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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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86 Über prometheische Scham<br />

zu bleiben; daß es sich entweder in einen bloßen Körperteil verwandelt,<br />

<strong>des</strong>sen nacktes und unkontrolliertes Aussehen das von<br />

Schulter oder Gesäß an Ebenbildlichkeit um nichts mehr übertrifft;<br />

oder dadurch, daß es, gewissermaßen abgeschnitten von der Orgie<br />

und un-informiert über das, was sich da in der unteren Etage abspielt,<br />

pokerhaft wird und blank und nur <strong>des</strong>halb als ,Mitgif t' noch<br />

,mitgetragen' wird, weil es eben nicht möglich ist, das Gesicht vor<br />

Ritualbeginn an der Garderobe abzugeben; oder darin, daß es<br />

während der Orgie verglast — womit ich meine, daß es offensichtlich<br />

aufhört, irgend etwas zu sehen oder sich seiner eigenen Sichtbarkeit<br />

bewußt zu sein. Wenn es einem dieser Tänzer einfiele —<br />

denn gag-los sind diese Orgien ja durchaus nicht — sich im Rausche<br />

seiner Maschinisierung etwas über seinen Schädel zu stülpen, um<br />

sein Gesicht, das ja ohnehin nichts mehr gilt, endgültig zu verleugnen,<br />

sein Einfall wäre durchaus nicht überraschend. Und<br />

ebensowenig erstaunlich wäre es, wenn während der Orgie eine<br />

neue Variante von Schani entstünde: eben die Gesichts-Scham —<br />

womit ich nicht die Scham über den Besitz eines reizlosen oder abstoßenden<br />

Gesichts meine, sondern (analoge der Leib-Scham <strong>des</strong><br />

Asketen) die Scham <strong>des</strong> Tänzers über den Besitz eines Gesichtes<br />

überhaupt; über die Tatsache, daß er noch immer dazu verurteilt<br />

ist, dieses Stigma der Ichheit als Zwangs-Mitgift mit sich herumzutragen.<br />

Aber mögen diese Gedanken auch „philosophische Übertreibungen"<br />

sein — Entstellungen in Richtung Wahrheit — die Tatsache,<br />

daß das Gesicht zu einem Residuum geworden ist, zu einem antiquierten<br />

Stück, ist unbestreitbar. Und Zufall ist es gewiß nicht,<br />

daß dieser Gesichtsverlust in derjenigen Epoche eingetreten ist, in<br />

der auch die Bildende Kunst das Gesicht als Sujet vernachlässigt,<br />

und in der die kommerzielle Zeichnung es als chick empfindet, bei<br />

der Darstellung <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>des</strong>sen Gesicht überhaupt auszulassen.*<br />

Aber kehren wir noch einmal zurück zu der „Maschine der<br />

Musik", die diese Orgie ins Werk setzt.<br />

Wenn Bandleaders versuchen, diese Musik als sogenannte ,ernste

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