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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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312 Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit<br />

in der Geschichte der Menschheit. Auf die Wurzeln dieses Vorurteils<br />

können wir ausführlich hier nicht eingehen.*<br />

Aber es handelt sich eben um ein Vorurteil. Nicht nur die Formen<br />

unserer Praxis haben sich im Laufe der Geschichte verwandelt,<br />

nicht nur unsere Kategorien sich verändert, nicht nur die<br />

Weisen der Anschauung anderen Weisen Platz gemacht: auch die<br />

Gefühle haben ihre, wenn eben auch langsamere, Geschichte gehab|.<br />

<strong>Die</strong> These <strong>des</strong> Rationalismus und <strong>des</strong> Deismus, die Weltreligionen<br />

hätten lediglich in ihren Inhalten differiert; von diesen<br />

abgesehen, seien sie doch schließlich alle „Glauben" gewesen (hätten<br />

also „gleich gefühlt") — noch heute kann man diese Beteuerung<br />

in den Vereinigten Staaten hören — ist völlig unglaubhaft<br />

und beweist eigentlich nur, daß der Rationalismus ungleich christlicher<br />

war als er selbst es wußte: nämlich sein eigenes geschichtlich<br />

geprägtes Fühlen für „Fühlen überhaupt" hielt. Vielmehr ist<br />

jede Religion ein Gefühlssystem sui generis; und jede Religionsgründung<br />

ist eine wirkliche Revolution in der emotionalen Geschichte<br />

der Menschheit, eine wirkliche Gefühls-Stiftung gewesen.<br />

—<br />

Wie sinnlos der Gedanke einer Konstanz <strong>des</strong> menschlichen Fuhlens<br />

ist, wird vollends deutlich, wenn man sich die abertausend verschiedenen<br />

Arten, nein, Individualitäten, von Gefühlen vor Augen<br />

führt, die in den Kunstwerken der verschiedenen Epochen investiert<br />

sind. Daß Delacroix nicht anders gefühlt habe als Parmeggianino,<br />

Berlioz nicht anders als Falestrina; daß diese „nur" eben total verschiedene<br />

Werke hergestellt haben sollten, kann man ja wohl nicht<br />

annehmen. Wer behaupten würde, das spezifisch giorgioneske Gefühl<br />

würde er auch ohne die Vermittlung durch Giorgiones Bilder<br />

gekannt haben, könnte nicht ernst genommen werden. <strong>Die</strong> jeweilige<br />

geschichtliche Welt, in der, für die oder gegen die diese Künstler<br />

schufen, hat jeden von ihnen auch völlig verschieden fühlen<br />

lassen. Mit dieser Fülle historisch verschiedener Gefühlsnuancen<br />

vor Augen wird man wohl unsere Rede von „neuen" unserer heutigen<br />

Welt angemessenen „Gefühlen" nicht mehr ganz so befremdlich<br />

finden. Neue Gefühle sind nichts Neuartiges. Neuartig ist<br />

allein, die Sache beim Namen zu nennen. —

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