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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Selbstsein a l s Makel<br />

mal herangezogen worden: „Der Eigendünkel sträubt sich gegen<br />

den Ursprung aus dem Grunde", so dürfte man nun als Pendantsatz<br />

formulieren: „Der Ursprung sträubt sich vor dem Sprung in<br />

die Freiheit und in die Exponiertheit <strong>des</strong> Ichseins." Und auch dieses<br />

sich-Sträuben ist „Scham" — und vermutlich nicht nur „auch":<br />

denn vieles spricht dafür, daß die Scham, „Ich" zu sein, die allgemeinere<br />

ist und ursprünglicher als die Scham, Nicht-ich zu sein.*<br />

Jawohl, die allgemeinere und ursprünglichere. Denn wovor und<br />

wessen schämt man sich denn gewöhnlich?<br />

Der Redner, der die Menge (statt weiter in ihr eingebettet zu<br />

bleiben) konfrontieren muß: schämt er sich nicht, als er selbst aufzutreten?<br />

Schämt er sich nicht, unter dem Sperrfeuer der Blicke<br />

dem „coram" preisgegeben zu sein? — Und der ungewöhnlich Gekleidete?<br />

Und der Fremde in der Fremde? Laufen sie nicht <strong>des</strong>halb<br />

Spießruten, weil sie es sich „herausnehmen", „Ausnahmen" zu<br />

sein, weil sie als sie selbst auffallen, also herausfallen und abstechen?<br />

Und spricht nicht sogar alles dafür, daß diese Scham, die<br />

Norm zu durchbrechen, sogar der Prototyp der moralischen Scham<br />

ist? Der Ungehorsame, der sich die Freiheit „herausgenommen"<br />

hat, sich aus dem Normalen und der Norm herauszuheben — schämt<br />

er sich nicht, wenn ertappt, als er selbst dazusein? Und — sehr<br />

im Unterschiede zu den ersten Beispielen unserer Scham-Analyse,<br />

die an Bedeutung nun zurückzutreten beginnen — wenn die so<br />

Beschämten sich verbergen, tuen sie es nicht alle <strong>des</strong>halb, weil sie<br />

ihr Selbstsein als Makel empfinden? Und wenn sie sich „in die<br />

Ecke stellen" oder nicht zu hören vorgeben — versuchen sie<br />

nicht alle, ihr Selbstsein zu verleugnen, die Schande ihrer Auffälligkeit<br />

auszulöschen und den alten Zustand zu restituieren ?*<br />

7S<br />

<strong>Die</strong>se Abschweifung hat uns zwar lange aufgehalten- Aber da<br />

sie uns doch wohl ein paar Einblicke in das, was Scham ist, verschafft<br />

hat, sind wir nun besser darauf vorbereitet, dem Einwand,<br />

der sie veranlaßt hat, zu begegnen.<br />

<strong>Die</strong>ser Einwand hatte besagt, der Titel „prometheische Scham"<br />

sei nichts als metaphorisch; in den Erlebnissen, die wir beschrieben,<br />

echte Scham-Erfahrungen zu sehen, sei unerlaubt; von echten „In-

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