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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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70 Über prometheische Scham.<br />

nicht nach; sie ist nicht etwa eine Reaktion auf die Einsicht ins<br />

Nichtkönnen; nicht Stellungnahme dazu (etwa Trauer darüber);<br />

vielmehr — und das ist ungleich fataler als Trauer — dieses Nichtkönnen<br />

selbst, dieses Versagen selbst. — Wenn sich zum Beispiel<br />

der Asket der Tatsache gegenübersieht, daß er einen Leib „hat"<br />

(und „haben" bedeutet eben zugleich: „nichts dagegen tun können",<br />

„haben müssen", also „gehabt werden"}; wenn er dieser, für<br />

ihn ebenso unbestreitbaren wie inakzeptabeln Tatsache perplex<br />

gegenübersteht — dieses Perplexsein ist seine Scham. Wenn das<br />

Freiheit beanspruchende „Ich" feststellt, daß es, statt (in Fichtes<br />

Sinn) von sich selbst „gesetzt" zu sein, „geworden" ist; ja, daß es<br />

als „freies Ich" überhaupt nicht da wäre, wäre es nicht zugleich,<br />

ja zuvor, einem kreatürlichen, also bedingten und unfreien, <strong>Menschen</strong>,<br />

einer „Mitgift" verhaftet — diese seine Hilflosigkeit, dieses<br />

sein Versagen, i s t seine Scham. „Sich schämen" bedeutet also:<br />

nichts dagegen tun können, daß man nichts dafür kann. In anderen<br />

Worten, gerade dasjenige, was der Ethiker als Absolution von der<br />

Scham in Anspruch nimmt, stellt das Grundmotiv der Scham dar. —<br />

Was vom Buckel, was vom Leibe, was vom Ursprung gilt, gilt<br />

mutatis mutandis auch von der „schlechten Tat", die freilich (da<br />

man sich primär eines Seins schämt und eines Habens, nicht eines<br />

getan-Habens) kein annähernd so ursprüngliches Scham-Motiv<br />

darstellt wie der Buckel. Aber auch der Täter schämt sich letztlich<br />

nicht seiner Tat, sondern „derjenige welcher" zu sein; mit demjenigen,<br />

der die Tat getan hat, identisch zu sein; kurz: eines Seins.*<br />

Scham bricht also aus, weil man simultan „man selbst" und ein<br />

Anderes ist. Zugleich aber ist sie in gewissem Sinne auch der Versuch,<br />

dieses „Andere", die „Mitgift" loszuwerden. Daß dieser Versuch<br />

vergeblich bleibt, hatten wir ja schon gesehen.* In der Tat<br />

ist Scham so perplex, so methodenlos, daß sie demjenigen, der sich<br />

schämt, keinen anderen Weg übrigläßt als den defaitistischen, zu<br />

versuchen, sich zusammen mit der „Mitgift" (an die er gekettet ist)<br />

zuigrundegehen zu lassen. <strong>Die</strong> Redensarten: „sich in Grund und<br />

Boden schämen" oder „vor Scham versinken wollen" sind nicht<br />

etwa Metaphern, sondern treffende Beschreibungen, die durch<br />

keine „exakteren" ersetzt werden können. Gleichfalls wissen wir<br />

ja, daß auch diese Sucht hinzuschwinden vergeblich bleibt, da un-

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