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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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<strong>Die</strong> verborgene Scham 29<br />

liehen Scham stets eine zweite hinzu: die Scham über die Scham.<br />

Scham akkumuliert („iteriert") also automatisch, gewissermaßen<br />

genährt durch ihre eigene Flamme; und brennt um so heißer, je<br />

länger sie brennt.<br />

Zweite Folge: Um dieser, von Augenblick zu Augenblick unerträglicher<br />

werdenden Selbstakkumulation der Scham ein Ende zu<br />

bereiten, bedient sich der sich-Schämende eines Tricks: Statt nämlich<br />

seinen Makel und sich selbst zu verbergen, verbirgt er nun<br />

seine Scham, ja seinen Verbergungsgestus. Er springt in eine, der<br />

Scham direkt entgegengesetzte Attitüde, z. B. in die der „Wurschtigkeit"<br />

oder der Unverschämtheit; er reißt sich gewissermaßen,<br />

um sein sich-Schämen zu verstecken, das Hemd vom Leibe, womit<br />

er oft nicht nur denjenigen täuschen will, vor dem er sich schämt,<br />

sondern auch sich selbst. — Nicht nur in individuellen (erotischen)<br />

Situationen ist dieser Vorgang zu beobachten: im heutigen Liebesleben<br />

Amerikas gibt es kein Motiv, das so machtvoll wäre wie die<br />

Scham davor, noch als puritanisch verschämt zu gelten. Folge: der<br />

Bikini. — In anderen Worten: um seine Verbergungslust zu verbergen,<br />

entschließt sich der Verschämte, sich in die Ebene der normalsten<br />

Sichtbarkeit zurückzubegeben. „Wer sich", so kalkuliert er,<br />

„nicht verbirgt, wer sichtbar bleibt, der ist ja der Scham (und damit<br />

<strong>des</strong> Makels) nicht verdächtig". Er benimmt sich also etwa wie<br />

der Träger eines zerrissenen Klei<strong>des</strong>, der im Auftreten souverän<br />

genug bleibt, den Riß als nicht-existent zu behandeln. — Wenn<br />

Scham unsichtbar bleibt, so also <strong>des</strong>halb, weil sie „durch Sichtbarkeit<br />

verborgen" wird. —<br />

Dritter Einwand: Möglich, daß T. sich geschämt hatte. Aber<br />

diese „prometheische Scham" wäre kein aufregend neues Phänomen;<br />

vielmehr einfach das Zeichen einer altbekannten Erscheinung:<br />

nämlich Symptom der, bis zum Überdruß diskutierten, „Verdinglichung<br />

<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong>".<br />

Entgegnung: Nein. Sie ist Zeichen von mehr. Denn was T. als<br />

Schande ansieht, ist ja gerade nicht, daß er verdinglicht ist, sondern<br />

umgekehrt — und darum kommt der Ausdruck „Dingscham", den<br />

ich anfangs in Betracht gezogen hatte, nicht in Frage — daß er es

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