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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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336 Anmerkungen<br />

tionären Vokabel bemächtigt haben, verwenden heute diese nun mit<br />

solchem Gusto und solcher Geläufigkeit, daß sie dadurch dem im Ausdruck<br />

angeprangerten Vorgang den Schein von Familiarität verleihen<br />

und ihn seiner Befremdlichkeit entkleiden. Daß das Phänomen vor<br />

hundert Jahren im Zusammenhang mit Arbeit, Ware, Freiheit und<br />

Eigentum, also im revolutionären Sinne, eingeführt wurde, ist ihm<br />

nicht mehr anzusehen. Der Ausdruck ist nicht nur salonreif geworden,<br />

sondern geradezu zur Ausweiskarte für Avantgardismus, und es gibt<br />

keinen Interpreten moderner Kunst, der nicht, soferne er etwas auf<br />

sich hält, diese Karte jederzeit bei sich trüge. — Gleich, ob beabsichtigt<br />

oder nicht, der Effekt dieser geläufigen Verwendung der Vokabel bestand<br />

darin, der Verfremdung ihren moralisch-skandalisierenden Stachel<br />

zu nehmen, sie also (in sprachlich angemessener Verwendung <strong>des</strong><br />

Wortes) zu ent-fremden. Was du erwirbst von deinen Feinden, besetz<br />

es, um sie zu enterben. — <strong>Die</strong>ser Verharmlosungsvorgang hat die folgenden<br />

Wurzeln: 1. Jene deutsche Soziologie der späten Zwanzigerjahre<br />

(Karl Mannheim), deren Leistung darin bestand, Einzel Vokabeln<br />

aus dem Marxismus herauszubrechen, um sie in andere Zusammenhänge<br />

oder in die Alltagssprache einzumontieren und dadurch zu entschärfen.<br />

In den frühen Dreißigerjahren "wanderte diese Soziologie<br />

nach Frankreich, in den späten Dreißigern nach den Vereinigten Staaten.<br />

— 2. Den Surrealismus, der, vorübergehend mit dem Kommunismus<br />

verbündet, sich mit hegelisierenden Vokabelfetzen zu drapieren<br />

liebte. — <strong>Die</strong>jenigen, die sich <strong>des</strong> Ausdrucks heute bedienen, tun das<br />

freilich bereits arglos, denn sie reden bereits den Nachredenden der<br />

Dreißigerjahre nach, und manche von ihnen wären baß erstaunt, zu<br />

erfahren, wem sie ihre Leib- und Magenvokabel ursprünglich verdanken.<br />

— Selbst diese flüchtige Besinnung auf die heutige Verwendung<br />

<strong>des</strong> Ausdrucks „Entfremdung" zeigt also den in entgegengesetzter Richtung<br />

arbeitenden Verwandlungsvorgang: die Pseudofamiliarisierung<br />

und Intimisierung. <strong>Die</strong>ser Vorgang ist aber nicht etwa identisch mit den<br />

bekannten der Schabionisierung von Wörtern. Was er angreift, um<br />

es scheinvertraut zu machen, beschränkt sich nicht auf Termini. Seine<br />

Beute ist vielmehr die Welt, und zwar alles in der Welt; ihr Anspruch<br />

ist nicht weniger universal als der der Verfremdung: so wie dieser<br />

sich an alles Vertraute und Vertrauliche heranmacht, um es midashaft<br />

in Unvertrautes, Kaltes, Dingliches und öffentliches umzumünzen, so<br />

bemächtigt sich die Scheinfamiliarisierung alles Fernen und Fremden,<br />

um es in ein Schein-Heimisches zu verwandeln.<br />

117 Ehe wir Beispiele bringen, betonen wir prophylaktisch, daß, was<br />

wir „Verbiederung" nennen, wenn zuweilen die Grenze zwischen den<br />

beiden auch verwischt sein mag, nicht etwa mit „Popularisierung" zusammenfällt,<br />

da die Verbiederung ihren Gegenstand grundsätzlich respektlos<br />

behandelt und aus der Beschädigung und Benachteiligung <strong>des</strong>

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