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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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72 Über prometheische Scham<br />

nerelle", das allen Gemeine, das „Gemeine", im Einzelkörper verkörpert,<br />

„die Scham".<br />

Beschränkt man sich auf das Beispiel der Geschlechtsscham, dann<br />

bestätigt sich unsere Definition der Scham: sie sei die Desorientiertheit<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>, der sich statt als „Ich" als „Es" vorfinde, und<br />

der sich vergeblich abmühe, sich mit sich zu identifizieren, aufs<br />

Vollkommenste. Aber wie steht es mit anderen Spielarten von<br />

Scham? Bestätigen sie unsere Definition ebenso gut?<br />

Machen wir eine Probe.<br />

<strong>Die</strong> Scham <strong>des</strong> verschämten Kin<strong>des</strong> ist gewiß um nichts weniger<br />

elementar als die Geschlechts schäm. Wenn sich das Kind in die<br />

Röcke der Mutter verkriecht, tut es das, um sein „Es"-Sein zu verbergen?<br />

Versteckt es sich, weil es sich in seinem Anspruch, nur ein<br />

Ich (oder nur ein Selbst) zu sein, betrogen fühlt?<br />

Nein.<br />

Erhebt es diesen Anspruch überhaupt.<br />

Gleichfalls nicht. Auch nur die künstlichste Beziehung zwischen<br />

dem Beispiel und unserer Definition herzustellen, scheint aussichtslos.<br />

Unsere Bestimmung der Scham als „Identifizierungs-Störung"<br />

scheint also einen Fehler zu enthalten.<br />

Aber wo steckt dieser Fehler? — Schalten wir eine kurze Zwischenüberlegung<br />

ein. —<br />

„Identifizierung" erfordert zwei Partner: denjenigen, der sich<br />

zu identifizieren sucht — nennen wir ihn den „identificator"; und<br />

dasjenige, mit dem man sich zu identifizieren sucht — nennen wir<br />

es das „identificandum".<br />

Offensichtlich hatten wir uns bis jetzt auf diejenigen Fälle beschränkt,<br />

in denen die Rolle <strong>des</strong> „identificators" dem Ich zugewiesen<br />

war; die <strong>des</strong> „identificandum" dem „Es": Das „Ich" schämte<br />

sich <strong>des</strong> „Es".<br />

Aber ist diese Rollenverteilung die einzige? Ist die Umkehrung<br />

nicht gleichfalls möglich? Wäre es nicht denkbar, daß das „Es" in<br />

die Zwangslage geriete, sich mit einem zugemuteten „Ich" zu identifizieren?<br />

Daß es durch diese Identifizierungs-Zumutung in Desorientierung<br />

geriete? Eben in die Desorientierung der „Scham"?<br />

Kurz: daß sich das „Es" <strong>des</strong> „Ich" schämte?

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