christliche Humanum.<br />
Es ist das ökumenisch konsensfähige Kriterium für ethische<br />
Bewertungen gesellschaftlicher Zusammenhänge. Wenn der<br />
Mensch seine individuelle Freiheit (Kreativität und Phantasie, Fleiß<br />
und Ehrgeiz) und seine soziale Veranlagung (Freundschaft, Partnerschaft,<br />
Familie), seine Eigen- und Sozialverantwortung entfalten<br />
kann, lebt er seiner Bestimmung entsprechend. Ist dieses humane<br />
Ziel erreicht, lebt der Mensch sein Personsein. Dazu gehören<br />
zeitlos gültige Abwehrrechte jedes Menschen wie Lebensschutz,<br />
Religionsfreiheit, Pressefreiheit (so genannte negative Freiheit) sowie<br />
soziale Befähigungsrechte wie die auf Gesundheit, Kleidung,<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 10
Bildung (so genannte positive Freiheit). Den zeitlos gültigen Rechten<br />
stehen die zeitlos gültigen Pflichten gegenüber, etwa die durch<br />
die Subsidiarität geforderte Pflicht, seine Kreativität zum Wohl der<br />
Gemeinschaft einzubringen. Wo der Mensch daran gehindert ist,<br />
entsprechend seiner physischen, psychischen und geistigen Möglichkeiten<br />
seine Bestimmung zu entfalten, liegt ein Verstoß vor gegen<br />
das „Prinzip der zentralen Stellung der menschlichen Person“<br />
(CiV 47).<br />
Die Sozialprinzipien erklären also Gesetze, Regeln und Normen<br />
nicht für gerecht, weil sie von Mehrheiten so beschlossen wurden,<br />
sondern weil sie dem Plan Gottes zum Heil des Menschen entsprechen.<br />
Dies verbietet jede Relativierung. Und so hat etwa auch der<br />
Bedürftige im Sinne der Solidarität einen unbedingten Anspruch<br />
auf Hilfe. Ebenso hat er im Sinne der Subsidiarität die unbedingte<br />
Pflicht, sobald er dazu in der Lage ist, sich selbst für die Gemeinschaft<br />
einzubringen. Dies beschreibt das christlich begründete Zusammenspiel<br />
der beiden Prinzipien. Solidarität und Subsidiarität,<br />
Eigen- und Sozialverantwortung sind untrennbar verbunden, wenn<br />
wir christlich von sozialer Gerechtigkeit sprechen.<br />
Katholisches Sozialprinzip für ein visionäres Ordnungsmodell<br />
Für die Katholische Soziallehre ist das kirchliche Lehramt bestimmend,<br />
vor allem in Form der Sozialenzykliken. Die Werte und Sozialprinzipien,<br />
die aus dem christlich-personalen Verständnis vom<br />
Menschen und seiner Würde im Heilskontext abgeleitet werden,<br />
sind die theologisch maßgeblichen Dreh- und Angelpunkte für das<br />
Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Subsidiarität als Sozialprinzip<br />
gilt dabei als zeitlos gültiger Maßstab zur Beurteilung einer gerechten<br />
Gesellschaftsordnung. Es lässt sich also mit verschiedenen<br />
Modellen vereinbaren, wie der folgende Blick in die Geschichte beweist.<br />
Denn es ist ursprünglich nicht im Kontext Sozialer Marktwirtschaft<br />
gedacht. Zeitlos legitim und gültig ist das Prinzip, nicht<br />
aber eine konkrete Ordnungsidee.<br />
Subsidiarität wurde 1931 als Sozialprinzip in der Sozialenzyklika<br />
„Quadragesimo Anno“ (QA) von Papst Pius XI. vorgestellt. Der Sozialkatholizismus<br />
des 19. Jahrhunderts hat diese lehramtliche<br />
Herausstellung aber bereits vorweggenommen. So beflügelten in<br />
dieser Zeit die sozialen Fragen etwa Bischof Wilhelm Emmanuel<br />
von Ketteler u.a. zu einem mutigem Eintreten für die Rechte der<br />
Arbeiter. Ihr Solidaritätsgedanke unterschied sich gravierend vom<br />
sozialistischen Kampfbegriff. Das Recht auf Entfaltung seiner Personalität<br />
hat in christlichem Sinn jeder Mensch, weil er Abbild<br />
Gottes ist. Und mit diesem Gottesgeschenk der Personalität sind<br />
Kollektiv und Partei entmachtet. Jeder hat vor sich, vor der Gesellschaft<br />
und vor Gott die Pflicht, seine Talente selbst zu entfalten<br />
und nicht zu schnell nach dem Staat zu rufen. Als dann Faschismus<br />
und Kommunismus die Menschen nach und nach unter Parteidiktaturen<br />
entmündigten, setzte Papst Pius XI. den totalitären Systemen<br />
mutig ein Ordnungsmodell entgegen. Auf der Grundlage des<br />
christlichen Menschenbildes wird hier unter Einfluss von Oswald<br />
von Nell-Breuning die Freiheit betont und dazu lehramtlich der<br />
Subsidiaritätsgedanke eingeführt.<br />
Heute ist die Subsidiarität ein Sozialprinzip Sozialer Marktwirtschaft,<br />
die als Ordnungsform von der Katholischen Soziallehre befürwortet<br />
wird. Die Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips in<br />
der Enzyklika QA Nr. 79 ist aber der Vorspann für das Bekenntnis<br />
zur Vision einer Berufsständischen Ordnung: Die „Erneuerung einer<br />
ständischen Ordnung also ist das gesellschaftspolitische Ziel“ (QA<br />
82). Diese Ordnung setzte noch mehr auf autonome Zünfte und<br />
soziale Tugenden und weniger auf Marktfreiheit und politische<br />
Eliten als es später die Soziale Marktwirtschaft tat. Dieses Ordnungsmodell,<br />
für das das Subsidiaritätsprinzip ursprünglich formuliert<br />
wurde, ist inzwischen in Vergessenheit geraten. Was<br />
steckte dahinter? Der Staat wird dort verstanden als der Selbstordnungswille<br />
der Gesellschaft im Dienst am Gemeinwohl. Er gibt den<br />
Ordnungsrahmen vor, innerhalb dessen die wirtschaftlichen (etwa<br />
Bergbau) oder außerwirtschaftlichen (etwa Bildung) Fachbereiche<br />
die sie betreffenden Regelungen treffen und in einem Kulturrat<br />
Richtlinien für Wirtschafts- und Kulturpolitik entwerfen. 3 Damit<br />
soll die Lobbybildung eines Gegeneinanders von Arbeitgeber- und<br />
Arbeitnehmerinteressen überwunden werden. Die Berufsständi-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 11
sche Ordnung ist mit einer parlamentarischen Demokratie vereinbar,<br />
nicht aber ist sie auf diese angewiesen. Legitimationskriterium<br />
ist nicht der Wille der Mehrheit, sondern die Ausrichtung am<br />
Gemeinwohl. Bei allen Übereinstimmungen mit den Ideen der Sozialen<br />
Marktwirtschaft verwirft Joseph Höffner diesen Traum Karl<br />
Freiherr von Vogelsangs u.a. von einem „sozialpolitisch inkarnierte(n)<br />
Christentum“ dennoch nicht, welcher keineswegs als Aufforderung<br />
zur Restauration der vorrevolutionären Feudalordnung<br />
missverstanden wurde. 4 Die freie Berufswahl ist vorausgesetzt. Das<br />
starke Band zur gesellschaftlichen „Einheit in wohlgegliederter<br />
Vielheit“ (QA 84) fordert die Verantwortung voreinander und vor<br />
dem Gemeinwohl. In starken Familien sollen die Menschen Verantwortung<br />
für sich und füreinander erlernen, um dort eine soziale<br />
Identität zu entwickeln. Die Stände (beziehungsweise die Leistungsgemeinschaften)<br />
konstituieren gegenüber den Familien die<br />
nächst höhere Ebene. Sie fordern Eigenverantwortung der Familien<br />
ein und sollen ihnen subsidiär zur Seite stehen. Ausdrücklich zu<br />
genau dieser Gewährleistung wird das Subsidiaritätsprinzip lehramtlich<br />
eingeführt.<br />
Die Berufsgenossen schließen sich zur Überwindung des Gegensatzes<br />
von Arbeit und Kapital als „wohlgefügte Glieder des Gesellschaftsorganismus“<br />
(QA 83) in autonomen Körperschaften öffentlichen<br />
Rechts zu Standesvertretungen zusammen. Diese wiederum<br />
bestimmen „‚bewährte Leute‘ und nicht ‚politische Streber‘ in die<br />
Kammern“. 5 Stände sind die aus unterschiedlichen Fachberufen<br />
zusammengesetzten Fachbereiche, die durch eine leistungsverbundene<br />
Selbstverwaltung subsidiär den fachfremden Staat von<br />
Regelungspflichten und Verantwortungen (etwa für Kultur und berufsspezifische<br />
Fragen) entlasten. Die Stände konstituieren damit<br />
im Kontext einer das Gemeinwohl sichernden Staatsform (sei sie<br />
nun parlamentarisch oder monarchisch) eine selbst gewählte Obrigkeit,<br />
die über die gemeinsame Verpflichtung gegenüber dem<br />
Gemeinwohl miteinander verbunden ist.<br />
Die Berufsständische Ordnung ist damit als eine an der Katholischen<br />
Soziallehre orientierte Alternative zu Kapitalismus und Sozialismus<br />
zu verstehen, der sich auch evangelische Sozialbewegungen<br />
anschließen konnten. Sie will die Rahmenbedingungen für die<br />
soziale Sicherung stärker als die Soziale Marktwirtschaft vom Bekenntnis<br />
zum marktwirtschaftlichen Kapitalismus ablösen. Die<br />
Einhaltung der Subsidiarität führt also keineswegs unmittelbar in<br />
die Marktwirtschaft oder in eine ihrer Facetten. Sie meint etwa in<br />
QA eine Zurückdrängung des Staates zugunsten starker Berufsstände,<br />
die wiederum auf engen familiären Bindungen aufbauen.<br />
Mehr als die Soziale Marktwirtschaft baute dieses Ordnungsmodell<br />
auf die Tugenden der Individuen: auf Ehre, Pflicht und Sitte.<br />
Denn es soll nicht die als „Diktatur der Interessen“ manipulierbare<br />
Mehrheitsentscheidung, sondern die Tugend sozialer Liebe den<br />
Geist einer wirksamen Sozialreform bestimmen. In Familien, Ständen<br />
und Kammern herrscht dann der Idee nach ein Geist der Brüderlichkeit<br />
und der wechselseitigen Fürsorge. So kann Franz Hitze<br />
in der genossenschaftlich-ständischen Ordnung die „wahre Solidarität“<br />
ausmachen, da sie den Geist sozialer Liebe mit der juristischen<br />
Pflicht vereint. Die Zustimmung zu einer solchen Pflicht wird<br />
von den „sittlichen Persönlichkeiten“ 6 nicht als Zwang empfunden.<br />
Selbst Kritiker der Berufsständischen Ordnung wie Augustin Lehmkuhl<br />
bestritten nicht, dass eine solche Ständeordnung „dem Ideale<br />
der christlichen Liebe am besten entsprechen“ könne, doch hielten<br />
sie ihr entgegen, man könne doch nicht die ganze Gesellschaft<br />
(oder gar die Welt) in ein Kloster verwandeln, in dem ein solcher<br />
benediktinischer Geist der Brüderlichkeit herrscht, wie ihn Hitze<br />
beschwor. 7 Höffner verwirft diese Vision dennoch nicht grundsätzlich,<br />
denn auch er sieht in starken Familien die Keimzellen von Verantwortung<br />
und Subsidiarität und bekennt sich zum genossenschaftlichen<br />
Prinzip wie zur notwendigen Gesinnungsreform im<br />
Geist sozialer Liebe. Damit macht Höffner Ernst mit dem Selbstverständnis<br />
der Katholischen Soziallehre, allgemeine Prinzipien anzubieten,<br />
die sich mit den geschichtlichen Möglichkeiten je anders<br />
verbinden lassen. So konnte sich auch in der späteren kirchlichen<br />
Abwendung von der Vision der Berufsständischen Ordnung die<br />
Subsidiarität als lehramtlich legitimiertes Sozialprinzip behaupten.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 12
Adoption durch die Soziale Marktwirtschaft<br />
Anders als die Berufsständische Ordnung vertraut die Soziale<br />
Marktwirtschaft mit dem Gebot grundsätzlicher Marktkonformität<br />
zunächst den Wirkungen des Marktes, fordert aber anders als<br />
die freie Marktwirtschaft eine positive Freiheit der Menschen, welche<br />
Sozialtransfers aus dem unbedingten Recht jedes Menschen<br />
auf Entfaltung der Personalität begründet. Diese Ordnung gilt aus<br />
christlicher Sicht solange als legitim, wie sie durch Einhaltung der<br />
Sozialprinzipien allen Menschen die Entfaltung ihres Personseins<br />
ermöglicht. Die Individuen sollen in der sozial gerahmten Wettbewerbswirtschaft<br />
dem Gedanken des „Forderns und Förderns“ entsprechend<br />
in die Lage versetzt werden, möglichst eigenverantwortlich<br />
zu handeln und so die ihnen mögliche Leistung subsidiär<br />
zu erbringen. Sozialstaatliche Transfers sind Eingriffe in Eigentumsrechte,<br />
die mit Verweis auf die Menschenwürde oder die Sozialprinzipien<br />
gerechtfertigt werden müssen. Die positive Freiheit im<br />
Sinne der Sozialen Marktwirtschaft muss befähigen zu all dem,<br />
„was den Menschen zum Menschen macht, von der Biologie seiner<br />
Leiblichkeit bis zum Seelischen, Geistigen, Ethischen, Religiösen.“ 8<br />
Ein Wohlfahrts- als Versorgungsstaat wird abgelehnt, da er eine<br />
Anspruchsmentalität fördert, die dem Subsidiaritätsprinzip (und<br />
damit der natürlichen menschlichen Bestimmung) widerspricht<br />
und die Effizienz am Markt zusätzlich durch Trittbrettfahrermentalität<br />
desavouiert. Ein solcher Staat tötet die Eigenverantwortlichkeit<br />
ab und versklavt den Menschen. Individuen und kleine Gebilde<br />
sollen am Markt befähigt werden, tatsächlich die ihnen zumutbare<br />
Verantwortung zu übernehmen. Eingriffe des Staates sind<br />
somit begründungspflichtig, aber als subsidiäre Assistenz legitimiert,<br />
während eigenverantwortliches Handeln als die Grundvoraussetzung<br />
der Selbstbestimmung angesehen wird. Die Subsi -<br />
diarität fördert am Markt die Eigenverantwortung, indem zulässige<br />
Eingriffe in den Markt beschränkt und Anspruchsdenken<br />
zurückgedrängt werden. Dies erfordert die Einübung von Eigenund<br />
Sozialverantwortung, vermeidet Trittbrettfahrerverhalten und<br />
schafft dem marktwirtschaftlichen Sozialstaat ein moralisches<br />
Fundament, das die Gesellschaft im Bewusstsein gegenseitiger<br />
Verantwortung eint statt sie kämpferisch zu spalten.<br />
Christlich begründete Subsidiarität ist in der Sozialen Marktwirtschaft<br />
eng mit den freiheitlichen Gedanken der Leistungsgerechtigkeit<br />
und der Marktkonformität verbunden, geht aber in ihrer<br />
Bindung an die positive Freiheit und den Solidaritätsgedanken darüber<br />
hinaus. Danach hat der Staat seine Bürger aus einer Versorgungsmentalität<br />
herauszuführen. Andererseits muss er die persönliche<br />
Entfaltung und Leistungsbereitschaft ermöglichen und<br />
einfordern. Es bestehen damit objektive, verteilungsrelevante soziale<br />
Ansprüche auf die Entfaltung der individuellen Eigenverantwortlichkeit<br />
einerseits, auf die Existenzsicherung derjenigen, die<br />
zu eigenverantwortlichem Handeln nicht fähig sind, andererseits.<br />
Theologische und politische Schärfung des Prinzips<br />
Es besteht seit jeher eine Spannung zwischen der Lehre zu Begründung<br />
und Sinn des Subsidiaritätsprinzips und seiner praktischen<br />
Relevanz. Über seine konkrete Auslegung herrschte schon bei den<br />
Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft Uneinigkeit. Der Forderung<br />
nach einem Maximum an Individualfürsorge (Alexander<br />
Rüstow) etwa wird die Auffassung entgegengehalten, zentral gestaltete<br />
Sozialversicherungssysteme gingen mit dem Subsidiaritätsgedanken<br />
durchaus konform (Alfred Müller-Armack). Was also<br />
meint die Subsidiarität konkret? Diese Diskussion setzt sich bis<br />
heute fort, und das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft wird im<br />
Zuge einer zunehmenden Subsidiaritätsvergessenheit vor allem<br />
über die Solidarität definiert. Die gleichberechtigte Beachtung der<br />
Subsidiarität aber bedeutet eine in der politischen Praxis unbedingt<br />
gebotene Materialisierung der Idee des „Forderns und Förderns“.<br />
Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit werden<br />
nur so miteinander in Ausgleich gebracht. Nur beide Sozialprinzipien<br />
gemeinsam garantieren die Beachtung unbedingter sozialer<br />
Rechte und Pflichten und verhindern zugleich ein einseitiges Abgleiten<br />
der Gesellschaftsordnung in einen Nachtwächter- oder in<br />
einen vorsorgenden Wohlfahrtsstaat. Dies ist ein großer Verdienst<br />
einer Gleichberechtigung der Subsidiarität mit der Solidarität.<br />
Für die konkrete politische Entscheidung (etwa über Grundeinkommen,<br />
Mindestlohn, Krippenplätze, Vermögenssteuer, Währungs-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 13
krise o. a.) bleiben aber bisweilen sehr weite Interpretationsspielräume,<br />
bei denen die Idee der Subsidiarität schnell unter die Räder<br />
kommt. Eine theologische wie politische Schärfung des christlichsozialen<br />
Miteinanders der Sozialprinzipien, die politisch vereinnahmende<br />
Verfremdungen klarer als bislang für illegitim erklärt, halte<br />
ich deshalb für geboten, um das aus dem christlichen Menschenbild<br />
als wahr Erschlossene wieder stärker zu einer orientierenden<br />
Hilfe für die Fragen praktischer Politik zu machen. Mit der theologischen<br />
Hausaufgabe werde ich mich selbst wohl weiter beschäftigen.<br />
Die politische Hausaufgabe ist mit dieser Aufsatzsammlung<br />
der <strong>CDA</strong> mutig angegangen.<br />
Dr. Dr. Elmar Nass, Jg. 1966, Professor für Wirtschafts- und Sozialethik, Wilhelm Löhe<br />
Hochschule, Fürth<br />
1 Vgl. das Interview „Subsidiarität ist Hilfe zur Selbsthilfe“, in: Soziale Ordnung<br />
4/2012: 10–11.<br />
2 Vgl. in der Bibel: Gen 1,26–28; 2,15-17; 3,1-13.20–24.<br />
3 Vgl. O. von Nell-Breuning (1956): Wirtschaft und Gesellschaft heute. Band I. Grundfragen,<br />
Freiburg i.Br: 224, 232.<br />
4 Vgl. J. Höffner (1962): Sozialreform, in: Staatslexikon. Bd. 7. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft,<br />
Freiburg i.Br.: Sp. 388.<br />
5 J. Höffner (1962): 389.<br />
6 W. Schwer (1932): Die berufsständische Ordnung als natürliches Verhältnis von Gesellschaft<br />
und Staat, in: J. van der Velden (Hg.): Die berufsständische Ordnung. Idee<br />
und praktische Möglichkeiten, Köln: 71–88 (hier: 72).<br />
7 Vgl. J. Höffner (1962): 391.<br />
8 A. Rüstow (1957): Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche<br />
Kulturkritik, III. Band, Herrschaft oder Freiheit? Erlenbach-Zürich: 509.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 14
Dr. Matthias<br />
Zimmer<br />
Über das gute Leben<br />
Menschen leben in einer Vielzahl von Lebensentwürfen. Sein Leben<br />
nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, zum Autor der<br />
eigenen Biographie werden zu können, ist nicht selbstverständlich.<br />
Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat hat hierfür den Rahmen<br />
geschaffen unter Verzicht auf eine eigene Definition, was<br />
denn ein gutes und gelingendes Leben ausmacht. Er schreibt den<br />
Menschen also nicht den Inhalt ihres Lebens vor. Anders gesprochen:<br />
Der moderne Staat kennt keine teleologische Bestimmung,<br />
weder für sich noch für die Menschen, die in seiner Rechtsordnung<br />
leben. Er kennt weder die Zielbestimmung einer „sozialistischen<br />
Persönlichkeit“ noch das nationalsozialistische Idealbild eines<br />
Volksgenossen. Er schreibt keinem vor, ob und was er zu glauben<br />
hat, welcher Weltanschauung er sich verpflichtet fühlen muss.<br />
Aber er schafft ein freiheitliches Grundgerüst, in dem sich Lebensentwürfe<br />
verwirklichen können. Dazu legt er inhaltliche und formale<br />
Spielregeln fest. Inhaltlich sind die Spielregeln wesentlich<br />
durch die Grundrechte abgesteckt. Grundrechte sind aber nicht<br />
nur Abwehr- und Anspruchsrechte im Verhältnis von Bürger und<br />
Staat, sondern sie entfalten auch eine mittelbare Drittwirkung. Sie<br />
durchtränken auch die Rechtsbereiche, die das Verhältnis der Bürger<br />
zueinander regeln.<br />
Diese inhaltlichen Bestimmungen des Grundgesetzes werden<br />
durch drei formale Prinzipien ergänzt: Das Rechtsstaatsgebot, das<br />
Demokratiegebot und das Bundesstaatsgebot. Entscheidungen<br />
sind an Recht und Gesetz gebunden, die Legitimation von Herrschaft<br />
ist eine demokratische, und die Struktur des Staates ist<br />
föderal, kennt also neben der klassischen horizontalen Gewaltenteilung<br />
in Legislative, Exekutive und Judikative auch die vertikale<br />
Gewaltenteilung unterschiedlicher miteinander verflochtener<br />
Handlungsebenen: Bund, Länder, Kommunen, aber zunehmend<br />
auch die Europäische Union.<br />
Die weltanschauliche Neutralität des modernen Verfassungsstaates<br />
– bei gleichzeitiger Normierung eines demokratischen Minimalkonsenses<br />
als nicht-kontroversem Sektor 9 – ist gleichzeitig<br />
auch eine Achillesferse der Demokratie. Anders als der Markt als<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 15
Handlungsrahmen von Akteuren, die nur ihren Interessen folgen,<br />
leben moderne Gesellschaften auch zu einem erheblichen Teil von<br />
Handlungsorientierungen, die auf Gemeinschaftsbildung abzielen,<br />
auf das Gemeinwohl. Eine solche normative Zielbestimmung ist<br />
dem modernen Staat freilich fremd. Die Feststellung, dass der moderne<br />
Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht mehr garantieren<br />
oder reproduzieren kann, 10 ist daher sowohl zutreffend<br />
als auch tendenziell bedrohlich. Was passiert, wenn der normative<br />
Kitt einer Gesellschaft verloren geht? Zerfällt dann eine Gesellschaft<br />
oder zerbricht sie gar an den zentrifugalen Kräften? Oder ist<br />
unsere staatliche Ordnung im Sinne der Aufklärung so vernünftig,<br />
dass sie selbst dann, wenn sie nur von Teufeln bewohnt würde, die<br />
lediglich ihren eigenen Interessen folgten, noch stabil wäre? 11<br />
Dieses Bild von Kant, dem letztendlich eine Vermischung des Bourgeois<br />
(also des rein interessengesteuerten Marktteilnehmers) und<br />
des Citoyen (also des Bürgers im politischen Sinn) zugrunde liegt,<br />
vermag nicht zu überzeugen. Eine Gesellschaft ist, wie es Edmund<br />
Burke einmal spitz angemerkt hat, mehr als eine Vereinigung von<br />
Pfefferhändlern. Wir leben unser Leben nicht als voraussetzungslose<br />
Individuen – das ist der Irrtum des Liberalismus. Wir sind immer<br />
schon eingeboren 12 in soziale Handlungszusammenhänge, die<br />
normativ aufgeladen sind, die eine Geschichte haben, die sich vor<br />
der Folie eines kulturellen Selbstverständnisses, einer Tradition<br />
vollziehen. Damit eng zusammen hängt immer auch unser Bild<br />
vom Menschen, seinen Rechten und Pflichten, seinen Möglichkeiten,<br />
vielleicht auch seiner Bestimmung.<br />
Die Soziallehre trägt dieser Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit<br />
des Menschen Rechnung. Indem sie den Menschen als Person<br />
bezeichnet, ordnet sie ihn einerseits auf andere Menschen zu – in<br />
Abgrenzung zum lediglich egoistischen Nutzenmaximierer des<br />
Liberalismus. Indem sie den Menschen als Person zur Freiheit und<br />
Selbstverantwortung befähigt sieht, grenzt sie sich zum Sozialismus<br />
ab, der die Gesellschaft zur Voraussetzung individueller Rechte<br />
macht. Die beiden Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität<br />
sind nicht nur vertikale und horizontale Gestaltungsprinzipien der<br />
Gesellschaft, sondern sie transportieren auch einen normativen<br />
Kern, in dem Freiheit und Eigenverantwortung in einer antitotalitären<br />
Spitze zum Ausdruck kommen. Das Prinzip der Nachhaltigkeit<br />
ist die Ausbuchstabierung der Solidarität in der Zeit. Es trägt<br />
der Geschichtlichkeit des Menschen Rechnung und anerkennt die<br />
Verantwortung, die Generationen füreinander haben.<br />
Person sein heißt, zur Welt gekommen zu sein. Zur Welt kommen,<br />
heißt zur Sprache kommen, denn Personalität verwirklicht sich im<br />
Medium der Sprache. Diese strukturiert unsere Wirklichkeit und<br />
damit die Möglichkeit unserer Erkenntnis. Menschen bilden im<br />
Medium der Sprache den Unterschied von „Ich“ und „Du“ aus, sie<br />
eignen sich über Sprache Kenntnisse über ihre Herkunft an, entwerfen<br />
sich selbst mit Blick auf ihre Zukunft. Anders als Tiere leben<br />
Menschen nicht im Augenblick, sondern immer in der Reflektion<br />
des Augenblicks auf Vergangenes und Zukünftiges. Dies kann rein<br />
instrumentell erfolgen als strategisches Lernen aus Erfahrungen,<br />
aber eben auch als Reflektion auf die Möglichkeit eines guten Lebens<br />
jenseits einer reinen Befriedigung grundlegender Bedürfnisse.<br />
Jede Kultur stellt hierfür entsprechende Leitbilder zur Verfügung,<br />
die positiv besetzt sind: Das Leitbild des Zusammenlebens in<br />
der Familie, der Freundschaft, der Liebe; das Bild des für die Gemeinschaft<br />
Engagierten, des Selbstlosen, des Erfolgreichen, des<br />
Angesehenen, des Schönen, des Ruhmvollen, des Tugendhaften,<br />
des Weisen, des Gläubigen, des Heiligen und vieles mehr. Einige<br />
davon sind volatil, andere dauerhaft; einigen ist die Möglichkeit<br />
des guten Lebens eingeschrieben, anderen nicht. Aber wir wissen<br />
beinahe instinktiv, was erstrebenswert ist und was nicht, und zwar<br />
sowohl aus einem Bedürfnis der Anerkennung heraus als aus einem<br />
Gefühl dafür, was gut ist und was nicht. Nun ist die Frage der<br />
Anerkennung Ausdruck der Personalität, weil sich jede Identität<br />
vornehmlich im Dialog ausbildet, also sich auch über die soziale<br />
Stellung spiegelt. Spannender ist aber die Frage, woher wir dieses<br />
Grundwissen darüber haben, was gut im moralischen Sinn ist und<br />
was nicht.<br />
Ich meine, dass uns die Idee des Guten als Menschen mitgegeben<br />
ist als Möglichkeit. Wir sind befähigt zu moralischem Urteil, nicht,<br />
weil uns diese Kategorie Gut oder Böse anerzogen oder vermittelt<br />
wurde, sondern weil wir schon immer als Menschen ein vorgängi-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 16
ges Verständnis davon haben. Das macht uns als Menschen aus.<br />
Die griechische Philosophie war der Meinung, wir hätten schon ein<br />
vorgängiges Wissen über das Gute, es müsse nur durch die Philosophie<br />
als „Geburtshelfer“ aus uns herausgeholt werden; wir müssen<br />
es uns bewusst machen. In der christlichen Tradition ist es das<br />
Gewissen, das über moralische Fragen entscheidet. Auch hier war<br />
nie die Vorstellung, dass die Urteilskraft des Gewissens etwas ist,<br />
das ausschließlich von außen an uns herangetragen wird, sondern<br />
als vorgängiges Wissen uns beigegeben ist.<br />
Unsere Befähigung, moralische Urteile zu treffen, ist also nichts<br />
Angelerntes. Immanuel Kant spricht hier von einem Apriori, also<br />
einem Vorgängigen, der praktischen Vernunft. Freilich ist es damit<br />
alleine wohl nicht getan, denn wenn von Gewissensbildung die<br />
Rede ist, dann weitet sich das Gewissen in die kulturellen Praktiken<br />
und Wertvorstellungen hinein, die nur dialogisch, also im Gespräch<br />
mit Anderen, erworben werden können. Das ist mit dem Prinzip<br />
der Personalität gemeint. Einerseits ist der Mensch von Gott geschaffen.<br />
Er kann, wie es John Newman einmal formuliert hat, das<br />
Echo der Worte Gottes vernehmen. 13 Darüber hinaus ist er als<br />
Mensch dialogisch angelegt, er wird also Mensch im vollen Sinn<br />
erst im Austausch mit anderen Menschen, also: Wenn er in Wertkontexte<br />
gestellt wird, in kulturelle Überlieferungen, in das Reservoir<br />
gesellschaftlicher Projekte und Hoffnungen, wenn er also zur<br />
Reflektion über Vergangenes und dem Entwurf in die Zukunft befähigt<br />
wird. Hier, an dieser Stelle, werden die Schnittpunkte von<br />
„gutem Leben“ und den Prinzipien der Soziallehre besonders deutlich.<br />
Gutes Leben ist ein permanenter Entwurf in die Zukunft, der<br />
wertfrei nicht zu denken ist. Er ist zwar abhängig von den äußeren<br />
Bedingungen, aber nicht vollständig von ihnen determiniert. 14 Er<br />
wird strukturiert durch die Bedingungen, ein gutes Leben in Freiheit<br />
und Gerechtigkeit führen zu können: Subsidiarität, Solidarität,<br />
Nachhaltigkeit. Und er zielt, wegen der sozialen Einbindung des<br />
Menschen, notwendig nicht auf das Eigeninteresse, sondern das<br />
Gemeinwohl ab.<br />
Das ist nicht eben wenig, sagt aber über die konkreten Inhalte des<br />
guten Lebens nichts aus. Es garantiert auch nicht, dass sich Menschen<br />
der durchaus anspruchsvollen Aufgabe stellen, sich über Herkunft,<br />
Ziel und Zweck ihrer Existenz Auskunft zu geben. Sie können<br />
es, sind aber nicht dazu verpflichtet. Der freiheitliche Rechtsstaat<br />
hat, wie oben ausgeführt, eben auch auf verpflichtende Vorgaben<br />
verzichtet. Unsere Gesellschaft wäre aber zweifellos reicher, wenn<br />
sich mehr Menschen auf den Weg machten, für sich selbst Antworten<br />
zu suchen. Diese Wanderschaft zu fördern wäre eine Aufgabe<br />
unserer Bildungseinrichtungen: Nicht im affirmativen Sinn, sondern<br />
auf dem Wege der Ermutigung. Diese sind freilich heute mehr<br />
auf die Vermittlung unmittelbar anwendbaren Wissens, auf die<br />
praktischen Tätigkeiten hin, orientiert; Sinnzusammenhänge zu erklären<br />
ist offenbar heute eine extracurriculare Aktivität. Aber brauchen<br />
wir nicht in einer zunehmend arbeitsteilig orientierten, in<br />
Spezialwissen zerfallenden, komplexer werdenden Gesellschaft<br />
Menschen, die die verwirrende Vielfalt moderner Welten für sich<br />
normativ integrieren können? Brauchen wir nicht Menschen, die –<br />
von der Idee eines guten Lebens informiert – die Möglichkeiten<br />
moderner Gesellschaften bewusst nutzen statt wie die Feder im<br />
Wind der Möglichkeiten und Moden zu leben? Die Idee des guten<br />
Lebens ist aktueller denn je, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen,<br />
im Sog unserer Artefakte zu verschwinden und, wie es Rabindranath<br />
Tagore einmal formuliert hat, einen langsamen Selbstmord<br />
durch das Zusammenschrumpfen unserer Seele zu begehen.<br />
Dr. Matthias Zimmer, Jg. 1961, MdB, Stellvertretender <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender und<br />
<strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in Hessen<br />
9 Hierzu Stephan Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie. Eine Studie<br />
zur Akzeptanz der Grundlagen demokratischer Ordnung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Paderborn: Schöningh 1986<br />
10 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit: Studien zur Staatstheorie<br />
und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 60<br />
11 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795)<br />
12 Der Begriff Nation leitet sich aus dem lateinischen Wort für die Geburt ab, bezeichnet<br />
also ursprünglich eine Abstammungsgemeinschaft.<br />
13 John Henry Newman, Sermon Notes of John Henry Cardinal Newman, 1849–1878.<br />
Herefordshire – Notre Dame: University of Notre Dame Press 2000, S. 327<br />
14 Der häufig zitierte Aphorismus von Theodor W. Adorno, es gebe kein richtiges Leben<br />
im falschen, ist deswegen auch unsinnig. Das Gewissen ist die letzte Instanz des<br />
Richtigen. Hätte Adorno Recht, wäre der Widerstand gegen Hitler, der Aufstand des<br />
Gewissens von Stauffenberg bis zur Weißen Rose, kein richtiges Leben gewesen –<br />
ein Vorwurf, der sich nur damit erklären lässt, dass Adornos Welt nur sterbliche<br />
Götter kennt.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 17
Karl<br />
Schiewerling<br />
Familien – Keimzellen und<br />
Lastesel unserer Gesellschaft<br />
Wir leben in einer Zeit, die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />
Veränderungen geprägt ist. Unsere Gesellschaft ist mit den<br />
Folgen des raschen demographischen Wandels konfrontiert. Wir<br />
erleben, wie unser Zusammenleben durch eine zunehmende Internationalisierung,<br />
eine wachsende Individualisierung und damit<br />
leider auch verbundene Vereinzelung des Menschen bestimmt ist.<br />
Auch die Familien- und Lebensformen sind einem starken Wandel<br />
unterworfen. Die Geburts- und Heiratsraten gehen zurück und es<br />
entstehen neue Familienmodelle. Kinder wachsen in Familien von<br />
Alleinerziehenden oder in Patchworkfamilien auf. Andere werden<br />
in Familien geboren, die seit Generationen von Sozialhilfe leben.<br />
Ihnen fehlt Bildung als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben.<br />
Mit der Veränderung traditioneller familiärer Strukturen geht auch<br />
eine Veränderung der Beziehung von Generationen untereinander<br />
einher. Immer weniger ältere Angehörige werden in ihren Familien<br />
betreut und vertraute Beziehungen gehen in die Brüche. Menschen<br />
verlieren bislang tragende und gewohnte Sicherheiten.<br />
Diese zu beobachtende Entwicklung wirft die Frage auf, welche<br />
Rolle wir den Familien in unserer Gesellschaft zuschreiben.<br />
Ist Familie der Ort, der zur Keimzelle unserer Gesellschaft wird, weil<br />
die Menschen dort Nächstenliebe, Eigenverantwortung, Sicherheit<br />
und Geborgenheit finden?<br />
Oder ist die traditionelle Familie schon längst ein Auslaufmodell,<br />
weil sie einerseits mit individuellen Lebensstilen kollidiert und ihr<br />
andererseits Verantwortung z. B. in Erziehung und Pflege zugewiesen<br />
wird, die sie nicht mehr tragen kann oder will?<br />
Familie ist Keimzelle unserer Gesellschaft<br />
In Deutschland leben derzeit rund 11,7 Millionen Familien. Doch oft<br />
gehen Beziehungen in die Brüche, erleben Kinder und Jugendliche<br />
die Trennung und Scheidung ihrer Eltern. Diese Erfahrung prägt –<br />
auch wenn viele Eltern sich noch so sehr mühen. Denn Kinder brauchen<br />
Sicherheit und feste Rahmen. Und es sind die Familien, die<br />
unseren Kindern die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben eröff-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 18
nen und dem Einzelnen Raum zur menschenwürdigen Entfaltung<br />
geben. Das ist Voraussetzung für eine freie und demokratische Gesellschaft.<br />
Somit sind gerade Familien von fundamentaler Bedeutung<br />
für die Zukunft unseres Gemeinwesens.<br />
Für den Priester und Sozialreformer Adolph Kolping bedeutete das<br />
Schicksal der Familie „über kurz oder lang das Schicksal des Landes.“<br />
Er sah Familie als den Ort, wo Kinder Geborgenheit erfahren<br />
und erzogen werden, wo Kinder lernen, Verantwortung zu tragen<br />
und zu lebenstüchtigen Menschen heranwachsen. Der frühere Verfassungsrichter<br />
Prof. Dr. Böckenförde hat den Satz geprägt, dass<br />
„Staat und Gesellschaft von Voraussetzungen leben, die sie selbst<br />
nicht schaffen können“. Das gilt ebenso für die Wirtschaft. Ohne<br />
stabile Familien keine gesunde Wirtschaftsentwicklung. Auch unsere<br />
sozialen Probleme werden wir zukünftig nur lösen können,<br />
wenn wir die Familien in allen politischen Bereichen als Ganzes berücksichtigen.<br />
Die Familie ist die Keimzelle unserer Gesellschaft.<br />
Familie ist Solidargemeinschaft<br />
Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind tragende Prinzipien<br />
unseres Staates. Die Entfaltung des Einzelnen geschieht in der<br />
Familie. Sie fängt auch die großen und kleinen „Lebenskatastrophen“<br />
auf. Nur wenn die Familie überfordert ist, hat der Staat zu<br />
helfen. Aber zuerst der Einzelne und die Familie.<br />
Heute gibt es immer mehr Lebensbereiche, in denen Menschen<br />
auf sich selbst gestellt sind und eine große Unsicherheit erleben.<br />
Wichtige Leitplanken in ihrem Leben sind weggebrochen. Mit dieser<br />
Entwicklung sind oft auch existenzielle Fragen verbunden. Bin<br />
ich in einer Welt zunehmender Individualisierung meiner Beziehungen<br />
noch sicher? Wird meine Ehe, meine Familie noch Bestand<br />
haben? Wird es im Alter noch Menschen geben, die mich pflegen?<br />
Was gibt mir in meinem Leben noch die nötige Sicherheit? Woran<br />
halte ich mich, wenn es schwierig wird? Wie erziehe ich meine Kinder?<br />
Welche Lebensgrundlagen und Werte möchte ich ihnen vermitteln?<br />
Wie weit bin ich bereit, eigene Wünsche zurückzustellen?<br />
In diesen Situationen ist Familie eine Solidargemeinschaft. Sie<br />
schützt den Einzelnen und sichert Freiheit. Es ist gerade die solidarische<br />
Gemeinschaft der Familie, die moralische und geistige Armut<br />
bekämpft. Dort, wo Familien ihre Freiheit und Verantwortung<br />
gebrauchen, werden sie gleichzeitig auch zu tragenden Säulen für<br />
unsere Gesellschaft. Durch die Betreuung und Pflege von Verwandten,<br />
durch die Erziehung ihrer Kinder entlasten Männer und Frauen<br />
unsere Solidargemeinschaft. Durch ihre Arbeit entstehen solidarische<br />
Netzwerke. Sie geben der Gesellschaft als Ganzes und jedem<br />
Einzelnen mehr Sicherheit. Dort, wo Familienangehörige aufhören,<br />
sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich in Phasen der Not allein<br />
auf die Hilfe des Staates verlassen, kann unser Zusammenleben<br />
nicht funktionieren. Daher hängt die Funktionstüchtigkeit unseres<br />
Zusammenlebens und auch die der Wirtschaft letztlich davon<br />
ab, dass sich Menschen für Kinder entscheiden und sie zu lebenstüchtigen<br />
Menschen erziehen.<br />
Familie sichert Freiheit des Einzelnen<br />
In unserer Gesellschaft gibt es viele Formen und Vorstellungen<br />
über das Familienleben. Doch trotz niedriger Geburtenrate steht<br />
fest, dass sich junge Menschen Kinder wünschen und in einer intakten<br />
Familie leben möchten. Es besteht die tiefe Sehnsucht nach<br />
familiärem Zusammenhalt – gerade in Krisenzeiten. Die Familie ist<br />
daher immer noch eine feste Institution und kein Auslaufmodell in<br />
unserer Gesellschaft. Sie verdient politische Anerkennung und den<br />
besonderen Schutz durch unsere Verfassung.<br />
Ausgangspunkt für den besonderen Schutz der Ehe und Familie ist<br />
Artikel 6 unseres Grundgesetzes. Für Ehen wurde dieser besondere<br />
Schutzrahmen in die Verfassung aufgenommen, weil dort Kinder<br />
geboren und erzogen werden. Dabei regeln die folgenden Absätze<br />
in besonderer Weise, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das<br />
natürliche Recht der Eltern ist. Der Staat greift in dieses Recht auf<br />
eigenverantwortliches Handeln erst dann ein, wenn das Kindeswohl<br />
gefährdet ist.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 19
Dieser Rechtsrahmen hat seine Wurzeln in dem Naturrecht, das für<br />
die christliche Sozialethik und das christliche Menschenbild eine<br />
zentrale Rolle spielt. Demnach kann der Einzelne seine Freiheit und<br />
Würde nur behalten, solange er das Prinzip der Subsidiarität,<br />
welches in der Sozialenzyklika Quadragesimo Anno verankert ist,<br />
wahrt. Es gewährleistet, dass die Erstverantwortung für die freie<br />
Entfaltung der Kinder von den Eltern getragen wird. Solange ein<br />
Mensch eigenständig Verantwortung übernehmen und nach seinen<br />
Kräften arbeiten kann, um für sich und seine Familie den Lebensunterhalt<br />
zu verdienen, wäre es falsch, ihn von dieser Selbstverpflichtung<br />
zu entbinden.<br />
Familie braucht Schutz, Förderung und Begleitung<br />
Seit Ende der 60er, spätestens in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />
entwickelte sich in bestimmten Kreisen in Wissenschaft<br />
und Politik der Blick von der Familie weg auf die einzelnen Fami -<br />
lienmitglieder. In der Rechtssprechung und der Gesetzgebung<br />
spielte Familie als Verantwortungsgemeinschaft eine zunehmend<br />
untergeordnete Rolle. Die einzelnen Familienmitglieder – insbesondere<br />
Kinder, Jugendliche und Frauen – wurden individuell gefördert.<br />
Diese Entwicklung wird verstärkt durch eine Entwicklung,<br />
die im „Gender-Mainstream“ ihre Wurzeln hat. Die Geschlechterunterschiede<br />
werden geleugnet. Es geht oft nicht um die berechtigte<br />
Gleichstellung von Mann und Frau, sondern um die Negierung<br />
der Unterschiede in den Geschlechtern. Die tiefsten Wurzeln<br />
dieser Entwicklung liegen in der Überzeugung, dass Familien überflüssig<br />
sind. Sie fordert ausschließlich das Recht des Einzelnen und<br />
setzt die Lebensbeziehung homosexueller Menschen gleich mit<br />
der Beziehung von Mann und Frau. Diese wiederum hat Verfassungsrang.<br />
Für den Zusammenhalt von Familien müssen wir nicht die einzelnen<br />
Angehörigen, sondern die Familie als Ganzes betrachten. Der<br />
Mensch ist kein Einzelwesen, sondern ein Sozialwesen, auf andere<br />
bezogen und familiär untrennbar mit anderen verbunden. Es hat<br />
sich eingebürgert, Familien aus dem Blickwinkel gescheiterter Beziehungen<br />
her zu betrachten. In der Tat hat der weitaus überwiegende<br />
Teil der Sozialhilfe in Deutschland gescheiterte Beziehungen,<br />
zwischen Elternteilen oder Eltern und Kindern, mit zum Hintergrund.<br />
Das ist aber kein Grund, Familie in Frage zu stellen. Familie<br />
gelingt ganz überwiegend. Eltern nehmen in den allermeisten<br />
Fällen ihre Verantwortung wahr.<br />
In 2011 haben Bund, Länder und Kommunen 140 Milliarden Euro<br />
für Familien zur Verfügung gestellt. Mutterschafts-, Kinder- und<br />
Elterngeld sind zu wichtigen Stützen geworden. Das Ehegattensplitting<br />
gibt Eltern die notwendige Gestaltungsfreiheit für die Erziehung<br />
ihrer Kinder. Trotzdem entscheiden sich viele Paare nicht<br />
für ein Kind, weil die Erziehung und der Familienalltag von zeitlichem<br />
Stress, Organisations- und Leistungsdruck begleitet werden.<br />
Vielen Familien fehlen die Leitlinien und die Zeit, um sich den Anforderungen<br />
einer Erziehung zu stellen.<br />
Deshalb muss die Hilfe staatlicher Systeme gerade da ansetzen,<br />
wo Menschen in ihren Ressourcen eingeschränkt sind und unsere<br />
Unterstützung für die Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgaben<br />
benötigen. Wir müssen für Familien einen zuverlässigen Rahmen<br />
schaffen, in dem sie ihre Aufgaben wahrnehmen können. Gelingt<br />
uns dies nicht, werden uns mit dem Wegbrechen familiären Zusammenlebens<br />
die sozialen Bindungen, die Solidarität und Sicherheit<br />
in unserer Gesellschaft fehlen.<br />
Die Unterstützung zur Verantwortungsfähigkeit, gegenseitiger<br />
Hilfe und persönlicher Entfaltung richtet sich an alle Familien. Insbesondere<br />
sind kinderreiche Familien, Familien mit Migrationshintergrund,<br />
mit behinderten Kindern und mit pflegebedürftigen Angehörigen<br />
darauf angewiesen. Dabei darf man nicht ignorieren,<br />
dass es neben der Ursprungsfamilie auch die Alleinerziehenden<br />
oder die sogenannten Patchworkfamilien gibt. Auch diese Lebensentwürfe<br />
sind auf Schutz und Unterstützung des Staates angewiesen.<br />
Es geht um Chancen- und Teilhabegerechtigkeit. Dies wird deutlich<br />
an der Lebenssituation von Männern und Frauen, die ihren Erzie-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 20
hungs- und Fürsorgepflichten nachkommen und hinterher mit Gehaltseinbußen<br />
rechnen müssen. Sie haben schlechtere Wiedereinstiegsmöglichkeiten<br />
in ihren Beruf und keine faire Chance auf dem<br />
Arbeitsmarkt, um für sich selbst und ihre Familie Verantwortung<br />
zu übernehmen. Dabei haben sie jahrelang das Gewicht getragen,<br />
das die Anforderungen an eine Erziehung darstellt. Staat und Wirtschaft<br />
sind hier gefordert.<br />
Soziale Gerechtigkeit ist dabei nicht nur eine Frage der individuellen<br />
und moralischen Bewertung. Sie ist auch die Frage nach gesellschaftlichen<br />
Zuständen. Dabei geht es um die künftige Belastung<br />
von Familien. Welche Lasten können wir den jeweiligen Generationen<br />
aufbürden? Wie sorgen wir für eine gerechte Verteilung zwischen<br />
den Geschlechtern? Wie eröffnen wir jedem einzelnen Kind<br />
eine Lebensperspektive? Und nicht zuletzt: Wie geben wir der Familie<br />
als Familie Teilhabechancen in unserer Gesellschaft?<br />
Deswegen sind Einrichtungen wie Familienzentren mit Erziehungsberatung,<br />
Betreuungs- und Bildungsangeboten notwendig.<br />
Deshalb ist auch die Förderung von Orten, wo Familie sich als Familie<br />
erlebt und mit anderen austauscht, wichtig. Dazu gehören<br />
auch Familienbildungsstätten und die gemeinnützige Familienerholung<br />
und ihre Einrichtungen. Es geht um die konsequente Förderung<br />
von Organisationen, Verbänden und Vereinen, die gezielt in<br />
Familienkreisen oder anderen Formen den Familien Halt und Orientierung<br />
durch gegenseitige Hilfe geben.<br />
Wir müssen dafür sorgen, den Familien Schutz zu bieten. Denn gerade<br />
in Krisenzeiten sehnen sich die Menschen nach Sicherheit und<br />
nach menschlicher Zuwendung. Dafür kann der Staat die notwendigen<br />
rechts- und sozialstaatlichen Rahmenbedingungen schaffen.<br />
Letztendlich kann er jedoch auf die fürsorgliche Arbeit der Menschen<br />
innerhalb der Familie nicht verzichten. Es sind die Paare, Mütter,<br />
Väter und Kinder, die die für sie lebenserhaltenden Werte vermitteln.<br />
Sie sind das schützenswerte Kapital unserer Gemeinschaft<br />
und unseres Staates oder wie Adolph Kolping gesagt hat: „Das Familienleben<br />
und sein Wohlstand ist wichtiger als alle Wissenschaft<br />
der Gelehrten, als alle Kunst großer Geister, als alle Macht der<br />
Mächtigen, und vermögen sie tausende aus dem Boden zu stampfen.“<br />
Starke Familien sind die Voraussetzung für eine freiheitlich demokratische<br />
Gesellschaft. Deswegen müssen sie in dieser Verantwortung<br />
gefördert und dürfen nicht überfordert werden. Das ist Aufgabe<br />
aller – von Staat, Wirtschaft, gesellschaftlichen Gruppen und<br />
auch den Religionsgemeinschaften. Es geht auch zentral um die<br />
dort entwickelten Werte. Darauf sind nicht nur Familien, darauf ist<br />
die ganze Gesellschaft und der Staat angewiesen, wie es der frühere<br />
Bundesverfassungsrichter Böckenförde uns allen ins Stammbuch<br />
geschrieben hat.<br />
Karl Schiewerling, Jg. 1951, MdB, Mitglied des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstandes und Sozialpolitischer<br />
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
Nur in einer Chancengesellschaft lernen Menschen solidarisch miteinander<br />
umzugehen, über Generationen hinaus zusammenzuhalten<br />
und in Verantwortung und Freiheit zu leben. Deshalb müssen<br />
wir Werte wie Solidarität, Nächstenliebe und die Unantastbarkeit<br />
der Menschenwürde wieder neu würdigen und schätzen. Sie sind<br />
die integrierende Kraft, auf der auch unser gesellschaftlicher Zusammenhalt<br />
beruht. Sie sind die Grundlage unseres Zusammenlebens,<br />
ohne sie kann unsere Gesellschaft nicht bestehen.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 21
Dr. Ralf<br />
Brauksiepe<br />
Tarifautonomie<br />
Gute Rahmenbedingungen für eine<br />
subsidiäre Lohnfindung<br />
Die deutsche Wirtschaft und der Arbeitsmarkt hierzulande befinden<br />
sich derzeit nach wie vor in einer guten Verfassung. Trotz Euround<br />
Staatsschuldenkrise können sich die Zahlen, die die Bundesagentur<br />
für Arbeit für den Berichtsmonat März vermeldet, sehen<br />
lassen: So waren in diesem Monat 3,098 Mio. Menschen arbeitslos.<br />
Damit hat die Zahl der Arbeitslosen gegenüber dem Vorjahresmonat<br />
zwar leicht zugenommen, doch ist das Niveau nach wie vor erfreulich<br />
niedrig. Die Zahl der Erwerbstätigen ist gegenüber dem<br />
Vorjahr erneut um 284.000 auf 41,415 Mio. gestiegen. Ähnlich<br />
nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegenüber<br />
Januar 2012 um 362.000 auf 28,97 Mio. Menschen zu. Die<br />
Beschäftigung ist damit bezogen auf den aktuellen Berichtsmonat<br />
so hoch wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland.<br />
Die christlich-liberale Koalition trägt zu diesem Erfolg durch eine<br />
gute Arbeits- und Sozialpolitik bei. Dass ihr dies gelingt, hat auch<br />
viel mit dem Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft zu tun.<br />
Ein wichtiger Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft ist die Koalitionsfreiheit<br />
des Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. Diese schützt vor allem<br />
das Recht der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen<br />
ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Dem Staat kommt<br />
in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, frei gebildeten Koalitionen<br />
die Möglichkeit zu eröffnen, insbesondere Löhne unabhängig<br />
von staatlicher Rechtsetzung in eigener Verantwortung durch<br />
unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen. Die<br />
Tarifautonomie fällt insofern unter Verfassungsgarantie, und sie<br />
ist es auch, die einen wesentlichen Beitrag zur Wohlstandsentwicklung<br />
in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet hat.<br />
Das im Tarifvertragsgesetz geregelte Tarifvertragssystem stellt den<br />
Rahmen dar, in dem sich die Sozialpartner bewegen. Innerhalb dieses<br />
Rahmens kommt ihnen insbesondere die Aufgabe zu, gemeinsam<br />
über die Lohnhöhe und andere wesentliche Arbeitsbedingungen<br />
zu entscheiden. Dies erfolgt durch den Abschluss von Tarifverträgen,<br />
die den kollektiven Rahmen für den Inhalt individueller<br />
Arbeitsverhältnisse darstellen. Der Tarifvertrag liegt im öffentli-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 22
chen Interesse, da ein gerechter Interessenausgleich zwischen<br />
Arbeitgeber und Beschäftigtem aufgrund der instrumentalen<br />
Schwäche des Einzelarbeitsvertrages nicht dem individuellen<br />
Wettbewerb überlassen werden kann. Anders formuliert: Die Gesellschaft<br />
profitiert insgesamt davon, wenn Unternehmen und Beschäftigte<br />
das Recht der Vereinbarung von Arbeitsbedingungen an<br />
die Sozialpartner, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften,<br />
delegieren. Etwa 67.000 Tarifverträge und der wirtschaftliche Erfolg<br />
der Unternehmen sind eindrucksvoller Beleg dafür, dass das<br />
System im Grundsatz gut funktioniert.<br />
Ungeachtet dessen steht das System der kollektiven Vereinbarungen<br />
vor Herausforderungen. Ein Grund dafür ist der insgesamt abnehmende<br />
Organisationsgrad. So verfügten die unter dem Dach<br />
des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zusammengeschlossenen<br />
Gewerkschaften am 31.12.2011 über 6,156 Mio. Mitglieder. Damit<br />
hat der DGB seit dem Jahr 1992 knapp 5 Mio. Mitglieder verloren.<br />
Die Mitgliederentwicklung im dbb beamtenbund und tarifunion,<br />
dem zweitgrößten gewerkschaftlichen Dachverband, ist im<br />
Gegensatz dazu stabil. So waren im Jahr 2011 1,266 Mio. Mitglieder<br />
dort organisiert. Insgesamt ging unter Einbeziehung auch aller anderen<br />
Gewerkschaften die Tarifbindung, also der Anteil der Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer, die von einem Tarifvertrag erfasst<br />
werden, in Deutschland im Jahr 2011 auf 63 % im Westen und nur<br />
noch 49 % im Osten zurück. 1998 waren dies noch 76 % (West) und<br />
63 % (Ost).<br />
Diese Entwicklung hat Auswirkungen. So hat das Statistische Bundesamt<br />
festgestellt, dass 31 Prozent aller bei einem nicht-tarifgebundenen<br />
Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer einen Niedriglohn<br />
bekommen. Bei tarifgebundenen Arbeitgebern liegt diese<br />
Quote lediglich bei 11,9 %. Danach gibt es also einen positiven Zusammenhang<br />
zwischen Lohnhöhe einerseits und Existenz eines<br />
Tarifvertrages andererseits. Insofern ist es richtig, wenn vom Staat<br />
Instrumente zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems zur Verfügung<br />
gestellt werden.<br />
Wichtigstes Instrument ist in diesem Zusammenhang die Allgemeinverbindlicherklärung<br />
eines Tarifvertrages gemäß § 5 Absatz 4<br />
Tarifvertragsgesetz. Danach wird die Tarifgeltung im Geltungsbereich<br />
eines Tarifvertrages auf die bisher nicht-tarifgebundenen<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erstreckt. Wichtige Voraussetzung<br />
dafür ist, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens<br />
50 % der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden<br />
Arbeitnehmer beschäftigen. Die Allgemeinverbindlicherklärung<br />
wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im<br />
Einvernehmen mit dem aus jeweils drei Vertretern der Spitzenorganisationen<br />
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bestehenden<br />
Tarifausschuss per Verordnung erlassen.<br />
Um zu verhindern, dass nationale Arbeitsbedingungen durch ausländische<br />
Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterlaufen werden,<br />
sieht das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einen Rahmen vor, um tarifvertragliche<br />
Mindestlöhne für alle Arbeitnehmer einer Branche<br />
verbindlich zu machen. Das Gesetz nennt die Branchen, in denen<br />
branchenspezifische Mindestlöhne eingeführt werden können:<br />
• Bauhauptgewerbe oder Baunebengewerbe,<br />
• Gebäudereinigung,<br />
• Briefdienstleistungen,<br />
• Sicherheitsdienstleistungen,<br />
• Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken,<br />
• Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft,<br />
• Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst,<br />
• Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem Zweiten<br />
oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch,<br />
• Altenpflege und ambulante Krankenpflege.<br />
Die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärungsverordnung<br />
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ähneln<br />
jenen nach Tarifvertragsgesetz, wobei eine Mehrheit im Tarifausschuss<br />
für den Erlass der Verordnung ausreichend ist.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 23
CDU-geführte Bundesregierungen haben in den vergangenen Jahren<br />
das Instrument häufig in Anspruch genommen, so dass heute<br />
in zahlreichen Branchen mit etwa 4 Millionen Beschäftigten insgesamt<br />
11 Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz<br />
bundesweit in Kraft sind. Zudem wurden – nicht zuletzt Dank des<br />
Engagements der <strong>CDA</strong> – im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz die<br />
Voraussetzungen für einen Mindestlohn in der Zeitarbeit geschaffen,<br />
der mittlerweile per Rechtsverordnung in Kraft getreten ist.<br />
Insofern bleibt festzuhalten, dass unter Verantwortung von CDU<br />
und CSU einige Anstrengungen zur Stützung der Tarifautonomie<br />
unternommen wurden. Doch wir wollen an dieser Stelle nicht stehen<br />
bleiben. Vielmehr sehen wir Handlungsbedarf in den Bereichen,<br />
in denen aus unterschiedlichen Gründen keine funktionsfähigen<br />
Tarifstrukturen bestehen, in denen also keine Möglichkeit<br />
besteht, mit Hilfe des bestehenden Instrumentariums ein Absinken<br />
des Lohnniveaus zu verhindern.<br />
Deshalb hat die CDU auf ihrem Bundesparteitag in Leipzig im Jahr<br />
2011 einen Beschluss gefasst, wonach eine allgemein verbindliche<br />
Lohnuntergrenze in allen Bereichen geschaffen werden soll, in denen<br />
ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Festlegung<br />
der Lohnuntergrenze soll einer Kommission der Tarifpartner<br />
obliegen. Eine Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
hat diesen Beschluss konkretisiert und entsprechende Eckpunkte<br />
vereinbart. Bestandteil der Vereinbarung ist auch eine Überprüfung<br />
der bestehenden Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung<br />
von Tarifverträgen, wobei in diesem Zusammenhang<br />
vorstellbar ist, dass das 50 %-Quorum durch die Repräsentativität<br />
eines Tarifvertrages ersetzt werden könnte.<br />
und Wählern ein sachgerechtes Angebot zur Lösung bestehender<br />
Herausforderungen unseres bewährten Modells der Sozialpartnerschaft<br />
machen können. Die Oppositionsparteien wollen einen politischen<br />
Mindestlohn; nach ihrer Vorstellung soll der Staat die Sozialpartner<br />
von ihrer Aufgabe entbinden, die wesentlichen Arbeitsbedingungen<br />
für ihre Mitglieder festzulegen. Dies ist der falsche<br />
Weg, denn er untergräbt die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie.<br />
Vielleicht ist es einfacher, wenn der Staat die Löhne<br />
festlegt. Sachgerechter ist es hingegen, die Verantwortung bei denjenigen<br />
zu belassen, die viel besser als der Staat über „gerechte“<br />
Löhne entscheiden können, nämlich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.<br />
Nur wenn wir die Tarifautonomie im Grundsatz<br />
bewahren und sie an die Herausforderungen unserer Zeit anpassen,<br />
wird es uns gelingen, Wohlstand und Wachstum in Deutschland<br />
dauerhaft zu sichern.<br />
Dr. Ralf Brauksiepe, Jg. 1967, MdB, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für<br />
Arbeit und Soziales, Stellv. <strong>CDA</strong>-Bundesvorsitzender und <strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in<br />
NRW<br />
An unserem Ziel, die vereinbarten Eckpunkte noch in dieser Legislaturperiode<br />
umzusetzen, halten wir fest. Der Koalitionspartner<br />
lässt derzeit jedoch wenig Bereitschaft dazu erkennen. Sollten wir<br />
in der Koalition zu keinem Ergebnis kommen, bin ich aber überzeugt,<br />
dass das kommende Wahlprogramm unserer Partei diese<br />
Forderung erneut aufgreifen wird und wir damit den Wählerinnen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 24
Dr. Regina<br />
Görner<br />
Subsidiarität in den Arbeitsund<br />
Sozialbeziehungen<br />
Chancen und Grenzen der Tarifautonomie<br />
in der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Eine Gesellschaft, die sich dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet<br />
weiß, sucht die Entscheidungsstrukturen so einzurichten, dass Vermachtungen<br />
vermieden werden und eine möglichst große Nähe<br />
zu den Sachproblemen gegeben ist. Dies gilt auch für die Regelung<br />
der Arbeits- und Sozialbeziehungen. Zwar werden in vielen Ländern<br />
Tarifverträge direkt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern<br />
ausgehandelt, aber der Staat behält sich oft vor, seinerseits<br />
wenigstens Leitlinien vorzugeben oder sich unmittelbar am Regelungsgeschäft<br />
zu beteiligen. Im Grundgesetz ist wegen des Subsidiaritätsprinzips<br />
ein ganz anderer Ansatz gewählt worden: Der<br />
Staat hat seine Regelungskompetenz ausdrücklich an die Tarifpartner<br />
abgetreten.<br />
Das Subsidiaritätsprinzip ist aber mehr als ein Verzicht auf staatliche<br />
Eingriffe: Es verpflichtet den Staat, Rahmenbedingungen zu schaffen,<br />
damit die Tarifautonomie funktionieren kann. Dies geschieht<br />
u.a. mit dem Tarifvertragsgesetz, das so ausgestaltet sein muss, dass<br />
die Tarifparteien an freien Verhandlungen nicht gehindert werden.<br />
Dem Staat verbleibt auch die Pflicht, die Ergebnisse dieser Verhandlungen<br />
zu akzeptieren und ihnen Rechtscharakter zu verleihen.<br />
Tarifvertragliche Ansprüche können Arbeitnehmer deshalb<br />
vor ordentlichen Gerichten einklagen.<br />
Subsidiär, also unterstützend tätig zu werden, bedeutet letztlich<br />
aber, dass der Staat seine Verantwortung nicht einfach auf die<br />
Tarifparteien abschieben kann. Falls die Tarifparteien aus irgendwelchen<br />
Gründen nicht in der Lage sind, ihre Aufgabe zu erfüllen,<br />
die Arbeits- und Sozialbeziehungen für die Gesellschaft zu regeln,<br />
muss der Staat handeln, z. B. indem er die Gültigkeit von Tarifverträgen<br />
über Allgemeinverbindlicherklärungen durchsetzt oder<br />
Mindestlöhne sowie Mindestanforderungen an Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen,<br />
Gesundheitsschutz etc. festlegt, die von Tarifverträgen<br />
nicht unterschritten werden dürfen.<br />
Tarifautonomie setzt handlungsfähige Gewerkschaften voraus,<br />
aber auch verhandlungsbereite Arbeitgeber. Nur dann kann sie<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 25
funktionieren und die Arbeits- und Sozialbeziehungen sinnvoll und<br />
unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklungen in einer<br />
Branche regeln. Offenkundig ist zunächst, dass niemand so gut<br />
wie die Betroffenen selbst in der Lage ist, die Verhältnisse in der<br />
Wirtschaft, in den Betrieben und Verwaltungen und an den Arbeitsplätzen<br />
zu beurteilen. Deshalb sind die Tarifparteien immer<br />
zuerst gefragt und, wo immer Tarifparteien zu einer gemeinsamen<br />
Überzeugung gelangen, sollte sich der Staat mit eigenen Wertungen<br />
zurückhalten. Das gilt z. B. auch für Vorschläge, die die Sozialpartner<br />
zur Regelung neuer Ausbildungsordnungen machen. Hier<br />
gab es in den letzten Jahren leider immer wieder Übergriffe der<br />
Bundesregierung.<br />
Subsidiaritätsprinzip heißt aber nicht zuletzt, dass den Teileinheiten,<br />
denen eine öffentliche Aufgabe übertragen wird, nichts zugemutet<br />
wird, was sie selbst nicht bewerkstelligen können. Tarifregelungen<br />
sind immer das Ergebnis von Verhandlungen zwischen<br />
den Tarifparteien. Sie kommen nur zustande, wenn es eine Einigung<br />
zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften gibt. Eine solche<br />
Einigung setzt immer voraus, dass Gewerkschaften in den Betrieben<br />
stark genug sind, Arbeitgeber zum Verhandeln und schließlich<br />
zum Abschluss zu veranlassen. Das ist nicht selbstverständlich.<br />
Selbst da, wo zu einem früheren Zeitpunkt Tarifergebnisse erzielt<br />
werden konnten, bedeutet das nicht, dass ihre Anpassung auch regelmäßig<br />
wieder durchgesetzt werden kann. Solche „ungepflegten“<br />
Tarifverträge besitzen weiter Gültigkeit, sind aber nicht mehr<br />
in der Lage, die tatsächliche ökonomische Situation einer Branche<br />
widerzuspiegeln. Dies ist z. B. in einigen Handwerksbranchen der<br />
Fall, in denen in der Vergangenheit Innungen in Ermangelung eigener<br />
Arbeitgeberverbände die Funktion der Arbeitgeber im Tarif -<br />
geschäft wahrgenommen haben. Nachdem die Innungen diese<br />
Funktion abgelehnt haben, ohne dass verhandlungswillige Arbeitgeberverbände<br />
an ihre Stelle getreten sind, gibt es für die Gewerkschaften<br />
keinen Ansprechpartner mehr. Die alten Tarifbedingungen<br />
gelten als Mindestnorm zwar weiter, aber sie entfernen sich<br />
immer weiter von der Wirklichkeit in der Branche. Fällt einer der<br />
Sozialpartner auf diese Weise aus, ist der Staat in der Pflicht.<br />
Tarifpolitik kann vieles selbst regeln, aber das gilt nur, wenn die<br />
Grundbedingungen tarifpolitischen Handelns gegeben sind. Gewerkschaftliche<br />
Forderungen werden nicht wegen der schönen Argumente<br />
der Verhandlungsführer umgesetzt. Letztlich müssen Gewerkschaften<br />
für jede Tarifforderung kämpfen, d.h. ihre Mitglieder<br />
müssen zu Arbeitskampfmaßnahmen bereit und in der Lage sein.<br />
Das setzt voraus, dass sie von der Notwendigkeit ihrer Forderung<br />
selbst überzeugt sein müssen. Nur dann werden sie in der Lage<br />
sein, sich auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern auseinanderzusetzen<br />
und Kompromisse zu suchen.<br />
Dafür praktizieren die Gewerkschaften – und übrigens auch die<br />
Arbeitgeberverbände! – aufwändige Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse,<br />
die sicherstellen sollen, dass eine Tarifforderung<br />
auch wirklich von den Mitgliedern getragen wird. Nur dann<br />
gibt es Aussicht auf Erfolg.<br />
Auch wenn in Deutschland Arbeitskämpfe nach wie vor sehr selten<br />
sind: Wenigstens die Drohung damit ist eine unabdingbare Voraussetzung<br />
für das Funktionieren der Tarifautonomie. Eine Tarifforderung<br />
zu formulieren, macht nur Sinn, wenn die Beschäftigten<br />
davon so überzeugt sind, dass sie notfalls auch zu einem Streik<br />
bereit sind.<br />
Arbeitskämpfe sind kein Sport, den man nach Lust und Laune aufnimmt:<br />
Ein Streik ist immer ein Risiko für Beschäftigte: Sie verdienen<br />
während eines Arbeitskampfes kein Geld. Deshalb sichern sie<br />
sich innerhalb ihrer Gewerkschaft für den Fall eines Streiks ab. Nur<br />
wenn die Streikkasse gut gefüllt ist, können sich die Beschäftigten<br />
einen Streik leisten. Deshalb müssen die Mitgliedsbeiträge für Gewerkschaften<br />
in einem angemessenen Verhältnis zu der Höhe der<br />
damit abzusichernden Einkommen stehen. In Deutschland wird<br />
das bei 1 Prozent der Bruttoeinnahmen gesehen.<br />
In den letzten Jahren hat die Politik mit Verweis auf ihren Respekt<br />
vor der Tarifautonomie immer wieder abgelehnt, bestimmte Fragen<br />
zu regeln, und die Tarifparteien aufgefordert, selbst Lösungen<br />
zu entwickeln. So etwa für die Mindestlohnproblematik oder die<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 26
Entwicklungen in der prekären Beschäftigung. Damit ist die Tarifpolitik<br />
aber oft überfordert, nicht nur, weil nur der Gesetzgeber<br />
bestimmte Sachverhalte regeln kann, etwa die Mitbestimmungsrechte<br />
der Betriebsräte in Entleihfirmen für die im Betrieb eingesetzten<br />
prekär Beschäftigten. Schon die Verabredung von Branchenzuschlägen<br />
für die Leiharbeit verlangt von den Tarifparteien<br />
einen schwierigen Balanceakt: Erkämpft werden müssen sie nämlich<br />
von den Gewerkschaftsmitgliedern in der Industrie, zugute<br />
kommen sollen sie Beschäftigten, die rechtlich zu einer ganz anderen<br />
Branche gehören.<br />
Es bedarf also großer solidarischer Anstrengungen, wenn Arbeitnehmer<br />
dafür kämpfen, einen Teil der ihnen zur Verfügung stehenden<br />
Verteilungsmasse in den Unternehmen für KollegInnen zu reservieren,<br />
die sich selbst am Arbeitskampf allenfalls symbolisch<br />
beteiligen können.<br />
Tatsächlich ist es ja so, dass ein Arbeitskampf nur denkbar ist, wenn<br />
er in der Interessenlage der Gewerkschaftsmitglieder liegt, die das<br />
Risiko des Arbeitskampfes auf sich nehmen. Nur dann kann man<br />
erwarten, dass ein Thema über die Tarifpolitik gelöst werden kann.<br />
Generell stellt sich dieses Problem nicht nur mit Blick auf die „Randbelegschaften“<br />
wie Leiharbeiter oder Werkvertragsarbeitnehmer.<br />
In jedem Unternehmen gibt es Beschäftigte mit unterschiedlichen<br />
Interessenlagen: Akademisch Qualifizierte haben andere Anforderungen<br />
als Unqualifizierte, Teilzeitbeschäftigte andere als „Normalarbeitnehmer“,<br />
Auszubildende andere als Ältere, Frauen andere<br />
als Männer – je nach ihrer Lebenssituation. Wenn es um die<br />
Befriedigung solcher Ansprüche aus dem zur Verfügung stehenden<br />
Verteilungsvolumen geht, muss ein Ausgleich zwischen den verschiedenen<br />
Interessengruppen gefunden werden. Einheitsgewerkschaften,<br />
die nach dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“<br />
für alle MitarbeiterInnen eines Unternehmens eintreten müssen,<br />
müssen diesen Interessenausgleich intern gewährleisten, sonst<br />
verlieren sie Mitglieder bzw. können nicht genügend von ihnen<br />
werben.<br />
Das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ ist in den letzten Jahren<br />
von der Arbeitsgerichtsbarkeit zunehmend infrage gestellt<br />
worden. Damit erhalten Spartengewerkschaften, die nur einen<br />
kleinen Teil der Beschäftigten im Unternehmen repräsentieren, Betätigungsfelder.<br />
Dadurch muss der notwendige Interessenausgleich<br />
nun im Wettbewerb der Gewerkschaften gegeneinander<br />
ausgehandelt werden. Wer nur die Belange einer kleinen Beschäftigtengruppe<br />
berücksichtigen muss, hat oft bessere Durchsetzungsmöglichkeiten<br />
für die eigenen Forderungen, kann aber nicht<br />
solidarisch für die anderen handeln. Das stärkt einzelne Beschäftigte,<br />
schwächt aber die Interessenvertretung aller anderen. Mittlerweile<br />
haben viele Unternehmen verstanden, dass sie von der<br />
Konkurrenz der Gewerkschaften untereinander selbst keineswegs<br />
profitieren. Die wesentlichen Vorteile des Flächentarifsystems –<br />
die Sicherung gleicher Wettbewerbsbedingungen innerhalb der<br />
Branche und die Friedenspflicht während der Laufzeit der Tarifverträge<br />
– werden hinfällig. Zudem ist die Verlässlichkeit der Rahmenbedingungen<br />
für die Unternehmen nicht mehr gegeben. Deshalb<br />
haben die DGB-Gewerkschaften gemeinsam mit der Bundesvereinigung<br />
Deutscher Arbeitgeberverbände den Bundestag aufgefordert,<br />
dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ wieder zum<br />
Durchbruch zu verhelfen.<br />
Flächentarifverträge zu haben, ist nämlich auch für Arbeitgeber<br />
von Interesse. Nicht nur, dass sie sich die Aufwände für Einzelverhandlungen<br />
über Einkommens- und Arbeitsbedingungen ersparen:<br />
Sie dürfen bei Flächentarifverträgen davon ausgehen, dass die<br />
im Arbeitgeberverband zusammengeschlossenen Unternehmen<br />
ihre Arbeitnehmer nach einheitlichen Kriterien behandeln und bezahlen.<br />
Flächentarifverträge, die für eine bestimmte Region oder<br />
sogar landesweit abgeschlossen werden, vereinheitlichen auf<br />
diese Weise die Wettbewerbsbedingungen für alle einbezogenen<br />
Betriebe. Konkurrenz findet also nicht mehr über die Löhne statt,<br />
sondern über die Qualität der Produkte und Produktionsprozesse.<br />
Damit sind sie auch ein Motor für Innovation und ständige Qualitätssteigerungen.<br />
Unternehmenstarifverträge spielen demgegenüber<br />
in Deutschland nur eine geringe Rolle.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 27
Die große Fülle unterschiedlicher Branchentarifregelungen und<br />
ihre Ausdifferenzierungen für einzelne Regionen erlauben weitgehend<br />
maßgeschneiderte Lösungen für die Unternehmen. Tarifverträge<br />
setzen allerdings immer nur Mindestnormen, die nicht überschritten<br />
werden dürfen. Diese Mindestnormen schöpfen bei wirtschaftlich<br />
erfolgreichen Unternehmen das Verteilungsvolumen<br />
natürlich nicht aus. Die Feinjustierung erfolgt in diesem Fall gewöhnlich<br />
über Betriebsvereinbarungen, die zwischen Arbeitgeberseite<br />
und Betriebsräten ausgehandelt werden.<br />
Solche Vereinbarungen können zwar die betrieblichen Gegebenheiten<br />
besser abbilden als betriebsübergreifende, sie haben aber<br />
aus Arbeitnehmersicht einen entscheidenden Nachteil: Betriebsparteien<br />
dürfen ihre Auseinandersetzungen nicht durch Arbeitskampfmaßnahmen<br />
klären – die Durchsetzungsmöglichkeiten einer<br />
einzelnen Belegschaft sind also deutlich geringer als die ihrer<br />
Gewerkschaft. Sie sind folglich aus der Sicht der Beschäftigten<br />
keine Alternative zu Tarifverträgen, können sie aber ergänzen.<br />
Sogenannte „Betriebliche Bündnisse“ kommen aus Arbeitnehmersicht<br />
nicht infrage, auch wenn die Beschäftigten in einem einzelnen<br />
Unternehmen Wettbewerbsvorteile für ihren Arbeitgeber unter<br />
Umständen durchaus bevorzugen. Aber Flächentarifverträge<br />
suchen immer Regelungen, die für eine ganze Branche tragfähig<br />
sind. Wenn es aus bestimmten Gründen Ausnahmen geben muss,<br />
können diese sinnvollerweise nur von den vertragschließenden<br />
Parteien verabredet werden. In der Metall- und Elektroindustrie<br />
gibt es für solche „Pforzheim-Abkommen“ ein geregeltes Verfahren,<br />
das auf beiden Seiten die Interessen des antragstellenden Unternehmens<br />
mit denen der Branche als Ganzem abgleicht.<br />
Beiden Tarifparteien muss der Blick auf die Branche wichtig sein,<br />
weil sich ihre Vertreter regelmäßig Wahlen stellen müssen, die sie<br />
nur gewinnen können, wenn ihr tarifpolitisches Handeln mit den<br />
Erwartungen ihrer Mitglieder übereinstimmt. Da die Verhandlungsführer<br />
der Gewerkschaften wie der Arbeitgeberverbände immer<br />
wieder die Erfahrung machen müssen, dass sie persönlich Verantwortung<br />
tragen für die Tarifergebnisse, sind sie gehalten, die<br />
Anliegen ihrer Mitglieder sehr ernst zu nehmen, ihre Kampfbereitschaft<br />
immer genau zu ermitteln und ihre Forderungen an ihren<br />
Erwartungen für deren Erreichbarkeit auszurichten. Eine Tarifauseinandersetzung<br />
nicht so beenden zu können, dass die Mitglieder<br />
davon überzeugt sind, dass das Bestmögliche erreicht worden ist,<br />
beendet die Karriere jedes Verhandlungsführers. Fehler kommen<br />
natürlich vor, aber im Großen und Ganzen funktionieren die Selbstregulierungsmechanismen<br />
in der Tarifpolitik durchaus.<br />
Das Subsidiaritätsprinzip gibt den Tarifparteien das Recht, ihre Angelegenheiten<br />
selbst zu regeln. Dazu müssen Gewerkschaften und<br />
Arbeitgeberverbände sich zu Koalitionen zusammenschließen und<br />
selbständig handeln können. Damit dies aber funktionieren kann,<br />
steht der Koalitionsfreiheit kein Zwang zum Eintritt in eine Koalition<br />
gegenüber, denn nur freiwillige Mitglieder können letztlich<br />
den Druck aufbauen, der gute Tarifergebnisse ermöglicht.<br />
Tarifverträge gelten folglich auch nur für die Mitglieder von Koalitionen<br />
selbst– also für die den jeweiligen Organisationen angeschlossenen<br />
Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Tarifgebundene Arbeitgeber<br />
machen jedoch in aller Regel keinen Unterschied zwischen<br />
gewerkschaftlich organisierten und nicht organisierten<br />
Beschäftigten, weil sie sonst dazu beitragen würden, dass mehr<br />
Menschen Mitglieder der Gewerkschaft würden und sich dadurch<br />
die Machtverhältnisse zu ihren eigenen Ungunsten verschieben<br />
würden.<br />
Auch nicht tarifgebundene Unternehmen orientieren sich häufig<br />
an den in ihren Branchen geltenden Tarifverträgen. Dies bedeutet<br />
aber nicht, dass sie alle vereinbarten Regelungen übernehmen<br />
müssen. Einen Rechtsanspruch auf Einhaltung der Tarifverträge<br />
besteht für die Beschäftigten in diesem Fall ohnehin nicht. Wer<br />
also glaubt, dass er als „Trittbrettfahrer“ alle Vergünstigungen, die<br />
Gewerkschaftsmitglieder für ihn erkämpft haben, genießen<br />
könnte, kann sich schnell getäuscht sehen. Wenn er sich als Nichtmitglied<br />
an den Diskussionen um die Aufstellung von Tarifforde-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 28
ungen und ihre Durchsetzung nicht beteiligen kann, muss er hinnehmen,<br />
dass seine konkreten Belange unter den Tisch fallen und<br />
andere Beschäftigtengruppen sich im Verteilungsprozess durchsetzen.<br />
Und immer häufiger versuchen Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen<br />
auch Regelungen zu erreichen, die ausschließlich<br />
ihren Mitgliedern zugute kommen.<br />
Die Wirkmechanismen des Tarifvertragssystems sind also komplex<br />
und vielschichtig. Sie enthalten Selbststeuerungs- und Mässigungszwänge,<br />
die dem Funktionieren des Systems sowie dem Finden<br />
guter Ergebnisse dienen. Sie müssen verstanden und beachtet<br />
werden, wenn der Staat Aufgaben an die Sozialpartner delegieren<br />
will. So begründet die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der<br />
Tarifautonomie im Allgemeinen sind, eines darf nicht vergessen<br />
werden: Tarifautonomie kann viel, aber sie kann nicht alles. Und<br />
dann muss die zweite Seite des Subsidiaritätsprinzips greifen:<br />
Dann ist der Staat gefordert.<br />
Dr. Regina Görner, Jg. 1950, Gewerkschaftssekretärin IG Metall, Mitglied in den Bundesvorständen<br />
der CDU und der <strong>CDA</strong> Deutschlands<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 29
Willi<br />
Zylajew<br />
Infrastruktur für ambulante Pflege<br />
Herausforderung in der alternden Gesellschaft<br />
Das Thema „Pflegebedürftigkeit“ ist für viele Menschen mit<br />
Ängsten behaftet. Es ist gleichbedeutend mit alt sein, Krankheit,<br />
Einsamkeit. Fragt man weiter, wie sich Menschen ihren Lebensabend<br />
bei Pflegebedürftigkeit vorstellen, stehen die Betreuung<br />
durch Familienangehörige und der Verbleib in den eigenen vier<br />
Wänden ganz oben auf der Wunschliste. Das spiegelt sich auch in<br />
folgenden Zahlen wider. Zwei Drittel der etwa 2,4 Mio. Pflegebedürftigen<br />
werden zu Hause betreut. Von diesen werden wiederum<br />
fast 70 % durch Angehörige versorgt. Die restlichen 30 % werden<br />
durch professionelle Pflegedienste, teils in Kombination mit<br />
Ehrenamtlichen bzw. Angehörigen gepflegt. Damit ist die Angehörigenpflege<br />
das wichtigste Fundament der pflegerischen Versorgung<br />
in Deutschland. Das ist übrigens seit Menschengedenken so.<br />
Durch den demografischen Wandel wird es aber langfristig zu<br />
einem Rückgang des familialen Pflegepotentials kommen. Problematisch<br />
wird es, wenn es keine Angehörigen gibt oder sie nicht in<br />
der Nähe wohnen bzw. durch Berufstätigkeit zeitlich sehr eingeschränkt<br />
sind oder die Beziehung nicht mehr funktioniert. In der<br />
Summe bedeutet dies eine steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen,<br />
denen eine abnehmende Zahl an potentiellen Helfern gegenübersteht.<br />
Hinzu kommt eine um fast ein Drittel schrumpfende<br />
Erwerbspersonenzahl und damit Sozialversicherungspflichtiger.<br />
Die Bertelsmann Stiftung weist in ihrem aktuellen „Pflegereport<br />
2030“ zutreffend auf „das doppelte Kernproblem der Pflegezukunft<br />
hin: Zum einen stellt sich die Frage, wie die zukünftige Versorgung<br />
der Pflegebedürftigen überhaupt sichergestellt werden<br />
kann angesichts sinkender relativer familialer Pflegekapazitäten<br />
und Kapazitätsrückgängen in der beruflichen Pflege. Zum anderen<br />
ist zu fragen, inwieweit die Versorgungsarten dann den Wünschen<br />
der Pflegebedürftigen entsprechen, die eine häusliche Pflege durch<br />
Familien und/oder Pflegedienste weit überwiegend bevorzugen<br />
(…).“ 15 Auch dies ist seit Menschengedenken so: Wer keine Kinder<br />
hat, kann auch nicht mit einer Versorgung durch sie im Alter rechnen<br />
und muss Dienste anderer in Anspruch nehmen.<br />
Was also tun? Wo kann man ansetzen, damit die Infrastruktur der<br />
ambulanten Pflege nachhaltig gestärkt werden kann? Dass mög-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 30
lichst schnell Lösungen gefunden werden müssen, um einem Fachkräftemangel<br />
vorzubeugen oder diesen zumindest abzuschwächen,<br />
bedarf eigentlich keiner weiteren Diskussion. Die Zahlen<br />
sprechen für sich. Laut einer Studie der Prognos AG im Auftrag der<br />
Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) fehlen bis zum<br />
Jahr 2030 etwa 506.000 Pflegekräfte. Zusammen mit dem Rückgang<br />
des informellen Pflegepotentials ergibt sich in knapp 20 Jahren<br />
eine Pflegelücke in Höhe von 737.000 Personen. 16 Was wir brauchen,<br />
ist ein Mix aus verschiedenen Maßnahmen. Dies betrifft zum<br />
einen den Bereich Ausbildung – dieser muss attraktiv in seinen Inhalten<br />
gestaltet und für möglichst viele Menschen (auch für<br />
Hauptschulabsolventen) zugänglich sein. Auf politischer Ebene<br />
wird daher mit Hochdruck an einer Reform der Berufsausbildung<br />
im Bereich der Kranken- und Altenpflege gearbeitet. Vorrangiges<br />
Ziel ist dabei die Zusammenführung der Ausbildungen in der Altenpflege,<br />
Gesundheits- und Krankenpflege sowie Gesundheitsund<br />
Kinderkrankenpflege in einem Gesetz, um die Qualifikationen<br />
in den Pflegeberufen breiter anzulegen. Während sich Bund und<br />
Länder weitgehend über die inhaltliche Ausrichtung der Reform<br />
einig sind, gibt es noch Diskussionsbedarf darüber, wie dies künftig<br />
finanziert werden soll. Erste Erfolge sind dennoch bereits vorzuweisen.<br />
So wurde im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der beruflichen<br />
Aus- und Weiterbildung in der Pflege, das der Bundestag im<br />
März verabschiedet hat, die Finanzierung des 3. Umschulungsjahres<br />
auf den Weg gebracht. Künftig werden nicht verkürzbare berufliche<br />
Weiterbildungen im Bereich der Altenpflege wieder durch die<br />
Bundesagentur für Arbeit (BA) finanziert. Dies ist eine wichtige Voraussetzung,<br />
um mehr Menschen, die ihre Zukunft in Pflegeberufen<br />
sehen, auch dort auszubilden. Bereits im Rahmen des Konjunkturpaketes<br />
II wurde das 3. Umschulungsjahr durch die BA finanziert,<br />
was zu einem deutlich höheren Interesse und einem Anstieg<br />
der Umschüler geführt hatte. Weiterhin schafft das Gesetz Verkürzungsmöglichkeiten<br />
von Altenpflegeumschulungen für lebensund<br />
berufserfahrene Menschen vor, die bereits zwei Jahre Aufgaben<br />
im Bereich der Pflege und Betreuung in Pflegeeinrichtungen<br />
wahrgenommen haben. Hierdurch sollen insbesondere Frauen<br />
nach Erwerbsunterbrechungen mit Interesse an einer Altenpflegeausbildung<br />
verbesserte Perspektiven zum Berufseinstieg als<br />
Fachkraft in einem wachsenden Beschäftigungsfeld erhalten.<br />
Neben einer attraktiven Ausbildung ist aber auch die Gestaltung<br />
des beruflichen Umfeldes von großer Bedeutung. Beispielhaft<br />
seien an dieser Stelle eine auskömmliche Vergütung, Maßnahmen<br />
zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Möglichkeiten zur Weiterbildung<br />
und zum beruflichen Aufstieg genannt. Der Gesetzgeber<br />
hat mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz geregelt, dass im Rahmen<br />
der Finanzierung der Aufwendungen bei stationären und<br />
ambulanten Pflegeleistungen einer Pflegeeinrichtung bei wirtschaftlicher<br />
Betriebsführung ermöglicht werden muss, ihre Personalaufwendungen<br />
und ihre Sachkosten zu finanzieren. Es muss<br />
eine angemessene und leistungsgerechte Vergütung der Beschäftigten<br />
gewährleistet und damit den Leistungsbringern ermöglicht<br />
werden, ausreichend qualifiziertes Personal zu gewinnen. Damit<br />
wird gleichzeitig klargestellt, dass zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung<br />
auch eine tarifliche Arbeitsvergütung für Pflegekräfte<br />
gehört. Es darf nicht weiter angehen, dass überörtliche Träger<br />
der Sozialhilfe und Pflegekassen Dumpinglöhne in Einrichtungen<br />
erzwingen.<br />
Mit der Familienpflegezeit gibt es seit Anfang des Jahres 2012 eine<br />
große Hilfe, wenn Angehörige für ihre pflegebedürftigen Familienmitglieder<br />
da sein und eine Betreuung in den eigenen vier Wänden<br />
ermöglichen wollen. Die Familienpflegezeit gibt ihnen Zeit für die<br />
Pflege, sichert dabei einen Großteil ihres Einkommens und hält die<br />
Perspektiven für ihre berufliche Entwicklung offen. Die Familienpflegezeit<br />
verbindet somit Bedürfnisse und Interessen sowohl der<br />
Beschäftigten als auch der Unternehmen. Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter können ihre nahen Angehörigen selbst pflegen und den<br />
Unternehmen bleibt das Know-how erfahrener Kräfte erhalten.<br />
Neben den Anstrengungen im Bereich der Personalsicherstellung<br />
gibt es im ambulanten Bereich aber noch zahlreiche weitere Herausforderungen,<br />
in denen gleichzeitig hohe Chancen für die Hilfe<br />
zur Selbsthilfe liegen. Eine ganz wichtige Rolle wird den Kommunen<br />
als zentrale Orte der Daseinsvorsorge zukommen. Sie werden<br />
sich stärker als bisher in die Pflicht nehmen müssen, auf geeigneten<br />
und bezahlbaren Wohnraum zu achten und vernetzte Struktu-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 31
en im Sinne einer wohnortnahen Versorgung aufzubauen. Leitbilder<br />
müssen hierbei individuelle Bedarfe und das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Betroffenen sein. Soll die stationäre Unterbringung<br />
möglichst lange hinausgezögert oder auch verhindert werden,<br />
ist es unvermeidlich, sowohl bestehenden als auch neuen<br />
Wohnraum altersgerecht zu gestalten. Genannt sei an dieser Stelle<br />
die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die ein entsprechendes<br />
Förderprogramm „altersgerecht Umbauen“ aufgelegt hatte. Bis<br />
2011 wurde das Programm mit Bundesmitteln unterstützt, nunmehr<br />
führt die KfW das Programm mit eigenen Mitteln fort. Damit<br />
werden alle Baumaßnahmen, die zu einer Barrierereduzierung führen<br />
und eine angenehme Wohnqualität gewährleisten, oder der<br />
Kauf frisch umgebauter Wohngebäude gefördert. Aber auch unabhängig<br />
davon ist die Schaffung von altersgerechtem Wohnraum<br />
möglich, beispielsweise im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung,<br />
deren Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Gefördert werden<br />
u.a. Maßnahmen zur Barrierereduzierung im Bestand, der barrierefreie<br />
Mietwohnungs- und Eigenheimneubau für ältere und behinderte<br />
Menschen oder die Modernisierung von Altenwohn- und<br />
Pflegeheimen. Städte und Gemeinden können Mittel der Städtebauförderungen<br />
auch für bauliche Maßnahmen der altersgerechten<br />
Anpassung von Stadtquartieren nutzen. Den Kommunen somit<br />
bieten sich bereits heute schon vielfältige Möglichkeiten, das Wohnen<br />
im Alter möglichst angenehm und bezahlbar zu gestalten. Es<br />
gilt, diese Möglichkeiten weiterzuentwickeln, um dem Grundsatz<br />
und Wunsch „ambulant vor stationär“ auch tatsächlich gerecht zu<br />
werden.<br />
In diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind altersgerechte<br />
Assistenzsysteme für das Wohnen im Alter, auch unter<br />
dem Schlagwort „Ambient Assisted Living (AAL)“ bekannt. Damit<br />
ist es möglich, den zentralen Lebensraum – die eigene Wohnung –<br />
so auszugestalten, dass ältere Menschen ihren Alltag weitgehend<br />
ohne fremde Hilfe bewältigen können. Konkret verbergen sich hinter<br />
AAL natürlich der klassische Hausnotruf, der sich seit vielen Jahren<br />
bewährt hat, aber auch technische Innovationen wie Schranksysteme<br />
mit motorischer Unterstützung, Bett- und Bettumgebung<br />
mit intelligenter Ausstattung, barrierefrei gestaltete Bad- und Küchenkomponenten,<br />
Sensoren, die bei Stürzen automatisch den Rettungsdienst<br />
informieren, und vieles mehr.<br />
Doch trotz aller Innovationen, Ehrenamt und sonstiger Errungenschaften;<br />
ohne fremde menschliche Hilfe wird es niemals gehen.<br />
Tritt Pflegebedürftigkeit ein, ist dies in der Regel mit starken körperlichen<br />
und/oder geistigen Einschränkungen verbunden. Hier ist<br />
eine professionelle Pflege absolut notwendig. Unsere Fachkräfte<br />
erbringen die Pflege mit Herz, Händen und Verstand und leisten<br />
einen unschätzbaren Wert am pflegebedürftigen Menschen. Die<br />
professionelle Pflege könnte durch die Zusammenarbeit mit Ärzten<br />
– insbesondere Hausärzten – noch weiter optimiert werden.<br />
Die Vernetzung von Teamarbeit zwischen ambulant tätigen Ärzten<br />
und Pflegekräften, verbunden mit einem abgestimmten Überleitungsmanagement<br />
aus dem Krankenhaus in die Häuslichkeit,<br />
sichert die ambulante Versorgung, gerade auch in den ländlich<br />
geprägte Regionen. Und nicht zuletzt haben wir in Deutschland<br />
hervorragende stationäre Einrichtungen, zu denen es eben oft auch<br />
keine Alternative gibt. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung und -Versorgung<br />
in jeder Straße, jedem Wohnquartier, jedem Ort ist personell<br />
und finanziell kaum darstellbar. Für eine optimale pflegerische<br />
Versorgung benötigen wir beides, sowohl die ambulante als auch<br />
die stationäre Pflege. Es kann zu Situationen kommen, in denen<br />
Hilfe zur Selbsthilfe eben nicht mehr ausreichend ist. Dann können<br />
sich die Menschen in unserem Land auf eine gute stationäre Versorgung<br />
verlassen.<br />
Willi Zylajew, Jg. 1950, MdB, <strong>CDA</strong>-Bundesschatzmeister, Pflegepolitischer Berichterstatter<br />
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
15 Bertelsmann Stiftung (2012) „<strong>Themen</strong>report 2030“, S. 18<br />
16 vbw (2012), Studie Pflegelandschaft 2030<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 32
Gerald<br />
Weiss<br />
Die Sozialwahlen legitimieren<br />
die Selbstverwaltung in der<br />
deutschen Sozialversicherung<br />
Die enge Verknüpfung von Selbstverwaltung und Sozialversicherung<br />
bildet einen starken Traditionsstrang in der deutschen Sozialgeschichte.<br />
Dies begann vor 750 Jahren mit der Gründung der<br />
Knappschaft und erreichte am 17. November 1881 eine wichtige<br />
Wegmarke. An diesem Tag verlas Reichskanzler Otto von Bismarck<br />
die „Kaiserliche Botschaft”. Die „Geburtsurkunde“ der deutschen<br />
Sozialversicherung enthielt das sozialpolitische Programm für den<br />
Aufbau einer Sozialversicherung mit Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung:<br />
„Der engere Anschluss an die realen Kräfte dieses<br />
Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form<br />
corporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und<br />
staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von<br />
Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem<br />
Umfang nicht gewachsen sein würde.”<br />
Der Ursprung der deutschen Sozialversicherung liegt in den Selbsthilfeeinrichtungen<br />
der Kranken- und Unfallversicherung der Arbeiter<br />
(Knappschaftsvereine im Bergbau). Das Kennzeichen der damaligen<br />
Einrichtungen war die enge Verbundenheit von Selbsthilfe<br />
und Selbstverwaltung. Daher lag es nah, dieses Verwaltungssystem<br />
bei Einführung der deutschen Sozialversicherung gewissermaßen<br />
fortzuschreiben. Die Selbstverwaltung spielte damals fast<br />
nur im kommunalen Bereich eine große Rolle. Mit der Übernahme<br />
der Selbstverwaltung in die neuen Sozialversicherungen wurde<br />
dieses Prinzip erstmals auch außerhalb der Kommunen im großen<br />
Stil angewandt. Dies bot sich auch deshalb an, weil die frühen Sozialversicherungen<br />
die Finanzautonomie als notwendige Basis des<br />
eigenverantwortlichen Handelns besaßen. Staatliche Zuschüsse zu<br />
den Beiträgen der Arbeiter und Arbeitgeber waren zunächst nicht<br />
vorgesehen. Die Beteiligungsrechte der Arbeitgeber und Arbeitnehmer<br />
richteten sich nach ihrem Finanzierungsanteil.<br />
Diktaturen sind keine Anhänger der Selbstverwaltung. Deshalb<br />
wurde sie während der NS-Herrschaft abgeschafft und auch in der<br />
Sozialversicherung durch das Führerprinzip ersetzt. Die SED hielt<br />
ebenfalls nichts von der Selbstverwaltung. So musste die Selbst-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 33
verwaltung nach dem Zweiten Weltkrieg neu begründet werden<br />
und konnte sich nach der Wende 1989/1990 auch in den neuen<br />
Ländern wieder etablieren. Allerdings war die Wiederbelebung der<br />
Selbstverwaltung nach dem Krieg keine Selbstverständlichkeit. Es<br />
bedurfte auch des Engagements christdemokratischer und christlich-sozialer<br />
Politikerinnen und Politiker. So sagte Konrad Adenauer<br />
in seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949:<br />
Die Selbstverwaltung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung<br />
verfügt über drei Bänke. Die „Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte“<br />
sind hier die dritte Kraft.<br />
Drei Bänke gibt es auch im Verwaltungsrat der Bundesagentur für<br />
Arbeit. Neben den Arbeitgebern und den Versicherten findet man<br />
dort die Bank der öffentlichen Hand.<br />
„Die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern<br />
müssen zeitgemäß neu geordnet werden. Die Selbstverwaltung<br />
der Sozialpartner muss an die Stelle der staatlichen Bevormundung<br />
treten.“<br />
Mit dem Selbstverwaltungsgesetz vom 13. August 1952 wurde die<br />
Selbstverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland wieder eingeführt.<br />
Zusammensetzung der Selbstverwaltungsorgane<br />
Bei den gesetzlichen Krankenkassen heißt das Selbstverwaltungsorgan<br />
„Verwaltungsrat“. Dieses ist in der Regel paritätisch mit Versicherten-<br />
und Arbeitgebervertretern besetzt. Bei vielen Betriebskrankenkassen<br />
ist die Anzahl der Arbeitgebervertreter geringer als<br />
die Anzahl der Versichertenvertreter. Allerdings haben die Arbeitgeber<br />
das gleiche Stimmgewicht wie die Versicherten. Bei einigen<br />
Ersatzkassen findet man eine reduzierte oder sogar eine fehlende<br />
Arbeitgeberbank. So gehören zum Beispiel dem Verwaltungsrat<br />
der BARMER GEK nur Versichertenvertreter an.<br />
Bei den Renten- und Unfallversicherungen gibt es eine zweistufige<br />
Selbstverwaltung: die „Vertreterversammlung“ und den ehrenamtlichen<br />
Vorstand. Diese Gremien sind in der Regel paritätisch<br />
besetzt. Bei einer Reihe von Unfallkassen findet man in der Vertreterversammlung<br />
und im Vorstand eine reduzierte Anzahl von Arbeitgebervertretern,<br />
die jedoch das gleiche Stimmgewicht wie die<br />
Versichertenvertreter besitzen.<br />
Sozialwahlen legitimieren die Selbstverwaltung<br />
Die Mitglieder der Selbstverwaltung sind dies nicht per Geburtsrecht,<br />
sondern sie werden im Rahmen der Sozialwahlen bestimmt.<br />
Dies gilt nicht für die Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit.<br />
Ihre Mitglieder werden von der/dem Bundesarbeitsminister/-<br />
in berufen.<br />
Das aktuell geltende Sozialwahlrecht definiert „Wahl“ wesentlich<br />
breiter, als dies in einem demokratischen Rechtsstaat gemeinhin<br />
der Fall ist. Dies sind die vier Möglichkeiten:<br />
1. Die Urwahlen finden in der Öffentlichkeit die größte Resonanz.<br />
Hierbei konkurrieren mindestens zwei Listen um die Stimmen<br />
der Wahlberechtigten. Bei den Sozialwahlen 2011 wurden 4 % der<br />
Mandate per Urwahl vergeben. Weil bei der Deutschen Rentenversicherung<br />
Bund urgewählt wurde, konnte etwa die Hälfte der<br />
Sozialversicherten zumindest bei diesem Versicherungsträger an<br />
den Sozialwahlen teilnehmen.<br />
2. Der übergroße Anteil der Mandate wird per „Wahl ohne Wahlhandlung“,<br />
bei so genannten „Friedenswahl”, vergeben. Diese<br />
findet immer dann statt, wenn zur Wahl nur eine Liste zugelassen<br />
wurde oder die Anzahl der Kandidatinnen und Kandidaten<br />
der Anzahl der zu vergebenden Mandate entspricht. In diesen<br />
Fällen werden die Wählerinnen und Wähler nicht mehr beteiligt.<br />
Es findet keine Wahl statt. Die Kandidatinnen und Kandidaten<br />
gelten ohne Abstimmung der Wahlberechtigten als gewählt. Voraussetzung<br />
dieser Variante ist, dass sich die beteiligten Organisationen<br />
auf die Verteilung der Mandate einigen. Organisationen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 34
lassen sich gerne auf diese Absprachen ein, weil sie eine hohe<br />
Planungssicherheit mit sich bringen. Wahlen können niemals die<br />
Planungssicherheit dieser Vereinbarungen gewähren.<br />
3. Bei den geschlossenen Betriebskrankenkassen werden die Arbeitgebervertreter/-innen<br />
von den beteiligten Unternehmen bestimmt.<br />
Reform der Sozialwahlen - Abschaffen der Friedenswahlen?<br />
Den Bericht über die Sozialwahlen 2011 habe ich gemeinsam mit<br />
dem stellvertretenden Bundeswahlbeauftragten Klaus Kirschner<br />
verfasst. Beim Erstellen des Berichtes wurden wir maßgeblich von<br />
Wolfgang Becker unterstützt, dem Leiter der Geschäftsstelle des<br />
Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen. Er ist<br />
zugleich Mitglied im Bundesvorstand der <strong>CDA</strong>.<br />
4. Bei den Unfallkassen legen unterschiedliche staatliche Ebenen<br />
fest, welche Personen auf der Arbeitgeberseite vertreten sind.<br />
100 Jahre Sozialwahlen<br />
Die ersten Sozialwahlen wurden 1913 – vor genau 100 Jah ren –<br />
durchgeführt. Wir blicken also auf eine lange Tradition zurück. Die<br />
ersten Sozialwahlen nach dem Krieg fanden 1953 – vor genau 60<br />
Jahren – statt. In der Regel wird alle sechs Jahre gewählt. Die letzten<br />
Sozialwahlen fanden 2011 statt. Den ausführlichen Bericht über<br />
diese Wahlen findet man unter www.sozialversicherungs<br />
wahlen.de. Solange der Vorrat reicht, kann man auch gedruckte<br />
Exemplare bestellen.<br />
In unserem Bericht machen wir eine Reihe von Vorschlägen für die<br />
Modernisierung des Sozialwahlrechtes. Unsere Empfehlungen für<br />
eine größere Transparenz und für die Rückübertragung von Kompetenzen<br />
auf die Selbstverwaltung finden relativ breite Zustimmung.<br />
Auch der Forderung nach der Einführung von Online-Wahlen<br />
wird zunehmend mit Sympathie begegnet.<br />
Wir fordern die Abschaffung der Friedenswahlen. Erwartungsgemäß<br />
findet diese Forderung bei den betroffenen Verbänden kaum<br />
Unterstützung. Nur vier Prozent der Mandate wurden in Urwahlen<br />
vergeben, der Rest in Friedenswahlen beziehungsweise im Rahmen<br />
von Benennungen durch die Arbeitgeberseite. Auch deshalb gibt<br />
es viele Anhänger der Friedenswahlen.<br />
Die wichtigsten Daten zu den Sozialwahlen 2011:<br />
• Von 206 Versicherungsträgern haben zehn eine Urwahl durchgeführt.<br />
• Mit annähernd 50 Millionen Wahlberechtigten wurde ein neuer<br />
Rekord in der Nachkriegszeit aufgestellt.<br />
• Es wurden etwa 15 Millionen Stimmen abgegeben. Dies sind über<br />
1,3 Millionen Stimmen mehr als 2005.<br />
• Die durchschnittliche Wahlbeteiligung lag bei 30,15 % (2005:<br />
30,78 %).<br />
• Anzahl der vergebenen Mandate: 4.215 Mandate in den Verwaltungsräten<br />
und den Vertreterversammlungen sowie 741 Mandate<br />
in den ehrenamtlichen Vorständen.<br />
• Kosten der Sozialwahlen: 46,3 Millionen Euro / 93 Cent pro Wahlberechtigten.<br />
Mich stört bereits der Begriff „Friedenswahlen“. In der Konsequenz<br />
müsste man die Urwahlen als „Kriegswahlen“ bezeichnen.<br />
Die Friedenswahlen sind ein legaler Weg, aber wir stellen ein Legitimationsdefizit<br />
fest, weil die Rückbindung zum Souverän (Wählerinnen<br />
und Wähler) fehlt.<br />
Gerne wird mit dem Verweis auf die Praxis demonstriert, dass die<br />
Zusammensetzung der Selbstverwaltungen durch Organisationen<br />
bestimmt wird. Schließlich legen diese seit Jahrzehnten für einen<br />
Großteil der Versicherungsträger fest, welche Personen in die<br />
Selbstverwaltungen einziehen. Diese Beobachtung ist richtig, aber<br />
die Rechtskonstruktion ist eine andere. Das Sozialwahlrecht sieht<br />
vor, dass die Entscheidung über die Zusammensetzung der Selbstverwaltung<br />
durch die Wählerinnen und Wähler erfolgt. Die Frie-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 35
denswahl ist eine im Sozialwahlrecht vorgesehene Ausnahme, die<br />
zur Regel geworden ist. Wir wollen die zur Regel gewordene Ausnahme<br />
abschaffen. Für manchen Betroffenen ist dies schwer zu<br />
verstehen. Die Jahrzehnte währende Praxis der Friedenswahlen<br />
führt oftmals dazu, dass schon der Gedanke an Urwahlen als Zumutung<br />
empfunden wird.<br />
In einem demokratischen Staat erscheint mir der Rückgriff auf die<br />
Wählerinnen und Wähler doch die höchste und die beste Form der<br />
Legitimation. Ich freue mich sehr, dass der Bundesvorstand der <strong>CDA</strong><br />
meine Reformüberlegungen in seiner großen Mehrheit grundsätzlich<br />
unterstützt.<br />
Gerald Weiß, Jg. 1945, Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen,<br />
Ehrenvorsitzender der <strong>CDA</strong> Deutschlands<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 36
Anselm<br />
Kipp<br />
Wie betriebliche<br />
Gesundheitsförderung die<br />
Psyche im Job schützen kann<br />
„Rekord bei Burn-Out-Frühverrentungen“: So betitelte eine Nachrichtenagentur<br />
im Januar <strong>2013</strong> die Meldung, 41 Prozent der Anträge<br />
auf Erwerbsminderungsrenten seien 2011 mit psychischen Leiden<br />
begründet worden. Die Deutsche Rentenversicherung hatte neue<br />
Zahlen vorgestellt: Mehr als 70.000 Beschäftigte haben demnach<br />
ihr Berufsleben wegen seelischer Störungen vorzeitig beendet bzw.<br />
beenden müssen. Fast zeitgleich präsentierten die Krankenkassen<br />
Fakten zu den Ursachen für Krankschreibungen. Tenor: Immer öfter<br />
begründen Ärzte temporäre oder dauerhafte Arbeitsunfähigkeit<br />
mit psychischen Leiden. Droht eine Welle von Angststörungen, Depressionen<br />
und anderen seelischen Erkrankungen? Und: Wo liegt<br />
die Ursache der Krankheiten?<br />
„Burn-Out“: Volkskrankheit oder Mode-Diagnose?<br />
Die Antworten variieren mit den Interessen. Gewerkschafter und<br />
Sozialpolitiker jeder Couleur beobachten mit Sorge, wie sich die<br />
Symptome eines „Ausgebrannt-Seins“ ausbreiten. Sie stellen einen<br />
Zusammenhang her zur Entwicklung der Arbeitswelt: Leistungsdruck<br />
und Arbeitshetze würden viele psychisch überfordern, seelische<br />
Störungen seien die Folge. Nicht wenige reden gar von der<br />
„Volkskrankheit Burn-Out“. Es gibt aber auch andere Stimmen:<br />
Nicht nur Arbeitgeber spotten über die vermeintliche „Mode-Diagnose“:<br />
Auch Mediziner von Rang bezweifeln, dass dem Anstieg bei<br />
den Diagnosen tatsächlich eine Häufung psychischer Leiden zugrunde<br />
liegt. Für die oben genannten Zahlen machen sie ein verändertes<br />
Diagnoseverhalten verantwortlich: Depressionen seien mittlerweile<br />
enttabuisiert und gesellschaftlich „vorzeigbar“. Außerdem<br />
könne niemand sagen, ob nicht persönliche, private Probleme oder<br />
Vorerkrankungen Auslöser der Störung seien – und nicht Faktoren,<br />
die mit dem Arbeitsplatz oder dem Beruf zu tun haben.<br />
Volkskrankheit oder Mode-Diagnose? Für die Arbeits- und Gesundheitspolitik<br />
ist das nachrangig. Denn Fakt bleibt: Die psychischen<br />
Störungen sind da, und sie treten am Arbeitsplatz auf. Da verbringt<br />
der Mensch nun einmal einen Gutteil der Lebenszeit. Er oder sie<br />
hat dort Anspruch auf Schonung der Gesundheit und Linderung<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 37
des „Arbeitsleids“. Grund genug für Medizin, Psychologie und Politik,<br />
genauer auf den Gesundheitsschutz im Job zu schauen.<br />
1. Welche Gefahren drohen der Psyche im Job?<br />
Wenn Beschäftigte nicht mehr arbeiten können, liegt es heutzutage<br />
in den meisten Fällen an (ärztlich diagnostizierten) psychischen<br />
Leiden. Die Vermutung ist plausibel, dass zu ihrer Entstehung<br />
Faktoren beitragen, die in der Arbeit und ihren Umständen<br />
wurzeln. In der Industriegesellschaft waren Unfallverletzungen sowie<br />
Muskel- und Skelettschädigungen nach körperlicher Abnutzung<br />
typische Gründe für Erwerbsminderung. Die Dienstleistungsgesellschaft<br />
birgt andere Gefahren: Die Art der Gesundheitsgefährdung<br />
in der Arbeitswelt hat sich offenbar gewandelt – und<br />
betrifft zunehmend die Psyche.<br />
Belastungen der Psyche sind normal – und erwünscht<br />
Medien und Politikbetrieb verdächtigen als Gefahrenherd oft pauschal<br />
„psychische Belastungen“, die aus „Druck und Hetze“ resultieren;<br />
sie seien für Stress und Angst verantwortlich. Diese einseitig negative<br />
Verwendung des Begriffs „Belastung“ leitet fehl: In Bezug auf<br />
die Beschreibung der psychischen Gesundheit ist er – laut der einschlägigen<br />
Norm DIN EN ISO 10075 „Ergonomische Grundlagen bezüglich<br />
psychischer Arbeitsbelastung“ – wertneutral. Denn psychische<br />
Belastungen sind alle Einflüsse auf die Psyche, die bei der Arbeit<br />
(Arbeitsplatz, Aufgabe, Ablauf und Umfeld der Arbeit) wirken:<br />
mentale Beschäftigung, Erfolgs- oder Misserfolgserlebnisse, Streit<br />
usw. Damit ist nichts über die Auswirkung auf den Einzelnen gesagt:<br />
Arbeitsbelastung ist normal und für das Wohlbefinden sogar notwendig.<br />
Belastungen der Psyche münden also nicht zwangsläufig in<br />
Fehlbeanspruchungen, die ermüden, stressen und krank machen. Das<br />
hängt von der Arbeit selbst und der individuellen Konstitution der<br />
Arbeitenden ab: Wer gesund, motiviert, sozial verankert und belastbar<br />
ist, wer sich bei der Arbeit an Leib und Seele gut fühlt, der oder die<br />
kann psychische Anstrengungen schultern und ausgleichen. Mediziner<br />
sprechen erst dann von Fehlbelastungen, wenn Belastungen<br />
schädigende Wirkung entfalten: Wenn die Balance zwischen den Beanspruchungen<br />
und den Ressourcen zu ihrer Bewältigung kippt.<br />
Experten gehen davon aus, dass die psychische Belastung in der<br />
Arbeitswelt tendenziell gestiegen ist; sie verlangt den Beschäftigten<br />
immer mehr Konzentration und Anstrengung ab. Folglich steigt<br />
bei vielen die schädliche Beanspruchung, die das Wohlbefinden<br />
stört. Beispiele dafür sind die Folgen von Über- und Unterforderung:<br />
Stress und Ermüdung. Beide sind Nährboden für psychische<br />
Störungen, die sich dann in den oben genannten Statistiken niederschlagen.<br />
2. Was tun, damit aus Belastungen nicht Fehlbeanspruchungen<br />
werden?<br />
Unter dem Strich steht: Die Gefahr von Fehlbeanspruchungen der<br />
Psyche im Arbeitsleben ist gestiegen, offenbar auch im Zusammenhang<br />
mit dem Wandel der Arbeitswelt. Auf Organisationsebene<br />
(in allen Arbeitsstätten: in Privatwirtschaft und Öffentlichem<br />
Dienst, im Produktions- und Dienstleistungssektor) bieten<br />
sich zwei Ansatzpunkte an, um Beschäftigte zu schützen: Erstens<br />
die Arbeit selbst und zweitens die individuelle Gesundheit und die<br />
Gesundheitskompetenz der einzelnen Beschäftigten.<br />
Risikoanalyse durch Gefährdungsbeurteilung<br />
Das Arbeitsschutzgesetz regelt den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.<br />
Es zielt – wie das Betriebsverfassungsgesetz – auf die<br />
„menschengerechte Gestaltung der Arbeit“ insgesamt, nicht nur<br />
auf die Verhinderung von Unfällen und Standards der Arbeitssicherheit.<br />
Zur menschengerechten Gestaltung gehört implizit der<br />
Schutz der Psyche: Ein Hinweis darauf im Gesetz fehlt allerdings:<br />
bei den Grundsätzen des Arbeitsschutzes und den Regelungen zu<br />
den vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen. Bundesarbeitsministerium<br />
und Koalition wollen das nun ändern. Gewerkschaften<br />
und Parteien fordern darüber hinaus eine „Anti-Stress-Verordnung“,<br />
eine Durchführungsverordnung zum Arbeitsschutzgesetz.<br />
Die IG Metall hat dazu einen Entwurf vorgelegt: Demnach sollen<br />
unter anderem Vorschriften zur Gestaltung von Arbeitsaufgabe<br />
und Arbeitszeit gelten. Kontrovers diskutiert wird vor allem der<br />
Vorschlag, auch Regelungen zu sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz<br />
vorzugeben. Wirtschaftsverbände und andere Skeptiker be-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 38
mängeln, der persönliche Bereich lasse sich nun einmal nicht per<br />
Paragraph regeln.<br />
Psychische Fehlbelastungen resultieren oft aus mangelhafter Arbeitsgestaltung;<br />
arbeitswissenschaftlich gesprochen: aus ungünstigen<br />
Konstellationen im Arbeitssystem. Die Arbeitsaufgabe kann<br />
überfordern, unterfordern oder monoton sein. Auch der Arbeitsplatz<br />
birgt Gefahren, beispielsweise Lärmbelastung oder unzureichende<br />
Beleuchtung. Die beste Prävention von schädigenden Beeinträchtigungen<br />
ist eine bewusste Arbeitsgestaltung, abgeleitet<br />
aus einer Analyse der Risiken, bezogen auf den einzelnen Beschäftigten,<br />
seine Tätigkeit und seinen Arbeitsplatz. Diese Gefährdungsbeurteilung<br />
zeigt, wo welcher Handlungsbedarf besteht. Darauf<br />
aufbauend wird geplant, was zu tun ist. Leider gehört es in vielen<br />
Chefetagen zum guten Ton, diese Vorschrift zu ignorieren: Das zeigen<br />
Untersuchungen des Bundesamtes für Arbeitsschutz und der<br />
Gewerkschaften.<br />
Fitness, Ernährung: Die individuelle Konstitution entscheidet<br />
Es ist normal, dass Arbeit den Menschen belastet: Schon die biblische<br />
Schöpfungsgeschichte weiß davon zu berichten. Die Belastungen<br />
treffen Körper und Psyche; die Frage ist nur, mit welcher<br />
Konstitution die Beschäftigten ihnen entgegentreten. Prävention<br />
soll die gesundheitlichen Ressourcen an Leib und Seele stärken.<br />
Dabei helfen Bewegung und gesunde Ernährung. Ein gutes Arbeitsklima<br />
schützt die Psyche, wie auch stabile Beziehungen zu<br />
Vorgesetzten und Kolleginnen und Kollegen. Fühlen sich Beschäftigte<br />
am Arbeitsplatz gut aufgehoben, können sie kritische und<br />
stressige Situationen besser abfedern.<br />
Fazit: Gesundheitsschutz heißt Risiken minimieren und Ressourcen<br />
stärken. Zu beidem kann die betriebliche Gesundheitsförderung<br />
beitragen.<br />
3. Was ist betriebliche Gesundheitsförderung?<br />
Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) ist ein Oberbegriff für<br />
Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit bei der Arbeit; im Idealfall<br />
systematisch auf Betriebsebene geplant, unter Beteiligung von<br />
Belegschaft und Unternehmensleitung, finanziell oder organisatorisch<br />
gefördert von den Krankenkassen. „Betriebliche Gesundheitsförderung“<br />
wird meist zusammen und synonym mit „Arbeitsschutz“<br />
und „Gesundheitsschutz“ verwendet. Letztere beschreiben<br />
eher den Schutz vor unmittelbaren Gefahren bei der Ausübung der<br />
Tätigkeit, „Betriebliche Gesundheitsförderung“ benennt hingegen<br />
Aktivitäten, die präventiv Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten<br />
stärken und die Arbeitsumstände verbessern. Gesundheitsschutz<br />
sei die gesetzlich normierte grobe Arbeit, Gesundheitsförderung<br />
die freiwillige Feinjustierung: Auf diese griffige Formel<br />
bringt es ein aktueller Praxis-Leitfaden der Bundesvereinigung der<br />
Deutschen Arbeitgeberverbände. Arbeits- und Gesundheitsschutz<br />
setzten am Arbeitsplatz oder der beruflichen Tätigkeit an und seien<br />
die Pflicht, die „personenbezogene“ BGF die Kür.<br />
Arbeitsschutz vs. Gesundheitsförderung: Die Grenzen sind<br />
fließend<br />
In der Praxis in Unternehmen und Behörden sind die Grenzen zwischen<br />
Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung<br />
fließend. Insbesondere große Organisationen haben ein Gesundheitsschutzmanagement,<br />
das Teil der Unternehmenspolitik<br />
ist: Es ist genauso für die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zuständig<br />
wie für Raucherentwöhnung oder gesundes Kantinenessen. In<br />
den Medien wird BGF oft verengt auf sportliche Angebote wie Rücken-Training<br />
oder Laufgruppen. Doch die „Luxemburger Deklaration“,<br />
die „Fibel“ der BGF, definiert sie als „gemeinsame Maßnahmen<br />
von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung<br />
von Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz“.<br />
Dazu gehören Bemühungen um eine bessere Arbeitsorganisation<br />
oder die Einbindung der Belegschaft und ihrer Vertretungen. In den<br />
Qualitätskriterien des Europäischen Netzwerkes für BGF wird sogar<br />
ein „Umweltschutz-Management“ und ein verantwortlicher Umgang<br />
„mit den natürlichen Ressourcen“ als Kriterium für gelin-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 39
gende BGF beschrieben. Zur BGF zählen jedenfalls auch die ergonomische<br />
Gestaltung des Arbeitsplatzes oder Maßnahmen, die<br />
Stress verhindern oder das Betriebsklima bessern.<br />
Idealtypisch beginnt ein Prozess der BGF mit einer Bedarfsbestimmung,<br />
etwa durch eine Betriebsbegehung oder eine Mitarbeiterbefragung.<br />
Betriebs- und Personalräte werden dabei eingebunden<br />
– wie in alle weiteren Schritte. Analyse und Maßnahmen-Planung<br />
sind individuell und personenbezogen: Sie haben die einzelnen Beschäftigten<br />
und ihre konkreten Arbeitssituationen im Blick. Welche<br />
Belastungen bringt die Arbeit mit sich? Wie kann sie verändert<br />
werden, damit sie keine Fehlbeanspruchungen hervorruft? Welche<br />
Angebote helfen dabei, sie zu tragen? Das Instrumentarium der<br />
BGF ist vielfältig. Zur Analyse üblich sind Gesundheitszirkel, zur<br />
Prävention werden häufig Kurse angeboten, die auf die besonderen<br />
Situationen in den Organisationen abgestellt werden: Körperlich<br />
anstrengende Arbeit braucht gezieltes Training zur Stärkung von<br />
Muskeln und Skelett, mentalen Belastungen begegnet man beispielsweise<br />
mit Bewegung oder Entspannungsübungen.<br />
4. Wie will die Politik BGF fördern?<br />
Die Parteien fordern unisono einen besseren Schutz des seelischen<br />
Wohlbefindens im Job. Auch wenn sie in vielen Fragen zerstritten<br />
sind: Alle setzen auf Prävention – und BGF. Folglich gilt ihre Etablierung<br />
über Parteigrenzen hinweg als eine der wichtigsten Aufgaben<br />
der Präventionspolitik. So sieht es auch die Union. Im Abschlussbericht<br />
des <strong>CDA</strong>-Arbeitskreises „Humanisierung der Arbeitswelt“<br />
vom November 2012 spielt die Ausweitung der BGF eine Schlüsselrolle.<br />
Die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
hatte bereits im März 2012 einen Forderungskatalog für einen besseren<br />
Schutz der seelischen Gesundheit im Job vorgelegt. Darin ist<br />
der Ausbau der Förderung der BGF durch die Krankenkassen eine<br />
Hauptforderung. Die CDU appellierte im Leitantrag zum Parteitag<br />
in Hannover im Dezember 2012 unter der Überschrift „Menschengerechte<br />
Arbeitswelt“ an Betriebe und Verwaltungen, „das Instrument<br />
des betrieblichen Gesundheitsmanagements stärker zu<br />
nutzen“.<br />
Noch ist BGF eine Sache der „Großen“<br />
Die Politik hat vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen<br />
(KMU) im Blick. Denn noch bieten vor allem größere Betriebe und<br />
Verwaltungen BGF an. Gesundheitsmanagement hält dort schon<br />
aus ökonomischen und personalwirtschaftlichen Gründen Einzug.<br />
Schließlich steigen Lebensarbeitszeit und Fachkräftebedarf: Beides<br />
setzt gesunde Mitarbeiter voraus. In KMUs fehlt es hingegen oft<br />
an Initiative und Unterstützung aus Belegschaft, Arbeitnehmervertretungen<br />
und Betriebsleitung. Kleinstunternehmen sind organisatorisch<br />
überfordert: Das „Tagesgeschäft“ überlagert alles. Doch<br />
BGF funktioniert im Grundsatz subsidiär: Die Maßnahmen sollen<br />
auf der unteren Ebene, nah bei der Belegschaft, im Betrieb selbst<br />
entwickelt (und am besten dort auch durchgeführt) werden. Noch<br />
gilt: Je kleiner die Einheit, desto seltener sind Maßnahmen der BGF,<br />
geschweige denn ein systematisches „Gesundheitsmanagement“.<br />
Ein bedrückender Befund: Schließlich arbeitet bundesweit jede<br />
und jeder achte in einem Unternehmen mit weniger als neun Beschäftigten.<br />
Mehr Förderung, mehr Hilfen: Das Präventionskonzept<br />
der Koalition<br />
Wie kann man BGF auch in KMUs schrittweise zum Standard machen?<br />
Fachpolitiker der Koalitionsparteien haben im Dezember<br />
2012 ein Präventionskonzept vorgelegt. Sie wollen, dass KMUs besser<br />
über BGF informiert werden. Dazu sollen kassenfinanzierte regionale<br />
Koordinierungsstellen eingerichtet werden. Sie sollen „einen<br />
niedrigschwelligen und unbürokratischen Zugang für Unternehmen<br />
zu Leistungen der betrieblichen Gesundheitsförderung“<br />
ermöglichen. Sprich: KMUs sollen sich einfach und kostengünstig<br />
an Angeboten beteiligen können. Die Betriebe sollen mit den Kammern<br />
zusammenarbeiten.<br />
Vorgeschlagen wird ein neuer Mindestbeitrag der Krankenkassen<br />
für präventive Maßnahmen: „Im SGB V wird ein Mindestbetrag der<br />
Krankenkassen jeweils für Leistungen zur Gesundheitsförderung<br />
in Betrieben (2 Euro) und für Leistungen in anderen alltäglichen<br />
Lebensbereichen (1 Euro) festgelegt“. So wollen die Fachpolitiker<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 40
sicherstellen, dass auch die Belegschaften der KMUs in den Genuss<br />
der Förderung kommen: „Wird der Mindestbetrag für Leistungen<br />
zur Gesundheitsförderung in Betrieben gleichwohl unterschritten,<br />
soll der Differenzbetrag der Förderung von Projekten der regionalen<br />
gemeinsamen Koordinierungsstellen der Krankenkassen für<br />
betriebliche Gesundheitsförderung zugutekommen“.<br />
5. Fazit: Die Richtung stimmt<br />
Politik, Gesellschaft, Tarifpartner, Betriebspartner: Alle haben ein<br />
Interesse daran, BGF flächendeckend durchzusetzen – vor allem<br />
mit Blick auf die Entwicklung der psychischen Beanspruchungen<br />
in der Arbeitswelt. BGF ist kein „Muss“, sie ist abhängig von Offenheit<br />
und Engagement von Chefs, Belegschaft und Arbeitnehmervertretungen.<br />
Staat und Sozialversicherungen können motivieren,<br />
finanzieren und – wo nötig – organisieren. Die Vorschläge der Koalition<br />
weisen in diese Richtung; sie haben die Unterstützung von<br />
Regierung und Parlament verdient.<br />
Anselm Kipp, Jg. 1972, <strong>CDA</strong> Bundespressesprecher<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 41
Josef Zolk<br />
Genossenschaften –<br />
Relikte des 19. Jahrhunderts oder weltweit Chancen für<br />
Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung?<br />
Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der<br />
Genossenschaften ausgerufen, um auf die weltweite Bedeutung<br />
von Genossenschaften aufmerksam zu machen und ihre Rolle für<br />
die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vieler Länder zu betonen.<br />
UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon begründet diese Entscheidung<br />
mit der Verbindung von Wirtschaftlichkeit und sozialer Verantwortung,<br />
die von den Genossenschaften der internationalen<br />
Gemeinschaft vorgelebt werde.<br />
Genossenschaften widerstehen bei aller Größe, die sie heute erreichen,<br />
auf Grund der inneren Aufsichts- und Kontrollstrukturen besser<br />
als viele andere Finanzinstitute den oft irrsinnigen Verlockungen<br />
der Finanzindustrie, sie bilden Gegenpole zu unkontrollierten<br />
„ökonomischen Raumschiffen“ und sind trotz aller Fehler im Detail,<br />
bei denen man auch hier und da den algorithmischen Verlockungen<br />
zu ungezügelter Gewinnmaximierung nachgegeben hatte,<br />
Garanten soliden Wirtschaftens. Die Unternehmensstrategien sind<br />
gemäß Selbstverständnis von langfristigen Überlegungen und unternehmerischem<br />
Augenmaß geprägt. Unbestritten nehmen Genossenschaften<br />
soziale Verantwortung in der Gesellschaft wahr.<br />
In Deutschland ist die Genossenschaftsgruppe die bei Weitem mitgliederstärkste<br />
Wirtschaftsorganisation. Mit 26 Millionen Mitgliedern<br />
und mehr als 800.000 Mitarbeitern in über 7.500 Genossenschaften<br />
sind sie eine treibende Kraft für Wirtschaft und Gesellschaft.<br />
Die Zahl der genossenschaftlichen Eigentümer ist um ca.<br />
das Fünffache höher als die Zahl der Aktionäre.<br />
Genossenschaften gibt es in vielen Bereichen und Branchen:<br />
1. Genossenschaftsbanken<br />
Nähe zum Kunden, Verantwortung in der Region und Partner des<br />
Mittelstandes – nach diesen Grundsätzen arbeiten die über 1.100<br />
deutschen Volks- und Raiffeisenbanken sowie die Verbundunternehmen<br />
der genossenschaftlichen Finanzgruppe. Den Kreditgenossenschaften<br />
schlossen sich zwischen 2008 und 2010 rund<br />
460.000 neue Mitglieder an. Der Marktanteil der Volks- und Raiff-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 42
eisenbanken stieg nach dem Beginn der Bankenkrise auf über 18 %<br />
an. Auf Grund ihrer Stabilität, der höheren Rücklagen und dem<br />
Grundsatz, dass die Anteile der Genossenschaftsmitglieder nicht<br />
auf den (internationalen) Finanzmärkten gehandelt werden, kamen<br />
die genossenschaftlichen Finanzinstitute auch in und nach<br />
der Krise ohne staatliche Hilfen aus.<br />
5. Konsumgenossenschaften<br />
Das Genossenschaftsgesetz von 1889 definierte Konsumgenossenschaften<br />
als „Vereine zum gemeinschaftlichen Einkauf von Lebensoder<br />
Wirtschaftbedürfnissen“. Dabei bedeutet „Einkauf“ nicht,<br />
dass ausschließlich Handel betrieben wird. Die eigene Produktion<br />
ist traditionell Teil des konsumgenossenschaftlichen Konzepts.<br />
2. Wohnungsgenossenschaften<br />
Mit ihren rund 2,2 Millionen Wohnungen bieten die rund 2.000<br />
Wohnungsgenossenschaften für mehr als 5 Millionen Menschen<br />
Wohnungen. Der Anteil der Genossenschaftswohnungen am Mietwohnungsbestand<br />
in Deutschland von 24 Millionen Mietwohnungen<br />
beträgt ca. 10 %.<br />
3. Raiffeisengenossenschaften<br />
Über 2.500 landwirtschaftliche Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften<br />
mit 1,7 Millionen Mitgliedern berufen sich auf die<br />
Ideen von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Die selbstständigen Waren-<br />
und Dienstleistungsgenossenschaften sind stark auf dem<br />
Land vertreten und versorgen ihre Mitglieder z. B. mit Futtermitteln,<br />
Düngemitteln und Maschinen. Sehr viele Landwirte und Winzer<br />
sind Mitglieder von ländlichen Genossenschaften, seit der deutschen<br />
Vereinigung auch in den neuen Ländern.<br />
4. Gewerbliche Genossenschaften<br />
In Deutschland gibt es zu Beginn des Jahres 2012 rund 1600 gewerbliche<br />
Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften mit rund<br />
300.000 Mitgliedern und einem addierten Jahresumsatz (Umsatz<br />
aller Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften zusammen)<br />
von ca. 103 Milliarden Euro .Die beiden großen Genossenschaften<br />
dieses Bereichs sind in Deutschland EDEKA (Einkaufsgenossenschaft<br />
der Kolonialwarenhändler; E.d.K), gegründet 1898, und REWE<br />
(Revisionsverband der Westkauf-Genossenschaften), gegründet<br />
1927.<br />
Kooperation ist keine neue Erfindung. In der Menschheitsgeschichte<br />
haben in allen Kulturen, in allen Weltregionen und zu allen<br />
Zeiten Menschen für gemeinsame Zwecke zusammengearbeitet.<br />
Dabei haben sich unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit<br />
herausgebildet: Ad-hoc-Zusammenschlüsse, auf Langfristigkeit<br />
angelegte Kooperationen und informelle bzw. traditionelle Formen.<br />
Die Entstehung des modernen Genossenschaftswesens im 19. Jahrhundert<br />
und die Rolle der Pioniere Raiffeisen und Schulze-Delitzsch<br />
werden im UNO-Jahr der Genossenschaften zu Recht herausgestellt.<br />
Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Sohn des Westerwaldes, folgte<br />
zunächst seiner christlichen Überzeugung unter dem Leitspruch:<br />
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,<br />
das habt ihr mir getan“. Seine ursprünglichen Ideen basierten auf<br />
einem karitativen Ansatz.<br />
Hermann Schulze-Delitzsch, preußischer Politiker, Kaufmann, Jurist,<br />
war dagegen der Meinung, dass sich die Menschen selbst helfen<br />
müssen, um ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Auch<br />
Raiffeisen erkannte bald, dass ein karitativer Ansatz allein die Not<br />
nicht nachhaltig überwinden konnte. Die Menschen müssen den<br />
Willen haben und die Chance erhalten, sich selbst zu helfen. Selbsthilfe,<br />
Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, die „drei S“,<br />
wurden die Grundlagen des genossenschaftlichen Handelns.<br />
Heute sind Genossenschaften in vielen Ländern wichtige Elemente<br />
der Wirtschaft und Gesellschaft. Sie schaffen und sichern Marktzu-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 43
gang, Größenvorteile und eigenständige Marktpositionen. Ihr Fundament<br />
sind Stabilität, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Die Sozialund<br />
Wirtschaftsstruktur eines Landes wird durch Genossenschaften<br />
positiv beeinflusst. Genossenschaften im Finanzsektor, Handel,<br />
Handwerk und in der Landwirtschaft sind in vielen Ländern das<br />
Rückgrat der wirtschaftlichen Aktivitäten. Sie basieren auf lokaler<br />
Initiative und Wirtschaftskraft und tragen wesentlich zur Entwicklung<br />
bei. Sie sind in ihren Strukturen regionalbezogen und überschaubar,<br />
sie unterliegen nicht anonymen Konstrukten weltweit<br />
operierender Finanzkonzerne.<br />
Genossenschaften brauchen gute Partner<br />
Erfolgreiche genossenschaftliche Systeme umfassen mehrere Ebenen:<br />
lokale Genossenschaften und regionale bzw. nationale Zentralen<br />
und Verbände. Sie sind dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend<br />
aufgebaut, das Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt,<br />
müssen aber auch geprüft und kontrolliert werden. Schon 1872<br />
schrieb Raiffeisen: „Die Organisation ist das einzige Mittel, die Darlehns-Vereine<br />
für die ganze Zukunft zu erhalten, durch sie sind die<br />
einzelnen Vereine nicht mehr allein stehend, nicht mehr den Zufälligkeiten<br />
und Wechselfällen der Zeit unterworfen“. Spar- und Kreditgenossenschaften<br />
müssen lizenziert sein und der Regulierung<br />
und Aufsicht durch staatliche Stellen unterliegen. Auch kleinste Ersparnisse<br />
müssen sicher sein; hier spielt neben der Bankenaufsicht<br />
auch ein Einlagensicherungssystem eine wichtige Rolle. Ein wesentlicher<br />
Erfolgsfaktor moderner genossenschaftlicher Sys teme ist die<br />
umfassende genossenschaftliche Prüfung und Kontrolle.<br />
Gerade wegen der Globalisierung nimmt die Bedeutung der lokalen<br />
und regionalen Wirtschaft als eine der Grundlagen für die gesamtwirtschaftliche<br />
Entwicklung zu, die von unterschiedlichen<br />
Faktoren wie Ressourcenausstattung, fachlichem Know-how, Infrastruktur,<br />
Existenz eines leistungsfähigen Finanzsektors und effizienten<br />
Märkten abhängt. Um den Menschen Teilhabe an der Entwicklung<br />
zu ermöglichen, muss ihnen die Chance zur Selbsthilfe<br />
gegeben werden. Der Staat setzt den (wirtschafts-) politischen<br />
Rahmen, innerhalb dessen sich „Entwicklung“ vollziehen kann.<br />
Selbstbestimmung statt Instrumentalisierung<br />
Genossenschaften werden in der entwicklungspolitischen Diskussion<br />
bis heute sehr unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite<br />
findet sich eine völlige Überschätzung als „Instrument“ zur Entwicklung,<br />
auf der anderen Seite gibt es undifferenzierte Ablehnung.<br />
Es wurde oft versucht, einen Organisationstyp, der sich zum<br />
Beispiel in Europa organisch entwickelt hat, ohne Beachtung der<br />
spezifischen Bedingungen eines einzelnen Entwicklungslandes<br />
oder der Bedürfnisse der Menschen zu übertragen oder gar als Instrument<br />
des Staates bzw. von Geberorganisationen zu benutzen.<br />
Landespezifische Bedingungen, wie sozialer Zusammenhalt und<br />
betriebswirtschaftliche Aspekte als Grundlage unternehmerischen<br />
Handelns, wurden ebenso vernachlässigt wie notwendige landeseigene<br />
gesetzliche Rahmenbedingungen.<br />
Genossenschaften können staatliches Handeln nicht ersetzen.<br />
Wollen sie ihrem eigentlichen Auftrag gerecht werden, sind sie:<br />
Unternehmen ihrer Mitglieder, für diese tätig, von diesen getragen,<br />
finanziert und kontrolliert. „Dabei verstehen sich Genossenschaften<br />
nicht nur als ein Unternehmenstyp, sondern als gesellschaftliches<br />
Mikrosystem von ganz besonderer, auch kultureller<br />
Sensibilität“. (E. Dülfer)<br />
Entscheidend ist die Situation vor Ort<br />
Es gibt weltweit viele Beispiele erfolgreicher genossenschaftlicher<br />
Strukturen, die aus eigener Kraft und Initiative heraus entstanden<br />
sind oder erfolgreich „behutsam“ von außen gefördert wurden.<br />
Wesentliche Bedingung dafür aber war und ist immer, dass sich<br />
die Genossenschaften an den Zielen und Bedürfnissen der Mitglieder<br />
orientieren.<br />
Eine der wichtigsten Lehren aus dem Aufbau genossenschaftlicher<br />
Strukturen ist: Jedes Land ist anders, jede Kultur ist anders. Deshalb<br />
kann es auch kein Standardmodell geben. Aber es gibt Erfahrungen,<br />
die genutzt werden können:<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 44
Jede Genossenschaft muss für ihre Mitglieder leistungsfähig und<br />
attraktiv sein. Dazu sind in der einzelnen Genossenschaft eine konsequente<br />
wirtschaftliche Ausrichtung, eine adäquate interne Organisation<br />
und gut ausgebildete Führungskräfte und Mitarbeiter<br />
erforderlich. Die Genossenschaften müssen Teil von subsidiär aufgebauten<br />
Netzwerken sein, denn dann können sie von den Leistungen<br />
spezialisierter Zentralunternehmen und Verbänden profitieren.<br />
Genossenschaften bieten die Chancen, die Menschen an<br />
der regionalen Wertschöpfung zu beteiligen, ja regionale Wertschöpfung<br />
erst zu ermöglichen und zu stabilisieren.<br />
• Der Staat hat dabei „nur“ die Pflicht, einen angemessenen rechtlichen<br />
und regulatorischen Rahmen für genossenschaftliches<br />
Handeln zu schaffen. Genossenschaften können staatliches Handeln<br />
nicht ersetzen und haben auch keinen öffentlichen Auftrag.<br />
Sie sind Unternehmen ihrer Mitglieder, für diese tätig, von diesen<br />
getragen, finanziert und kontrolliert. Jedes Mitglied hat unabhängig<br />
von der Höhe der Einlage eine Stimme (§ 43 des Deutschen<br />
Genossenschaftsgesetzes). Auch das unterscheidet Genossenschaften<br />
grundlegend von den Finanzkonzernen. Und: Was die<br />
genossenschaftlichen Unternehmen erwirtschaften, fließt den<br />
Mitgliedern auf drei Wegen zu:<br />
• Über die Konditionen und Qualitätsstandards der Leistungen<br />
• Über die Verzinsung der Geschäftsanteile<br />
• Über die Investitionen in die Genossenschaft<br />
Der langfristige Nutzen für die Mitglieder steht im Vordergrund,<br />
nicht die kurzfristige Verzinsung (Shareholder-Value). Gerade deswegen<br />
sind Genossenschaften heute wieder modern.<br />
Josef Zolk, Jg. 1949, Bürgermeister Verbandsgemeinde Flammersfeld/Westerwald,<br />
Mitglied des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstands und Mitglied des Kreistages Altenkirchen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 45
Martin<br />
Kamp<br />
Strom in Bürgerhand<br />
Boom bei Energiegenossenschaften:<br />
Neuer Auftrieb für ein unterschätztes Modell<br />
Mehr als 800.000 Deutsche sind Mitglieder von über 600 Energiegenossenschaften<br />
– Tendenz steigend. Ob im überschaubaren Bioenergiedorf<br />
oder bei der Bürger-Energie Berlin: Engagierte Bürger<br />
mischen so bei der Energiewende mit – und verdienen auch an ihr.<br />
Energiegenossenschaften boomen. Dass die Bilanz nach dem „Internationalen<br />
Jahr der Genossenschaften“ 2012 positiv ausfällt,<br />
liegt nicht zuletzt daran.<br />
Wenn man sich dem Polizeipräsidium in Potsdam-Eiche nähert,<br />
dann sieht man schon von weitem die Solarmodule auf den schrägen<br />
Dächern der vier Garagen: Unten Polizeiautos, oben Stromproduktion.<br />
Doch das Land Brandenburg hat die Dächer nur vermietet<br />
– an die Neue Energie-Genossenschaft (NEG) Potsdam. Seit knapp<br />
zwei Jahren speist die NEG den Garagenstrom ins Potsdamer Netz<br />
– immerhin genug für 55 Haushalte.<br />
Auch Jens Aasmann setzt auf erneuerbare Energien. Aasmann ist<br />
Amtsdirektor des Amtes Rhinow, zu dem einige kleine Gemeinden<br />
im westlichen Brandenburg gehören. So weit wie in der Landeshauptstadt<br />
ist man dort noch nicht. Doch auch im Westhavelland<br />
haben Gemeinden, Volksbank und engagierte Bürger eine Energiegenossenschaft<br />
gegründet – gleichfalls mit dem Ziel, öffentliche<br />
Gebäude mit Solaranlagen auszustatten. Die Region brauche einen<br />
Akteur, der die Chancen der Energiewende nutzen könne. „Den<br />
Kommunen selbst sind durch Haushaltsrecht und Kommunalverfassung<br />
zu enge Grenzen gesetzt“, findet Aasmann. Daher habe<br />
man die Energiegenossenschaft Westhavelland gegründet.<br />
Lisa Neumann-Cosel hat viel weitergehende Ambitionen; mit ein<br />
paar Sonnenmodulen gibt sie sich nicht ab. Zusammen mit rund<br />
500 Genossinnen und Genossen will sie das Berliner Stromnetz<br />
übernehmen. Zwar gehört das Netz noch dem schwedischen Energieversorger<br />
Vattenfall. Doch einen Wert hat es für den Eigentümer<br />
nur zusammen mit einer Konzession – und die läuft Ende nächsten<br />
Jahres aus. Wer danach die Konzession erhält, entscheidet der Berliner<br />
Senat. Geht Vattenfall leer aus, muss das Unternehmen das<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 46
Netz verkaufen. Neumann-Cosel sitzt im Vorstand der Genossenschaft<br />
Bürger-Energie Berlin (BEB) – und hofft auf den Zuschlag.<br />
Wie viel das Netz wert ist, ist umstritten. Die Zahlen schwanken<br />
zwischen 400 Millionen und mehreren Milliarden Euro. Drei Millionen<br />
Euro haben die Genossenschaftsmitglieder inzwischen für<br />
ihre Geschäftsanteile eingezahlt. „Uns ist natürlich bewusst, dass<br />
unser Vorhaben ambitioniert ist“, sagt Lisa Neumann-Cosel. Für<br />
besonders realistisch hält sie die gemeinsame Übernahme des Netzes<br />
durch die BEB und das Land Berlin – zumal in Berlin ein Volksbegehren<br />
für eine Rekommunalisierung des Stromnetzes läuft.<br />
Energiegenossenschaften boomen im ländlichen Raum<br />
Energiegenossenschaften erleben einen Boom. Gut 600 gibt es<br />
mittlerweile im Land. Die meisten wurden in den vergangenen<br />
fünf Jahren gegründet, vor allem in ländlichen Regionen und kleineren<br />
Städten. Dazu gehören Genossenschaften wie die in Potsdam<br />
und im Havelland, die Strom aus erneuerbaren Energien produzieren<br />
und einspeisen. Andere – nicht nur in Berlin – wollen das<br />
Stromnetz übernehmen. In Jena etwa beteiligt sich die dortige<br />
Energiegenossenschaft an den Stadtwerken. Doch auch Bioenergiedörfer<br />
zählen dazu, die – meist mit Kraft-Wärme-Kopplung –<br />
kleinere Orte mit Strom und Wärmeenergie versorgen. Und im<br />
Volks wagenwerk in Emden hat der Betriebsrat gar den Anstoß zur<br />
Gründung einer Belegschaftsgenossenschaft gegeben. Während<br />
die meisten Energiegenossenschaften regional tätig sind, gibt es<br />
unter ihnen auch einige große Player: Greenpeace Energy eG liegt<br />
mit 22.000 Mitgliedern an der Spitze und bietet bundesweit Strom<br />
an. Auch die Elektrizitätswerke Schönau (EWS), nach der Katastrophe<br />
von Tschernobyl von den „Stromrebellen aus dem Schwarzwald“<br />
mit dem Ziel der Übernahme des städtischen Stromnetzes<br />
gegründet, verkaufen längst im ganzen Land Energie.<br />
Die Stromrebellen aus dem Schwarzwald sind zwar erst vor drei Jahren<br />
von einer GmbH zu einer Genossenschaft geworden. Doch die<br />
EWS sind nicht ganz untypisch. So unterschiedlich die Energiegenossenschaften<br />
im Einzelnen auch sein mögen: Die Gründer eint<br />
meist nicht nur die Ablehnung der Atomkraft und Skepsis gegenüber<br />
der klimaschädlichen Kohle, sondern auch Vorbehalte gegenüber<br />
großen Energieversorgern mit entsprechend großer Marktmacht.<br />
Rund ein Viertel des deutschen Stroms kommt inzwischen aus erneuerbaren<br />
Energien, allein der Anteil des Solarstroms hat sich in<br />
den vergangenen drei Jahren vervierfacht.<br />
Schon mit wenigen Euro wird man Genosse<br />
Da erneuerbare Energien nicht in Riesenkraftwerken gewonnen werden,<br />
sondern mit durchaus erschwinglichen Anlagen, haben Private<br />
und regionale Genossenschaften hier leichtes Spiel. Die großen Energieversorger<br />
haben mit dem Boom denn auch kaum etwas zu tun.<br />
Helene Maron vom Kölner Klaus-Novy-Institut (KNI) hat die Entwicklung<br />
der Energiegenossenschaften in einer Studie für das Bundesumweltministerium<br />
genauer unter die Lupe genommen. Allein im<br />
Jahr 2011 ist ihre Zahl um 35 Prozent gestiegen. 2001 gab es erst 77<br />
Energiegenossenschaften – zehn Jahre später schon 586, und 2012<br />
dürfte die Zahl abermals gestiegen sein. Rund 800.000 Deutsche<br />
sind Mitglieder von Energiegenossenschaften. Dabei ist die regionale<br />
Verteilung sehr unterschiedlich: Verfügte Baden-Württemberg<br />
2011 über 107 und Bayern sogar über 151 Energiegenossenschaften,<br />
so gab es im bevölkerungsreichsten Bundesland, Nord rhein-West -<br />
falen, nur 68. Ein Grund: die Ballungszentren und vielen Großstädte<br />
an Rhein und Ruhr. Denn die Untersuchung des KNI zeigt auch: In<br />
den kleineren Gemeinden findet man – pro Kopf der Bevölkerung –<br />
deutlich mehr Energiegenossenschaften als in großen Städten. „Je<br />
geringer die Einwohnerdichte je Quadratkilometer ist, desto höher<br />
ist die Dichte an Energiegenossenschaften“, heißt es.<br />
Und auch das geht aus der Studie hervor: Schon mit überschaubarem<br />
Einsatz ist man dabei. Meist muss man zwischen 100 und 500<br />
Euro für die erforderlichen Genossenschaftsanteile berappen. In<br />
einem Fall reichen sogar fünf Euro, um Genossenschaftsmitglied<br />
zu werden.<br />
Oft stehen Volks- und Raiffeisenbanken Pate bei der Gründung von<br />
Energiegenossenschaften. Die verfügen nicht nur über genossen-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 47
schaftliche Expertise, sondern sie haben auch eine gute Marktposition<br />
im Agrarbereich.<br />
„Genosse“: So heißen nicht nur die Mitglieder einer Genossenschaft.<br />
Auch Sozialisten und Sozialdemokraten sprechen sich so an. Und in<br />
der Tat waren es Frühsozialisten wie der Brite Robert Owen, die die<br />
Genossenschaftsidee schon ab Ende des 18. Jahrhunderts propagierten.<br />
Doch die Gründungsväter der Genossenschaftsbewegung im<br />
19. Jahrhundert in Deutschland waren eher Liberale: Friedrich Wilhelm<br />
Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch. Ihre Maximen lauteten:<br />
Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Das<br />
findet seinen Niederschlag auch im Genossenschaftsgesetz, das immerhin<br />
aus dem vorletzten Jahrhundert datiert und 2006 zum letzten<br />
Mal geändert worden ist. Demnach ist eine Genossenschaft eine<br />
Gesellschaft „von mindestens drei Mitgliedern“. Der Gesetzgeber<br />
stellt Genossenschaften Kaufleuten im Sinne des Handelsgesetzbuchs<br />
gleich. Das heißt freilich nicht, dass sie wie Aktiengesellschaft<br />
oder GmbH vor allem darauf aus sind, Gewinne zu machen und anschließend<br />
an die Anteilseigner auszuschütten. Zweck von Genossenschaften<br />
ist es, „den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder“<br />
durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern. So sind Genossenschaftsmitglieder<br />
meist zugleich auch Kunden, Mieter oder<br />
Lieferanten: Mitglieder von Agrargenossenschaften kaufen günstig<br />
gemeinsam Saatgut und vermarkten Getreide oder Milch, Mitglieder<br />
von Volks- und Raiffeisenbanken nehmen Kredite auf. Auch viele<br />
Einzelhändler schließen sich zusammen, um günstig Waren einkaufen<br />
und mit einem gemeinsamen Label werben zu können. Die prominentesten<br />
Genossenschaften sind Rewe und Edeka. Theresia<br />
Theurl, Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen in Münster,<br />
spricht vom „Membership Value“. Und so ist es auch bei Energiegenossenschaften:<br />
Meist nehmen deren Mitglieder auch Strom und<br />
Wärmeenergie ab.<br />
„One man, one vote“<br />
Wer schlechte Erfahrungen mit Vattenfall, EnBW und Co. gemacht<br />
hat, findet in Genossenschaften ein Gegenmodell. Sie sind schon<br />
rechtlich gegen die Dominanz einzelner finanzstarker Anteilseigner<br />
gewappnet. Denn jedes Mitglied hat in der Gesellschafterversammlung<br />
nur eine Stimme – ein Grund dafür, dass sie bei den energiepolitisch<br />
Engagierten so beliebt sind. Weiterer Vorteil: Genossenschaften<br />
gehen fast nie pleite, die Insolvenzquote ist niedrig. Doch auch<br />
energiepolitische Weichenstellungen haben zum Boom der Energiegenossenschaften<br />
beigetragen, ist Genossenschaftsexpertin Theurl<br />
überzeugt. Sie hält die Vergütungsregeln das Erneuerbare-Energien-<br />
Gesetz (EEG) für die wichtigste Ursache. Denn das EEG garantiert<br />
beides: den Einspeisevorrang für erneuerbare Energien ins Netz und<br />
feste Preise. Wer etwa in Solarmodule investiert, muss nicht fürchten,<br />
dass keiner seinen Strom kauft oder die Preise verfallen. Das ist<br />
der Grund dafür, dass auf vielen Einfamilienhäusern und Scheunen<br />
inzwischen Photovoltaikanlagen stehen – so viele, dass manch einer<br />
schon eine soziale Schieflage sieht. Denn oft sind es gutsituierte Eigenheimbesitzer,<br />
die so eine risikolose Rendite kassieren. Und gleichzeitig<br />
klagen Geringverdiener über steigende Strompreise – nicht<br />
zuletzt aufgrund der EEG-Umlage, mit der die Solar- und Windenergieförderung<br />
finanziert wird. Energiegenossenschaften bieten auch<br />
Mietern und Menschen mit überschaubarem Budget die Gelegenheit,<br />
an der Energiewende zu verdienen. So verweist Katherina Reiche,<br />
Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium,<br />
darauf, dass Energiegenossenschaften meist offen für Beteiligungen<br />
mit niedrigen Beträgen seien. „Sie eröffnen somit auch<br />
Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit, direkt in die<br />
Energiewende zu investieren und hiervon zu profitieren“, so die<br />
CDU-Politikerin.<br />
Theresia Theurl bestätigt das, warnt aber davor, ausschließlich mit<br />
der Rendite zu argumentieren. „Das hat letztlich nichts mit Genossenschaft<br />
zu tun.“ Sei der Einzugsbereich regional und fehle ein unrealistisches<br />
Renditeversprechen, habe man das Geschäftsmodell<br />
mit seinen Vorzügen und Schwächen richtig verstanden. Auch Eckhard<br />
Ott, Vorsitzender des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbandes<br />
(DGRV), hebt „die lokale Verwurzelung, den hohen<br />
Grad an Mitbestimmung und Transparenz“ hervor. Bei genossenschaftlichen<br />
Energieprojekten komme es daher nur sehr selten zu<br />
Akzeptanzproblemen, sagt Ott.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 48
„Demokratisches Experiment“<br />
Dabei birgt die Energiewende durchaus Sprengstoff. Nicht ohne<br />
Grund wird mancherorts die „Verspargelung“ der Landschaft durch<br />
immer neue Windräder beklagt. Auch großflächige Solaranlagen<br />
sind nicht gerade eine Augenweide. Und landauf, landab regt sich<br />
Protest gegen Übertragungsnetze. Für Amtsdirektor Aasmann aus<br />
dem brandenburgischen Rhinow ist daher klar: „Wenn der ländliche<br />
Raum die Belastungen tragen muss, dann soll er, dann soll<br />
die Bevölkerung dort auch von den Erträgen profitieren.“ Martin<br />
Berger hat die Bürger-Energie Jena mitgegründet, gehört dem ehrenamtlichen<br />
Vorstand an. Für ihn ist seine Energiegenossenschaft<br />
sogar ein „demokratisches Experiment“.<br />
Genossenschaften bieten also die Möglichkeit zur Mitwirkung –<br />
wobei das am ehesten in überschaubaren Genossenschaften gelingt.<br />
Henrik Düker, Pressesprecher der Greenpeace Energy eG, gibt<br />
zu: Mit mittlerweile mehr als 22.000 Mitgliedern sei es natürlich<br />
schwierig, alle im Tagesgeschäft zu integrieren. Doch auch bei der<br />
größten deutschen Energiegenossenschaft ist man bemüht, die<br />
Mitgliederbindung zu stärken – etwa durch einen eigenen Mitgliederbereich<br />
auf der Homepage und einen Energiekongress, zu dem<br />
die Mitglieder alle zwei Jahre eingeladen werden.<br />
Auch daran wird klar: Eine bloße Unternehmensform ist die Genossenschaft<br />
nicht. Nicht selten sind die Vorstände ehrenamtlich<br />
tätig – wie in Vereinen, aber kaum denkbar bei Kapitalgesellschaften.<br />
Martin Berger etwa steckt zehn bis fünfzehn Stunden pro Woche<br />
in die Bürger-Energie Jena, ganz ohne Bezahlung. Theresia<br />
Theurl macht denn auch – neben finanziellen, technischen und<br />
rechtlichen Hintergründen –„ideelle Motive“ aus, die bei der Gründung<br />
von Energiegenossenschaften eine Rolle spielten.<br />
In Gewerkschaften und Politik sieht man in Genossenschaften gar<br />
Ansätze einer „solidarischen und sozialen Ökonomie“, wie Sven<br />
Giegold, Europaabgeordneter der Grünen, es formuliert. Im Idealfall<br />
bildeten die Genossenschaften „ein Gegenmodell zum Shareholder-Value<br />
und Finanzmarkt-getriebenen Kapitalismus“, heißt<br />
es in einem Papier des DGB.<br />
Giegold kennt die Gesellschaftsform Genossenschaft aus eigener<br />
Erfahrung: Vor fünfzehn Jahren hat er in Verden eine Wohnungsgenossenschaft<br />
gegründet. Die genossenschaftliche Unternehmensform<br />
liege ihm am Herzen, sagt er – und macht sich daher für<br />
mehr Flexibilität stark. Er findet, der Aufwand für Genossenschaftsgründer<br />
sei zu groß. So müssen die Finanzen der Genossenschaften<br />
regelmäßig extern geprüft werden. Was einerseits für Sicherheit<br />
sorgt, führt andererseits zu Bürokratie und Kosten.<br />
„Aufschwung der Genossenschaftsidee“<br />
DGRV-Chef Eckhard Ott sieht gleichwohl politisch keinen großen<br />
Handlungsbedarf. Er verweist auf die Reform des Genossenschaftsgesetzes<br />
2006. Dafür zieht Ott nach dem Internationalen Jahr der<br />
Genossenschaften ein positives Fazit. 20 Millionen Deutsche seien<br />
Mitglieder von Genossenschaften: Kredit-, Einkaufs-, Wohnungs-,<br />
Energiegenossenschaften. Für Ott ist damit das Ende Fahnenstange<br />
noch längst nicht erreicht. „Die Genossenschaft eignet sich für alle<br />
Vorhaben, bei denen gemeinsam mehr erreicht werden kann“, sagt<br />
er – und nennt Beispiele: Freibäder, Kinos, sogar Kinderbetreuungseinrichtungen.<br />
Auch Theresia Theurl spricht von einem „Aufschwung<br />
der Genossenschaftsidee“. Sie macht das allein an der Anzahl an Anfragen<br />
für Beratungen und Vorträge fest, die sie als „Genossenschaftsexpertin“<br />
erreichen. Und sie hat Zahlen parat. Ihr Münsteraner<br />
Institut hat die Menschen zusammen mit den Marktforschern<br />
von der GfK befragt. Fazit: Das Image der Genossenschaften ist gut.<br />
81 Prozent der Befragten sagen: Genossenschaften müssen zum<br />
Wohle ihrer Mitglieder handeln.<br />
Lisa Neumann-Cosel will sich für ihre Mitglieder auch weiter engagieren,<br />
wenn die Bürger-Energie Berlin den Zuschlag fürs Berliner<br />
Stromnetz nicht bekommt. Dann könne man wie andere Genossenschaften<br />
auch selbst in erneuerbare Energien investieren. Erst einmal<br />
wirbt sie: „Wir bemühen uns, möglichst viele Bürger zu begeistern.“<br />
Martin Kamp, Jg. 1969, <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsführer<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 49
Interview<br />
Bilanz nach dem Internationalen<br />
Jahr der Genossenschaften –<br />
Ein Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden<br />
Deutscher Genossenschafts- und<br />
Raiffeisenverband e.V. (DGRV), Dr. Eckhard Ott<br />
Wie fällt die Bilanz nach dem „Internationalen Jahr der Genossenschaften“<br />
in Deutschland aus? Ist es gelungen, in der breiten Bevölkerung<br />
für die genossenschaftliche Idee zu werben?<br />
Ott: Sehr positiv. Im Internationalen Jahr der Genossenschaften ist<br />
die Aufmerksamkeit für diese Rechts- und Unternehmensform erheblich<br />
gesteigert worden. Über Genossenschaften und das Internationale<br />
Jahr ist in vielen Medien berichtet worden. Zahlreiche<br />
lokale, regionale und überregionale Zeitungen sowie Radio- und<br />
Fernsehsender haben sich im Jahr 2012 mit dem Thema Genossenschaften<br />
befasst. Es gab zum Beispiel Sendereihen zu Genossen -<br />
schaf ten in verschiedenen Radiosendern sowie Artikel und Son -<br />
der beilagen in großen deutschen Tageszeitungen. Auch viele prominente<br />
Redner und Schirmherren haben sich im Verlauf des<br />
Jahres positiv über Genossenschaften geäußert. Viele Veranstaltungen<br />
in Berlin, aber auch in den Regionen, haben in den vergangenen<br />
Monaten dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit für Genossenschaften<br />
zu steigern. Die erhöhte Aufmerksamkeit ist gewiss<br />
auch auf die von den Genossenschaftsverbänden gestartete Kampagne<br />
„Ein Gewinn für alle“ zurückzuführen. Hier werden Genossenschaften<br />
als regional verankerte und verantwortungsvolle Unternehmen<br />
bekannter gemacht.<br />
Wie erklären Sie sich den Erfolg von Energiegenossenschaften?<br />
Was spricht dafür, bei der regionalen Umsetzung der Energiewende<br />
gerade auf die Rechtsform der Genossenschaft zu setzen?<br />
Ott: Die Bürger haben erkannt, dass sie beim Thema Energie selber<br />
mitgestalten können. Sie wollen die Energiewende nicht nur finanziell<br />
unterstützen, sondern auch aktiv teilhaben und in ihre Region<br />
investieren. Die Genossenschaft ist ein regionales Unternehmen<br />
der Mitglieder, nicht einfach nur eine Anlagemöglichkeit. Anders<br />
als zum Beispiel Fonds fördern Genossenschaften die<br />
regionale Wertschöpfung, indem etwa ortsansässige Handwerksbetriebe<br />
oder Banken eingebunden werden. Die Genossenschaft<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 50
ermöglicht zudem die Nutzung von Dächern öffentlicher Gebäude,<br />
zu denen Privatpersonen keinen Zugang bekämen. Genossenschaften<br />
sind demokratische Unternehmen, d. h. unabhängig vom investierten<br />
Kapital hat jeder nur eine Stimme. Die Beteiligungs- und<br />
Mitbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen fördern die Verantwortung<br />
für das gemeinsame Energieprojekt. Es kann nicht an einen<br />
externen Investor, beispielsweise die Kommune oder ein Energieunternehmen<br />
delegiert oder sogar verkauft werden. Die lokale<br />
Verwurzelung, der hohe Grad an Mitbestimmung und Transparenz<br />
sowie der klare Fokus auf die Mitgliederförderung sind Hauptgründe,<br />
warum es bei genossenschaftlich organisierten Energieprojekten<br />
nur sehr selten zu Akzeptanzproblemen kommt. Die<br />
Menschen sind viel eher bereit, ein Windrad oder eine Biogasanlage<br />
im eigenen Heimatort zu akzeptieren, wenn sie selbst daran<br />
beteiligt sind und nicht ein anonymer Investor profitiert, sondern<br />
die Wertschöpfung in der Region bleibt.<br />
Sehen Sie weitere Bereiche oder Branchen, in denen es ein bisher<br />
ungenutztes Potenzial für die Gründung von Genossenschaften<br />
gibt?<br />
Ott: Die Genossenschaft eignet sich für alle Vorhaben, bei denen<br />
gemeinsam mehr erreicht werden kann. Ihre Potenziale werden<br />
immer stärker auch in anderen Bereichen der regionalen Entwicklung<br />
erkannt und genutzt. Bürger kooperieren bspw. in Genossenschaften,<br />
um im ländlichen Raum durch Einkaufsmöglichkeiten vor<br />
Ort die Nahversorgung mit Waren des täglichen Bedarfs zu sichern,<br />
um Freizeit- und Kultureinrichtungen wie Schwimmbäder oder Kinos<br />
zu erhalten, die die Kommunen nicht mehr finanzieren können,<br />
um qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen für ihre Kinder<br />
zu etablieren oder um in Eigenregie eine flächendeckende Versorgung<br />
mit Breitband-Internet auch in strukturschwachen Räumen<br />
verfügbar zu machen. Lokale Wirtschaftsunternehmen schließen<br />
sich in Genossenschaften zusammen, um zum Beispiel eine gemeinsame<br />
regionale Marke als Qualitätssiegel zu etablieren, um<br />
durch gemeinsame Marketingaktivitäten Standortvorteile für ihre<br />
Stadt oder Region zu erzielen oder um bezahlbare Kinderbetreuungsangebote<br />
für ihre Belegschaften zu organisieren. Ärzte und<br />
Pflegeeinrichtungen kooperieren, um eine flächendeckende und<br />
qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu sichern. Auch<br />
Kommunen und öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser haben<br />
erkannt, dass sich durch genossenschaftliche Kooperation viele<br />
Vorteile, wie zum Beispiel Einsparungen durch gemeinsamen Einkauf,<br />
erzielen lassen. Dies sind nur einige Beispiele für die vielfältigen<br />
Potenziale, die sich Bürgern, Wirtschaft und Kommunen durch<br />
Genossenschaften bieten.<br />
Gibt es nach Ihrer Auffassung mit Blick auf den rechtlichen Rahmen<br />
für Genossenschaften politischen Handlungsbedarf?<br />
Ott: Die Novelle des Genossenschaftsgesetzes in 2006 hat bereits<br />
viele Erleichterungen für die Genossenschaften gebracht, z. B. die<br />
Verringerung der Gründerzahl von sieben auf drei Mitglieder. Mit<br />
Blick auf die jungen und kleinsten Genossenschaften sollten weitere<br />
Erleichterungen bei der Bilanzaufstellung und Veröffentlichung<br />
geschaffen werden. Viel wichtiger für diese Gruppe ist aber,<br />
dass öffentliche Förderprogramme für Existenz- und Unternehmensgründer<br />
derart ausgestaltet werden, dass sie auch von Genossenschaften<br />
genutzt werden können.<br />
Dr. Eckhard Ott, Jg. 1970, Vorstandsvorsitzender Deutscher Genossenschafts- und<br />
Raiffeisenverband e.V. (DGRV)<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 51
Dr. Christian<br />
Bäumler<br />
Energiepolitik und<br />
Subsidiarität<br />
Papst Franziskus sprach bei Antritt seines Pontifikats von der Verantwortung<br />
des Menschen für die Schöpfung und die Bewahrung<br />
der Umwelt. Damit hat der Papst hervorgehoben, dass es der<br />
Katholischen Kirche nicht nur um geistliche und soziale Fragen,<br />
sondern auch um ökologische Fragestellungen gehen muss. Mit<br />
dem Gedanken der Subsidiarität, der 1891 erstmals in dem päpstlichen<br />
Rundschreiben „Rerum Novarum“ in den Rang einer kirchlichen<br />
Doktrin erhoben wurde, hat die Katholische Soziallehre auch<br />
ein Konzept zur Verwirklichung dieser Ziele. Zumindest bei der Umsetzung<br />
und Ausgestaltung der Energiewende kann der Grundsatz<br />
der Subsidiarität ähnliches leisten wie bei der Beantwortung der<br />
sozialen Frage.<br />
Subsidiarität kommt vom lateinischen „Hilfe, Reserve“. Subsidiarität<br />
strebt die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, der Selbstbestimmung<br />
und der Eigenverantwortung an. Gegenüber dem<br />
Staat bedeutet dies, dass die nationale oder europäische Ebene<br />
nicht solche Aufgaben an sich reißen darf, die Initiativen, Vereine,<br />
Genossenschaften oder auch die örtliche Ebene übernehmen können.<br />
Wenn aber diese kleineren Einheiten mit konkreten Aufgaben<br />
überfordert sind, so ergibt sich aus dem Subsidiaritätsgrundsatz<br />
die Verpflichtung der übergeordneten Ebene, sich der Aufgabe anzunehmen,<br />
die Angelegenheit zu übernehmen oder die kleinere<br />
Einheit bei der Erledigung zu unterstützen. Dies bedeutet zum einen,<br />
den Handlungsvorrang der kleineren Einheit, zum anderen die<br />
Unterstützungspflicht der größeren Einheit gegenüber der kleineren.<br />
Subsidiarität hat zwei Seiten.<br />
So verstanden ist Subsidiarität ein grundlegendes Element des ordnungspolitischen<br />
Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft und damit<br />
auch ein Maßstab für den Umbau der Energieversorgung.<br />
Von der zentralen zur dezentralen Energieversorgung<br />
Bis zum Einstieg in die Förderung der erneuerbaren Energien war<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 52
die Energieversorgung zentralistisch ausgerichtet. Die Betreiber<br />
großer Kraftwerke in Deutschland, wie RWE, Eon, EnBw stellten<br />
Energie zu Verfügung. Übertragungsnetzbetreiber wie Tennet sind<br />
für den flächendeckenden Transport zuständig und sorgen zugleich<br />
in geographisch abgegrenzten Regionen für die Stabilität<br />
des Energiesystems. Sie sind auf Grund ihrer Monopolstellung hinsichtlich<br />
des Netzzugangs und der Preisgestaltung staatlich reguliert.<br />
Verteilernetzbetreiber sind für die sogenannte letzte Meile<br />
zum Kunden verantwortlich. Da sie ebenfalls eine Monopolstellung<br />
haben, sind sie ebenfalls staatlich reguliert. Dieses System ist genau<br />
das Gegenteil von Subsidiarität.<br />
Es entspricht dem Subsidiaritätsgrundsatz, wenn sich die Stromversorgung<br />
von den Energiekonzernen zu kommunalen Versorgungsunternehmen,<br />
Energiegenossenschaften, Energielandwirten<br />
und den vielen Bürgern verlagert, die Photovoltaikanlagen installiert<br />
haben. Energieversorgung war immer mehr als eine Dienstleistung,<br />
es ging immer auch um wirtschaftliche und politische<br />
Macht. Je größer der Energieversorger, desto größer die Machtkonzentration.<br />
Dier Aufbau einer dezentralen Energieversorgung in<br />
Deutschland würde den Grundsatz des Vorrangs der kleineren Einheiten,<br />
in der Energieversorgung umsetzen.<br />
Die dezentral organisierten erneuerbaren Energien müssen aber<br />
auch in der Lage sein, eine stabile Energieversorgung zu Preisen zu<br />
gewährleisten, die sich die Mehrheit der Stromkunden auch leisten<br />
kann. Es ist auch eine Frage der Solidarität, die Auswirkungen dieser<br />
Entwicklung auf die Arbeitsplätze in den Gas- und Kohlekraftwerken<br />
im Auge zu behalten. Das unterscheidet die Politik der Christlich-Sozialen<br />
von der Politik der Grünen.<br />
Der Aufbau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen erfordert und<br />
ermöglicht dagegen den Aufbau einer dezentralen Stromversorgung.<br />
Bei einer dezentralen Energieversorgung wird Energie verbrauchernah<br />
erzeugt. Dies bedeutet Stromerzeugung in der Nähe<br />
von Wohngebieten und Industrieanlagen. Im Gegensatz zur zentralen<br />
Stromerzeugung wird elektrische Energie nicht in das Hochspannungsnetz,<br />
sondern in Mittel oder Niederspannungsnetze<br />
eingespeist. Dies ist ein Vorteil, da weniger Übertragungsverluste<br />
stattfinden.<br />
Allerdings erfordert diese dezentrale Energieversorgung dann auch<br />
den Aus- und Umbau dieser Netze. Dabei geht es vor allem auch<br />
um eine intelligente Vernetzung der kleinteiligen Erzeugeranlagen<br />
und der Verbraucher. Die damit verbundenen Investitionen erfordern<br />
im Sinne der Subsidiarität die Unterstützung der übergeordneten<br />
Ebenen bei der Finanzierung und der damit verbundenen<br />
Koordinierung.<br />
Die Grenzen und Möglichkeiten der dezentralen Energieversogung<br />
Eine stabile Energieversorgung zu wettbewerbsfähigen Preisen<br />
ist für die Industrieproduktion in Deutschland und für die Verbraucher<br />
unverzichtbar. Licht ist ein Menschenrecht. Wenn die Sonne<br />
scheint und der Wind weht, sind Windkraftanlagen und Photovoltaikanlagen<br />
konkurrenzlos günstig und drängen Kohle- und Gaskraftweke<br />
aus dem Markt. Wenn dies nicht der Fall ist, sind Kraftwerke<br />
mit fossilen Brennstoffen gegenwärtig unverzichtbar. Ein<br />
Lösungsansatz sind intelligente Verknüpfungen von Windkraftund<br />
Photovoltaikanlagen mit Biomassekraftwerken. Dieser Weg<br />
allein wird die Stromversorgung für ein Hochtechnologieland wie<br />
Deutschland nicht zuverlässig sichern. Auch Pumpspeicherkraftwerke<br />
in Deutschland und die Zusammenarbeit mit den Alpenländern<br />
und Skandinavien werden vorraussichtlich nicht reichen.<br />
Ohne Speichermedien, die auch erhebliche Schwankungen auffangen<br />
können, werden wir in Deutschland nicht in der Lage sein, auf<br />
moderne Kohle- und Gaskraftwerke zu verzichten.<br />
Ein technisch möglicher Ansatz, erneuerbare Energien dezentral zu<br />
einer stabilen Energieversorgung auszubauen, ist „power to gas“.<br />
Im power-to-gas Konzept wird überschüssiger Strom aus Windkraftanlagen<br />
dazu verwendet, Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff<br />
zu zerlegen. Wasserstoff kann als Kraftstoff verwendet oder in<br />
Methan umgewandelt werden. Methan lässt sich in herkömmlichen<br />
Gaskraftwerken einsetzen. In Erdgasleitungen und -speichern<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 53
kann es die Stromversorgung Deutschlands für vier Monate sichern.<br />
Die Kosten für so hergestelltes Methan sind aber gegenwärtig zu<br />
hoch, um sofort auf diese Form der Energieerzeugung umzutellen.<br />
Die Kostenreduzierung bei der Photovoltaik zeigt jedoch, dass die<br />
technologische Entwicklung zu Kostensenkungen führen kann, deren<br />
Ergebnis die Marktfähigkeit einer neuen Form der Energieversorgung<br />
ist. Bis wir dieses Ziel erreicht haben, müssen moderne<br />
Kohlekraftwerke und Gakraftwerke mit Erdgas am Markt gehalten<br />
werden.<br />
Die Verteilung der Kosten nach dem Subsidaritätsgrundsatz<br />
Bisher tragen die Verbraucher, die Stromkunden, die Lasten der<br />
Förderung der erneuerbaren Energien, den Aus- und Umbau der<br />
Stromnetze, das Risiko des Anschlusses der Netze an Windkraftanlagen<br />
auf See, die Bereithaltung von konventionellen Kraftwerken<br />
und die Befreiung energieintensiver Betriebe von Netzentgelten<br />
und EEG Umlage. Dieses Konzept führt bei nicht „befreiten“ mittelständischen<br />
Betrieben und einkommensschwachen Haushalten<br />
zu erheblichen Belastungen. Diese Kosten sollten deshalb von der<br />
größeren Einheit des Steuerzahlers mitgetragen werden.<br />
Dr. Christian Bäumler, Jg. 1965, 1. stellv. Bundesvorsitzender der <strong>CDA</strong> Deutschlands und<br />
<strong>CDA</strong>-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 54
Dr. Markus<br />
Gloe<br />
Parteien „wurzeln (…) mit den<br />
Füßen in der Gesellschaft, reichen<br />
mit dem Kopf aber in den Staat“ –<br />
Parteien und Ehrenamt<br />
Mit diesem Bild von Parteien als Bindeglied zwischen Gesellschaft<br />
und politischen Eliten beschrieb Heinrich Oberreuter, der langjährige<br />
Leiter der Akademie für politische Bildung in Tutzing, die Parteien<br />
(Oberreuter 1990, S. 24). Im Gegensatz zu dieser Metapher<br />
wird dagegen in der medialen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft<br />
in Bezug auf die Diskussion um die Bürgergesellschaft eine<br />
Trennung zwischen Bürgern und Parteien bzw. Bürgern und Staat<br />
gezogen.<br />
Politikverdrossenheit als Parteienverdrossenheit<br />
„Politikverdrossenheit“ als Schlagwort der öffentlichen Diskussion<br />
in den letzten Jahren wird oft als Parteienverdrossenheit oder Politikerverdrossenheit,<br />
also eine Unzufriedenheit mit den führenden<br />
Repräsentanten der Parteien, spezifiziert. Die Vorstellung einer politischen<br />
Klasse, die aus Berufspolitikern besteht, die sich einigeln<br />
und abschotten, den Staat als Selbstbedienungsladen sehen und<br />
lediglich ihre eigenen Interessen befriedigen, befördert eine solche<br />
Parteienverdrossenheit. Durch ihre Immobilität, ihre Starrheit und<br />
Selbstbezogenheit würden sie einer notwendigen Modernisierung<br />
von Staat und Gesellschaft im Wege stehen. Dabei erfolgt die Kritik<br />
nicht nur durch die Medien, sondern auch Politikwissenschaftler<br />
oder führende Persönlichkeiten wie der damalige Bundespräsident<br />
Richard von Weizsäcker kritisieren die Parteien scharf. So warf von<br />
Weizsäcker im Jahr 1992 den Parteien vor, sich nicht mehr um die<br />
Lösung der langfristigen Probleme dieses Landes zu bemühen, sondern<br />
nur noch um den Sieg bei der nächsten Wahl (von Weizsäcker<br />
1992). Die Skepsis, die sich leicht zu Misstrauen bis hin zur Aversion<br />
gegenüber Parteien auswachsen kann, sind aber auch immer noch<br />
durch die historischen Erfahrungen im Kaiserreich und in der Weimarer<br />
Republik bedingt.<br />
Bundesrepublik als Parteiendemokratie<br />
In der „Berliner Resolution zum Ehrenamt“ vom 6. November 1995<br />
heißt es: „Die Qualität einer Demokratie hängt entscheidend davon<br />
ab, ob eine große Zahl von Menschen bereit ist, durch freiwilliges<br />
und unbezahltes Engagement an ihrer Gestaltung mitzuwirken.“<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 55
Ehrenamtliche Tätigkeit in Parteien sowie bei der Ausübung kommunaler<br />
Mandate und Ämter sorgt für mehr Bürgernähe von Staat<br />
und Politik und gibt dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zur Einflussnahme.<br />
Entgegen der vielfach beschworenen Trennung von<br />
Bürgern und Parteien muss daher konstatiert werden, dass die Parteien<br />
in der Bundesrepublik zum überwiegenden Teil als Mitgliederparteien<br />
Teil der Bürgergesellschaft selbst sind.<br />
Die Bundesrepublik wird als „Parteiendemokratie“ bezeichnet. Damit<br />
kommt der besondere Stellenwert der Parteien im politischen<br />
System zum Ausdruck. Sie ist im Grundgesetz fest verankert: „Die<br />
Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“<br />
(Art. 21 Abs. 1 GG). Jedoch sind Parteien kein Selbstzweck und besitzen<br />
keine Ewigkeitsgarantie. Parteien sind gezwungen, sich dem<br />
gesellschaftlichen Wandel anzupassen – und sie tun es. Der ehemalige<br />
CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen<br />
Rüttgers, bezeichnete die Parteien einmal als „Dinosaurier der Demokratie“<br />
(Rüttgers 1992). Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth<br />
stellte bei der Anhörung der Enquete-Kommission des Deutschen<br />
Bundestages „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagement“<br />
fest: „Ohne Parteien ist die Willensbildung auf allen politischen<br />
Ebenen undenkbar – dies trifft auch für die kommunale und regionale<br />
Ebene zu, in der sich bürgerschaftliche Aktivitäten in besonderer<br />
Weise manifestieren.“ (Langguth 2002). Die Politik vor Ort<br />
beschäftigt sich mit den konkreten Lebenssituationen der Menschen.<br />
Und ehrenamtliche Tätigkeit in Parteien sowie die Ausübung<br />
kommunaler Mandate und Ämter sorgen für mehr Bürgernähe<br />
von Staat und Politik und geben der einzelnen Bürgerin und<br />
dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zur Einflussnahme. Ohne<br />
Parteien ist eine Demokratie nicht denkbar, denn unsere freiheitlich-demokratische<br />
Grundordnung lebt von der Mitwirkung der<br />
Bürgerinnen und Bürger!<br />
Eine Krise der Parteien?<br />
Der bei fast allen deutschen Parteien zu beobachtende Mitgliederrückgang<br />
wird von vielen als Krise der Parteien interpretiert. Titel<br />
wie „Die Volksparteien in der Krise“ (Jesse 2006), „Abstieg der Parteiendemokratie“<br />
(Kleinert 2007) oder „Im Herbst der Volksparteien?“<br />
(Walter 2009) zeugen davon. Als Gründe für den Mitgliederrückgang<br />
nennt Langguth beispielsweise das schlechte Image der Parteien,<br />
die Enttäuschung, dass sich ein politisches Engagement nicht wirklich<br />
„lohne“, den Einflussverlust der Parteien durch die veränderten<br />
medialen Rahmenbedingungen oder ein verändertes Partizipationsverhalten<br />
der Bürgerinnen und Bürger (vgl. Langguth 2002). Wissenschaftliche<br />
Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Mitglieder<br />
sich nicht in Parteien engagieren, um ihr eigenes politisches Fortkommen<br />
zu betreiben, sondern um sich für bestimmte politische<br />
Ziele und Inhalte einzusetzen. Dagegen spielt in der öffentlichen<br />
Meinung – befördert durch die Darstellung in den Medien – gerade<br />
diese Vorstellung eine zentrale Rolle. Zudem verschrecken Parteien<br />
auch mögliche Neumitglieder. Denn häufig werden die Partizipationsbemühungen<br />
neuer Mitglieder als störend, auf lokaler Ebene<br />
auch als Gefährdung der bisherigen Machtposition empfunden. Außerdem<br />
erfordert die aktive Mitarbeit in Parteien auch „die Fähigkeit<br />
zur Argumentation und öffentlichen Rede, die Kenntnis grundlegender<br />
politischer Zusammenhänge und Rechte sowie praktische Fähigkeiten<br />
bei der Organisation, Durchführung und gegebenenfalls<br />
Leitung von Versammlungen und Veranstaltungen“ (Klein 2011, S.<br />
40). Zudem stellte die CDU Niedersachsen beispielweise in ihren<br />
„Zehn Thesen zur Volkspartei der Zukunft“, die auf dem Landesparteitag<br />
im August 2010 beschlossen wurden, fest, dass die Ansprüche<br />
an ehrenamtlich engagierte Politiker auf kommunaler Ebene gestiegen<br />
sind. Die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen<br />
seien schwieriger geworden und damit sei es eine besondere Herausforderung,<br />
kommunale Handlungsfelder offen und transparent<br />
zu gestalten (vgl. CDU Niedersachen 2010, S. 4). Dies schreckt manche<br />
Bürgerin und manchen Bürger ab, sich in Parteien zu engagieren.<br />
Es muss auch konstatiert werden, dass die „Krisenerscheinungen“<br />
kein speziell deutsches Phänomen sind, wie manchmal suggeriert<br />
wird.<br />
Dagegen weist der Politikwissenschaftler Spier auf eine dabei oft<br />
übersehene Tatsache hin: „Vergleicht man hingegen die heutigen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 56
Mitgliederzahlen dieser Parteien von rund 1,2 Millionen mit den<br />
rund 0,8 Millionen Mitte der 1950er Jahre, so wird deutlich, dass<br />
die deutschen Volksparteien – noch – mehr Mitglieder als in der<br />
Gründungsphase der Bundesrepublik haben“ (Spier 2011, S. 97).<br />
Parteien sollten jedoch aus den „Krisenerscheinungen“ nicht die<br />
falschen Schlussfolgerungen ziehen und sich nach amerikanischem<br />
Vorbild als „professionalisierte Wählerpartei“ sehen, die<br />
weitgehend auf Parteimitglieder verzichten könnten. Auch wird es<br />
nicht ausreichen, lediglich auf Verbindung zu bzw. Verzahnung mit<br />
so genannten Kollateralorganisationen zu setzen. Kollateralorganisationen<br />
wurden früher oft als politische Vorfeldorganisationen<br />
bezeichnet, treffender sind damit gesellschaftliche Organisationen<br />
gemeint, deren politischen Ziele mit denjenigen einer Partei weitgehend<br />
im Einklang stehen, bspw. Gewerkschaften und SPD oder<br />
katholische Kirche und CDU oder CSU (vgl. Klein u.a. 2010). Sie sollten<br />
als Mitgliederpartei lieber nach Wegen suchen, die Bürgerinnen<br />
und Bürger, die ihnen nahe stehen, aktiv in die Parteiarbeit<br />
einzubinden. Nur so können sie das oben bereits beschriebene Bindeglied<br />
zwischen Gesellschaft und Staat bleiben.<br />
Ehrenamtliches Engagement – auch in Parteien – ist Ausdruck von<br />
Subsidiarität und Solidarität<br />
Gerade die CDU verfügt mit dem Subsidiaritätsprinzip über einen<br />
zentralen Maßstab zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen<br />
Staat und Bürger. In seiner Enzyklika „Quadragesimo Anno“ hatte<br />
Papst Pius XI das Subsidiaritätsprinzip dahingehend konkretisiert,<br />
dass die kleinste Einheit das regeln dürfe und auch solle, was sie alleine<br />
regeln kann. Der Mensch solle die Verantwortung für sich<br />
selbst und sein Umfeld übernehmen. Dafür ist er auch mit den entsprechenden<br />
Fähigkeiten ausgestattet worden. Das Subsidiaritätsprinzip<br />
ergibt sich aus der Achtung vor der Würde des Menschen<br />
und seinem Recht auf Selbstbestimmung. Die Verantwortung soll<br />
dort gelebt werden, wo sie hingehört. So heißt es entsprechend im<br />
Grundsatzprogramm der CDU von 1994: „Was der Bürger allein, in<br />
der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen<br />
ebenso gut leisten kann, soll ihm vorbehalten bleiben. Der Grundsatz<br />
der Subsidiarität gilt auch zwischen kleineren und größeren<br />
Gemeinschaften sowie zwischen freien Verbänden und staatlichen<br />
Einrichtungen. Zur Verpflichtung des Staates und der Gemeinschaft<br />
gehört es, die subsidiäre Aufgabenwahrnehmung zu erleichtern<br />
und zu fördern. Das Prinzip der Subsidiarität verlangt aber<br />
auch, dass die größeren Gemeinschaften, zuletzt auch die staatliche<br />
Ebene, tätig zu werden haben, wenn gesellschaftspolitische<br />
Erfordernisse die Leistungskraft der einzelnen oder der kleineren<br />
Gemeinschaften überfordern.“<br />
Neben dem Subsidiaritätsprinzip zählt auch das Solidaritätsprinzip<br />
zu den Grundpfeilern christlicher Politik. Denn der Mensch ist auch<br />
ein Gemeinwesen. So können die Bürgerinnen und Bürger, wenn<br />
sie ihre Kräfte und Fähigkeiten bündeln, gemeinsame Ziele verwirklichen.<br />
Ehrenamtliches Engagement in Parteien fördert auch<br />
den Kontakt mit anderen, oft mit Menschen, die man sonst nie<br />
kennengelernt hätte.<br />
Ehrenamtliches Engagement – auch in Parteien – ist Ausdruck von<br />
Subsidiarität und Solidarität. Es zählt somit zum Kern christlichdemokratischer<br />
Politik. Auch und gerade deshalb sollten die C-Parteien<br />
besonderes darauf achten, dass in Parteigliederungen das<br />
Subsidiaritäts- und das Solidaritätsprinzip zur Geltung kommen.<br />
Wertschätzung für ehrenamtliches Engagement in Parteien ist unerlässlich<br />
Langguth bezeichnet die Parteien als „Ort bügerschaftlichen Engagements<br />
par excellance“ (Langguth 1992). In seiner Parteienstudie<br />
2009 kommt Spier bei der Frage nach dem Aktivitätsniveau für die<br />
CDU auf 7 %, die sich selbst als „sehr aktiv“ bezeichnen. 20% schätzen<br />
sich selber als „ziemlich aktiv“ ein, 43 % als „wenig aktiv“ und<br />
31 % als „überhaupt nicht aktiv“ – natürlich in dem Bewusstsein,<br />
dass die Befragten in einer Befragungssituation dazu neigen, sich<br />
möglichst gut darzustellen. Im Vergleich zur Parteistudie von 1998<br />
ist der Anteil der überhaupt nicht aktiven Mitglieder um 5% zugunsten<br />
der „ziemlich aktiven“ (+4 %) und der „wenig aktiven“<br />
(+1 %) verschoben (vgl. Spier 2011; S. 98f.). Die Unterschiede zu den<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 57
anderen Parteien sind eher marginal. Ausgenommen die Mitglieder<br />
der Linkspartei: Sie schätzen ihr Aktivitätsniveau deutlich höher<br />
ein.<br />
Die Art und Weise, wie sich die Bürgerinnen und Bürger in die Parteien<br />
einbringen können, ist sehr unterschiedlich: Das reicht vom<br />
bloßen Besuch von Parteiveranstaltungen über Aktivitäten im<br />
Wahlkampf bis hin zur inhaltlichen Mitarbeit an Positionen sowie<br />
zur Übernahme von Parteiämtern. Die ehrenamtlichen Parteimitglieder<br />
leisten jedoch einen unersetzlichen Beitrag für die Parteien.<br />
Sie sorgen zum einen für die politische Mobilisierung. Eine direkte<br />
Ansprache von Menschen durch Menschen zeigt sich immer noch<br />
als nachhaltiger und erfolgreicher als die Darbietung medial aufbereiteter<br />
Informationen. Das Internet, in das große Hoffnungen<br />
gesetzt wurden, kann die direkte Kommunikation ergänzen, aber<br />
nicht ersetzen. Gerade deshalb suchen die Parteien auch den Kontakt<br />
zu wichtigen Multiplikatoren in der Gesellschaft. In Wahlkämpfen<br />
kleben sie Plakate, betreuen Canvassingstände, organisieren<br />
und führen Informationsveranstaltungen durch. All dies<br />
müsste sonst durch die Parteien selbst teuer eingekauft werden.<br />
Zudem benötigen Parteien eine Vielzahl von geeigneten Kandidaten<br />
für die große Anzahl an Mandaten, um die sie in Wahlen ringen:<br />
„Neben 99 Sitzen im Europäischen Parlament und derzeit 598<br />
Sitzen im Bundestag gilt es weiterhin, 1.850 Landtags- und ca.<br />
200.000 Kommunalmandate zu besetzen“ (Klein u.a. 2011, S. 25).<br />
Es bleibt für die Parteien viel zu tun<br />
Befragungen der Bevölkerung zeigen, dass sie sich eine Partei wünschen,<br />
die eine Vielzahl von Mitgliedern integriert und diese große<br />
Mitwirkungs-, Mitsprache- und Beteiligungsrechte haben. Dabei ist<br />
jedoch wichtig, dass sich die Mitsprache- und Beteiligungsrechte<br />
nicht auf Situationen beschränken, die durch inhaltliche oder personelle<br />
Auseinandersetzungen der Parteispitze geprägt sind. Die<br />
konsequente Anwendung des Urwahlprinzips ist gefragt. Neben<br />
den Partizipationsmöglichkeiten sind auch geteilte Wert- und Zielvorstellungen,<br />
inhaltliche Kompetenz und erfolgreiches politisches<br />
Handeln für die Attraktivität der Parteien verantwortlich.<br />
Zum einen muss die politische Bildung im Allgemeinen gefördert<br />
werden. Sie fristet insgesamt in der Bundesrepublik eher ein Schattendasein.<br />
Das Ziel der politischen Bildung ist aber ein mündiger<br />
Bürger, der sich aufgrund seiner Partizipationsbereitschaft aktiv in<br />
die Demokratie und Gesellschaft einbringt.<br />
Zudem müssen die Parteien, vor allem die Volksparteien, sich öffnen,<br />
um attraktiver zu werden, indem sie auf die veränderten Bedürfnisse<br />
und Lebensentwürfe der Bürgerinnen und Bürger reagieren.<br />
Die veränderten Strukturen in der Arbeitswelt sowie häufigere<br />
Wechsel von Wohn- und Arbeitsort machen dauerhaftes<br />
ehrenamtliches Engagement schwierig. Die Parteien müssen neue,<br />
zeitlich begrenzte Partizipationsformen kreieren wie zeitlich begrenzte<br />
Projektgruppen. Schaut man sich in der deutschen Parteienlandschaft<br />
um, finden diejenigen Parteimitglieder, die aus persönlichen,<br />
familiären oder beruflichen Gründen nur sporadisch in<br />
der Partei mitwirken wollen und können, keine passenden Angebote.<br />
Die Parteien müssen sich als Dienstleister sehen, ihre Mitglieder<br />
zu unterstützen, ihnen Informationen sowie Gehör und Einfluss<br />
zu verschaffen.<br />
Viele Parteien haben sich auf den Weg gemacht, den Mitgliedern<br />
größere Mitsprachrechte einzuräumen. Die CDU hat auf ihrem Parteitag<br />
in Karlsruhe 1995 eine konsultative Mitgliederbefragung in<br />
Parteiangelegenheiten eingeführt. Diese kann allerdings nur auf<br />
Beschluss des Bundesvorstandes durchgeführt werden. In den letzten<br />
beiden Jahren konnten zudem Mitglieder über das CDU-interne<br />
Netz auch Änderungsanträge zu den Anträgen zu den CDU-<br />
Parteitagen stellen.<br />
Langguth plädiert auch dafür, dass Parteien stärker die Arbeit von<br />
Bürgerbewegungen und Interessengruppen vor Ort in ihre Arbeit<br />
mit einbeziehen. So lautet seine These: „Bürgerinitiativen und<br />
sonstige Bewegungen können politische Parteien nicht ersetzen.<br />
Beide sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Prinzipiell<br />
sind insbesondere die deutschen Volksparteien in ihren von ihnen<br />
selbst deklarierten Zielen gemeinwohlorientiert, währenddessen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 58
Bürgerinitiativen etc. in der Regel lediglich einzelne – wenn gleich<br />
häufig interessengeleitete – Ziele vertreten. Für die Legitimation<br />
der Parteien wäre es aber verhängnisvoll, wenn sie sich immer<br />
mehr, gestützt vor allem auf die jeweiligen Fraktionen, als ‚Serviceparteien‘<br />
definieren und damit Abschied von einer klassischen Mitgliederpartei<br />
nehmen“. (Langguth 2002).<br />
Parteien müssen sich auch stärker für Menschen mit Migrationsgeschichte<br />
öffnen, sie müssen sie ausdrücklich ansprechen und zu<br />
einem parteipolitischen Engagement ermutigen. In fast allen Parteien<br />
sind Menschen mit Migrationsgeschichte nach wie vor deutlich<br />
unterrepräsentiert. Nur so kann ehrenamtliches Engagement<br />
in Parteien auch einen Beitrag zur Integration leisten.<br />
Die Parteien müssen auch ihre Jugendorganisationen stärken, nur<br />
so kann ehrenamtliches Engagement zum Miteinander der Generationen<br />
beitragen. Für eine Gesellschaft im demografischen Wandel<br />
gehört der Zusammenhalt der Generationen zu den zentralen<br />
Herausforderungen. Die Bildung von Parteien, die sich speziell der<br />
Interessen einzelner Generationen annehmen und die Generationen<br />
damit gegeneinander ausspielen, kann nicht die Lösung sein.<br />
Wie bürgerschaftliches Engagement per se, so wird auch parteipoli -<br />
tisches Engagement vor allem von Menschen mit hohem Bildungsniveau<br />
wahrgenommen. Herkunft, Beruf oder Status sollten jedoch<br />
keine Barriere für ein parteipolitisches Engagement darstellen.<br />
Deshalb sollten die Parteien versuchen, aus möglichst allen Schichten<br />
Parteimitglieder zu gewinnen. Die nötigen Voraussetzungen<br />
sollten in eigenen Schulungen und Fortbildungen vermittelt werden.<br />
Zudem verhelfen Parteimitglieder mit bürgerlichen Berufen<br />
Berufspolitikern dazu, die Beziehung zu den normalen Bürgerinnen<br />
und Bürgern nicht zu verlieren.<br />
Auch die thematischen Schwerpunktsetzungen, die von den Parteien<br />
getroffen werden, dürfen nicht außer Acht gelassen werden.<br />
So ergab beispielsweise die Mitgliederbefragung der CDU Niedersachsen<br />
im Vorfeld ihres Parteitages 2010, dass Frauen vor allem<br />
inhaltlich auf „Bildung / Wissenschaft und Forschung“ (50,4 %),„Fa-<br />
milie“ (46,8 %),„Soziales (36,8 %) und „Gesundheit“ (35,9 %) setzen<br />
würden, während der Fokus der Männer bei <strong>Themen</strong> wie „Finanzen“<br />
(52 %),„Arbeit/ Wirtschaft/ Verkehr“ (47 %),„Bildung/Wissen-<br />
schaft und Forschung“ (35, 7%) und „Innere Sicherheit“ (35,4 %) liegen<br />
(vgl. CDU Niedersachsen 2010, S: 5). Parteien müssen daher<br />
schauen, dass sie inhaltliche Angebote für alle Gruppen machen,<br />
die sie ansprechen und repräsentieren wollen.<br />
Parteien müssen sich für eine Kultur der Verantwortung und des<br />
Mitmachens einsetzen und der ständig wachsenden Anspruchshaltung<br />
und Mitnahmementalität etwas entgegensetzen.<br />
Dr. Markus Gloe, Jg. 1974, Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft,<br />
Universität München, 2010/11 <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsführer<br />
Literatur:<br />
Jesse, Eckhard: Die Volksparteien in der Krise, in: Das Parlament vom 25.9.2006, S. 8.<br />
Klein, Markus u. a.: Warum brauchen Parteien Mitglieder?, in: Spier, Tim u.a. (Hrsg.):<br />
Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 18 –29.<br />
Klein, Markus: Wie sind die Parteien gesellschaftlich verwurzelt?, in: Spier, Tim u.a.<br />
(Hrsg.): Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 39–59.<br />
Kleinert, Hubert: Abstieg der Parteiendemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte<br />
35–36/2007, S. 3–11.<br />
Oberreuter, Heinrich: Politische Parteien. Stellung und Funktion im Verfassungssystem<br />
der Bundesrepublik, in: Mintzel, Alfred/ Oberreuter, Heinrich (Hrsg.): Parteien in der<br />
Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990, S. 15–40.<br />
Rüttgers, Jürgen: Dinosaurier der Demokratie. Wege aus des der Parteienkrise und<br />
Politikverdrossenheit, Hamburg 1992.<br />
Spier, Tim: Wie aktiv sind die Mitglieder der Parteien, in: Spier, Tim u.a. (Hrsg.):<br />
Parteimitglieder in Deutschland, Wiesbaden 2011, S. 97–119.<br />
Walter, Franz: Im Herbst der Volksparteien? Eine kleine Geschichte von Aufstieg und<br />
Rückgang politischer Massenintegration, Bielefeldt 2009.<br />
Von Weizsäcker, Richard: Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann<br />
und Werner A. Perger, Frankfurt am Main 1992.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 59
Rudolf<br />
Seiters<br />
Der Stellenwert des ehrenamtlichen<br />
Engagements im Deutschen<br />
Roten Kreuz und in einer<br />
freiheitlichen, pluralen Gesellschaft<br />
Weltweit engagieren sich mehr als 13,1 Millionen Menschen freiwillig<br />
ehrenamtlich in den 186 Rotkreuz- bzw. Rothalbmondgesellschaften,<br />
in Deutschland immerhin fast 400.000. Addiert man die<br />
3,5 Millionen Fördermitglieder und die mehr als 3 Millionen Blut-,<br />
Sach- und Geldspender noch hinzu, so sind allein für die Rotkreuzaufgaben<br />
in Deutschland gut 8 % der Bevölkerung bürgerschaftlich<br />
engagiert.<br />
Das Deutsche Rote Kreuz zählt damit zu den großen zivilgesellschaftlichen<br />
Akteuren in Deutschland, und ist – nach den Feuerwehren<br />
und den Sportverbänden – eine der mitgliederstärksten<br />
Organisationen in der Bundesrepublik.<br />
Das ehrenamtliche Engagement hat einen sehr hohen Stellenwert<br />
für das DRK, ohne das ehrenamtliche Engagement ist das DRK nicht<br />
denkbar. Freiwilliges, unentgeltliches Engagement gehört zum Wesenskern<br />
unserer Organisation. Schon der Ursprung der weltweiten<br />
Rotkreuzbewegung war durch dieses freiwillige Engagement<br />
gekennzeichnet. Anlässlich der Schlacht von Solferino, 1859, waren<br />
es Freiwillige aus der Umgebung, spontan aktiviert von Henry<br />
Dunant, dem Gründervater des Roten Kreuzes, die uneigennützig<br />
Verwundeten und Verletzten geholfen haben. Heutzutage sind es<br />
ca. 400.000 Bürgerinnen und Bürger, die sich der Idee des Roten<br />
Kreuzes widmen, und zwar auf den aktuellen Schlachtfeldern unserer<br />
Zeit. Neben der – leider immer noch notwendigen – Hilfe für<br />
von kriegerischen Auseinandersetzungen Betroffene, ich denke dabei<br />
an Syrien oder den Sudan, sind dies heutzutage in den allermeisten<br />
Fällen Einsätze bei Katastrophen und größeren Notständen,<br />
beim Rettungsdienst und der Ersten Hilfe, aber auch bei den<br />
vielen Notlagen von Menschen auf den Gebieten des Sozialen, und<br />
schließlich auch viele präventive Tätigkeiten in allen Aufgabenfeldern.<br />
Sie können das, weil wir in Deutschland in einer staatlichen<br />
Verfassung leben, welche auf das Engagement seiner Menschen<br />
baut. Ohne die ca. 210.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer<br />
des DRK, die sich explizit im Zivil- und Katastrophenschutz engagieren,<br />
könnten die Standards im Bevölkerungsschutz in Deutsch-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 60
land nicht aufrecht erhalten werden; ohne die 60.000 Ehrenamtlichen<br />
der Wasserwacht gäbe es noch mehr Ertrinkungstodesfälle<br />
und viel zu wenig bewachte Badeplätze; ohne der ehrenamtliche<br />
Bergwacht könnte eine Rettung aus unwegsamen Gelände oder<br />
aus Seilbahnen nicht erfolgen; ohne die ca. 40.000 ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Wohlfahrts- und Sozialarbeit<br />
gäbe es noch mehr Einsamkeit und Trostlosigkeit unter älteren<br />
Mitbürgern, oder weniger Spaß und Freude in Kindergärten.<br />
Schließlich lernen die ca. 110.000 Kinder und Jugendlichen im Jugendrotkreuz<br />
frühzeitig die Erste Hilfe und sorgen in Schulen für<br />
den Schulsanitätsdienst. Der Beispiele gäbe es noch reichlich mehr.<br />
Es sind aber nicht nur die Menschen, die operativ auf zahlreichen<br />
Feldern tätig sind, wichtig sind auch die mehr als 40.000 Funktionsträger,<br />
die in Vorständen und Präsidien die Vereine leiten und<br />
führen. Das Ehren amt ist konstitutiv für das DRK, dies spiegelt sich<br />
in den Satzungen und Ordnungen des Verbandes der mehr als<br />
5000 Rotkreuzvereine bzw. dem Bayerischen Roten Kreuz in der<br />
Rechtsform der öffentlichen Körperschaft. Die Gestaltung der verbandspolitischen<br />
Grundlagen und Strategien obliegt den ehrenamtlich<br />
besetzen Organen auf allen Verbandsstufen.<br />
Im DRK sind auch ca. 100.000 haupt- und nebenberuflich Tätige<br />
engagiert und die allermeisten von ihnen sind mit ebenso großem<br />
Herzblut bei der Sache wie die Ehrenamtlichen. Dennoch, den<br />
Unterschied machen die Ehrenamtlichen, denn sie erbringen ihre<br />
Leistungen zusätzlich zu Familie und Beruf.<br />
Seit gut 15 Jahren hat auch die Politik das Engagement der Bürgerinnen<br />
und Bürger (wieder)-entdeckt. Vor 10 Jahren wurde das Ergebnis<br />
der Enquetekommission „Bürgerschaftliches Engagement“<br />
dem Bundestag vorgelegt, vor 2 Jahren beschloss die Bundesregierung<br />
eine „Nationale Engagementstrategie“. Das freiwillige Engagement<br />
genießt zweifellos eine viel größere Aufmerksamkeit als<br />
noch vor 15 bis 20 Jahren. Sicherlich spiegelt sich darin auch die<br />
Entwicklung in unserer Gesellschaft, in der sich Engagement nicht<br />
mehr wie von selbst versteht. Ehemals starke Milieus, wie Kirchengemeinden,<br />
Gewerkschaften und Vereine, verlieren an Bindungskraft,<br />
die Einstellungen der Menschen haben sich verändert. Es<br />
geht beim Einsatz für die Gesellschaft nicht mehr um tradierte<br />
„Ehrenämter“, sondern um bewusste Engagement-Entscheidungen<br />
aus persönlicher Motivation und Identifikation. Unser Staatswesen<br />
bietet für freiwilliges Engagement, für ehrenamtliche Betätigung<br />
eine sehr gute Grundlage, da es auf Solidarität, Freiheit und<br />
Verantwortung gründet. Zumindest ein gutes Drittel der Bundesbürgerinnen<br />
und Bürger – glaubt man dem Freiwilligensurvey der<br />
Bundesregierung – nehmen sich die Freiheit, sich zusätzlich zu Familie<br />
und Beruf zu engagieren, weil sie im Grundsatz davon überzeugt<br />
sind, das ihr eigenes Leben erst durch ein gelingendes Miteinander<br />
zur Erfüllung kommt. Ich kann dieses Engagement auch als<br />
gelebte Subsidiarität beschreiben. Subsidiarität, ein Prinzip, welches<br />
sich bis in die Zeit nach der Reformation zurückverfolgen lässt,<br />
aber erst im Zuge der industriellen Revolution Eingang in die Kirchen-<br />
und Staatslehre fand. Heutzutage gilt Subsidiarität in ganz<br />
Europa als „Common Sense“: Was Bürgerinnen und Bürger oder<br />
Kommunen für sich regeln können, das sollen sie auch selbst regeln,<br />
bevor eine höhere Ebene sich ihren Problemen annimmt. Im<br />
deutschen aber auch im europäischen Verfassungsrecht ist dies<br />
verankert. Man muss aber darauf achten, in der Debatte um Ehrenamt<br />
und Engagement nicht ausschließlich auf den so genannten<br />
Dritten Sektor zu schauen, der vermeintlich als Einziger die Qualität<br />
einer Bürgergesellschaft bestimmt und hervorbringt. Ich bin der<br />
Auffassung, dass erst die gelingende Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft<br />
(Dritter Sektor), Staat und Markt die Qualität der Bürgergesellschaft<br />
bestimmt. Erst im Zusammenspiel dieser drei Sektoren,<br />
die miteinander interagieren und viele Nahtstellen zueinander<br />
ausbilden, entsteht die „bürgerschaftliche Qualität“ einer Gesellschaft.<br />
Weiterhin: Ehrenamt, die freiwillige Übernahme von gemeinwohlorientierten<br />
Aufgaben, das bürgerschaftliche Engagement, ist ein<br />
Engagement für die Gesellschaft insgesamt und nicht vorrangig<br />
für den Staat und seine Behörden. Der Staat ist nicht die Gesellschaft;<br />
die Gesellschaft bildet den Staat und bedient sich seiner,<br />
um gesellschaftliche Normen festzulegen und zu realisieren. Der<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 61
Staat bzw. seine Institutionen dienen deshalb keineswegs dazu,<br />
gesellschaftliche Wertschöpfung (z. B. aus bürgerschaftlichem Engagement)<br />
als ihr ureigenstes Prinzip zu vereinnahmen. Vielmehr<br />
müssen sie – als „Servicestelle der Gesellschaft“ – dafür sorgen,<br />
dass dem gesellschaftlichen Willen (z. B. nach bürgerschaftlichem<br />
Engagement) entsprechende Rahmenbedingungen zugute kommen.<br />
Es gibt Stimmen, die davor warnen, der Staat sei angeblich<br />
dabei, die Bürgergesellschaft nur deshalb so hoch zu loben, weil er<br />
ein Alibi für seinen Rückzug aus seiner Verantwortung benötigt.<br />
Die Versuchung, Ehrenamt und Engagement als Entlastung für<br />
Markt und Staat zu funktionalisieren, mag groß sein. Ich denke<br />
aber, angesichts der vier großen gesellschaftlichen Herausforderungen<br />
– das Zuwendungsbedürfnis einer älter werdenden Gesellschaft,<br />
das Nachlassen gesellschaftlicher und religiöser Bindekräfte,<br />
die Integration von Menschen mit Migrationsgeschichte<br />
und die zum Teil Besorgnis erregenden Lebens- und Bildungsbedin -<br />
gungen von Kindern und Jugendlichen – braucht es eine, mög -<br />
licher weise neue, abgestimmte Geschäftsgrundlage, wer was, angesichts<br />
dieser Herausforderungen, zu tun gedenkt bzw., wer was<br />
dabei am besten kann. Im Bereich des Marketing spricht man gerne<br />
vom Alleinstellungsmerkmal eines Produktes, oder einer Leistung.<br />
Im übertragenen Sinne kann man es auch auf drei Sektoren anwenden.<br />
Das USP (Unique Selling Proposition), das Alleinstellungsmerkmal<br />
des Staates ist die Gesetzgebung, der Staat hat an allererster<br />
Stelle die Aufgabe, Rahmenbedingungen für das Zusammenleben<br />
zu schaffen. Das USP des Marktes, der Wirtschaft, ist die<br />
Wertschöpfung, der Markt trägt zum (finanziellen) Reichtum eines<br />
Staates, gemessen an Arbeitsplätzen und verfügbaren Geld, bei.<br />
Aber nur die Zivilgesellschaft ist in der Lage, das Quantum an Engagement,<br />
an (Nächsten)-Liebe zu produzieren, was für die Bewältigung<br />
gesellschaftlicher, sozialer und humanitärer Aufgaben<br />
erforderlich ist. Das USP, das Alleinstellungsmerkmal der Zivilgesellschaft,<br />
das ist die Freiheit des Einzelnen, sich zusammen mit<br />
anderen für eine bessere Zukunft für alle zu engagieren.<br />
Es wäre daher gut, wenn sich Staat, Markt und Zivilgesellschaft, jeder<br />
mit seinen jeweiligen Stärken, gemeinsam um die großen gesellschaftlichen<br />
Herausforderungen bemühen würden, und somit<br />
auch das Ehrenamt, das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürgerinnen<br />
und Bürger, in seiner Rolle in einer freiheitlichen, demokratischen<br />
Gesellschaft zu Geltung kommt.<br />
Dr. rer. pol. h.c. Rudolf Seiters, Jg. 1937, Bundesminister a. D. und ehemaliger Vizepräsident<br />
des Deutschen Bundestags, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK)<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 62
Gespräch<br />
Licht ins Dunkel<br />
des Schuhkartons bringen<br />
Die einen verstehen ihren ALG-II-Bescheid nicht, andere stöhnen<br />
unter der Last von Zuzahlungen für Medikamente und wieder andere<br />
haben Probleme mit ihrem Rentenantrag. Bei der Sozialberatung<br />
von Joachim Specht und Michael Rother finden sie Hilfe: Hilfe<br />
zur Selbsthilfe.<br />
„Manchmal kommen die Leute einfach mit einem Schuhkarton<br />
voller ungeöffneter Briefe von Ämtern zu uns“, sagt Michael Rother.<br />
Und wenn sie den Weg zu ihm und Joachim Specht finden, läuft es<br />
noch gut. Dann können Rother und Specht mit den Betroffenen in<br />
Ruhe die Post durchgehen, Tipps geben, weiterhelfen. „Es gibt aber<br />
auch Menschen, die die Briefe direkt in die blaue Papiertonne werfen.“<br />
Joachim Specht und Michael Rother, der Vorsitzende der <strong>CDA</strong> in<br />
Treptow-Köpenick und sein Vize, bieten seit rund zehn Jahren in ihrem<br />
Bezirk eine Sozialberatung an – ehrenamtlich. Wer etwa seinen<br />
Bescheid für das Arbeitslosengeld II nicht versteht oder Probleme<br />
mit der Krankenkasse hat, findet dort Unterstützung. „Dabei wollen<br />
wir vor allem Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, sagt Rother. So erklären<br />
er und Joachim Specht den Bürgern, wie sie ihre Rechte geltend<br />
machen können, wo sie weiterführende Informationen bekommen<br />
und in welchen Fällen es Sinn macht, vor das Sozialgericht zu ziehen.<br />
Da war zum Beispiel die Frau, die Geld ans Jobcenter zurückzahlen<br />
sollte. Sie hatte Fahrkostenerstattung bekommen – Geld, das ihr<br />
„on top“ zustand, zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld II als Aufstockerin.<br />
Immerhin um mehr als 400 Euro ging es. Den Betrag<br />
hatte sie längst ausgegeben, als das Jobcenter ihn zurückverlangte.<br />
„Vor dem Gericht hat sie Recht bekommen – und das Jobcenter<br />
wurde geradezu gerüffelt“, erinnert sich Specht.<br />
Fälle, die mit dem Sozialgesetzbuch II und damit dem Arbeitslosengeld<br />
II zu tun haben – den Begriff „Hartz IV“ meiden Rother und<br />
Specht – bilden den Schwerpunkt der Beratungstätigkeit. Dass zu<br />
dem Thema so viele Menschen Rat suchen, führen die beiden<br />
<strong>CDA</strong>’ler auch auf die gesetzlichen Grundlagen zu tun. „Das Gesetz<br />
war handwerklich schlecht gemacht“, sagt Rother. Auch die vielen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 63
Klagen und Rundschreiben der Bundesagentur für Arbeit zeugten<br />
davon.<br />
Auslöser dafür, die Sozialberatung aufzubauen, war indes ein gesundheitspolitischer<br />
Kompromiss zwischen Ulla Schmidt und<br />
Horst Seehofer im Jahr 2002 – mit höheren Zuzahlungen für chronisch<br />
Kranke. „Da hat sich jemand an mich gewandt, weil er wusste,<br />
dass ich etwas mit der CDU zu tun habe“, sagt Joachim Specht. Der<br />
Mann habe verzweifelt bei ihm auf der Terrasse gesessen. Da sei<br />
ihm klar geworden, wie hilflos viele Bürger seien – und dann habe<br />
er die Sozialberatung aufgebaut, zusammen mit Michael Rother.<br />
„Unser Ziel war und ist, uns konkret um die Menschen zu kümmern<br />
– und das Feld nicht den Linken zu überlassen“, so Specht. Inzwischen<br />
biete man die Beratung an zwei verschiedenen Orten in Treptow-Köpenick<br />
an – als <strong>CDA</strong>. Doch die parteipolitische Profilierung<br />
steht nicht im Mittelpunkt. „Das kommt bei uns im Kiez nicht an“,<br />
weiß auch Michael Rother aus Erfahrung. Entscheidend sei Ehrlichkeit.<br />
Dazu gehöre auch, den Menschen zu sagen, was nicht gehe.<br />
Joachim Specht und Michael Rother zehren bei ihrer Beratung auch<br />
von ihrem beruflichen, gewerkschaftlichen und politischen Background.<br />
So gehört Joachim Specht seit vielen Jahren dem <strong>CDA</strong>-<br />
Bundesvorstand an und gilt dort als Fachmann für Arbeitsmarktpolitik.<br />
Und noch aus seiner Studentenzeit und seinem Engagement<br />
beim RCDS kennt er viele prominente Politiker. Michael<br />
Rother hat war von 1992 bis 2005 beim Deutschen Gewerkschaftsbund<br />
tätig, hat dort mit Ulf Fink, Regina Görner und Ingrid Sehrbrock<br />
zusammengearbeitet. Heute ist er unter anderem Bezirksverordneter<br />
in Treptow-Köpenick und Vorsitzender des Beirats<br />
beim örtlichen Jobcenter.<br />
Gelegentlich sind es auch nur ganz kleine Weichenstellungen, für<br />
die sich die Experten aus der Sozialberatung stark machen. So sind<br />
mitunter Informationen aus dem Bundesarchiv erforderlich, um<br />
Rentenbiografien rekonstruieren zu können. Doch die Auskünfte<br />
kosten Geld – meist um die 100 Euro. Joachim Specht: „Das ist für<br />
die Betroffenen ein hoher Betrag. Deshalb trete ich dafür ein, dass<br />
man für Auskünfte in sozialen Angelegenheiten nicht zahlen<br />
muss.“<br />
So machen Rother und Specht weiter: Sie streiten für eine bessere<br />
Politik. Und sie leisten konkret Hilfe zur Selbsthilfe – ganz im Zeichen<br />
der Subsidiarität.<br />
Mit Joachim Specht und Michael Rother sprach Martin Kamp.<br />
Aus vielen ihrer Fälle leiten sie auch politische Forderungen ab. So<br />
kritisiert Michael Rother die großen Unterschiede bei den Vermögensfreigrenzen<br />
für Bezieher von Arbeitslosengeld II einerseits und<br />
Empfänger von Grundsicherung im Alter andererseits. „Da haben<br />
sie mühsam etwas zusammengespart und tasten es auch als Empfänger<br />
von Arbeitslosengeld II nicht an – und wenn sie Grundsicherung<br />
im Alter bekommen, müssen sie fast alles verbrauchen“, sagt<br />
Rother.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 64
Hans-Joachim<br />
Schneider<br />
Ehrenamt in der Selbsthilfe<br />
Ein Erfahrungsbericht<br />
Ehrenamtliches Engagement ist eine wichtige Grundlage für die<br />
Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips in vielen Bereichen unserer<br />
Gesellschaft. Ein Paradebeispiel dafür ist die Selbsthilfe im Gesundheitsbereich:<br />
Hier engagieren und vernetzen sich vor allem Menschen,<br />
die selbst von seltenen oder chronischen Krankheiten betroffen<br />
sind. Meist ohne hauptamtliche Strukturen helfen sie sich<br />
gegenseitig, tauschen Erfahrungen aus und stehen einander mit<br />
Rat und Tat zur Seite. Ihre Gruppen sind in der Regel auf lokaler<br />
oder regionaler Ebene organisiert.<br />
Die 100.000 Selbsthilfegruppen finden in Deutschland viel Unterstützung.<br />
Beratung bieten ihnen 280 Selbsthilfekontaktstellen<br />
bundesweit, die meist in Trägerschaft von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden<br />
stehen. Hilfe kommt auch von der Rentenversicherung<br />
oder Initiativen von Bund, Ländern oder Kommunen. Nach<br />
§ 20c des SGB V fördern die Krankenkassen Selbsthilfegruppen und<br />
–organisationen sowie die Selbsthilfekontaktstellen finanziell.<br />
Qualität und Quantität der „Arbeit vor Ort“, in den Gesprächsgruppen<br />
und Arbeitskreisen, bleiben aber abhängig vom Engagement<br />
der Ehrenamtler.<br />
Auch mein Weg in die Selbsthilfearbeit führte über die Diagnose<br />
einer schweren Krankheit, der Schlafapnoe. Ich habe gelernt, damit<br />
zu leben, und wollte anderen dabei helfen, mit dieser tückischen<br />
Krankheit zurechtzukommen. Als Gründer und Betreuer mehrerer<br />
Selbsthilfegruppen möchte ich Mut machen, sich der Schlafapnoe<br />
ohne Angst zu stellen.<br />
Ich habe meine „Schlaf-Beschwerden“ zunächst auf Stress zurückgeführt<br />
und mir nichts weiter dabei gedacht. Ein wenig geschnarcht<br />
hatte ich schließlich schon länger. Allerdings fiel mir<br />
langsam selber auf, dass ich ständig müde und gereizt war, mich<br />
unwohl fühlte. Das wirkte sich auf meinen Arbeitsalltag aus: Ärger<br />
im Kollegenkreis, Müdigkeit mitten am Tag und Konzentrationsstörungen<br />
wurden meine ständigen Begleiter. Das Autofahren<br />
wurde zum Stress: Ich baute drei „Beinahe-Unfälle“ durch Sekun-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 65
denschlaf – und benötigte einmal für 100 Kilometer fast zwei Stunden,<br />
weil ich eine Schlafpause einlegen musste. Aus Angst<br />
schränkte ich das Autofahren so stark ein wie möglich.<br />
Erst im Januar 2001 ging ich zum Hausarzt. Der tippte auf Burn-<br />
Out – oder eine Schlafapnoe. Zwei Wochen später saß ich in der<br />
Praxis eines Lungenfacharztes. Er gab mir ein merkwürdiges Gerät<br />
mit nach Hause, das ich nachts im Schlaf „aufsetzen“ solle. Die Auswertung<br />
der nächtlichen Messungen brachte dann die oben genannte<br />
Diagnose.<br />
Von Anfang an wollte ich mich meiner Krankheit offensiv stellen.<br />
Doch das war gar nicht so einfach: Es war zum Beispiel schwierig,<br />
schnell einen Platz im Schlaflabor zu bekommen. Mit Glück, Geschick<br />
und Hartnäckigkeit ergatterte ich eine Untersuchung im<br />
Schlaflabor in Kirchen an der Sieg. Dort diagnostizierte man bei<br />
mir eine Schlafapnoe mit 73 Stillständen pro Stunde und dem<br />
längsten Aussetzer von 97 Sekunden.<br />
Selbsthilfe der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und<br />
Schlafmedizin (DGSM) engagiert.<br />
2003 gründete ich mit einigen Leidensgenossen die Selbsthilfegruppe<br />
Schlafapnoe Mainz-Bingen. Zuerst waren wir nur 15; nach<br />
wenigen Monaten schon 90. Wir starteten bald ein Präventionsprojekt<br />
mit der AOK und eine Vortragsreihe mit insgesamt 2.000<br />
Zuhörern. 2005 wurde mir und einigen Mitstreitern der Preis SOM-<br />
NUS der Zeitschrift „Schlafmagazin“ verliehen.<br />
Selbsthilfe heißt Ehrenamt, und ehrenamtliche Arbeit macht Spaß.<br />
Das liegt zum Beispiel daran, dass sie so vielfältig ist. Das zeigt ein<br />
Blick auf meine Aufgaben in der Schlafapnoe-Selbsthilfe auf regionaler<br />
und überregionaler Ebene: Ich habe Info-Broschüren entwickelt,<br />
zum Beispiel über den Sekundenschlaf, Schlafstörungen bei<br />
Schichtarbeit oder bei Kindern. Das Heftchen „Schnarchen – lästige<br />
Störung oder ernsthafte Erkrankung?“ wurde mittlerweile in einer<br />
Auflage von 30.000 Exemplaren herausgegeben.<br />
Drei Monate später begann die „Continuous positive airwave pressure“<br />
(CPAP)-Therapie. Dabei wird dem Patienten nachts im Schlaf<br />
von einem kleinen Gerät über eine Maske Atemluft in leichtem<br />
Überdruck zugeführt. Das lindert die Atemaussetzer. Schon nach<br />
einer Nacht fühlte ich mich wie neugeboren. Müdigkeit und Anspannung<br />
waren verflogen. Ich konnte wieder ohne Schlafpause<br />
Auto fahren und lange Unterhaltungen führen.<br />
Im Februar 2003 entdeckte ich einen Veranstaltungshinweis zu einem<br />
Gruppenabend einer Schlafapnoe-Selbsthilfegruppe in Alzey<br />
– und ging einfach mal hin. Schon bald darauf wurde ich zum stellvertretenden<br />
Vorsitzender des Bundesverbandes Schlafapnoe<br />
Deutschlands (BSD) gewählt – obwohl ich noch fast ein Neuling<br />
war. Dafür hatte ich aber einige nützliche Erfahrungen aus meiner<br />
beruflichen Tätigkeit in der Politik zu bieten. Die habe ich dann vor<br />
allem in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eingebracht. Im<br />
Januar 2004 übernahm ich dann die Aufgabe, den BSD als Vorsitzender<br />
zu führen. Gleichzeitig habe ich mich in der Kommission<br />
Das tägliche Brot der Selbsthilfe und der Verbandsarbeit war und<br />
ist das Gespräch mit Krankenkassen und Politikern. Oft ging es darum,<br />
Menschen ganz konkret zu helfen, beispielsweise bei Problemen<br />
mit Leistungserbringern oder Krankenkassen. Patientenanfragen<br />
aus ganz Deutschland haben uns erreicht.<br />
Die Vorsitze in BSD und der Selbsthilfegruppe musste ich 2008 aufgegeben:<br />
Es ließ sich mit meinem Job einfach nicht mehr vereinbaren.<br />
Der Selbsthilfe bin ich immer noch treu geblieben. Beratend<br />
unterstütze ich die Selbsthilfegruppe in Mainz und den Allgemeinen<br />
Verband chronische Schlafstörungen Deutschlands (AVSD). Im<br />
Mai 2012 hat mich mein Beruf nach Berlin verschlagen. Selbstverständlich<br />
will ich auch hier helfen, eine neue Gruppe zu gründen.<br />
Internet-Link: www.avsd.eu (Allgemeiner Verband chronische<br />
Schlaf störungen Deutschlands e. V. (AVSD))<br />
Hans-Joachim Schneider, Jg. 1954, <strong>CDA</strong>-Hauptgeschäftsstelle, Selbsthilfe Schlafapnoe<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 66
Bernd<br />
Schulze-<br />
Waltrup<br />
Von Möglichkeiten und Nöten<br />
eines Kreistagsabgeordneten<br />
Ein kommunalpolitisches Amt zu übernehmen, hat wohl für jede/n<br />
unterschiedliche Gründe. Warum macht man das? Diese Frage<br />
muss jede/r Abgeordnete für sich beantworten. Meine eigene war<br />
und ist: Ich möchte die Gesellschaft in Stadt und Kreis meiner Heimat<br />
mitgestalten. Mag es auch abgedroschen klingen: Das ist immer<br />
noch der Kern, auf dessen Basis ich mich oft mehrmals in der<br />
Woche neu motiviere, nach der Arbeit an Sitzungen, Versammlungen,<br />
Bürgergesprächen oder anderen im weitesten Sinne politische<br />
Terminen teilzunehmen.<br />
Die <strong>Themen</strong> sind dabei erst einmal vorgegeben. Sie ergeben sich<br />
aus den gesetzlichen Aufgaben einer Kreisverwaltung bzw. eines<br />
Kreistages. Als untere staatliche Aufsichtsbehörde etwa im Bereich<br />
Umweltschutz, Straßenverkehr oder im Gesundheitsamt muss die<br />
Verwaltung in der Aufgabenwahrnehmung im Wesentlichen begleitet<br />
werden. Hier ist der Einfluss des Kreistages und damit jedes<br />
einzelnen Mitgliedes eher begrenzt.<br />
Politisches Arbeiten im Korsett von Gesetzen und Vorschriften<br />
Dennoch: Unterschätzen darf man diese Tätigkeit nicht. Oft ist im<br />
Rahmen der Gesetze ein Auslegungsspielraum vorgesehen; viele<br />
kennen das etwa aus der Bauleitplanung. Genauso wie im Flächennutzungs-<br />
oder Bebauungsplan gestalterische Möglichkeiten bestehen,<br />
kann etwa in der Landschaftsplanung der Schwerpunkt<br />
entweder auf den Naturschutz oder den Landschaftsschutz gelegt<br />
werden. Für den Laien mag das kaum einen Unterschied machen.<br />
Doch daran wird deutlich, dass von den Abgeordneten ein hohes<br />
Maß an Sachkompetenz erwartet wird. Denn einen Einfluss auf die<br />
konkreten inhaltlichen Festlegungen in einem Landschaftsplan<br />
kann ich als Abgeordneter nur dann nehmen, wenn ich zum einen<br />
den Planungsraum genau kenne. Und wenn ich zum anderen die<br />
planerischen, gesetzlichen und ökologischen Notwendigkeiten<br />
beurteilen, abwägen und – falls nötig auch detailliert – in meine<br />
Position einbeziehen kann. Ansonsten bleibt nur das „Abnicken“<br />
der Vorgaben der Verwaltung. Und das honorieren die Bürgerinnen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 67
und Bürger auf Dauer nicht – selbst wenn es im Einzelfall noch<br />
funktioniert.<br />
Den persönlichen Gestaltungsspielraum muss sich ein/e Abgeordnete/r<br />
wirklich erarbeiten. Denn Abgeordnete bringen zwar oft<br />
Sachkompetenz in bestimmten Bereichen mit, aber sie können<br />
nicht immer nur in den Ausschüssen mitarbeiten, in denen sie<br />
diese anwenden können. Oft bekommen die Abgeordneten zusätzliche<br />
Ausschüsse zugeteilt – zu <strong>Themen</strong>gebieten, auf denen diese<br />
bisher nicht zu Hause waren. Das bedeutet, dass man sich in neue<br />
<strong>Themen</strong> einarbeiten muss. Konkret muss ein Kommunalpolitiker<br />
dann die gesetzlichen Bestimmungen studieren, aber vor allem<br />
auch die regionalen Strukturen kennenlernen. Das sieht man am<br />
Beispiel Rettungsdienst: Da muss man die Aufgaben von Feuerwehr<br />
und Notärzten genauso verstehen wie die komplexen Finanzierungsströme<br />
durch Krankenkassen oder die Gebührensatzungen.<br />
Wichtig ist vor allem der persönliche Kontakt mit den Beteiligten.<br />
Nur im persönlichen Gespräch bekommt man das nötige Verständnis<br />
für das Thema und kann eine ausgewogene Entscheidung treffen.<br />
So muss der oder die Abgeordnete z. B. bei einem Landschaftsplan<br />
mit den Landwirten, den Anglern und Jägern sprechen – aber<br />
auch mit den Umweltverbänden wie BUND oder dem Naturschutzbund.<br />
Alle diese Gruppen haben berechtigte Interessen, die es in<br />
den Entscheidungsfindungsprozess einzubinden gilt. In diese Gespräche<br />
sollte der oder die Abgeordnete mit Fachkompetenz gehen,<br />
damit er dem jeweiligen Gegenüber auch Paroli bieten kann.<br />
Denn im politischen Diskurs erhält meist nie eine „Seite“ zu 100<br />
Prozent Zustimmung. Stattdessen muss fast immer ein Kompromiss<br />
erarbeitet werden, der jeder „Seite“ Zugeständnisse abverlangt.<br />
Politisches Gestalten durch Sachkenntnis vor Ort<br />
In den Politikbereichen, in denen man sich auskennt, kann man viel<br />
erreichen. Das gelingt am besten, wenn man das Gespräch mit Bürgerinnen<br />
und Bürgern sucht – und sie einbindet.<br />
Lebenslanges Lernen ist eine Forderung, die in der Bildungspolitik<br />
immer stärker in den Blick rückt. Für eine Wahlperiode einer/s Abgeordneten<br />
gilt dies ganz besonders. Nicht nur die lokalen Strukturen<br />
und die Menschen verändern sich und stellen neue Anforderungen.<br />
Auch die Gesetze und Verordnungen werden ständig weiterentwickelt.<br />
Da müssen europäische Vorgaben umgesetzt werden,<br />
oder es ergehen Gerichtsurteile, die eine andere Handhabung<br />
vor Ort zur Folge haben. Für die Politik bedeutet dies, den Veränderungsprozess<br />
zu begleiten und als Vermittler zwischen Bürgerinnen<br />
und Bürgern und der Verwaltung aufzutreten.<br />
Gestalten mit den Menschen in den vorhandenen Strukturen – das<br />
ist Politik<br />
Den Menschen ist oft nicht bewusst, dass in der Entscheidungsfindung<br />
die vorhandenen Strukturen eine wesentliche Rolle spielen.<br />
In der aktuellen Schulpolitik z. B. haben die einzelnen Kommunen<br />
ein hohes Eigeninteresse, die Schulen in ihrer Stadt oder Gemeinde<br />
auf Dauer zu sichern. Dabei wird oft nicht über die Stadtgrenze geschaut.<br />
Eine Schulentwicklung endet aber gerade im ländlichen<br />
Raum nicht an der Stadtgrenze. Die Eltern entscheiden oft nach<br />
der Qualität, dem Angebot oder auch nur dem Ruf der Schule. Und<br />
die Schülerinnen und Schüler gehen nicht selten in der Nachbarkommune<br />
zur Schule. Sich bei sinkenden Schülerzahlen für oder<br />
gegen eine Schule zu entscheiden oder eine neue Schulform zu<br />
wählen, hat viele Facetten, die für die Städte und Gemeinden im<br />
ländlichen Raum konkrete Zukunftsfragen sind. Eine einfache<br />
Lösung liegt deshalb eben nicht auf der Hand.<br />
Die Politik wird ja oft in Bausch und Bogen kritisiert. Viele glauben,<br />
Politik sei generell unfähig, richtige Entscheidungen zu treffen. Dabei<br />
wird gerade auf kommunaler Ebene viel und intensiv diskutiert<br />
– und zwar auf der Basis von Argumenten. Und genau das ist Politik:<br />
das Zusammentragen von Meinungen aus der Bevölkerung,<br />
um zur besten Lösung zu kommen.<br />
Barrieren – Haushalt und Bürokratie<br />
Die kommunale Ebene wird aber nicht so mit Kompetenzen und<br />
vor allem nicht mit den Finanzen ausgestattet, wie es sein müsste.<br />
Die bundes- und landesgesetzlichen Vorgaben werden meist ohne<br />
die kommunale Ebene entschieden. Die Umsetzung und dann oft<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 68
auch die Finanzierung ist aber Sache von Rat und Kreistag. Die Lokalpolitiker<br />
müssen dafür Mittel zur Verfügung stellen und dann<br />
auch noch rechtfertigen, weshalb sie anderes dann eben nicht umsetzen<br />
können. Der Begriff der Konnexität ist eine viel zu technokratische<br />
Umschreibung für die einfache Forderung: Wer die Musik<br />
bestellt, muss auch dafür bezahlen.<br />
Darum wird es immer wichtiger, auch andere Wege für die Realisierung<br />
von guten Ideen und Projekten zu finden. Vor Ort bilden<br />
sich z. B. Bürger-Stiftungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben,<br />
dort einzuspringen, wo der Staat nicht mehr finanzieren kann.<br />
Auch die Tafeln sind ein gutes Beispiel für Hilfe zur Selbsthilfe:<br />
Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden dürfen, werden an<br />
Menschen gegeben, die sich vieles nicht mehr leisten können. Das<br />
ist ein Weg der Gesellschaft, andere Lösungen zu finden. Hier helfen<br />
Menschen Menschen.<br />
Und wenn der Staat nicht an jeder Stelle die Lösung bieten kann,<br />
dann ist das auch nicht immer negativ zu sehen. Die Verantwortung<br />
liegt nicht nur bei „der“ Verwaltung, „der“ Politik oder „dem“<br />
Staat. Sie liegt bei uns allen. Oft sind es die kleinen Ideen, die Auswege<br />
eröffnen. So kann der Staat nicht jede Initiative mit Fördermitteln<br />
unterstützen. Wenn sich aber Menschen etwa zu einem<br />
Förderverein zusammenschließen, der eine unabhängige psychosoziale<br />
Krebsberatungsstelle unterstützen will, dann kann der<br />
Kreistag eine Anschubfinanzierung geben. Die Selbsthilfe, die Subsidiarität<br />
unterstützen, kann die Impulse aus der Bürgerschaft vielleicht<br />
sogar verstärken.<br />
Dass die lokale Ebene nicht mit den nötigen Finanzmitteln ausgestattet<br />
wird, ist aber nur die eine Seite der Belastung. Immer stärker<br />
sind es auch die Vorschriften, die auf Landes- und Bundesebene geschaffen<br />
werden, die in Städten, Gemeinden und Kreisen zu mehr<br />
Personal, mehr Bürokratie und damit zu mehr Kosten führen. Die<br />
Umsetzung von neuen Brandschutzvorschriften führt zu mehr Personal,<br />
das alleine aus dem kommunalen Haushalt finanziert werden<br />
muss. Und wenn der öffentliche Nahverkehr per Gesetz bis<br />
zum Jahr 2020 barrierefrei sein soll, dann müssen für diese Vorschriften<br />
auch Mittel bereitstehen, aus denen das bezahlt werden<br />
soll. Und dies sind nur zwei Beispiele aus einer Vielzahl von Vorschriften<br />
zu Lasten der Kommunen. Auf Dauer müssen die Gesetze,<br />
Vorschriften und Verordnungen aber wieder vor Ort finanziell realisierbar<br />
sein.<br />
Nach all diesen Betrachtungen kann es deshalb nur eine Forderung<br />
geben:<br />
Die kommunale Ebene muss in Politik und Gesetzgebung wieder<br />
eine zentrale Rolle spielen.<br />
Bernd Schulze-Waltrup, Jg. 1966, Mitglied des Kreistages Paderborn und des <strong>CDA</strong>-Bundesvorstandes<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 69
Stefanie<br />
Wahl<br />
Wenn immer mehr stiften gehen<br />
Die Bedeutung von Stiftungen in der Zivilgesellschaft<br />
Dass materiell wohlhabende Menschen Geld dauerhaft für gemeinnützige<br />
Zwecke stiften und damit zum Wohl der Gesellschaft<br />
beitragen, hat in Deutschland eine lange Tradition. Bereits im<br />
Mittel alter wurden zahlreiche soziale und kirchliche Stiftungen<br />
gegrün det, von denen einige, wie die Bürgerspitalstiftung im bayerischen<br />
Wemding oder die Augsburger Fuggerei, heute noch bestehen.<br />
Die meisten Stifter hofften, durch Mildtätigkeit und Übertragung<br />
von Vermögen an die Kirche das Wohlgefallen Gottes zu<br />
erlangen und das Andenken an sie selbst lebendig zu halten. Im 19.<br />
Jahrhundert kam es zu einer deutlichen Zunahme von Stiftungen,<br />
als Vertreter des Bürgertums oft weit vor dem Staat soziale Verantwortung<br />
übernahmen und wie die Bodelschwinghsche Stiftung<br />
Bethel institutionelle Hilfe für Kranke, Behinderte und arme Menschen<br />
zur Verfügung stellten. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg<br />
wurden viele Stiftungen liquidiert. Nach den Kriegen gab es kaum<br />
Neugründungen. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahm<br />
das Stiftungswesen abermals einen Aufschwung, der bis heute anhält.<br />
Stiftungsboom vor allem im Westen Deutschlands<br />
Allein von 1989 bis 2011 erhöhte sich die Zahl der beim Bundesverband<br />
deutscher Stiftungen erfassten rechtsfähigen Stiftungen von<br />
knapp 5.000 auf knapp 19.000. Hinzu kommen heute ca. 300 Unternehmensstiftungen<br />
und geschätzte 30.000 bis 80.000 nicht<br />
rechtsfähige Stiftungen, deren Stiftungsvermögen von einem Treuhänder<br />
verwaltet wird. Besonders dynamisch verlief die Entwicklung<br />
im Westen Deutschlands und hier vor allem im Münsterland,<br />
im Rheinland, der Region Hannover, im Raum Frankfurt und in den<br />
Großstädten Hamburg, München und Stuttgart. Stiftungshauptstadt<br />
ist derzeit Würzburg, wo 76 Stiftungen auf 100.000 Einwohner<br />
kommen. Im Osten Deutschlands ist die Stiftungsdichte hingegen<br />
deutlich geringer. Vergleichsweise viele Stiftungen gibt es lediglich<br />
in Potsdam und Dresden mit 31 bzw. 21 Stiftungen pro<br />
100.000 Einwohnern.<br />
Der Stiftungsboom der zurückliegenden zehn Jahre ist allerdings<br />
weniger auf die Zunahme von Stiftungen von natürlichen Perso-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 70
nen, das heißt klassischen Stiftern, zurückzuführen, sondern von<br />
Unternehmen, Vereinen und öffentlichen Körperschaften wie<br />
Theatern und Museen, die auf diese Weise zusätzliche Mittel für<br />
ihre Zwecke gewinnen und ihren Förderern die steuerlichen Vorteile<br />
von Stiftungen zukommen lassen wollen. Der Wunsch, sich<br />
ein Denkmal zu setzen, spielt heute für viele Stifter eine untergeordnete<br />
Rolle. 40 Prozent der Stiftungen tragen nicht den Namen<br />
ihres Gründers. Die meisten Stifter wollen hier und heute gestalten<br />
und der Gesellschaft in Form von Geld, Zeit, Erfahrungen und Kontakten<br />
etwas zurückgeben. Viele, bei weitem aber nicht alle der<br />
heutigen Stifter, sind vermögend. Ein Fünftel der Stifter besitzt ein<br />
Privatvermögen von weniger als 250.000 Euro.<br />
Stiftungen als Fortschrittsmotor<br />
Mit einem erfassten Vermögen der zehn größten rechtsfähigen<br />
Stiftungen von knapp 2,7 Milliarden Euro und Ausgaben von knapp<br />
800 Millionen Euro können Stiftungen kaum einen Bruchteil staatlicher<br />
Aktivitäten übernehmen. Sie können jedoch die Staatstätigkeit<br />
sinnvoll ergänzen. Vor allem aber sind sie ein geeignetes Mittel,<br />
privaten Wohlstand für öffentliche Aufgaben zu nutzen. Der gesellschaftliche<br />
Zusammenhalt wird dadurch auf doppelte Weise<br />
gestärkt: Zum einen durch die Mehrung des Gemeinwohls, zum<br />
anderen dadurch, dass die Einkommenskluft verringert wird, indem<br />
Wohlhabende freiwillig einen Teil ihres Einkommens weniger<br />
Wohlhabenden zur Verfügung stellen. Letzterer Aspekt gewinnt in<br />
Zeiten zunehmender Einkommensspreizung an Gewicht.<br />
Aufgrund ihrer finanziellen und personellen Unabhängigkeit sind<br />
Stiftungen wie kaum eine andere Institution aber auch in der Lage,<br />
neue kontroverse <strong>Themen</strong> aufzugreifen sowie unbequeme Lösungen<br />
für Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu entwickeln und<br />
damit die Gesellschaft zu erneuern. Indem Stiftungen Experimente<br />
in Form von Modellvorhaben wagen, Foren zum Austausch neuer<br />
Ideen bieten oder Brücken zwischen Wissenschaft und Politik<br />
schlagen, können sie wertvolle Anregungen für künftiges gesellschaftliches<br />
und politisches Handeln liefern.<br />
Die Bandbreite der Aktivitäten von Stiftungen reicht vom Betrieb<br />
sozialer Einrichtungen über die Vergabe von Forschungsstipendien<br />
bis zur operativen Umsetzung von Reformprojekten und zur Förderung<br />
freiwilligen Engagements. Letzteres ist seit 2007 als steuerlich<br />
begünstigter gemeinnütziger Zweck anerkannt. Eine besondere<br />
Form dieses neuen Engagements sind die so genannten Bürgerstiftungen.<br />
Als Stiftung von Bürgern für Bürger setzen sie sich<br />
fördernd und operativ für das lokale Gemeinwohl ein. Dabei stellen<br />
sie nicht nur Geld, sondern in Form von 345.000 ehrenamtlich geleisteten<br />
jährlichen Stunden auch Zeit zur Verfügung. Bürgerstiftungen<br />
sind hervorragend geeignet, gesellschaftliche Probleme<br />
aufzuspüren und für sie bürgernahe, praktikable Lösungen zu entwickeln.<br />
Bedeutung von Stiftungen wird künftig zunehmen (müssen)<br />
Genau hierin dürften Stiftungen künftig noch stärker gefordert<br />
werden. Denn zunehmende Umwelt- und Ressourcengrenzen, verschärfter<br />
internationaler Wettbewerb, demographischer Wandel,<br />
sich ausbreitende postmaterielle Sicht- und Verhaltensweisen sowie<br />
Schuldenbremsen sprechen dafür, dass der materielle Wohlstand<br />
in Deutschland und anderen früh industrialisierten Ländern<br />
künftig stagnieren oder sogar sinken wird. Damit dies in materiell<br />
fokussierten Gesellschaften wie der deutschen nicht zu sozialen<br />
Spannungen und Unruhen führt, müssen zum einen die weitgehend<br />
auf Materielles verengten Sicht- und Verhaltensweisen um<br />
immaterielle Wohlstandsaspekte erweitert und ökologisch, gesellschaftlich<br />
und finanziell nachhaltigere Wirtschafts- und Lebensformen<br />
entwickelt werden. Zum anderen muss der gesellschaft -<br />
liche Zusammenhalt künftig sehr viel stärker von den Bürgern<br />
gewährleistet werden. Bürgerschaftlichem Engagement, insbesondere<br />
den Stiftungen, kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung<br />
zu. Sie müssen nicht nur in sehr viel größerem Umfang als<br />
früher Aufgaben übernehmen, die der Staat aufgrund begrenzter<br />
öffentlicher Mittel nicht mehr erfüllen kann, sondern auch für den<br />
anstehenden Wandel hin zu nachhaltigen Lebensweisen innovative<br />
Lösungen entwickeln und die Bürger hierfür zu gewinnen suchen.<br />
Und schließlich können Stifter mit hohen Einkommen und<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 71
Vermögen selbst zum sozialen Frieden beitragen, indem sie für die<br />
Gesellschaft sichtbar etwas von dem materiellen Wohlstand zurückgeben,<br />
den sie häufig mit gesellschaftlicher Hilfe erworben<br />
haben. Gerade von ihrem bürgerschaftlichem und vor allem auch<br />
finanziellen Engagement wird künftig die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher<br />
Funktionsfähigkeit maßgeblich abhängen. Wenn<br />
künftig die materielle Leistungsfähigkeit breiter Bevölkerungsschichten<br />
sowie des Staates sinkt, müssen öffentliche Schwimmbäder,<br />
Parks, Sportplätze, Opernhäuser oder begabte Studenten<br />
aus einkommensschwachen Familien von denjenigen gefördert<br />
werden, die hierzu über die Zahlung staatlicher Steuern und Abgaben<br />
hinaus fähig sind.<br />
Mehr Aufklärung über die Aktivitäten von Stiftungen erforderlich<br />
Um dies zu erreichen, müssen noch mehr Menschen Teile ihres Vermögens<br />
stiften. Voraussetzung hierfür ist eine bessere Kenntnis<br />
über die Aktivitäten von Stiftungen und die Möglichkeiten, Stiftungen<br />
zu gründen. Denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung<br />
hat Umfragen zufolge lediglich eine diffuse Vorstellung<br />
von Stiftungen in Deutschland. Nur 27 Prozent der Menschen meinen,<br />
dass Stiftungen hauptsächlich der Allgemeinheit dienen. 83<br />
Prozent hatten bisher keinen Kontakt mit Stiftungen. Nicht einmal<br />
jeder zweite Bürger weiß, dass grundsätzlich jeder eine Stiftung<br />
gründen kann. Deshalb müssen Stiftungen die Bevölkerung intensiver<br />
über ihre gemeinwohlorientierten Aktivitäten, aber auch über<br />
die Personen, die sie tragen, aufklären. Daneben besteht aber auch<br />
Forschungsbedarf. Klärungsbedürftig ist beispielsweise, inwieweit<br />
Stiftungen wirklich zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen<br />
und wie effizient sie dabei sind oder inwieweit sie helfen,<br />
brachliegendes bürgerschaftliches Engagement zu aktivieren.<br />
Neue finanzielle Herausforderungen für Stiftungen<br />
Der rückläufige materielle Wohlstand der öffentlichen und privaten<br />
Hand wirkt sich auch auf die Stiftungen selbst aus. Anders als<br />
in der Vergangenheit, als das Stiftungsvermögen wachsende Erträge<br />
abwarf, aus denen immer mehr Stiftungsaktivitäten bestritten<br />
werden konnten, dürften mit rückläufigem Wirtschaftswachstum<br />
auch die Vermögenserträge sinken. Um die gewünschten Aktivitäten<br />
aufrecht zu erhalten, dürften viele Stiftungen gezwungen<br />
sein, auf das Vermögen zurückzugreifen und damit zu Verbrauchsstiftungen<br />
zu werden. Dies ist jedoch kein Grund, auf Aktivitäten<br />
oder die Gründung einer Stiftung zu verzichten. Denn die wichtigsten<br />
Beweggründe für die Gründung einer Stiftung, nämlich ein<br />
Problem zu lösen, eine Institution zu erhalten oder ein soziales Anliegen<br />
zu verwirklichen, bleiben davon unberührt. Gleiches gilt für<br />
die hohe persönliche Zufriedenheit, die Stifter aus dem Wissen, anderen<br />
zu helfen und zum Gemeinwohl beizutragen, im Gegensatz<br />
zu der reinen Befriedigung persönlicher Konsumwünsche ziehen.<br />
Bringschuld des Staates<br />
Damit Stiftungen ihre wachsende Rolle unter Bedingungen stagnierenden<br />
bzw. sinkenden materiellen Wohlstands erfüllen<br />
können, muss darüber hinaus der Staat anerkennen, dass bürgerschaftliches<br />
Handeln – exekutiert oder unterstützt von Stiftungen<br />
–, im anstehenden Übergang zu nachhaltigen Wirtschafts- und<br />
Lebensweisen seinem Handeln vielfach überlegen ist. Deshalb<br />
muss er den Bürgern und zivilgesellschaftlichen Institutionen wie<br />
Stiftungen zum Beispiel in den Bereichen Bildung und Erziehung,<br />
gesellschaftliche Integration oder Stadtplanung Aufgaben übertragen,<br />
die er in der Vergangenheit unter Missachtung des Subsidiaritätsprinzips<br />
an sich gezogen hat. Darüber hinaus darf er staatliche<br />
Institutionen im Bereich gesellschaftlicher Aktivitäten nicht<br />
bevorzugen. Zudem muss er bürokratische Hemmnisse abbauen.<br />
Ferner muss er privaten Institutionen, die sich für das Gemeinwohl<br />
einsetzen, in der Öffentlichkeit mehr Anerkennung zollen. Nur so<br />
ist es möglich, dass sinkender materieller Wohlstand nicht zu einer<br />
Staats-, sondern zu einer subsidiären Bürgergesellschaft führt, in<br />
der privater materieller Wohlstand bestmöglich für öffentliche Aufgaben<br />
erschlossen wird.<br />
Stefanie Wahl, Jg. 1951, Geschäftsführerin des Denkwerks Zukunft, Bonn<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 72
Elmar<br />
Brok<br />
Europa und Subsidiarität<br />
An wohl kaum einer anderen Stelle spielt der Begriff der Subsidiarität<br />
heute so eine prominente Rolle wie in der Europapolitik. Die<br />
Subsidiarität war von Anfang an Baustein der europäischen Integration.<br />
Christdemokratische Gründerväter wie Konrad Adenauer,<br />
Alcide De Gasperi und Robert Schuman erlebten die schlimmen<br />
Auswüchse extrem zentralisierter Regime in Europa. Die Wiederherstellung<br />
der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit der<br />
Bürger in ihren vom Krieg zerrütteten Ländern konnte nur durch<br />
einen dauerhaften Frieden und Solidarität zwischen den Völkern<br />
Europas erreicht werden. Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität<br />
mit der Errichtung einer supranationalen Struktur zur Unterstützung<br />
von wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu fördern, war<br />
dabei ein grundsätzlich subsidiärer (also helfender, unterstützender)<br />
Ansatz. In diesem Geiste wurde auch der Vertrag über die<br />
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl entworfen,<br />
wo es im Artikel 5 heiβt, dass die Gemeinschaft begrenzt<br />
eingreift und das Handeln der Beteiligten erhellt und erleichtert.<br />
Subsidiarität als Leitfaden der europäischen Integration<br />
Erst 1992, im Vertrag von Maastricht, wurde das Subsidiaritätsprinzip<br />
als grundlegendes rechtliches Strukturprinzip der Europäischen<br />
Union (EU) kodifiziert. Mittlerweile muss die Europäische Kommission<br />
bei jeder gesetzgeberischen Initiative die Subsidiarität und<br />
Verhältnismäβigkeit ihres Handelns verantworten. Im Vertrag von<br />
Lissabon (VEU, Artikel 5) lautet die genaue Definition des Prinzips<br />
wie folgt:<br />
„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen,<br />
die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern<br />
und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von<br />
den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder<br />
lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr<br />
wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene<br />
besser zu verwirklichen sind.“<br />
Zweck dieses ordnungspolitischen Leitfadens ist die Transparenz<br />
und Bürgernähe der Politik zu gewährleisten. Bürger sollen vor un-<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 73
nötigem und ineffizientem politischen Zentralismus geschützt<br />
werden. Das bedeutet, dass Entscheidungen möglichst lokal getroffen<br />
werden sollten, dort wo Bürger und Vereine sich direkt an<br />
der Politik beteiligen können. Dennoch stellt das Subsidiaritätsprinzip<br />
auch die Weichen für die Fälle, wo die lokale Ebene überfordert<br />
ist und wo regionales, nationales oder europäisches Auftreten<br />
gefordert ist.<br />
Jacques Delors, der von 1985 bis 1995 an der Spitze der Europäischen<br />
Kommission stand und der seine Karriere in der französischen<br />
christlichen Arbeiterjugend und der christdemokratischen Partei<br />
MRP von Robert Schuman begann 17 , hat diese doppelte Bedeutung<br />
der Subsidiarität auf den Punkt gebracht. Die Subsidiarität, die die<br />
Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Ebenen der politischen<br />
Macht regelt, „ist nicht nur eine Begrenzung des Eingreifens<br />
einer höheren Autorität gegenüber eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft,<br />
die beide in der Lage sind, selbst zu handeln. Es ist<br />
auch eine Verpflichtung für diese Autorität, gegenüber dieser Person<br />
oder dieser Gemeinschaft zu handeln, um ihr die Mittel zur<br />
Selbstverwirklichung zu reichen.“ 18<br />
Stärkung der Subsidiaritätskontrollen<br />
Um die manchmal komplizierte Abgrenzung zwischen Bereichen<br />
geteilter Zuständigkeit der EU und der Mitgliedsstaaten transparenter<br />
und präziser zu regeln, verleiht der Vertrag von Lissabon den<br />
nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten ein Kontrollrecht.<br />
Das sogenannte Subsidiaritätsprotokoll verpflichtet die Europäische<br />
Kommission, den nationalen Parlamenten und den Unionsgesetzgebern<br />
gleichzeitig ihre Gesetzesentwürfe zuzuleiten. Neben<br />
dieser präventiven Kontrollmöglichkeit haben nationale<br />
Parlamente das Recht einer Subsidiaritätsklage nach Abschluss des<br />
Gesetzgebungsverfahrens. Die doppelte Subsidiaritätskontrolle<br />
hat für den deutschen Bundesrat den besonderen Vorteil, dass er<br />
als zweite Kammer des Parlaments voll von diesen gestärkten<br />
Rechten profitieren kann. Damit ist eine alte Forderung der Bundesländer<br />
erfüllt.<br />
Jedes nationale Parlament bekommt zwei Stimmen und jede Parlamentskammer<br />
kann eine begründete Stellungnahme einreichen.<br />
Sofern ein Drittel der nationalen Parlamente und Kammern eine<br />
begründete Stellungnahme mit einer Subsidiaritätsrüge übermittelt,<br />
bekommt die Europäische Kommission eine sogenannte<br />
„gelbe Karte“ und muss sie den Entwurf überprüfen. 19 Wird eine<br />
einfache Mehrheit der Stimmen der nationalen Parlamente und<br />
Kammern erreicht und gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren<br />
für den Rechtsakt, bekommt die Europäische Kommission eine<br />
„rote Karte“. Will sie dennoch an ihrem Entwurf festhalten, so hat<br />
sie dies in einer begründeten Stellungnahme darzulegen, die dann<br />
zusammen mit den Stellungnahmen der nationalen Parlamente<br />
den Unionsgesetzgebern übermittelt wird. Wenn 55 % der Stimmen<br />
im Rat oder die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im<br />
Europäischen Parlament der Ansicht sind, dass das Subsidiaritätsprinzip<br />
verletzt ist, wird der Gesetzgebungsvorschlag nicht weiter<br />
geprüft.<br />
Das Verfahren der Subsidiaritätsrüge ist kein toter Buchstabe geblieben.<br />
Als die Europäische Kommission am 21. März 2012 ihren<br />
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Ausübung des<br />
Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext<br />
der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (die sogenannte<br />
„Monti II-Verordnung“) veröffentlichte, präsentierten innerhalb<br />
von acht Wochen 12 Parlamente (insgesamt 19 Stimmen) ihre Vorbehalte.<br />
20 Die Befürchtung, die auch von den europäischen Gewerkschaften<br />
geäuβert wurde, war dass der Vorschlag eine Einschränkung<br />
des Streikrechtes bewirken würde. 21 Das Streikrecht<br />
unterliegt jedoch der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Am<br />
12. September 2012 beschloss die Europäische Kommission ihren<br />
Vorschlag, zurück zu ziehen.<br />
Subsidiarität und die politische Union<br />
Subsidiarität ist mehr als ein Wert oder ein rechtliches Ordnungsprinzip,<br />
sondern auch ein grundlegendes politisches Handlungsprinzip<br />
der europäischen Christdemokratie. Das Subsidiaritätsprinzip<br />
ermöglicht es, den Wunsch nach tieferer europäischer Inte -<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 74
gration oder mehr europäischer Solidarität mit individueller Ver -<br />
antwortung und Selbstverwirklichung der menschlichen Person,<br />
der Familie und der autonomen Strukturen der Zivilgesellschaft in<br />
Einklang zu bringen. Im neuen Grundsatzprogramm der EVP, das<br />
während des Bukarester EVP-Kongresses im Oktober 2012 beschlossen<br />
wurde, wird dieses Gleichgewicht betont:<br />
„Es ergibt sich aus der zunehmenden Vernetzung unserer Gesellschaften<br />
und Volkswirtschaften, dass europäisches Handeln nicht<br />
nur dazu erforderlich ist, einen Binnenmarkt und eine Rechtsgemeinschaft<br />
zu schaffen, sondern auch um Freiheit, Chancengleichheit, Solidarität<br />
und Nachhaltigkeit zu stärken, wo der Nationalstaat allein<br />
nicht mehr in der Lage ist, dies vollständig zu sichern. Aber die Europäische<br />
Union muss sich, nach dem Prinzip der Subsidiarität, selbst<br />
auf jene Aufgaben beschränken, die nur unzureichend auf den unteren<br />
Ebenen und gleichzeitig besser auf europäischer Ebene behandelt<br />
werden können. Eine schlanke Europäische Union beruht auf einer<br />
Selbstverwaltung durch lokale und regionale Behörden sowie der<br />
Identität und der Rolle der Nationalstaaten. Die Europäische Union<br />
ist kein Staat, sondern arbeitet mit Instrumenten einer föderalen<br />
Union in jenen Politikbereichen, in denen sie die Kompetenzen der<br />
Mitgliedsstaaten erhalten hat.“ 22<br />
Ziel der europäischen Integration darf kein zentralisierter europäischer<br />
Superstaat sein. Wir brauchen eine erwachsene und handlungsfähige<br />
politische Union, die die vielen grenzüberschreitenden<br />
Herausforderungen der Wirtschaft, der Forschung, der Migration,<br />
des Klimawandels, der organisierten Kriminalität oder der Energiesicherheit<br />
entschieden entgegnen kann. Diese Fragen kann der Nationalstaat<br />
nicht länger alleine meistern. Es bedarf in vielen Bereichen<br />
mehr gemeinsamer europäischer Politik, zum Beispiel in der<br />
Transportpolitik oder der Auβen- und Verteidigungspolitik. In manchen<br />
Bereichen droht jedoch auch zu viel europäische Steuerung,<br />
wie zum Beispiel in der Agrarpolitik. Das Subsidiaritätsprinzip bildet<br />
den Maβstab, an dem die Europapolitik sich orientieren sollte.<br />
Damit die europäischen Bürger das europäische Projekt weiterhin<br />
tragen, gehört der institutionelle Aufbau der EU natürlich noch<br />
transparenter und demokratischer gestaltet. Ein föderales System<br />
kann eine bürgernahe und ausbalancierte Europäische Union am<br />
besten garantieren. Die Europäische Kommission soll in diesem<br />
Rahmen als „europäische Regierung“ mit voller Verantwortung gegenüber<br />
zwei Kammern – Parlament und Rat – alle Kompetenzen<br />
ausüben, die auf der Ebene der EU besser und effizienter ausgeübt<br />
werden können. Die drei Institutionen sollen dabei ein Initiativrecht<br />
erhalten, flankiert von dem europäischen Bürgerbegehren.<br />
Der Europäische Gerichtshof als oberstes Gericht achtet dann anhand<br />
des Subsidiaritätsprinzips auf die Einhaltung des Gleichgewichts<br />
zwischen den verschiedenen politischen Handlungsebenen.<br />
In einem föderalen Europa darf die europäische Identität keinem<br />
Bürger aufgedrängt werden. Sie muss von unten wachsen und<br />
kann sich nur langsam aufbauen. Sie steht keinesfalls im Gegensatz<br />
zu den historisch gewachsenen nationalen, regionalen oder<br />
lokalen Identitäten, sondern ist komplementär.<br />
Subsidiarität und Soziale Marktwirtschaft in Europa<br />
Das politische und soziale Handlungsprinzip der Subsidiarität ist<br />
einer der wichtigsten Punkte, in denen die europäischen Christdemokraten<br />
sich von anderen politischen Kräften unterscheiden. Es<br />
zeigt den Mittelweg zwischen sozialistischer Planwirtschaft und<br />
neoliberalem Marktfundamentalismus. Dieser Mittelweg manifestiert<br />
sich eindeutig im wirtschaftlichen und sozialen Ordnungskonzept<br />
der Sozialen Marktwirtschaft. Die Europäische Union bezeichnet<br />
die „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft,<br />
die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“<br />
(AEUV-Vertrag, Artikel 3) nunmehr seit Dezember 2009 – vor allem<br />
dank der jahrelangen Arbeit der christdemokratischen Verteidiger<br />
des „Rheinland-Kapitalismus“ – als ihr vertraglich verankertes wirtschaftliches<br />
und gesellschaftliches Modell.<br />
Eine Vernachlässigung der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft<br />
– vor allem im globalen Finzansektor – führte zu der schwersten<br />
finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Krise im Europa der<br />
Nachkriegszeit. Der Ruf nach mehr europäischer Solidarität für die<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 75
notleidende Bevölkerung in den am härtesten getroffenen Staaten<br />
erscheint gerade aus christlich-sozialer Perspektive berechtigt.<br />
Doch sollte gesunde Solidarität immer in Zusammenhang mit Subsidiarität<br />
erfolgen. Das heiβt, dass jede politische Handlungsebene<br />
Eigenverantwortung trägt, fiskalische Solidität zu handhaben, gemeinsame<br />
Regeln zu beachten, und die notwendigen Strukturreformen<br />
durchzuführen. Wer dieses Engagement zeigt, dem soll von<br />
der Solidargemeinschaft unter die Arme gegriffen werden.<br />
So basieren die europäischen Solidaritätsmechanismen (wie z. B.<br />
der europäische Rettungsschirm ESM oder die Rettungspakete für<br />
Griechenland, Irland, Portugal, Zypern und die spanischen Banken)<br />
jeweils auf rechtlich verbindlichen Bedingungen. Eine Vergemeinschaftung<br />
der Schulden, wie sie etwa von Sozialisten und (europäischen)<br />
Liberalen gefordert wird, verstöβt gegen die Subsidiarität,<br />
da Mitgliedsstaaten auf die Weise die Eigenverantwortung für ihre<br />
Finanzpolitik verlieren. Gemeinsame Euro-Anleihen könnten allenfalls<br />
der Schlussstein der Neustrukturierung der Europäischen<br />
Wirtschafts- und Währungsunion sein, sobald die Einhaltung und<br />
Durchsetzung der Regeln in allen Mitgliedsstaaten astrein gewährleistet<br />
ist. Vertrauen und Solidarität gedeiht im Nährboden der<br />
Rechtssicherheit und der Verantwortung.<br />
europäischen Wahlkampf energisch zu verteidigen. Beide Pfeiler<br />
müssen sich an der Subsidiarität orientieren. Die Subsidiarität ordnet<br />
die Zuständigkeiten der verschieden Handlungsebenen ein<br />
und wahrt das Gleichgewicht zwischen unseren gemeinsamen<br />
Werten. So, und nicht anders, schaffen wir ein Europa im Dienste<br />
der europäischen Bürger.<br />
Elmar Brok, Jg. 1946, MdEP, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten<br />
des Europäischen Parlamentes und Präsident der EU<strong>CDA</strong><br />
17 Schneider, Heinrich. 2011. Jacques Delors: Mensch und Methode, Reihe Politikwissenschaft<br />
73, Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, Seite 4.<br />
18 Rede des Kommissionspräsidenten Jacques Delors am Europäischen Institut für<br />
Öffentliche Verwaltung in Maastricht, 21 März 1991: Das Prinzip der Subsidiarität.<br />
(Le principe de subsidiarité – Originaltext französisch)<br />
19 Wenn der Gesetzesentwurf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
betrifft, reichen ein Viertel der Stimmen.<br />
20 Texte und Stellungnahmen der nationalen Parlamente werden zusammengeführt<br />
auf dem IPEX-Webportal („Interparliamentary EU Information Exchange“):<br />
www.ipex.eu<br />
21 Siehe auch DGB-Pressemitteilung vom 21. März 2012: Monti II muss geändert<br />
werden – Streikrecht darf nicht angetastet werden.<br />
http://www.dgb.de/presse/++co++ 21770262-7431-11e1-5122-00188b4dc422<br />
22 EVP-Grundsatzprogramm, Seite 30<br />
Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft in Europa beinhaltet<br />
zugleich die Aufgabe, dieses Modell der Wettbewerbsfähigkeit und<br />
der sozialen Gerechtigkeit weltweit auszutragen. Was helfen die<br />
strengsten europäischen Regeln für den Finanzsektor, wenn dieser<br />
weltweit aufgestellt ist und sich die Spekulation mit spielender<br />
Leichtigkeit in andere Kontinente verlagert? Was helfen offene<br />
europäische Märkte, wenn Staaten wie China oder Russland ihre<br />
strategischen Branchen abschirmen. Es ist wichtig, dass die europäischen<br />
Mitgliedsstaaten <strong>Themen</strong> wie die Finanzmarktregulierung<br />
oder Marktöffnung gemeinsam angehen in internationalen<br />
Gremien wie der G20 oder dem IWF.<br />
Für die Europäische Volkspartei (EVP) gilt es, den Weg der Sozialen<br />
Marktwirtschaft und der europäischen Integration im kommenden<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 76
Peter<br />
Weiss<br />
Subsidiarität und internationale<br />
Verantwortung<br />
Vor 50 Jahren tagte das Zweite Vatikanische Konzil. Eine der wichtigsten<br />
Konzilsbeschlüsse ist die Pastoralkonstitution Gaudium et<br />
Spes (Freude und Hoffnung). In ihr heißt es: „Das Konzil fordert die<br />
Christen ... auf, nach treuer Erfüllung ihrer irdischen Pflichten zu<br />
streben, und dies im Geist des Evangeliums. ... Ein Christ, der seine<br />
irdischen Pflichten vernachlässigt, versäumt damit seine Pflichten<br />
gegenüber dem Nächsten, ja gegen Gott selbst“ (GS 43). Sprich: Wer<br />
seine irdischen Pflichten vernachlässigt, weil er sich ganz auf das<br />
kommende Reich Gottes ausrichtet und sich lediglich als Gast auf<br />
Erden sieht, der verfehlt die Erfüllung seiner Berufung als Christ. Es<br />
geht nicht darum, das Paradies auf Erden zu verwirklichen, wie es<br />
beispielsweise manche politische Ideologie versucht hat. Aber das<br />
darf keine Ausrede dafür sein, die Welt Welt sein zu lassen. Christen<br />
sind zwar nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt, 23 und so gilt der<br />
Auftrag zur Weltgestaltung insbesondere für sie.<br />
Zielsetzung einer aus christlicher Verantwortung gestalteten Politik<br />
ist es, ein gerechtes (Zusammen-)Leben aller Menschen zu ermöglichen<br />
und das politische Handeln an der Idee der Menschenwürde<br />
auszurichten. Dabei geht es um mehr, als im Alltagsgeschäft<br />
nur dem natürlichen Sittengesetz – das auf Kant rekrutiert und im<br />
Grundgesetz Artikel 2 24 festgeschrieben ist – gerecht zu werden.<br />
Vielmehr entscheidet sich für uns am christlichen Menschenbild,<br />
welchen Weg die Politik und unser Handeln einschlagen.<br />
Diesem christlichen Verständnis des Menschen zu folgen, heißt<br />
immer darauf bedacht sein, die Kräfte zu achten, die ein Mensch<br />
zur Gestaltung seines Lebens selbst aufbringen kann. Elementar<br />
für ein subsidiär organisiertes Gemeinwesen ist daher, den Bürgerinnen<br />
und Bürgern nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern<br />
mit Achtung vor ihren Fähigkeiten, ihren Ziele und dem Zutrauen,<br />
ihre Lebensführung selbst bestimmen zu können. Dies gilt auch<br />
und besonders gegenüber Menschen in den weiniger entwickelten<br />
Ländern dieser Erde. Übertragen auf die Entwicklungszusammenarbeit<br />
bedeutet dies nicht nur Schuldenerlass und finanzielle Hilfe<br />
oder Unterlassen des Überstülpens von Modernisierungs- und<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 77
Ökonomiekonzepten der Industrienationen. Entwicklungszusammenarbeit<br />
bedeutet zuallererst den Wert der jeweiligen Kulturen<br />
zu erkennen und die Menschen mit ihren Potentialen ernst zu nehmen,<br />
ihnen etwas zuzutrauen.<br />
Umfassender Entwicklungsbegriff<br />
Papst Paul VI. erwies bereits 1967 mit seiner Sozialenzyklika Populorum<br />
Progressio diesen Weitblick, indem er Entwicklung als kulturellen<br />
Prozess proklamierte. Die in der Tradition der Pastoralkonstitution<br />
Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils stehende<br />
und von der engsten Verbundenheit der Kirche mit der<br />
Menschheit und ihrer Geschichte ausgehende Enzyklika Populorum<br />
Progressio (PP) befasst sich eingehend mit der menschlichen<br />
Entwicklung und führt erstmals einen umfassenden und differenzierten<br />
Entwicklungsbegriff in die Katholische Soziallehre ein, der<br />
weit über eine rein ökonomische Sichtweise hinausgeht: „Entwicklung<br />
ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem<br />
Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, sie muß jeden<br />
Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“ (PP 14).<br />
Demzufolge muss sich der Mensch in ökonomischer, politischer,<br />
sozialer und kultureller Hinsicht entfalten können.<br />
Politisches und gesellschaftliches Handeln, das dezidiert dem<br />
christlichen Menschenbild folgt, ist immer darauf bedacht und verpflichtet,<br />
sich dafür einzusetzen, dass der Mensch Zentrum und<br />
Ziel, Subjekt und Träger aller Entwicklung ist. Folglich ist Entwicklung<br />
stets „Entwicklung von unten“. Wer in diesem Sinne Entwicklungspolitik<br />
betreibt, stellt sich zuallererst die Frage nach den Bedürfnissen<br />
der Armen und der weniger entwickelten Länder. Der<br />
Ansatz erfolgt dann über deren Eigeninitiative, die es zu fördern<br />
gilt, und deren Nutzung von vorhandenen Ressourcen. Also nicht<br />
Import von Milchpulver, kein Exportdumping, sondern Stärkung<br />
der Bauern in den armen Ländern, Vermeidung von Raubbau und<br />
Nahrungsspekulationen (vgl. hierzu den <strong>CDA</strong>-Antrag „ Spekulationen<br />
mit Nahrungsmitteln reglementieren“ vom 18.02.2011) und<br />
vieles mehr.<br />
Entwicklung und Solidarität<br />
Wer Subsidiarität in der Entwicklungszusammenarbeit ernst nimmt,<br />
fühlt sich nicht nur in der Pflicht, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, sondern<br />
gleichzeitig den hilfebedürftigen Menschen ihr Recht auf Teilhabe<br />
zu gewährleisten. In der Konsequenz bedeutet dies beispielsweise,<br />
Entwicklungsländer an Weltwirtschafts- und Klimagipfeln<br />
teilhaben zu lassen und ihnen eine starke Stimme zu geben.<br />
Papst Paul VI. hat geradezu prophetisch ein wesentliches Zeichen<br />
seiner Zeit erkannt und die Herausforderung der Armutsbekämpfung<br />
unter den Bedingungen der Globalisierung formuliert. Zwar<br />
hat sich das Leitbild Entwicklung seit der Entstehungszeit von Populorum<br />
Progressio in den sechziger Jahren an manchen Punkten<br />
grundlegend verändert. Das Modell nachholender Entwicklung<br />
nach dem Muster des Marshallplans ist einem Modell nachhaltiger<br />
Entwicklung gewichen, das – wie die Weltkommission für Umwelt<br />
und Entwicklung 1987 festhält – „(…) die Ausrichtung technologischer<br />
Entwicklung, die Art der Investitionen und die institutionellen<br />
Veränderungen miteinander harmoniert und sowohl die gegenwärtigen<br />
als auch die zukünftigen Möglichkeiten verbessert,<br />
die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Gleichwohl nimmt<br />
die Enzyklika die sich abzeichnende Globalisierung wirtschaftlicher<br />
Verflechtungen wahr und fordert als Antwort eine weltweite Solidarität,<br />
die sich an der vorrangigen Option Jesu für die Armen orientiert.<br />
Dies beinhaltet auch einen Perspektivwechsel, der aus der<br />
Nähe zu den Armen deren Ängste, Sorgen, Sehnsüchte und Hoffnungen<br />
tiefer begreifen lässt. Dazu beschränkt sich die Enzyklika<br />
zurecht nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern<br />
nimmt desgleichen die Strukturen in den Blick, die als Ursache oder<br />
Verfestigung der Armut einer ganzheitlichen Entwicklung aller<br />
Menschen entgegenstehen.<br />
Entwicklung und Freiheit<br />
Nicht egoistische Freiheit, sondern verantwortete Freiheit und somit<br />
soziale Verpflichtung ist Teil unserer Identität. Diese Verantwortlichkeit<br />
leitet sich von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen<br />
ab und hört nicht an staatlichen oder kontinentalen Grenzen<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 78
auf. Angesichts der Globalisierung haben wir mehr denn je die<br />
Möglichkeit wie die Verpflichtung, in unserem Wirtschaftsleben<br />
den Menschen weltweit in den Blick zu nehmen.<br />
Mit dem Prinzip der Subsidiarität wächst Politik und Gesellschaft<br />
die Aufgabe zu, den Einzelnen dort zu unterstützen und zu helfen<br />
wo er diese Hilfe braucht, ohne dabei seine Freiheit einzuschränken.<br />
Maßen sich Industriestaaten unverantwortlich Kompetenzen<br />
an, sind sie nicht mehr gerecht, rauben Menschen und Entwicklungsländern<br />
die Freiheit und entmündigen sie. Indem Menschen<br />
durch immer mehr Hilfeleistungen unterfordert werden, schwindet<br />
ihr Zutrauen in sich selbst und folglich verfehlt eine an sich<br />
gutgemeinte (Entwicklungs-)Hilfe das christliche Menschenbild.<br />
Sozialpolitik aus christlicher Verantwortung sucht den Weg zwischen<br />
zu wenig und zu viel Unterstützung. Dies bedeutet aber<br />
gleichzeitig, dass arme Menschen und Länder sich ihrer eigenen<br />
Verantwortung bewusst und dieser gerecht werden muss.<br />
Entwicklung und Gerechtigkeit<br />
In Bezug auf die erste Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) zum<br />
gerechten Lohn – wonach Verträge nicht allein dadurch gerecht<br />
sind, dass beide Partner ihr freies Einverständnis geben – reklamiert<br />
Populorum Progressio: „Im Austausch zwischen entwickelten und<br />
unterentwickelten Wirtschaften sind die Situationen zu verschieden<br />
und die gegebenen Möglichkeiten zu ungleich. Die soziale Gerechtigkeit<br />
fordert, daß der internationale Warenaustausch, um<br />
menschlich und sittlich zu sein, zwischen Partnern geschehe, die<br />
wenigstens eine gewisse Gleichheit der Chancen haben. ...“ (PP 61).<br />
Umso wichtiger ist dies, da Entscheidungen in einzelnen Bereich<br />
(z. B. Steuerabkommen, (Börsen-)Handel, Umwelt) zunehmend immer<br />
mehr Länder direkt oder indirekt tangieren. Bisher kommen<br />
Industrienationen und auch ehemalige Schwellenländer (z. B.<br />
China, Brasilien) ihrer Pflicht nicht befriedigend nach, Entwicklungsländer<br />
in Entscheidungsprozesse der Welthandelsorganisation,<br />
der Entwicklungszusammenarbeit und anderen internationalen<br />
Kooperationsfeldern hinreichend einzubeziehen.<br />
Getreu der christlichen Soziallehre bedeutet Gerechtigkeit in erster<br />
Linie Beteiligungsgerechtigkeit. Jeder Person, mit ihrer je eigenen<br />
Begabungen und Vorstellungen vom Leben, ist die grundlegende<br />
Möglichekeit zu geben, ihre Ziele verwirklichen zu können. Da Entwicklung<br />
der Gerechtigkeit bedarf, muss die gerechte Gestaltung<br />
der Globalisierung zum zentralen Thema der internationalen Politik<br />
werden.<br />
Entwicklung und Friede<br />
Nicht zuletzt die Ereignisse des sogenannten Arabischen Frühling<br />
und zahlreiche Konflikte und Bürgerkriege in Afrika (z. B. Eritrea,<br />
Somalia, Sudan, Tschad, Mali) und anderen Erdteilen zeigen, dass<br />
Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden sich gegenseitig bedingende<br />
Faktoren sind. Diese Korrelation hat bereits Paul VI. erkannt<br />
und greift in diesem Zusammenhang in Populorum Progressio die<br />
weltweit drängende „soziale Frage“ und beginnende Globalisierung<br />
auf: „Die zwischen den Völkern bestehenden übergroßen Unterschiede<br />
der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, wie auch<br />
der Lehrmeinungen, sind dazu angetan, Eifersucht und Uneinigkeit<br />
hervorzurufen und gefährden so immer wieder den Frieden. (…)<br />
Das Elend bekämpfen und der Ungerechtigkeit entgegentreten<br />
heißt nicht nur die äußeren Lebensverhältnisse bessern, sondern<br />
auch am geistigen und sittlichen Fortschritt aller arbeiten und damit<br />
zum Nutzen der Menschheit beitragen.“ (PP76). Mit der Aussage<br />
„Entwicklung: Der neue Name für Frieden“ hat der Papst programmatisch<br />
zum Ausdruck gebracht, dass sich Entwicklung und<br />
Frieden gegenseitig bedingen. Diese Erkenntnis hat weiterhin Bestand.<br />
Denn heute wie damals ist klar, dass allein die Abwesenheit<br />
von Krieg noch keinen Frieden ergibt. „Der Friede besteht nicht einfach<br />
im Schweigen der Waffen, nicht einfach im immer schwankenden<br />
Gleichgewicht der Kräfte. Er muß Tag für Tag aufgebaut<br />
werden mit dem Ziel einer von Gott gewollten Ordnung, die eine<br />
vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt.“<br />
(PP76). Es kommt heute zur Bekämpfung von Hunger und Armut in<br />
der Welt mehr denn je darauf an, nachhaltige Entwicklungsprozesse<br />
anzustoßen, zu fördern und zu unterstützen.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 79
Im Nachgang zu seiner Enzyklika Populorum Progressio richtete<br />
Papst Paul VI. den Päpstlichen Rat Justitia et Pax ein. Der Rat und<br />
seine jeweils nationalen Kommissionen leisten bis heute wertvolle<br />
Arbeit, um Armut zu bekämpfen, Gerechtigkeit zu schaffen und<br />
Frieden zu bewahren. Dabei steht das Bemühen im Vordergrund,<br />
die zentralen Aussagen der Enzyklika fortzuentwickeln und für eine<br />
nachhaltige Entwicklung in allen Handlungsbereichen einzutreten.<br />
Subsidiarität und Verantwortung<br />
Die Enzyklika Populorum Progressio erkennt dabei eine dreifache<br />
moralische Pflicht der Menschen: „Diese Pflicht betrifft an erster<br />
Stelle die Begüterten. Sie wurzelt in der natürlichen und übernatürlichen<br />
Brüderlichkeit der Menschen, und zwar in dreifacher Hinsicht:<br />
zuerst in der Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen<br />
Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann in der<br />
Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen<br />
zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund<br />
ist, abzustellen; endlich in der Pflicht zur Liebe zu allen, zur<br />
Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und<br />
empfangen können, ohne dass der Fortschritt der einen ein Hindernis<br />
für die Entwicklung der anderen ist. Diese Angelegenheit<br />
wiegt schwer; von ihr hängt die Zukunft der Zivilisation ab.“ (PP44).<br />
Zurecht ruft die Enzyklika alle Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft<br />
und Gesellschaft auf, sich für die Bekämpfung der weltweiten<br />
Armut stark zu machen sowie für Gerechtigkeit und Frieden in<br />
der Welt einzusetzen – ein Appell, der auch heute hoch aktuell ist.<br />
Peter Weiß, Jg. 1956, MdB, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion<br />
23 vgl. Johannes Evangelium 17, 14 ff.<br />
24 GG Art. 2 Abs. 2: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die<br />
Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes<br />
eingegriffen werden.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 80
Werner<br />
Schreiber<br />
Subsidiarität und politische und<br />
soziale Arbeitnehmerbildung<br />
Die Zeit des Nationalsozialismus war gekennzeichnet von der Entmündigung<br />
und Gleichschaltung der Gewerkschaften und anderen<br />
gesellschaftlichen Gruppierungen. Vermittelt wurde nur die<br />
nationalsozialistische Ideologie bis in die Wurzeln der Gesellschaft.<br />
Die Zeit nach dem verlorenen 2. Weltkrieg war erneut gekennzeichnet<br />
durch Hunger und Elend. Viele Menschen waren entwurzelt.<br />
Familien auseinandergerissen und dezimiert.<br />
Die Zeit des Wirtschaftswunders in Westdeutschland, der Bundesrepublik,<br />
wurde Arbeitnehmerbildung, politische Bildung und Erwachsenenbildung<br />
aktuell. In Ostdeutschland, der DDR, wurde dagegen<br />
der Sozialismus als einzig zugelassene Ideologie als neuer<br />
Heilsbringer bis in Kindergarten und die Familie gepredigt.<br />
Die Organisationsformen der außerschulischen und der politischen<br />
Bildung in der Bundesrepublik waren subsidiär angelegt. Die<br />
sog. öffentliche Hand stellte zwar Mittel zur Verfügung, fasste in<br />
Richtlinien und Verordnungen Verwaltungsabläufe und Schwerpunkte<br />
zusammen. Die Frage dieser Bildungsmaßnahmen sind<br />
jedoch von unterschiedlicher programmatischer und politischer<br />
Ausrichtung und finden sich in der Bundesrepublik Deutschland<br />
von Arnsberg bis Garmisch-Partenkirchen.<br />
Arbeitnehmerbildung, politische Bildung ist ein relativ junges<br />
Thema der Bildungspolitik. In den Anfängen der Industrialisierung<br />
in Deutschland konnte dieses aus vielen Gründen noch keine Rolle<br />
spielen.<br />
Die Industrialisierung Deutschlands beschleunigte sich in der<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts. Es beginnt die Landflucht hin zu den<br />
Zentren der Industrie mit ihrem Arbeitsplatzangebot. Die Arbeit<br />
ist hart, Kinderarbeit an der Tagesordnung. Die Arbeitgeber zahlen<br />
Hungerlöhne. Die Menschen leben in unwürdigen Wohnverhältnissen.<br />
Es entsteht eine neue Klasse des sog. Proletariats, entwurzelter,<br />
besitzloser und ausgebeuteter Lohnarbeiter.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 81
Der 1. Weltkrieg brachte Hunger und Elend. Die Weimarer Republik<br />
kämpfte mit den Folgen dieses Weltkrieges, der Weltwirtschaftskrise<br />
mit Hyperinflation und einem Heer von Arbeitslosen.<br />
Die Diskussion in dieser Zeit dreht sich natürlicherweise nicht um<br />
Arbeitnehmerbildung, sondern um menschenwürdige Bedingungen<br />
für die Menschen, um Arbeitsschutz, Recht der Arbeiter und<br />
um Arbeitsplätze.<br />
Arbeitnehmerbildung christlich-sozial – ein Vierteljahrhundert<br />
Stiftung CSP<br />
Allein in Nordrhein-Westfalen existieren 48 Stiftungen bzw. Bildungswerke,<br />
die sich ausschließlich der politischen Bildung widmen.<br />
Davon zehn Anbieter mit einem eigenen Bildungshaus.<br />
Vielfältige Bildungslandschaften<br />
Die Erwachsenenbildung ordnet sich nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung<br />
in die Berufliche Weiterbildung, in die sogenannte Allgemeine<br />
Weiterbildung und in die Politische Weiterbildung. Unter<br />
Allgemeiner Weiterbildung fallen im Wesentlichen alle aktiven,<br />
aber nicht direkt berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen, an denen<br />
Privatpersonen teilnehmen. Darunter fallen u. a. die Gesundheitsbildung<br />
oder die kulturelle Bildung. Hauptträger der allgemeinen<br />
Weiterbildung sind die kommunalen Volkshochschulen (VHS).<br />
Schwerpunktmäßig finden sich die meisten Angebote der Stiftung<br />
Christlich-Soziale Politik e. V. (CSP) in der Kategorie Politische Bildung<br />
wieder, wobei verschiedene Angebote für Betriebs- und Personalräte<br />
und Bewerbungstrainings für Jugendliche Berührungspunkte<br />
und Überschneidungen zur beruflichen Bildung haben.<br />
Arbeitnehmerbildung<br />
Traditionell ist unsere <strong>CDA</strong>-nahe Stiftung der politischen Arbeitnehmerbildung<br />
verpflichtet. Seit dem Jahr 1986, der Eröffnung des<br />
Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter (AZK), bietet die Stiftung CSP<br />
politische Bildung an, um systematische Kenntnisse über das demokratische<br />
System der Bundesrepublik Deutschland zu vermitteln<br />
und Kompetenzen für demokratisches Handeln zu stärken. Die<br />
methodisch-didaktische Aufbereitung der Seminare hat sich im<br />
Laufe der Jahre verändert, insbesondere wurde der Frontalunterricht<br />
durch Gruppenarbeiten, Planspiele und Exkursionen aufgelockert,<br />
jedoch sind die Inhalte gleich geblieben. Neben der Sozial-,<br />
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik stehen die Europa- und Internationale<br />
Politik weiterhin im Mittelpunkt der Angebote. Bei<br />
den Betriebs- und Personalräten spielen das kollektive und das individuelle<br />
Arbeitsrecht kontinuierlich eine tragende Rolle. Auch die<br />
Zusammensetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer veränderte<br />
sich, ca. 15 % haben einen Migrationshintergrund.<br />
Politische Bildung<br />
Politische Bildung kann helfen, individuelles Wissen zu vertiefen,<br />
zu erweitern und zu erneuern. In Zeiten von Globalisierung und<br />
Technisierung aller Lebensbereiche tut dies sicherlich Not! Wer<br />
könnte schon von sich behaupten, die demografische Entwicklung<br />
mit all ihren Konsequenzen für die bundesdeutsche Gesellschaft<br />
abschätzen zu können. Wer durchdringt alle weltweiten wirtschaftlichen<br />
Prozesse? Welche Schritte sind in einer fairen Entwicklungszusammenarbeit<br />
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten<br />
notwendig? Drei Fragen, alle sogenannte „Mega-Fragen“, die politisch<br />
interessierte Menschen umtreiben und immer wieder beschäftigen.<br />
Die Arbeitnehmerbildung hat in Königswinter eine gute und lange<br />
Tradition. Ihre Wurzeln reichen bis in die Weimarer Republik zurück.<br />
Im Jahre 1925 riefen die Christlichen Gewerkschaften ein Bildungshaus<br />
in der Altstadt ins Leben, welches nach dem Gewerkschaftsführer<br />
und Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald (1875–1945) benannt<br />
wurde. Die Schulungen, zumeist Wochenseminare, wendeten<br />
sich vor allem an hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre, die<br />
im neuen Tarif- und Arbeitsrecht, dem Betriebsrätegesetz und arbeitsrechtlichen<br />
Fragen unterrichtet wurden. In den 20er Jahren<br />
stellte sich immer mehr eine Professionalisierung der Bildungsarbeit<br />
ein, u.a. inspiriert von der Akademie für Arbeit in Frankfurt.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 82
Impulse der kirchlichen Soziallehren<br />
Inhaltlich zeichneten sich die Angebote vor allem aber durch die<br />
Impulse der Katholischen Soziallehre und der Evangelischen Sozialethik<br />
aus. Anders als bei den sozialdemokratischen und sozialistischen<br />
Bildungsträgern waren das christliche Menschenbild und<br />
eine christliche Weltanschauung das tragende Fundament der Inhalte<br />
der Schulungen. Die geistigen Väter der christlich-sozialen<br />
Bewegung wie Adolph Kolping (1808–1865) mit seinen Gesellenvereinen<br />
oder auch Johann Hinrich Wichern (1808–1881) und der<br />
„Inneren Mission“ hatten die Grundlagen für eine moderne Arbeiterbildung<br />
gelegt, damit Arbeiter nicht von Bildung nach Schulzeit<br />
und Ausbildung ausgeschlossen werden sollten. Die Idee der Volksbildung,<br />
heute als Breitenbildung bezeichnet, wurde in Königswinter<br />
seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts praktiziert.<br />
Der Bischof von Mainz und Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung,<br />
Wilhelm Freiherr von Ketteler (1811–1877), formulierte<br />
es treffend: „Es ist nicht genug, wenn die Arbeiter eine kleine Lohnerhöhung<br />
oder eine Verkürzung der Arbeitszeit erringen. (…) Die<br />
Arbeiter dürfen nicht stumpfsinnig dahinleben und ihre freie Zeit<br />
mit Spiel und Trunk totschlagen, sondern müssen sich geistig fortbilden<br />
und höhere geistige Genüsse schätzen lernen“.<br />
Christlich-soziale Bildungsarbeit heute<br />
In dieser Tradition und geistigem Fundament steht die christlichsoziale<br />
Bildungsarbeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
heute. Natürlich haben sich die zeitlichen Fundamente und Unterrichtsmethoden<br />
wie ausgeführt verändert, aber die Inhalte, die sich<br />
an christlich-sozialen Grundwerten wie Freiheit, Gerechtigkeit und<br />
Solidarität orientieren, sind aktuell geblieben. Diese Grundwerte<br />
tragen wie selbstverständlich unsere heutige Bildungsarbeit. Freiheit,<br />
Gerechtigkeit und Solidarität müssen in ganz unterschiedlichen<br />
Kontexten anders definiert und neu gelebt werden. Christlich-soziales<br />
Denken ist dynamisch, nicht ideologisch, es fragt, was<br />
dem Menschen dient und im Arbeitsalltag hilft. Eine bleibende Aufgabe<br />
ist es zu prüfen, inwiefern Produktionsmethoden und Arbeitsabläufe<br />
humanverträglich sind. Der Mensch muss wichtiger als die<br />
Sache sein. Die Würde des Menschen darf nicht Schaden nehmen<br />
und wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sein.<br />
Aktuelle Fragen<br />
In Seminaren und Schulungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten<br />
ist immer wieder die Frage nach Mindestlöhnen und allgemeinverbindlichen<br />
Lohnuntergrenzen diskutiert worden. Es ist<br />
eine Frage von Gerechtigkeit, dass Arbeitnehmer ohne staatliche<br />
Transferleistungen von ihren Lohn leben können. Es ist ein Ausdruck<br />
von gelebter Solidarität, wenn sich Christlich-Soziale in Gewerkschaften<br />
für Lohnuntergrenzen einsetzen.<br />
Politische Bildungsangebote möchten nicht nur Wissen vermitteln,<br />
sondern sensibilisieren und zum Nachdenken anregen. Alle Seminare,<br />
Fachgespräche und Kurse ermutigen zur Übernahme von Verantwortung<br />
in Betrieben und Behörden, aber auch in Parteien, Gewerkschaften<br />
und Verbänden.<br />
Bildungsarbeit im Sinne von Subsidiarität<br />
So dient unsere christlich-soziale Bildungsarbeit im Arbeitnehmer-<br />
Zentrum auch der Idee der Subsidiarität. So sollen die individuellen<br />
Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung entfaltet<br />
und gestärkt werden.<br />
Durch die Schulung von Kommunalpolitkern stärken wir die Demokratie<br />
von unten. In den Gemeinde- und Stadträten werden die<br />
Grundlagen für eine lebendige demokratische Gesellschaft in einem<br />
sozialen Rechtsstaat gelegt. In Zusammenarbeit mit allgemeinbildenden<br />
Schulen werden die Prinzipien für demokratisches<br />
Denken vermittelt: Toleranz, bewusster Verzicht auf Gewalt und<br />
soziales Verhalten über die eigene Familie hinaus werden in den<br />
Seminaren nahegebracht. Politische Bildung unter dem Dach des<br />
Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter (AZK) befördert seit über 25<br />
Jahren demokratisches Denken und übt proaktives Verhalten in einer<br />
vielfältigen Bürgergesellschaft ein. Ansprechpartner für unsere<br />
Arbeit sind alle Generationen, Alt- und Neubürger und nicht zuletzt<br />
die Tarifpartner.<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 83
Kooperation mit anderen Trägern<br />
Mit vielen anderen Trägern und Anbietern öffentlicher Erwachsenenbildung<br />
wie Familienbildungsstätten, Heimvolkshochschulen<br />
und Volkshochschulen möchte die Stiftung CSP Breitenbildung, mit<br />
dem Ziel, unsere demokratische Kultur zu stärken, durchführen.<br />
Dass neben staatlichen und kommunalen Trägern viele freie Träger<br />
wie Bildungswerke und Vereine (politische) Weiterbildung anbieten,<br />
ist auch ein Ausdruck von Subsidiarität. Jede Bildungseinrichtung<br />
arbeitet für ihre Region und bestimme Zielgruppen. Die Vielfalt<br />
der Erwachsenenbildung ist uns als christlich-soziale Einrichtung<br />
von großer Wichtigkeit, denn nicht alles soll der Staat regeln<br />
und organisieren müssen.<br />
So ist die Forderung in der Enzyklika „Deus caritas est“ (2005) von<br />
Papst Benedikt XVI. nach mehr Subsidiarität von großer Wichtigkeit<br />
für die Zukunft unserer Gesellschaft: „Nicht den alles regelnden<br />
und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat,<br />
der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen<br />
anerkannt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Kräften aufsteigen ...“.<br />
Ausdruck einer aktiven Bürgergesellschaft sind verschiedene Bildungsträger<br />
mit unterschiedlichem Profil. Wir stehen mit den befreundeten<br />
politischen Stiftungen der C-Familie im ständigen Dialog,<br />
suchen aber auch mit gewerkschaftlichen und kirchlichen Trägern<br />
engen Austausch und streben Kooperationen an. Diese<br />
Offenheit ist gute Tradition seit über 25 Jahren in Königswinter.<br />
P.S.<br />
Mehr über die Stiftung CSP und das Tagungs- und Bildungshaus<br />
AZK in unserer Imagebroschüre und auf unserer Homepage<br />
www.azk.de.<br />
Werner Schreiber, Jg. 1941, Minister a. D. und Vorsitzender der Stiftung Christlich-Soziale<br />
Politik e.V., Königswinter<br />
<strong>Themen</strong> · Ausgabe 1/13 · Seite 84
Unkompliziert und entspannt tagen<br />
www.azk.de<br />
Herzlich willkommen im Bildungshaus der Stiftung Christlich-Soziale Politik e.V.<br />
Wer wir sind m<br />
Die Stiftung Christlich-Soziale Politik e.V. ist seit über 25 Jahren anerkannter<br />
Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung und bietet seine Bildungsangebote<br />
ganzjährig an. Wir sind ein Haus aller Generationen und verstehen uns als<br />
Forum des sozialen Dialogs. Die Bildungsarbeit steht in der Tradition christlichsozialer<br />
Arbeitnehmerbildung auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes.<br />
Der Trägerverein, die Stiftung CSP, ist den CDU-Sozialausschüssen, der<br />
<strong>CDA</strong>, eng verbunden.<br />
Bildung und Begegnung m<br />
Unsere Seminargäste sind politisch und sozial engagierte Bürger/-innen aus<br />
Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden. Mit unseren Seminaren,<br />
Fachgesprächen und Tagungen wollen wir Menschen auf Augenhöhe zu aktuell<br />
politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bringen.<br />
Neben Jugendgruppen tagen im AZK Senioren aus der gesamten Bundesrepublik.<br />
Traditionell werden Mitbestimmungsakteure aus Betrieben und Behörden<br />
geschult.<br />
Wir bringen Menschen in Kontakt m<br />
Die Bildungsangebote der Stiftung CSP bringen Menschen aus dem In- und Aus -<br />
land, Alt- und Neuburger sowie Generationen in Kontakt und laden zum Meinungsaustausch<br />
ein. Unsere Bildungsprogramme wollen dem interkulturellen<br />
Austausch dienen.<br />
Direkt am Rhein entspannt tagen m<br />
Zehn Tagungs- und Gruppenarbeitsräume stehen fur Veranstaltungen zur<br />
Verfugung und werden Ihren Wunschen entsprechend bestuhlt und technisch<br />
ausgestattet. Auf unserer Rheinterrasse können Sie sich an sonnigen Tagen<br />
entspannen und die romantische Landschaft genießen. Unser Garten lädt zum<br />
Verweilen ein.<br />
Bitte informieren Sie sich auf unserer Homepage www.azk.de oder telefonisch<br />
unter (0 2223) 73-119 (Regina Ochs), (0 2223) 73-134<br />
(Philipp Recht) über unser Bildungs- und Tagungshaus,<br />
unsere Bildungsangebote und die Tagungsmöglichkeiten.
IHR PLUS AN<br />
SOLIDITÄT<br />
Eberhard Weber, Mitarbeiter der<br />
R+V Versicherung und seit 25 Jahren verheiratet.<br />
„Darauf kann ich mich verlassen – ein Leben lang.“ Wer ein unbeschwertes Leben leben<br />
möchte, braucht einen Partner, der einem Sicher heit gibt. Einen Partner, der immer da ist –<br />
in guten wie in schlechten Zeiten. Erfahren Sie Ihr Plus an Solidität. Bei einem persönlichen<br />
Gespräch, in den Volksbanken Raiffeisenbanken, R+V-Agenturen oder auf www.ruv.de