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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Anmerkungen 331<br />

vor der Instanz ein „Niemand" ist, setzt eben jene „Identitatsstorung"<br />

ein, die der Scheu den Charakter der „Scham" verleiht.<br />

67 Ich glaube nicht, daß es eine Reflexionsphilosophie (also eine vom<br />

Faktum <strong>des</strong> sich selbst vorfindenden Ich ausgehende Philosophie) geben<br />

kann, die nicht entweder Freiheits- oder Unfreiheitsphilosophie •<br />

entweder Stolz- oder Schamphilosophie wäre. In den Schamphilosophien<br />

scheitert die Identifizierung; in den Stolzphilosophien wird das<br />

„Mich" vom „Ich" entweder besetzt oder „konstitutiert" oder einfach<br />

abgeleugnet.<br />

69 l Siehe d Verf. „Pathologie de la Liberte", p. 28.<br />

69 a Wenn zu ßeginn von „Sein und Zeit" das „Dasein" nach seinem<br />

„wer?" fragt; und sich, obwohl es sich gerade durch diese Frage zum<br />

„Ich" zuspitzt, statt als sich selbst als ein „man" vorfindet, dann entdeckt<br />

es sich als ein „Es". In der Tat ist die in „Sein und Zeit" (in<br />

der Form einer theoretischen Ontologie) dargestellte Aktion die einer<br />

systematischen Scham-Bekampfung; der Versuch <strong>des</strong> sich schamenden<br />

Ich, die Schande seines „E s "-Sems zu überwinden und „es selbst" zu<br />

werden.<br />

70 1 <strong>Die</strong> übliche Annahme, man schäme sich vor allem, oder gar nur,<br />

derjenigen Tat, für die man etwas „könne", stellt die Verhaltnisse einfach<br />

auf den Kopf. Sie bezeugt jenen maßlosen Freiheitsanspruch, den<br />

wir eben erwähnt hatten: denn mit ihr versucht der Mensch, den<br />

Schmerz der Unfreiheit (den die Scham darstellt) sich selbst anzueignen;<br />

ihn nämlich als „Strafschmerz" auszugehen und zu verwenden.<br />

— Wahr ist vielmehr, daß man sich einer Tat <strong>des</strong>halb schämt, weil<br />

man durch sie in den Augen der Instanz als einer gilt, als der man<br />

nicht gelten sollte. — Wie wenig es der faktische Schuldbestand ist,<br />

der die Scham erzeugt, ist ja daraus ersichtlich, daß man sich auch<br />

dann schämt, wenn man zu Unrecht beschuldigt ist; ja gerade dann.<br />

In diesem Falle schämt man sich nicht etwa <strong>des</strong>halb, weil einem kränkenderweise<br />

diese oder jene Untat zugetraut wurde — das "wäre viel<br />

zu subtil, um wahr xu sein — sondern eben <strong>des</strong>halb, weil man in den<br />

Augen der Anderen, also gesellschaftlich, der Schuldige effektiv ist.<br />

Kurz: Nicht der Schuld schämt man sich; umgekehrt wird das, wessen<br />

man sich schämt, oft zur Schuld. „Ich schäme mich — also bin ich<br />

schuldig" ist gültiger als: „Ich bin schuldig — also schäme ich mich"<br />

Daß es, z. B. unter Diktaturen hunderte Male geschehen ist, daß Taten<br />

oder Unterlassungen (sogar solche, die ursprunglich moralischen Moti<br />

ven entsprungen waren) in demjenigen Moment zu Scham Motiven<br />

wurden, in dem sie vor einer Jury vertreten werden mußten; und daß<br />

der Scham-Ausbruch nun nicht nur die Jury von der Tatsache der<br />

Schuld überzeugte, sondern auch den Tater selbst, ist ja unbestreitbar.<br />

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