12.01.2014 Aufrufe

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Geschlechtsscham 71<br />

ter den Füßen der Scham der Boden versteinert; und daß die Scham<br />

nun als „Scham über Scham" hektisch zu akkumulieren beginnt. —<br />

Hat man einmal diese Grund Situation <strong>des</strong> sich-Schämenden<br />

durchschaut, also begriffen, daß sie die Desorientiertheit und Verzweiflung<br />

der sich als begrenzt erkennenden Freiheit und Indrviduation<br />

ist, dann ist es auch evident, warum die Geschlechtsscham<br />

immer wieder als die Scham hat gelten können. Das Geschlecht,<br />

das Gattungsmäßige, ist eben das schlechthin Vor-Individuelle, das<br />

der Freiheit Entzogene, das „Es" kat' exochen, das zum Individuum<br />

qua Individuum nicht gehört.<br />

Aber daß das Geschlecht nicht zu ihm gehöre, bleibt eben ein<br />

leerer Anspruch <strong>des</strong> Individuums: denn die Zusammengehörigkeit<br />

besteht, und zwar in doppeltem Sinne, da einerseits das Individuum<br />

dem Geschlecht „angehört" (diesem sogar „hörig" ist); und da<br />

andererseits das Geschlecht sich gar nicht anders als in Individuen<br />

verwirklichen kann. <strong>Die</strong> Zusammengehörigkeit ist also so eng, daß<br />

es keinen Unterschied macht, ob man behauptet: „Das Individuum<br />

ist ein Attribut <strong>des</strong> Geschlechts" oder: „Das Geschlecht ist ein Attribut<br />

<strong>des</strong> Individuums". <strong>Die</strong> Wahrheit liegt in der Zweideutigkeit,<br />

in der gleichzeitigen Gültigkeit und Ungültigkeit beider Aussagen.<br />

Aber dieses Zweideutige, oder wenn man will „dialektische" Faktum<br />

ist eben der Grund dafür, daß das Geschlecht ein „pudendum"<br />

ist, daß man sich seiner schämt. Sofern der Einzelne qua Geschlechtswesen<br />

ein „zugehöriges", ein „höriges" Wesen ist, ist er<br />

eben nicht sein eigener Herr, ist er eben nicht mehr „er selbst"<br />

und nicht frei. — Aufs Zweideutigste ist er also zugleich er selbst<br />

und nicht er selbst: und damit ist ja die Formel, in der wir oben<br />

das Wesen der Scham zu fassen versucht hatten, bestätigt.<br />

So gesehen ist Scham also nicht (sofern es so etwas überhaupt<br />

gibt) irgendein zufälliger psychologischer Zustand, sondern ein<br />

metaphysicum, die Verkörperung der im Universalienstreit behandelten<br />

Dialektik von „res" und „universale". <strong>Die</strong> „res" (hier: der<br />

Einzelne) schämt sich, das „ u n i v e r s a l e " (oder min<strong>des</strong>tens das<br />

Generelle) in sich zu enthalten (<strong>des</strong>sen Attribut zu sein, es zu<br />

sein). Und nicht grundlos heißt diejenige „res", die dieses „Ge-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!