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Über den Wolken, oder: Lob der Grenzen Es waren drei, vier einfach ...

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© Prof. Dr. Ursula Pia Jauch, Hohenbühl 1, CH-8032 Zürich / + 41 (0)44 252 19 55 / + 41 (0)44 252 19 33 fax / upjauch@philos.uzh.ch<br />

<strong>Über</strong> <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong>, <strong>o<strong>der</strong></strong>: <strong>Lob</strong> <strong>der</strong> <strong>Grenzen</strong><br />

<strong>Es</strong> <strong>waren</strong> <strong>drei</strong>, <strong>vier</strong> <strong>einfach</strong> Gitarrengriffe, eine Melodie und ein Text, von dem ich lange Jahre<br />

nur <strong>den</strong> Refrain wirklich verstan<strong>den</strong> hatte: „<strong>Über</strong> <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong> muss die Freiheit wohl<br />

grenzenlos sei / Alle Ängste, alle Sorgen, wer<strong>den</strong> drunter nichtig und klein.“ <strong>Es</strong> muss in <strong>den</strong><br />

späten 1970er Jahren gewesen sein, als diese so schöne Melodie mit ihrer tröstlichen<br />

Botschaft in mein kleines Leben geraten ist. <strong>Über</strong> <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong> muss die Freiheit wohl<br />

grenzenlos sein – <strong>der</strong> Satz gehört heute zu <strong>den</strong> deutschen Spruchweisheiten mit<br />

Klassikerstatus. Mütter am Rande des Nervenzusammenbruchs, Schüler vor dem Physik-Ex,<br />

gestresste Online-Redaktoren, Systemtechnikerinnen, Gärtner im aktuell hektischen<br />

Frühjahrs-Pflanzenrummel, was weiss ich: Wer sehnt sich manchmal nicht nach dem ganz<br />

An<strong>der</strong>en, Jenseitigen, <strong>Grenzen</strong>losen. 1974 ist <strong>der</strong> deutsche Lie<strong>der</strong>macher Reinhard Mey mit<br />

seinem wolkenwolligen Freiheits-Lied das erste Mal aufgetreten. Das Lied ist heute demnach<br />

39 Jahre alt, aber vollkommen alterslos. Weiterhin träumen die Menschen von grenzenloser<br />

Freiheit, einer Welt über <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong>, von Sorgefreiheit und einem Leben ohne Angst und<br />

Kummer.<br />

Ich gestehe: Ich hatte seither oft Gelegenheit zur empirischen <strong>Über</strong>prüfung, ob <strong>den</strong>n die<br />

Freiheit über <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong> wirklich so grenzenlos und sorgenfrei ist. Meine<br />

Erfahrungsberichte vom extraterrestrischen Dasein und <strong>der</strong> „<strong>Grenzen</strong>losigkeit“ im<br />

himmlischen Blau sind eher problematisch: Mit Dutzen<strong>den</strong> <strong>o<strong>der</strong></strong> Hun<strong>der</strong>ten an<strong>der</strong>er<br />

Menschen überaus eng in eine schmale Röhre gesperrt, die sich zwar über <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong><br />

bewegt, aber auch je<strong>der</strong>zeit runterfallen <strong>o<strong>der</strong></strong> zerschellen könnte, null Bewegungsfreiheit,<br />

<strong>Es</strong>sen aus Plasticgeschirr etc., das ist meine Sache nicht. Und noch weniger die zuvor<br />

durchzustehen<strong>den</strong> Sicherheitskontrollen, bei <strong>den</strong>en man sich halbnackt entblättern, barfuss<br />

über <strong>den</strong> Flughafenbo<strong>den</strong> gehen, Hosengürtel öffnen und die Handtasche von frem<strong>den</strong><br />

Hän<strong>den</strong> durchwühlen lassen muss: So stelle ich mir die grenzenlose Freiheit eigentlich gar<br />

nicht vor. Ich bin jeweils froh, wenn ich wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Erde lande und ausserhalb des<br />

Flughafens die Regeln <strong>der</strong> Zivilisation wie<strong>der</strong> einsetzen und mich niemand mehr anherrscht:<br />

Mantel aus! Schuhe aufs Band! Freiheit? Wenn ich jeweils zuschaue, mit welchem<br />

Schafsgehorsam die meisten Menschen sich diesen rü<strong>den</strong> Kasernenhofton gefallen lassen und


sich auch noch mit Freude selbst entblättern und kujonieren lassen, dann habe ich eher <strong>den</strong><br />

Eindruck, dass nicht unsere Freiheit grenzenlos ist, son<strong>der</strong>n unsere Ängste.<br />

Was ist das doch für ein eigentümliches Wort, die „<strong>Grenzen</strong>losigkeit“. Je<strong>der</strong>mann kennt<br />

<strong>Grenzen</strong> und ist überdies gut beraten, wenn er seine eigenen <strong>Grenzen</strong> akzeptiert, seien es<br />

die <strong>Grenzen</strong> <strong>der</strong> eigenen Leistungsfähigkeit, die <strong>Grenzen</strong> des guten Geschmacks, <strong>der</strong><br />

Toleranz, sogar die Grenze des Lebens: Wir sind alle sterblich und es ist besser, dies zu<br />

akzeptieren, statt auf eine „grenzenlose“ Medizin zu setzen. Im Alltag können wir nicht in<br />

einer Gesellschaft leben, ohne dass wir täglich und stündlich <strong>Grenzen</strong> akzeptieren; wer ohne<br />

Erlaubnis in die Wohnung seines Nachbarn eindringt, riskiert zu Recht eine Anklage wegen<br />

Hausfrie<strong>den</strong>sbruchs. Mir ist übrigens auch je<strong>der</strong> Mensch verdächtig, <strong>der</strong> von „grenzenloser“<br />

Liebe <strong>o<strong>der</strong></strong> „grenzenlosem“ Hass berichtet; beides scheinen mir eine unmenschliche Grössen<br />

zu sein. Das konkrete Leben <strong>der</strong> Menschen hat immer mit <strong>der</strong> Fähigkeit zu tun, <strong>Grenzen</strong> zu<br />

sehen und zu setzen. Und nur, weil unsere Sprache, die grosse Gauklerin, uns das Wort<br />

„<strong>Grenzen</strong>losigkeit“ zu Verfügung stellt, sollten wir ihr, <strong>der</strong> Sprache, doch nicht auf <strong>den</strong> Leim<br />

gehen. <strong>Grenzen</strong>loses Glück <strong>o<strong>der</strong></strong> absolute Sicherheit „gibt“ es nicht so, wie es Frühstück<br />

„gibt“ <strong>o<strong>der</strong></strong> meinetwegen eine knusprige Röschti zum Zmittag. <strong>Es</strong> ist das gute Recht <strong>der</strong><br />

Poeten, Philosophinnen und an<strong>der</strong>er Tagträumer, von grenzenloser Freiheit und an<strong>der</strong>en<br />

Schlaraffenlän<strong>der</strong>n zu träumen. Aber nicht alle Träume müssen auch umgesetzt wer<strong>den</strong>.<br />

Übrigens hat Reinhard Mey in seinem grenzenlosen „<strong>Wolken</strong>lied“ 1974 noch auf etwas ganz<br />

an<strong>der</strong>es hingewiesen, nämlich auf die Umweltverschmutzung unter <strong>den</strong> <strong>Wolken</strong>: „In <strong>den</strong><br />

Pfützen schwimmt Benzin / <strong>Wolken</strong> spiegeln sich darin“. Und man vergesse nicht: 1972 hat<br />

<strong>der</strong> Club of Rome seine Thesen über die „<strong>Grenzen</strong> des Wachstums“ publiziert. Doch auch<br />

das war nichts Neues: Schon bei Aristoteles, im 4. Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christus, findet sich eine<br />

Warnung vor dem <strong>Grenzen</strong>losen. Alles hat seine richtige Grösse, we<strong>der</strong> zu klein noch zu<br />

gross.

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