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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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80 Über prometheische Scham<br />

Beispiele für die in ungestörtester Natureinsamkeit noch wirksamen<br />

Scham-Hemmungen. Auch Robinson lief ja nicht nackt<br />

herum.<br />

Und auch wir lassen uns ja von Dichtern ohne weiteres mitteilen,<br />

der Gipfel „blicke" uns drohend „entgegen", oder der Mond „blicke"<br />

freundlich auf uns „nieder"; und wenn wir derartige Mitteilungen<br />

nicht nur nicht als exzentrisch zurückweisen, sondern verstehen, was<br />

die Dichter damit sagen wollen, so zeigt das eben, daß auch uns<br />

noch die „blickenden Dinge" etwas Selbstverständliches sind; daß<br />

auch wir in ihrem „Aussehen" etwas sehen, „was von sich aus uns<br />

sieht"; und daß wir im Idiom der Dichter diese uns früheste und<br />

vertrauteste Weltansicht wiederfinden. Wie man die Tatsache dieser<br />

„gegenseitigen Sichtbarkeit" nennt, ob „Animismus" oder<br />

„Anthropomorphismus", ist ziemlich gleichgültig. Aber ihre Wurzel<br />

hat sie wohl darin, daß wir, wenn die Welt uns „wohlwill",<br />

dieser unterschieben, daß sie (im österreichischen Sinne von „sich<br />

kümmern") „auf uns schaue"; und daß sie es, wenn sie uns bedroht,<br />

„auf uns abseile".<br />

Wie wenig wahr es ist, daß der Mensch „exzentrisch" sein<br />

müsse, um sich von der Welt angeblickt zu fühlen; daß er umgekehrt<br />

seiner Unbefangenheit Gewalt antun muß, um sich nicht<br />

angeblickt zu fühlen, beweist folgen<strong>des</strong> (gar nicht so leicht durchzuführen<strong>des</strong>)<br />

Experiment: Wenn wir nämlich versuchen, uns die<br />

Tatsache, daß die Dinge uns nicht sehen, mit rücksichtsloser<br />

Ausdrücklichkeit zu Bewußtsein zu bringen, berührt uns das Ergebnis<br />

aufs All erseltsamste. Der Gedanke, daß der Stuhl, auf<br />

dem wir zu sitzen pflegen; der Tisch, an dem wir täglich schreiben;<br />

ja sogar unser Spiegel uns noch niemals gesehen haben und uns<br />

nicht kennen; daß das Bild rechts über unserem Bett, in ewige<br />

Nacht getaucht, von seinem Pendant links nichts ahnt, nichts von<br />

seiner eigenen Schönheit, nichts von seiner eigenen Sichtbarkeit<br />

und schließlich eben auch nichts von uns, die wir es täglich betrachten,<br />

kurz: daß es stockblind ist; und daß wir, von einer Welt<br />

stockblinder Dinge umringt, sehend-ungesehen unser Leben zu<br />

absolvieren haben — dieser Gedanke ist von so abenteuerlicher Befremdlichkeit,<br />

daß man geradezu „Luft von anderen Planeten" zu<br />

spüren vermeint und sich nur schwer <strong>des</strong> Gefühls erwehren kann,

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