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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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78 Über prometheische Scham<br />

setzen, Nachverstehbares mitzuteilen, aufs Ausgezeichnetste erfüllen,<br />

kann auch er ja nicht bestreiten. <strong>Die</strong>se Tatsache sollte uns<br />

mißtrauisch machen; aber eben nicht gegen Metaphern — das ist<br />

jeder Anfänger, der von der Strenge der Wissenschaften auch nur<br />

hat läuten hören, ohnehin — sondern mißtrauisch gegen die Rechtmäßigkeit<br />

unseres Mißtrauens gegen Metaphern. Auf Grund der<br />

„nur-metaphorischen" Sprache darüber zu klagen, daß wir an die<br />

Realität der Seele nicht herankämen, ist fehl am Ort; umgekehrt<br />

halten wir im Faktum der Metaphorik gerade einen der wesentlichsten<br />

Züge der Seele selbst in der Hand.<br />

Wenn der Kranke uns vorstöhnt, sein Schmerz sei „stumpf",<br />

dann verstehen wir genau, was er empfindet, und was er sagen<br />

will; und der medecin imaginaire, der diese Mitteilung als „unwissenschaftlich"<br />

oder als „nur metaphorisch" abtäte, und der dem<br />

Kranken vorwürfe, eine Bezeichnung zu verwenden, die einem<br />

anderen Sinnesgebiet zugehöre und sich einer<br />

schuldig zu machen, wäre eine Figur für eine Posse über das<br />

wissenschaftliche Zeitalter. Daß der Kranke den Ausdruck „übertrage",<br />

ist nämlich gar nicht wahr. Und zwar <strong>des</strong>halb<br />

nicht, weil der Ausdruck, bzw. die in diesem angezeigte Qualität<br />

in gar keinem bestimmten genos zuhause ist; positiv: weil die Qualität<br />

„ v o r - s p e z i f i s c h " ist, nämlich eine Beziehung zwischen<br />

der Welt und dem Subjekt darstellt, die mit der Aufteilung <strong>des</strong><br />

Subjekts in verschiedene Sinne noch gar nichts zu tun hat. Ihre<br />

spezifische Verwirklichung in bestimmten Sinnesgebieten finden<br />

diese Qualitäten immer erst sekundär: sekundär wird „das Stumpfe"<br />

ein haptisch, akustisch, osmotisch, emotionelJ Stumpfes. Wenn<br />

das nicht der Fall wäre, würden wir die verwendeten Worte<br />

überhaupt nicht nachvollziehen können (und die Sprache der Dichtung<br />

würde uns dunkel bleiben). Nicht nur, was ein „stumpfer<br />

Schmerz" ist, sondern sogar auch, was ein stumpfes Messer ist, verstehen<br />

wir nur <strong>des</strong>halb, weil wir vor-spezifisch verstehen, was<br />

„stumpf" ist.* — Und was von diesen Qualitäten gilt, gilt nun<br />

auch von allen wirklich oder angeblich „metaphorisch" charakterisierten<br />

Erlebnissen wie „Erhebung", „Erleichterung", „Überwältigung",<br />

„Versunkenheit" u. dgl. Und auch von der Scham.

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