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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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68 Über prometheische Scham<br />

ein in einem Zustand der Verstörtheit ausartender reflexiver Akt,<br />

der dadurch scheitert, daß der Mensch sich in ihm, vor einer Instanz,<br />

von der er sich abwendet, als etwas erfährt, was er „nicht<br />

ist", aber auf unentrinnbare Weise „doch ist".<br />

Nach dieser akademisch-phänomenologischen Beschreibung, die<br />

die Tatsache, daß es Scham gibt, noch unerklärt läßt, wird es gut<br />

sein, in ein konkretes Beispiel hineinzuspringen.<br />

Beispiel: Der Bucklige schämt sich seines Buckels. (Richtiger:<br />

der mit dem Buckel zu sein.)<br />

In gewissem Sinne scheint ihm der Buckel zwar kontingent zu<br />

sein, also etwas, was er nicht „ist", sondern nur „hat". — Aber was<br />

man „hat" — in dem Sinne „hat", wie man seinen Leib „hat" —<br />

das „ist" man; und zwar auf unentrinnbare Weise, Also ist auch<br />

der Verbuckelte, auf unentrinnbare Weise, „der mit dem Buckel";<br />

mit dem er sich nun identifizieren muß, obwohl er sich mit ihm<br />

nicht identifizieren kann; obwohl er nichts „für sich kann". Da er<br />

mit diesem Widerspruch nicht fertig wird, wird seine Scham<br />

gleichfalls nicht fertig: sie hört nicht auf.<br />

Was die „Instanz" betrifft, so besteht sie aus einem Tribunal,<br />

das darüber befindet, wie <strong>Menschen</strong> eigentlich „zu sein haben".<br />

Auch er gehört diesem Tribunal an, auch er ist mit dem Mensch-<br />

Kanon, den dieses Tribunal vertritt, einverstanden; nicht weniger<br />

einverstanden aus die besser geratenen Mitglieder <strong>des</strong> Tribunals.<br />

Da er den Richterspruch <strong>des</strong> Tribunals anerkennt, ihn aber andererseits,<br />

als der Mißratene, der er nun einmal ist, nicht wahrhaben<br />

kann (nicht wahrhaben wollen kann), wendet er sich von<br />

ihm ab — und damit auch von sich selbst. Auch darin bezeugt sich<br />

die „Identitätskrise".<br />

Der Ethiker wird dieses Grundbeispiel abstoßend finden. „Wenn<br />

er nichts dafür kann", wird er in moralistischer Sturheit ausrufen,<br />

„was braucht er sich seines Buckels dann zu schämen?" — worauf<br />

die Antwort nicht etwa lautet, daß der Verbuckelte auf diesen ingeniösen<br />

Einwand nicht auch gekommen wäre (im Gegenteil: seit<br />

eh und je sagt er sich ja vor, daß er „nichts dafür könne", und mit<br />

dem Argument seiner Unschuld seine Scham zu ersticken, wird er

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