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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Scham als Identitätsstörung 69<br />

ja niemals müde), sondern daß seine gewalttätige Bemühung eben<br />

vergeblich bleibt; daß er sich darum, ob er sich zu schämen „brauche"<br />

oder nicht, nicht kümmert — kurz, daß er sich gerade dieses<br />

seines Nichtkönnens schäme. Nicht obwohl, sondern weil er nichts<br />

dafür kann, schämt sich der Bucklige <strong>des</strong> Buckels.<br />

Tatsächlich gibt es keine Redensart, die so unzweideutig auf das,<br />

was Scham ist, hinwiese, wie die: „Nichts können für etwas".<br />

Denn dasjenige, wofür ich „nichts kann", ist eben das, was ich<br />

„nicht kann": also das meiner Freiheit Entzogene, die Provinz <strong>des</strong><br />

Fatums, <strong>des</strong> in jeder Hinsicht „Fatalen", der „Impotenz" im weitesten<br />

Sinne; und aus dem Widerspruch zwischen der Freiheitsprätention<br />

und dem „Fatalen", zwischen dem Können und dem<br />

Nichtkönnen, entspringt Scham. Sie schämt sich <strong>des</strong> Nichtkönnens.<br />

— Was heißt das?<br />

Es gehört zum Wesen <strong>des</strong> Freiheitsanspruchs, maßstablos und<br />

maßlos zu sein: nicht nur partiell will der Freie frei sein, nicht<br />

nur in Hinsichten das Individuum individuell, nicht nur hie und<br />

da das Ich es selbst sein; sondern absolut frei, durchaus individuell,<br />

nichts als es selbst.<br />

Aber dieser überspannte Anspruch ist „pathologisch".* Auf die<br />

Dauer kann ihn das Ich nicht aufrechterhalten. Immer tritt der<br />

Moment ein, in dem es an die Grenze seiner Freiheit, seiner Individualität,<br />

seines Selbstbewußtseins stößt; in dem es sich als etwas<br />

vorfindet, was es, obwohl es mit ihm qua Individuum oder qua<br />

Selbst nicht identisch ist, doch ist; der Moment, in dem es sich als<br />

ein „Es" entdeckt.<br />

Unter „Es" verstehe ich dabei nicht allein, was Freud damit<br />

bezeichnet hat, sondern, sehr viel allgemeiner, alles Nicht-Ichhafte<br />

überhaupt, alles Vor-Individuelle, welcher Art auch immer, an dem<br />

das Ich, ohne etwas dafür zu können, ohne etwas dagegen tun zu<br />

können, teilhat; dasjenige, was es, sofern es ist, auch-sein, was<br />

ihm „mitgegeben" sein muß. Darum nennen wir es auch die „ontische<br />

Mitgift".*<br />

Im Augenblick der Entdeckung dieser „Mitgift" entsteht Scham.<br />

Ich sage ausdrücklich: „Im Augenblicke". Denn Scham humpelt

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