hildesheim - Kehrwieder am Sonntag

LANDKREIS HILDESHEIM KEHRWIEDER am Sonntag · 29. September 2013 · Seite 14
Bundestagswahl: CDU-Kandidatin Ute Bertram schafft, was von Klaeden nie schaffte und gewinnt direkt, Westphal und Pothmer rutschen über Liste nach Berlin
Das schwarze Loch Hildesheim
(jan) Hildesheim/Landkreis. Der
Montag war bereits verplant: Bernd
Westphal wollte mit seiner Frau
eine Fahrradtour machen. Viel hatte
das Paar während der vergangenen
Wochen nicht voneinander gehabt,
SPD-Kandidat Westphal hatte um
Stimmen für seinen Einzug in den
Bundestag gekämpft – nun war die
Wahl gelaufen und verloren. Beim
Radfahren kommt man auf andere
Gedanken, das Ding war abgehakt.
Westphal hatte Ute Bertram noch
am Abend zuvor gratuliert – sie
hatte geschafft, was ihr nur wenige
zugetraut hatten und ihr Vorgänger
Eckart von Klaeden nie geschafft
hat: den Hildesheimer Wahlkreis für
die CDU direkt zu gewinnen. Doch
dann der Anruf aus der Zentrale der
Landespartei: Westphal ist doch drin
– der Giesener rutscht als 21. der
Landesliste in den neuen Bundestag,
da mehrere Genossen vor ihm ihre
Wahkreise direkt gewonnen haben
und das Parlament durch Überhangmandate
um einige Sitze größer
wird. Und so packte Westphal die
Ute Bertram (CDU)
Bernd Westphal (SPD)
Dr. Bernd Fell (FDP)
Brigitte Pothmer (GRÜNE)
Lars Leopold (Die Linke)
Kerstin Breckel (NPD)
Koffer statt der Satteltaschen, um
sich aufzumachen in einen neuen
Lebensabschnitt – und schwierige
Wochen der Orientierung. Der eigenen,
und der seiner Partei. Große
Koalition oder Opposition? Ginge es
nach Westphal, sollte seine Partei
die starre Anti-Linke-Haltung langsam
aufgeben und sich mittelfristig
auch die Option öffnen, mit der Gysi-
Partei zu verhandeln. „In der Mitte
hat sich Angela Merkels CDU breit
gemacht, da ist kaum noch Platz.“
Dort im Kreise der Kanzlerin-Getreuen
ist jetzt Ute Bertam angekommen.
Die Alfelderin hat einen
engagierten Wahlkampf hinter sich –
sie musste nach dem überraschenden
Rückzug von Klaedens aus der Politik
und Ihrer Nominierung alles auf eine
Karte setzen, für sie gab es keinen
Listenplatz mehr. Umso größer war
der Jubel am Sonntagabend bei ihr
und ihren Unterstützern.
Zufrieden, glücklich und ein bisschen
aufgeregt klingt sie, als sie der
KEHRWIEDER am Dienstag auf dem
Handy erreicht – in der Pause der
• Bundestagswahl 2013 – Erststimmen-Ergebnis
10 20 30 40 50
Wahlbeteiligung: 75,1 %
Ute Bertram (CDU) holte den Hildesheimer Wahlkreis unerwartet direkt.
Stimmen Anteil in %
68.653 42,3%
66.986 41,3%
2.489 1,5%
13.771 8,5%
7.909 4,9%
2.537 1,6%
Grafik: Möller
konstituierenden Fraktionssitzung.
Organisatorisches steht an, „Inhalte
kommen dann“. Bertram wartet wie
auch die Kanzlerin auf die Entscheidung
der SPD, noch zieren sich die
Sozialdemokraten ein bisschen.
Dass Bernd Westphal es nun trotz
ihres Sieges nach Berlin geschafft
hat, freut sie durchaus, wenn sie an
ihre Heimat denkt: „Für Hildesheim
ist es gut, wenn wir hier zu dritt
sind.“
Die dritte im Bunde: Brigitte
Pothmer. Wieder Abgeordnete für
die Grünen, ein Grund zur Freude,
klar. Einerseits. Andererseits hat
ihre Partei deutlich Stimmen eingebußt,
das Führungspersonal steht
massiv in der Kritik. Fraktionschef
Jürgen Trittin tritt zurück, auch Parteichefin
Claudia Roth macht nicht
weiter. Und der Traum von der rotgrünen
Koalition ist so laut geplatz,
dass Pothmer noch immer ein Piepen
im Ohr haben dürfte.Von schlichten
einseitigen Schuldzuweisungen und
Trittin-Prügel hält sie aber wenig.
„Wir haben das Programm gemeinsam
verantwortet.“ Gemeinsam
müsse man nun aber auch die Lehren
ziehen. „Wir müssen uns auf unsere
zentralen Themen konzentrieren, die
Energiewende zum Beispiel.“
Der Versuch, sich mit einem neuen
Steuermodell und der Idee des „Veggie-Days“
zu profilieren, ist gescheitert
– aus Pothmers Sicht durchaus
zu Recht. Sie sei schon immer dagegen
gewesen, den Menschen Lebensstile
aufzuzwingen. Der vegetarische
Tag sei zwar nie als kategorischer
Finger-weg-vom-Fleisch-Befehl
gedacht gewesen, meint Pothmer.
Aber, so die erfahrene Abgeordnete:
„Die Leute haben uns sofort zugetraut,
dass wir das machen – und
das ist das Problem!“
Gegen das Problem der FDP aber
sind Pothmers Sorgen noch Peanuts:
zum ersten Mal überhaupt sind die
Liberalen nicht mehr im Bundestag
vertreten, im Wahlkreis Hildesheim
kam die einst stolze Genscher-Partei
auf 3,4 Prozent, der Direktkandidat
Dr. Bernd Fell erreichte gerade einmal
1,5 Prozent und wurde damit
sogar von der Kandidatin der rechtsextremen
NPD Kerstin Breckel geschlagen
(1,6 Prozent).
Dass die Hildesheimer FDP nicht
begeistert war von Fells Wahlkampf
macht Stadtverbandschef Michael
Kriegel im Gespräch mit dem
KEHRWIEDER deutlich. „Man kann
nicht von Anfang an und bei jeder
Gelegenheit verkünden, dass man
ohnehin keine Chance hat, gewählt
zu werden.“
Kriegel hat das Bundesdesaster
kommen sehen, sagt er und sieht die
Verantwortung bei der Parteispitze.
„Die haben nach der Wahl 2009 völlig
falsch angefangen und sich von
Angela Merkel mit den falschen Ministerien
abspeisen lassen.“
Die eigentlichen liberalen Werte
wie Schutz der Bürgerrechte seien
untergegangen, das Profil verblasst,
„man hat uns nur noch als Mehrheitsbeschaffer
wahrgenommen
– und das zu Recht!“ Kriegel sagt:
„Die FDP ist nicht tot – aber sehr
krank.“ Dass sie wieder gesunden
kann, glaubt er dennoch. Und dass
Christian Lindner der richtige Arzt
dafür ist, vielleicht mit Wolfgang
Kubicki an seiner Seite. In Hildesheim
will Kriegel daran arbeiten, dass die
Freien Demokraten wieder als eigenständige
und unverzichtbare Partei
wahrgenommen werden. Er will den
Nachwuchs weiter fördern und junge
Leute nach vorne bringen – in drei
Jahren ist schließlich Kommunalwahl.
Und Kriegel will mit seiner FDP
nicht auch noch aus dem Stadtparlament
rausfliegen. Einen Sitz hat sie
immerhin noch.
Deutschland einig Merkel-Land: nur wenige Wahlkreise konnte die SPD
direkt gewinnen (rot) – Ute Bertram malte mit ihrem Sieg ein schwarzes
Loch ins sozialdemokratische Herz (Pfeil).
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