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Eberhardt Hofmann<br />
Progressive<br />
Muskelentspannung<br />
Ein Trainingsprogramm<br />
3., korrigierte Auflage<br />
mit CD-ROM
Progressive Muskelentspannung
Progressive<br />
Muskelentspannung<br />
Ein Trainingsprogramm<br />
von<br />
Eberhardt Hofmann<br />
3., korrigierte Auflage<br />
GÖTTINGEN · BERN · WIEN · PARIS · OXFORD · PRAG · TORONTO<br />
CAMBRIDGE, MA · AMSTERDAM · KOPENHAGEN · STOCKHOLM
Dipl.-Psych. Eberhardt Hofmann, geb. 1959. Studium der Psychologie in Tübingen. Klinischer Hypnosetherapeut<br />
(ESH). Tätigkeit in der Personal- und Führungskräfteentwicklung in verschiedenen Großbetrieben. Lehraufträge<br />
an mehreren Hochschulen. Sachbuchautor zu Themen der Angewandten Psychologie.<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
Zu diesem Manual ist zusätzlich eine Audio-CD mit Entspannungstexten lieferbar (Hofmann: Progressive Muskelentspannung.<br />
Entspannungs-CD, 2005, ISBN 978-3-8017-1018-0).<br />
© 1999, 2003 und 2012 <strong>Hogrefe</strong> Verlag GmbH & Co. KG<br />
Göttingen • Bern • Wien • Paris • Oxford • Prag • Toronto<br />
Cambridge, MA • Amsterdam • Kopenhagen • Stockholm<br />
Merkelstraße 3, 37085 Göttingen<br />
http://www.hogrefe.de<br />
Aktuelle Informationen • Weitere Titel zum Thema • Ergänzende Materialien<br />
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb<br />
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und<br />
strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die<br />
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />
Satz: Arthür Grafik-Design, Weimar<br />
Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen<br />
Printed in Germany<br />
Auf säurefreiem Papier gedruckt<br />
ISBN 978-3-8017-2416-0
Für Alisa
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort zur dritten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Kapitel 1: Beschreibung der vorgestellten Methode und Unterschiede<br />
zu anderen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1.1 Die Methode der „Progressiven Muskelrelaxation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1.2 Unterschiede zu anderen Formen der „Progressiven Muskel rela xa tion“ . . . . . . . . . . 12<br />
1.3 Unterschiede zum Autogenen Training (AT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
1.4 Unterschiede zur Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Kapitel 2: Trainingsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
2.1 Erster Schritt: Muskuläre An- und Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
2.2 Zweiter Schritt: Muskuläre An- und Entspannung – Ent span nung auf ein<br />
Entspannungssignal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
2.3 Dritter Schritt: Muskuläre An- und Entspannung – Entspan nung auf ein<br />
Entspannungs signal und Synchronisation mit der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
2.4 Vierter Schritt: Visualisierung im Anschluss an die muskuläre An- und<br />
Entspannung mit Ent spannungssignal und synchronisierter Atmung . . . . . . . . . . . . . 17<br />
2.5 Fünfter Schritt: Verkürzungen und Übungen im Sitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
2.6 Sechster Schritt: Übertragung in alltägliche Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Kapitel 3: Hinweise zur Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
Kapitel 4: Anwendungsbereiche des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Kapitel 5: Verwendung der Sitzungsbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
Kapitel 6: Beschreibung der Sitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
6.1 Erste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
6.2 Zweite Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />
6.3 Dritte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
6.4 Vierte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
6.5 Fünfte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
6.6 Sechste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
6.7 Siebte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
6.8 Achte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />
6.9 Neunte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />
6.10 Zehnte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
8 Inhaltsverzeichnis<br />
6.11 Elfte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72<br />
6.12 Zwölfte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
6.13 Dreizehnte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
6.14 Vierzehnte Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
1. Ergänzende Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />
2. Informationen für die Kursteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
CD-ROM<br />
Die CD-ROM enthält PDF-Dateien mit Arbeitsblättern, die zur Durchführung des Therapieprogrammes<br />
verwendet werden können.<br />
Die PDF-Dateien können mit dem Programm Acrobat ® Reader (eine kostenlose Version ist unter<br />
www.adobe.com/products/acrobat erhältlich) gelesen und ausgedruckt werden.
Vorwort zur dritten Auflage<br />
In den letzten Jahren hat sich die Methode der<br />
„Progressiven Muskelentspannung“ auch in deutschen<br />
Sprachraum erfreulicherweise immer weiter<br />
verbreitet. Noch in den 1990er Jahren waren<br />
Entspannungsmethoden praktisch identisch mit<br />
dem „Autogenen Training“. Das zunehmende Interesse<br />
an der „Progressiven Muskelentspannung“<br />
spiegelt sich auch darin wieder, dass dieses Buch<br />
nun in der dritten Auflage erscheint.<br />
Das vorliegende Buch entstand aus der eigenen<br />
langjährigen Erfahrung mit der Methode der<br />
„Pro gressiven Muskelrelaxation“ in der „Urform“,<br />
d. h., in Form der reinen muskulären Anund<br />
Ent span nung sowohl aus der Perspektive des<br />
Übenden als auch aus der Perspektive des Kursleiters.<br />
Dieser „Urform“ lagen Texte von Echelmeier<br />
und Zimmer (1977) zugrunde. Ausgehend<br />
von der reinen Form der muskulären An- und<br />
Entspannung habe ich dann verschiedene darüber<br />
hinausgehende Elemente aus anderen Entspannungsverfahren,<br />
insbesondere der Hypnose<br />
eingebaut wie die Verwendung eines Entspannungssignals,<br />
die Synchronisation mit der Atmung<br />
oder eine spezielle Form der Visualisierung<br />
mit dem Ziel Synergien zu nutzen und das<br />
Verfahren dadurch effizienter zu machen. Dadurch<br />
können Kursteilnehmer häufig den Entspannungseffekt<br />
schneller und intensiver erleben,<br />
was sich natürlich besonders auf die Motivation<br />
zur kontinuierlichen Kursteilnahme bzw. zum<br />
selbständigen Üben positiv auswirkt.<br />
Das vorgestellte Trainingsprogramm ist systematisch<br />
aufgebaut mit dem Ziel, die Trainingseinheiten<br />
immer mehr zu verkürzen und dabei die<br />
Menge der angespannten Muskulatur schrittweise<br />
zu verringern. In der Endform kann das<br />
Entspannungsverfahren direkt in Realsituationen,<br />
z. B. in der Mit tags pause am Schreibtisch,<br />
während man mit dem Auto im Stau steht oder<br />
während einer Zahnbehandlung angewandt werden.<br />
Die Instruktionen sind so gewählt, dass die Gefahr<br />
sehr gering ist, mit den Instruktionen und<br />
Kom mentaren in Widerspruch zu den Empfindungen<br />
der Kursteilnehmer zu geraten. Dies geschieht<br />
hauptsächlich durch die Verwendung hypnotischer<br />
Sprachmuster. Formulierungen zum inneren Erleben,<br />
die direkt falsifizierbar sind (wie z. B. die<br />
Verwendung vorgegebener Bilder), werden vermieden.<br />
Der theo retische Teil dieses Buches ist sehr kurz<br />
gehalten, Zielsetzung ist es nicht, eine theoretische<br />
Ab hand lung über die Progressive Muskelentspannung<br />
vorzulegen, da es wohl genügend<br />
Literatur dazu gibt. Das vorliegende Buch ist<br />
vielmehr ein unmittelbar anwendbares Manual<br />
für Kursleiter und The rapeuten zur konkreten<br />
Durchführung des Verfahrens im Rahmen eines<br />
Kurses. Dazu existiert zu jeder Kursstunde eine<br />
Beschreibung des Vorgehens sowie die Texte, die<br />
in der Stunde verwendet werden. Die Texte sind<br />
im Kurssetting als Vorlage zum Vorlesen durch<br />
den Kursleiter gedacht. Bei dem vorliegenden<br />
Aufbau der Übungen handelt es sich um eine intensiv<br />
erprobte und bewährte Systematik, von<br />
der bei Bedarf abgewichen werden kann. Sollte<br />
dies gewünscht sein, sollte jedoch auf jeden Fall<br />
die Ab folge der ersten vier Lernschritte eingehalten<br />
werden, da diese die Basis für alle anderen<br />
Varianten bilden.<br />
Mein besonderer Dank gilt Walter Bongartz für<br />
die anregende Diskussion und die Hinweise zur<br />
Wei terentwicklung der Methode sowie den ehemaligen<br />
Kursteilnehmern für die vielfachen Rück -<br />
mel dun gen aufgrund denen die Weiterentwicklung<br />
der Methode erst möglich gewesen ist.<br />
Zusätzlich zu diesem Manual ist seit 2005 auch<br />
eine Audio-CD erhältlich (Progressive Muskelentspannung,<br />
Entspannungs-CD, ISBN 978-3-8017-<br />
1918-0), auf der sich einige der in diesem Manual<br />
vorgestellten Übungen in gesprochener Form befinden.<br />
Für das selbstständige Üben der Kursteilnehmer<br />
zu Hause ist eine CD sehr hilfreich, da<br />
die jeweiligen Übungsschritte vorgegeben werden<br />
und sie sich so ganz auf die jeweiligen Empfindungen<br />
konzentrieren können.<br />
Friedrichshafen, Juli 2011<br />
Eberhardt Hofmann
Kapitel 1<br />
Beschreibung der vorgestellten Methode und Unterschiede<br />
zu anderen Verfahren<br />
Das in diesem Buch vorgestellte Verfahren soll<br />
zunächst kurz charakterisiert und von anderen<br />
Ent spannungsverfahren sowie anderen Varianten<br />
der Progressiven Muskelrelaxation abgegrenzt<br />
werden.<br />
1.1 Die Methode der „Progressiven<br />
Muskelrelaxation“<br />
Die Entspannungsmethode der „Progressiven<br />
Muskelrelaxation (PMR)“ (fortschreitende Muskel<br />
entspannung), entstand in den 30er Jahren<br />
(Jacobson, 1934). Sie wurde von dem amerika -<br />
nischen Physiologen Edmund Jacobson entwickelt,<br />
und wird daher auch vielfach „Jacobson-<br />
Trai ning“ genannt. Die Methode der PMR ist im<br />
angel s ächsischen Sprachraum sehr verbreitet. In<br />
Deutschland wurde sie erst mit dem Aufkommen<br />
der Verhaltenstherapie in den 70er Jahren be -<br />
kannt und verbreitet.<br />
Eine Folge der Reaktion auf Stress, Angst, etc.<br />
ist neben vielen anderen physiologischen Verän -<br />
derungen (Anstieg der Herzfrequenz, Beschleuni<br />
gung der Atmung, Erhöhung des Blutdrucks,<br />
Sen kung des elektrischen Hautwiderstandes, …)<br />
ein reflexhafter Anstieg der Muskelspannung.<br />
Im Umkehrschluss dazu kann man durch muskuläre<br />
Entspannung dem Stresserleben entgegen<br />
wirken, dies ist der Ansatzpunkt der PMR.<br />
Jacobsen fand heraus, dass bei intensiver muskulärer<br />
Entspan nung unter anderem die Atmung<br />
gleichmäßiger wird, die Herzfrequenz abnimmt,<br />
die Verdauung zunimmt, mentale und emotionale<br />
Aktivität mini miert werden etc. Die Beeinflussung<br />
der Stressreaktion durch die Veränderung<br />
der Mus kelspannung hat den Vorteil, dass<br />
die Wahr neh mungsfähigkeit für den Zustand der<br />
Muskulatur sowieso relativ gut ausgeprägt ist,<br />
jeder Mensch hat ein mehr oder weniger gut entwickeltes<br />
Ge fühl für den Spannungszustand seiner<br />
Musku latur. Für andere körperliche Parameter,<br />
die sich bei Stress ändern, ist dagegen die<br />
Wahr neh mungs fähigkeit nur sehr gering oder<br />
überhaupt nicht ausgeprägt. So wird es z. B. nur<br />
schwer mög lich sein, Aussagen über die Höhe<br />
des Blut drucks oder die Höhe des elektrischen<br />
Hautwiderstandes treffen zu können.<br />
Das Vorgehen der PMR zur Erreichung des Ent -<br />
spannungszustandes mutet dabei auf den ersten<br />
Blick paradox an. Man spannt verschiedene<br />
Mus kelgruppen zunächst stark an. Danach lässt<br />
man die Muskulatur wieder locker und konzentriert<br />
sich auf den Übergang von der Anspannung<br />
zur Entspannung. Mit diesem Vorgehen fällt es<br />
jedoch vielen Menschen leichter, den Entspan -<br />
nungszustand zu erzeugen, da ja zunächst nur<br />
die reflexhafte muskuläre Anspannung verstärkt<br />
wird, die sowieso bei Anspannungen vorhanden<br />
ist. Zusätzlich wird ein Kontrasteffekt zwischen<br />
Anspannung und Entspannung erzeugt, der um<br />
so höher ist, je höher die vorhergehende An span -<br />
nung war. Die Entspannung wird dadurch – zu -<br />
nächst auf rein muskulärer Ebene – unmittelbar<br />
spürbar.<br />
Dieser Sachverhalt kann mit Abbildung 1 verdeutlicht<br />
werden.<br />
Anspannungsniveau<br />
weitere<br />
Anspannung<br />
Grundanspannung<br />
Differenz 1<br />
Zeit<br />
„nur“<br />
Entspannung<br />
Abbildung 1: Vorgehen bei der PMR<br />
Differenz 2<br />
Die erlebte Differenz im Anspannungsniveau ist<br />
nach vorherigem Anspannen größer (Differenz 2)
12 Kapitel 1<br />
als nach dem reinen Entspannen vom Niveau der<br />
Grundanspannung aus (Differenz 1).<br />
Eine weitere Analogie für diesen Effekt stellt die<br />
Pendelanalogie dar.<br />
Die Entspannung wird dabei mit einer Art „Pen -<br />
del effekt“ verglichen: um ein Pendel in eine<br />
Rich tung (z. B. in der Abbildung nach links) zu<br />
be we gen (Bewegung A), kann man es in die ge -<br />
wün sch te Richtung (nach links) anstoßen oder zu -<br />
nächst in die Gegenrichtung (nach rechts) an he -<br />
ben und dann loslassen (Bewegung B). Die PMR<br />
wählt die zweite Vorgehensweise. Die Ent span -<br />
nung wird in einem „fliegenden Start“ er zeugt.<br />
Ziellage<br />
Bewegung A<br />
Bewegung B<br />
Ausgangslage<br />
Abbildung 2: Pendelanalogie<br />
Ziel des Trainings ist es, die Wahrnehmung für<br />
die Anspannung der Muskulatur zu schärfen, Ja -<br />
cobsen spricht von einer „Kultivierung der Mus -<br />
kelsinne“. In der Regel halten wir wesentlich<br />
mehr Muskulatur angespannt, als wir notwendigerweise<br />
müssten. Sie können dies überprüfen,<br />
indem Sie sich z. B. auf einen Stuhl setzen und im<br />
ersten Schritt versuchen wahrzunehmen, welche<br />
Muskulatur im Moment in Ihrem Körper an ge -<br />
spannt ist. Im zweiten Schritt können Sie versuchen,<br />
möglichst viele Muskelgruppen zu lo ckern<br />
und nur noch die Muskeln angespannt zu halten,<br />
die Sie brauchen, um nicht vom Stuhl zu fallen.<br />
Sie werden feststellen, dass dazu nur ein Bruch -<br />
teil der vorher angespannten Muskulatur not wen -<br />
dig ist. In diesem Sinne sind wir in vielen Situa -<br />
tionen unseres Lebens viel mehr angespannt, als<br />
wir es eigentlich sein müssten. Wir verbrauchen<br />
dann zu viel muskuläre Energie, was in Form von<br />
Anspannung spürbar wird.<br />
1.2 Unterschiede zu anderen Formen<br />
der „Progressiven Muskel rela xa -<br />
tion“<br />
Systematischer Aufbau und Integration<br />
Das vorgestellte Verfahren stellt eine Er wei te rung<br />
und eine Kombination von bewährten Me thoden<br />
dar (reine Muskelentspannung: Jacobsen, 1934;<br />
Bernstein & Borcovec, 1990; Brechtel, 1977; Ol -<br />
schewski 1996; Atementspannung: Olschewski,<br />
1995; Arbeit mit inneren Bildern: Lang, 1979;<br />
subtile Suggestionen: Araoz 1989; Bon gartz &<br />
Bongartz 1997; Bandler & Grinder, 1990). Diese<br />
wurden in fünf verschiedenen Schrit ten auf ein -<br />
ander aufgebaut. Das vorgestellte Verfahren ist<br />
eklektisch orientiert. Die Wirk sam keit der einzelnen<br />
Komponenten und der Kom bination so wie der<br />
Abfolge der Schritte wur de in verschiedenen Kursen<br />
an mehreren hun dert Personen entwickelt und<br />
erprobt. Der systematische Aufbau der Übun gen<br />
ist im Ka pi tel 2 „Trainingsaufbau“ beschrieben.<br />
Die ersten Sit zun gen lehnen sich an den Text von<br />
Echel maier und Zimmer (1977) an.<br />
Konditionierungen<br />
Die Entspannungsphase wird klassisch an verschiedene<br />
Signale konditioniert. Dadurch wird<br />
der Einsatz der Entspannung in Alltags situa tio -<br />
nen, in denen keine reale An- und Entspannung<br />
mehr er folgt, vorbereitet. Die konditionierten<br />
Auslöser werden somit zum Signal für die Entspan<br />
nungs reaktion (Russel & Sipich, 1973). In<br />
den Texten erfolgt die Konditionierung dadurch,<br />
dass immer auf das Wort „jetzt“ angespannt wird,<br />
auf das Wort „nun“ entspannt wird. Weitere Kon -<br />
di tio nierungen erfolgen auf das individuelle Ent -<br />
spannungssignal (zweiter Lernschritt) und auf<br />
das Ausatmen (dritter Lernschritt). Die in den<br />
Texten angewandte Kon ditionierung der Entspan<br />
nung an das Wort „nun“ kann auch für das<br />
individuelle Entspan nungs signal genutzt werden,<br />
indem der Übende das Wort „nun“ als individuelles<br />
Entspannungssignal benutzt. Diese Kondi<br />
tionie run gen dienen später als Vehi kel, um die<br />
Entspannung mit immer weniger realer musku -<br />
lärer An- und Entspannung zu erzeugen. In den<br />
ersten Sitzungen wird somit die Saat ausgebracht,<br />
die in den späteren Sit zun gen geerntet werden<br />
kann. Die Konditionierung der Anspan nung auf<br />
das Wort „jetzt“ wird in der Rück nahme in struk -<br />
tion genutzt, indem dort sämtliche Instruk tio nen<br />
das Wort „jetzt“ enthalten.
Beschreibung der vorgestellten Methode und Unterschiede zu anderen Verfahren<br />
13<br />
Verzicht auf die Kommentierung von<br />
Schwere<br />
Nach meiner Erfahrung empfinden ca. 10 bis 15 %<br />
aller Personen unter Entspannung keine Schwere,<br />
sondern Leichtigkeit. Würde Ent spannung mit<br />
Schwe re kommentiert (wie beim Autogenen Trai -<br />
ning), so würde dies bei den er wähnten 10 bis<br />
15 % dazu führen, dass die In struktionen des Kurs -<br />
leiters im Widerspruch zum Erleben der Teilnehmer<br />
stehen würden.<br />
Verzicht auf die Anspannung der<br />
Bauch decke<br />
Das Anspannen der Bauchdecke durch das An -<br />
heben der Beine wird in einigen Verfahren der<br />
PMR praktiziert. Aufgrund krankengymnastischer<br />
Über legungen sowie den auffällig häufigen<br />
negati ven Rückmeldungen von Teilnehmern zu<br />
dieser Übung, wird diese Übung weggelassen.<br />
Erinnerung an die Entspannung<br />
Ab der fünften Sitzung erfolgt die Aufforderung,<br />
sich an die zurückliegenden Entspannungs sit zun -<br />
gen zu erinnern. Die Formulierung hierfür lautet:<br />
„Nun kann es interessant sein, sich an die vorausgegangenen<br />
Entspannungssitzungen zu er -<br />
innern und sich dabei ins Gedächtnis zu rufen:<br />
– wo Sie die Entspannung am deutlichsten<br />
wahrgenommen haben,<br />
(...............................................)<br />
– wie sich die Entspannung dabei anfühlt,<br />
(................................................)<br />
– wie es sich anfühlen würde, wenn dieses Ent -<br />
spannungsgefühl jetzt wieder da sein kann.<br />
(.......................................).“<br />
Diese Erinnerungsphase gestattet es dem Übenden,<br />
sich seine speziellen subjektiv bedeutsamen<br />
Empfindungen bei der Entspannung zu verge -<br />
gen wärtigen. Durch diese kognitive Aktivitiät er -<br />
folgt zusätzlich eine Bindung und Focus sie rung<br />
der Gedanken in Richtung Entspannung. Zu sätz -<br />
lich kann dabei evtl. bereits eine Ver ände rung der<br />
zeitlichen Orientierung und Fraktio nie rungs -<br />
effek te (Kossak, 1993) auftreten.<br />
Spezielle sprachliche Muster<br />
Es wurden solche Formulierungen gewählt,<br />
die es dem Übenden erleichtern, das Gesagte<br />
aufzunehmen. Der Kursleiter hat die ja fast<br />
hellseherische Aufgabe, die Empfindungen und<br />
körperlichen Reaktionen der Übenden zu kommentieren<br />
und die Wahrnehmung der Übenden<br />
auf diese zu lenken, obwohl er erstens nicht<br />
sicher sein kann, was genau der Übende empfindet<br />
und zweitens im Gruppensetting beiunterschiedlichen<br />
Personen sehr unterschiedliche<br />
kör perliche Reaktio nen und Empfindungen<br />
auftreten können. Durch die Wahl entsprechender<br />
Formulierungen kann diese Aufgabe gelöst<br />
werden (Araoz, 1989, Bongartz & Bongartz,<br />
1998).<br />
Übereinstimmung mit der Erfahrungs -<br />
welt des Übenden hat Priorität<br />
Um mit den Aussagen und Beschreibungen des<br />
Kursleiters nicht in Widerspruch zu dem Erleben<br />
des Übenden zu geraten – was den Rapport stören<br />
könnte – wurden Formulierungen gewählt,<br />
die keine unmittelbar falsifizierbaren Aussagen<br />
über das Erleben des Übenden enthalten. Dies<br />
ge schieht hauptsächlich durch den Gebrauch der<br />
Modalform.<br />
Grammatisch zweideutige Formulierungen<br />
„s(S)ie“ und „i(I)hnen“<br />
Diese grammatisch doppeldeutige Formulierung<br />
tritt immer im Anschluss an eine Pluralbildung<br />
auf. Sie lässt dabei offen, ob mit der Be schrei -<br />
bung die Elemente des Plurals („sie“) oder die<br />
an gesprochene Person („Sie“) gemeint ist. Bei<br />
der Formulierung „die Arme und Hände können<br />
sich immer mehr entspannen, bis s(S)ie ganz<br />
locker sind“, kann sich das „sie“ auf die Arme<br />
und Hände beziehen oder auf die ganze Person<br />
„Sie“.<br />
Abgeschwächte direkte<br />
Suggestionen<br />
Am Schluss der jeweiligen Sitzung erfolgt eine<br />
sogenannte abgeschwächte direkte Suggestion<br />
(Bon gartz & Bongartz, 1998). Dabei handelt es<br />
sich um eine spezielle Form der indirekten Sug -<br />
gestion. Sie lautet:<br />
Manchen Menschen kann dieses Gefühl der<br />
Ent spannung wie eine Garantie sein, die<br />
i(I)hnen sagt: „s(S)ie sind vollkommen entspannt<br />
und gelassen, s(S)ie fühlen sich wohl<br />
und tanken in diesem Zustand der Ent span -<br />
nung neue Energien auf.“
14 Kapitel 1<br />
Bei Bedarf kann diese Suggestion modifiziert<br />
und weiter fortgesetzt werden. Wichtig dabei ist<br />
es, dass sie nicht die Form einer plumpen Be -<br />
hauptung enthält, die sehr schnell vom Übenden<br />
falsifiziert werden kann. Die Struktur dieser ab -<br />
geschwächten direkten Suggestionen nach Bon -<br />
gartz & Bongartz (1998) lautet:<br />
Die (Entspannung, Ruhe, Gelöstheit, …), die<br />
Sie jetzt empfinden, kann wie eine (Garantie,<br />
Basis, Versprechen, Fundament, …), die<br />
Ihnen sagt: (entsprechende spezielle Suggestion).<br />
Sensorische Konfusion<br />
Die Wahrnehmung wird immer wieder von der<br />
Muskulatur weggelenkt, mit der gerade gearbeitet<br />
wird. Sie wird auf die Atmung und auf andere<br />
Muskelgruppen gelenkt, dadurch kann es zu den<br />
Effekten der Informationsüberlastung und der<br />
sen sorischen Konfusion kommen, die die Aufnah<br />
mewahrscheinlichkeit der indirekten Sug gestio<br />
nen erhöhen können.<br />
Pacing<br />
Ein Pacing (Grinder & Bandler, 1984) erfolgt<br />
durch das Ansprechen der Atmung. Die typische<br />
Formulierung lautet: „beim Einatmen wölbt sich<br />
die Bauchdecke nach außen, beim Ausatmen fällt<br />
sie nach innen ein“. Zusätzlich zum Pacing enthält<br />
diese Formulierung auch die o. g. Effekte der<br />
Aufmerksamkeitslenkung und der sensorischen<br />
Konfusion.<br />
1.3 Unterschiede zum Autogenen<br />
Training (AT)<br />
Das vorgestellte Verfahren ist in der Regel schnel -<br />
ler und leichter zu erlernen als das Au to gene<br />
Trai ning (z. B. Krampen, 1991). Es erfolgt zunächst<br />
eine Wahrnehmungslenkung auf real existierende<br />
und messbare, durch den Übenden selbst<br />
produzierte Entspannung der Muskel grup pen.<br />
Die ser schneller bemerkbare Entspannungs effekt<br />
macht es einerseits vielen Menschen leichter, die -<br />
se Entspannungsmethode zu erlernen, an derer seits<br />
ist die Motivation durch einen quasi sofort erfahrbaren<br />
Entspannungseffekt oft höher als beim<br />
Autogenen Training, bei dem die Ef fekte meist<br />
erst relativ spät eintreten. Bei dem vor gestellten<br />
Verfahren werden ebenfalls, wie beim AT, Suggestionen<br />
gegeben. Diese erfolgen aber eher indirekt<br />
und beiläufig. Hauptsächlich werden klare<br />
und eindeutig nachvollziehbare Übungsanweisungen<br />
– etwa einem sportlichen Training vergleichbar<br />
– gegeben. Dies reduziert die weit verbreitete<br />
Angst vor einem Kontroll verlust.<br />
Ziel des Autogenen Trainings ist die Tiefenentspannung,<br />
Ziel der PMR dagegen ist Entspannung<br />
unter möglichst unterschiedlichen Bedingungen.<br />
Das Autogene Training ist gut für viele<br />
Menschen, PMR für fast alle.<br />
1.4 Unterschiede zur Meditation<br />
Das Verfahren hat primär ausschließlich somatische<br />
Entspannung und subjektives Wohlbefinden<br />
zum Ziel. Es ist somit frei von jeglichem philo -<br />
sophischen Ballast. Selbstfindung, Sinnfindung,<br />
Bewusstseinserweiterung etc. spielen bei diesem<br />
Ver fahren keine Rolle. Natürlich können – insbesondere<br />
in den späteren Sitzungen – meditative Ef -<br />
fekte auftreten, diese sind aber eher „Neben pro duk -<br />
te“, es ist nicht das Ziel, diese explizit zu e rreichen.