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Das war Gießen 2013 - Gießener Allgemeine

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CAMPUS<br />

Welche Fälle werden untersucht? <strong>Das</strong><br />

kommt auf die Schwere der Tat an. Die Polizei<br />

hat einen Ermessensspielraum. Wenn sich<br />

Jugendliche prügeln und blaue Flecken davontragen,<br />

werden wir nicht gerufen. Wenn<br />

aber ein Messer zum Einsatz kommt, sind wir<br />

in einem ganz anderen Strafmaßbereich.<br />

Welche Straftat angeklagt wird, entscheidet<br />

später die Staatsanwaltschaft. Bei Gewaltdelikten<br />

ist dabei oft ausschlaggebend, ob die<br />

Verletzung lebensbedrohlich <strong>war</strong> – dann ist<br />

man im Extremfall schon beim versuchten<br />

Mord.<br />

Wie erkennen Sie, ob es sich bei einer<br />

Verletzung tatsächlich um eine Angriffsverletzung<br />

handelt oder ob sich jemand eine<br />

Wunde selbst zugefügt hat? Es gibt Erfahrungswerte,<br />

welche Verletzungen durch welches<br />

Geschehen verursacht werden. Klassische<br />

Sturzverletzungen sind an Stirnhöcker,<br />

Nasenspitze, Kinnspitze, Ellenbogen-Außenkante,<br />

Streckseite Knie, Streckseite Unterschenkel.<br />

Klassische Anstoßverletzungen finden<br />

sich an den Streckseiten der<br />

Unterschenkel, in Höhe der Rippenbögen<br />

und in Projektion auf die Hüftknochen. Dann<br />

gibt es Abwehrverletzungen und Schlagverletzungen.<br />

Abwehrverletzungen findet man<br />

klassischerweise an den Streckseiten der Unterarme<br />

oder in der Handinnenfläche. Es gibt<br />

Verletzungen, die nicht zu Stürzen passen:<br />

Rück seite und Gesäß bei Kindern zum Beispiel.<br />

Doppelstriemen sind hochgradig verdächtig.<br />

Es ist hochgradig unwahrscheinlich,<br />

dass ein Kind so gegen eine Kante stürzt, dass<br />

es einen Doppelstriemenabdruck hat. Es gibt<br />

aber keine 100-prozentige Sicherheit. Nur<br />

hohe Wahrscheinlichkeiten. Wer sich gut auskennt,<br />

kann auch uns Rechtsmediziner zunächst<br />

in die Irre führen, etwa durch gezielt<br />

selbst beigebrachte Verletzungen. Zum Glück<br />

kennen sich aber nur ganz wenige so gut aus.<br />

Klassischer TV-Krimifall: Eine Leiche wird<br />

gefunden, die Polizei geht von Fremdeinwirkung<br />

aus. Wie ist das Prozedere? In<br />

einem solchen Fall werden wir Tag und Nacht<br />

angerufen und fahren sofort raus. Meist treffen<br />

wir zusammen mit dem Erkennungsdienst<br />

am Fundort ein. Mit diesem stimmen wir ab,<br />

welche Beweise zuerst gesichert werden<br />

müssen und untersuchen den Leichnam unter<br />

Einbezug des Umfeldes. Sind da Tabletten?<br />

Alkohol? Tatwerkzeuge? Die Kleidung spielt<br />

auch eine Rolle. Ermittelt werden die Körperkerntemperatur<br />

und die Umgebungstemperatur.<br />

Wenn wir dann später bei der Obduktion<br />

das Gewicht der Leiche kennen, können wir<br />

mittels eines Todeszeit-Nomogramms Stellung<br />

nehmen zum etwaigen Todeszeitpunkt. Aber<br />

natürlich nicht so präzise wie im Fernsehen.<br />

Noch am Tatort wird ein Obduktionstermin<br />

abgesprochen. <strong>Das</strong> ist eine Frage von drei bis<br />

fünf Stunden maximal – auch Samstag und<br />

Sonntag. Wenn es nachts um 2 Uhr ist, kann<br />

man auch mal sagen, morgen früh um 8.30<br />

Uhr. Dann liegen mittags die Obduktionsergebnisse<br />

vor und man kann einen Beschuldigten<br />

in der Befragung damit konfrontieren.<br />

Wie präzise lässt sich der Todeszeitpunkt<br />

bestimmen? Wir können immer nur schmunzeln,<br />

wenn es im Fernsehen heißt, »der Tod<br />

<strong>war</strong> gestern Abend um 23.45 Uhr«. Unsere<br />

Möglichkeiten sind begrenzt. Möglich ist,<br />

vorausgesetzt wir haben alle Informationen<br />

zusammen, ein Todeszeitpunkt plus/minus<br />

von 2,8 Stunden zu bestimmen. Präziser geht<br />

es nicht. Im Todeszeit-Nomogramm werden<br />

Umgebungstemperatur und die tiefe Rektaltemperatur<br />

eingetragen. Ausgehend vom<br />

Körpergewicht, grenzt man das Ganze noch<br />

durch Umweltbedingungen ein – Lagen der<br />

Kleidung etwa, Luftzug, hat die Leiche an<br />

einer Heizung gelegen oder auf kalten Fliesen?<br />

Da spielt Erfahrung eine Rolle. <strong>Das</strong> Körpergewicht<br />

wird mit einem Korrekturfaktor<br />

multipliziert und dann können sie den Todeszeitpunkt<br />

im Nomogramm ablesen. Die Abweichung<br />

liegt oft in einem Bereich von plus/<br />

minus 4,5 Stunden. Eine vorläufige Aussage<br />

wie »gestern Abend zwischen 20 und 24<br />

Uhr« ist eine vertretbare Wahrscheinlichkeitsaussage.<br />

Schwierig wird es bei einem an einem<br />

regnerischen Abend im Wald abgelegten<br />

Leichnam, der teilweise mit Laub bedeckt ist,<br />

wo man Luftzug und Bodentemperatur nicht<br />

kennt, es nachts geregnet hat und man<br />

nicht weiß, wie lange die Leiche dort gelegen<br />

hat. Tatort ist ja auch nicht immer gleich<br />

Fundort. Da muss man vorsichtig sein, dass<br />

man nicht jemandem vorschnell ein Alibi<br />

verschafft.<br />

Warum werden in den Fernsehkrimis<br />

Dinge verfälscht wiedergegeben? Einige<br />

von uns sind nicht traurig darüber. Es vermittelt<br />

hohe Leistungsfähigkeit der Rechtsmedizin,<br />

die abschreckend wirkt. Für den Zuschauer<br />

ist ein Tötungsdelikt auch sicher<br />

spannender und gruseliger, als wenn jemand<br />

»nur« verprügelt wurde. Manchmal werden<br />

aber auch in Krimis blaue Flecke nach<br />

Gewalt gezeigt. Und die Drehbuchautoren<br />

von »Tatort« oder »SK Kölsch« fragen auch<br />

durchaus mal bei uns nach, ob manche Darstellungen<br />

plausibel sind. Es ist besser geworden<br />

als noch vor 20 Jahren.<br />

Der Beruf des Rechtsmediziners wird gerne<br />

mit dem des Pathologen verwechselt.<br />

Pathologen arbeiten im Auftrag von behandelnden<br />

Ärzten mit Proben von lebenden<br />

Patienten – herausgeschnittene Leberflecke<br />

etwa. Dazu kommt die Tumordiagnostik. Jede<br />

Gewebeprobe, auch ein amputiertes Bein,<br />

geht zum Pathologen, wird untersucht und<br />

befundet. Kommt aber ein Fremdverschulden<br />

in Betracht, ist das in Deutschland streng getrennt.<br />

Dann ist die Rechtsmedizin zuständig.<br />

Seit 1976 ist die Rechtsmedizin in Deutschland<br />

ein eigenständiges Fach, bereits seit<br />

1972 in der ehemaligen DDR. In anderen<br />

Ländern verschwimmen die Grenzen.<br />

Forschung und Lehre an der JLU gehören<br />

ebenfalls zu den Aufgaben des Instituts.<br />

Sind auch Studierende bei Obduktionen<br />

dabei? Rechtsmedizin ist Pflicht für Medizinstudenten.<br />

Wir bieten Seminare und Vorlesungen<br />

an, ein Praktikum und die Teilnahme<br />

an einer Obduktion.<br />

Spielt es für Sie eine Rolle, ob sie ein lebendes<br />

Gewaltopfer untersuchen oder einen<br />

Leichnam? <strong>Das</strong> ist ein Gewöhnungsprozess.<br />

Man muss eine emotionale Distanz<br />

aufbauen. Es ist sicher für Studenten und Ärzte<br />

nicht angenehm, wenn sie erstmalig ein<br />

Opfer haben, das heftigst verprügelt und zugerichtet<br />

wurde. Da ist es normal, schockiert<br />

zu sein.<br />

Findet durch die ständige Konfrontation<br />

mit Gewalt eine Abstumpfung statt? Nein.<br />

Man vergisst aber manchmal aus der professionellen<br />

Distanz heraus, dass andere diese<br />

Distanz nicht haben. Jemand mit psychischen<br />

Problemen ist in dem Beruf falsch. Man muss<br />

emotional stabil sein.<br />

Gibt es Vorfälle, die auch Sie schockieren?<br />

Ja. Immer, wenn die Hilflosigkeit von Menschen<br />

ausgenutzt wird. Bei Kindern oder bei<br />

pflegebedürftigen Menschen. Wenn jemand<br />

Hilflosigkeit ausnutzt, weil er Macht ausüben<br />

will, dann schockiert das schon.<br />

Im Januar startet in <strong>Gießen</strong> ein Online-<br />

Portal für Fragestellungen, die lebende<br />

Gewaltopfer betreffen. Was verbirgt sich<br />

dahinter? Wir richten das, gefördert vom<br />

Hessischen Sozialministerium, als Forensisches<br />

Konsil hier in <strong>Gießen</strong> ein. Dort können<br />

Sie in einem geschützten Bereich einen<br />

Tathergang schildern oder Bilder übermitteln.<br />

Ziel ist es, die Hemmschwelle, sich nach Gewaltakten<br />

zu melden, zu verringern. Gedacht<br />

ist es für Institutionen und Privatpersonen, die<br />

mit Gewaltopfern befasst sind sowie für die<br />

Opfer selbst, aber auch für Ärzte, die Zweifel<br />

haben, ob eine Frau mit blauen Flecken tatsächlich<br />

die Treppe heruntergefallen ist, oder<br />

die unsicher sind, ob eine Kindesmisshandlung<br />

vorliegen könnte. Sabine Glinke<br />

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