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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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52 Über prometheische Scham<br />

Gewiß, ein „Reich der Ideen" ist die Welt, in der wir leben, nicht.<br />

Aber daß sie ,platonoider' ist, als die <strong>Menschen</strong>welt je zuvor gewesen,<br />

das ist wohl unbestreitbar. Und zwar eben <strong>des</strong>halb, weil sie sich<br />

aus Dingen zusammensetzt, die zum größten Teil genormte Serienprodukte<br />

sind; die als Imitationen oder Abdrücke von Modellen,<br />

blue prints oder Matrizen das Licht der Welt erblickt haben; ihr<br />

Dasein also Ideen verdanken. Da nun aber die Ideen, deren Imitationen<br />

sie sind, auch ihren Geschwisterstücken als Vorbilder gedient<br />

haben, macht nun keines der Dinge mehr den präpotenten<br />

Anspruch, kann keines mehr den Anspruch machen, „es selbst"<br />

und in mehr als numerischem Sinne ein Individuum zu sein. Solange<br />

solche, nach konstant bleibenden Modellen hergestellten,<br />

Geschwisterstücke vorrätig sind; solange für ein ruiniertes Einzelstück(z.<br />

B. für diese ausgebrannte Glühbirne) eine andere einspringen<br />

kann, solange ist es eine reine Geldfrage, ob man das<br />

Stück, das man besitzt, für unsterblich halt oder für sterblich. Für<br />

den Mann, der bei Kasse ist, kann sich je<strong>des</strong> Stück in einem neuen<br />

re-inkarnieren. Und diese Re-inkarnations-Chance hört erst auf,<br />

wenn auch die „Idee" <strong>des</strong> Stückes abstirbt; das heißt: wenn <strong>des</strong>sen<br />

Marke einer anderen Marke zuliebe fallengelassen wird. Daß dann<br />

auch die tausend dem Markenmodell nachgebildeten Stücke allmählich<br />

eingehen, versteht sich.<br />

Gewiß: ein Verdienst der Produkte ist dieser Industrie-Platonismus,<br />

diese „Unsterblichkeit durch Re-Inkarnation" nicht; darüber,<br />

daß sie diese ihre Tugend uns verdanken, braucht kein Wort<br />

verloren zu werden. Aber ein Gegenargument ist dieses Zugeständnis<br />

nicht. Denn die Tatsache, daß wir uns unseren Produkten unterlegen<br />

fühlen, obwohl wir sie produzieren, ist ja eben der Gegenstand<br />

dieser Untersuchung. Was zählt, ist also auch hier allein<br />

unsere Benachteiligung: allein die Tatsache, daß wir selbst an der<br />

Tugend, die wir unseren Produkten übergeben, nicht teilhaben<br />

können; was in diesem Falle bedeutet, daß es keinem von uns vergönnt<br />

ist, in mehreren (gleichzeitigen oder sukzessiven) Exemplaren<br />

zu existieren; daß keiner die Chance genießt, wie Glühbirne<br />

oder Langspielplatte, in der Gestalt eines neuen Exemplars sich<br />

selbst zu überleben — kurz; daß wir unsere Frist weiter in obsoleter<br />

Einmaligkeit absolvieren müssen. Und das ist eben für den-

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