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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Geschichte der Gefühle 311<br />

sprüche an ihn zu stellen begann, versucht, sich von sich aus diesem<br />

Neuen auch gefühlsmäßig anzumessen; also die neue künstliche<br />

Welt, in der er nun einmal zu leben hat, zu der ihm „natürlichen"<br />

zu machen. <strong>Die</strong>se seine „Anmessung" an das Künstliche als „Wohnung"<br />

heißt „Gewöhnung". Für den der künstlichen Welt Angemessenen<br />

wird die künstliche Welt zur scheinbaren „Natur": die<br />

aposteriorische zur scheinbar apriorischen; die kontingente zur<br />

scheinbar notwendigen. —<br />

Aber immer kann man sich auf diesen automatischen Gewöhnungsvorgang<br />

nicht verlassen. Und zwar eben — der Zusammenhang<br />

wird nun deutlich — auf Grund <strong>des</strong> Gefälle-Phänomens nicht.<br />

Also <strong>des</strong>halb nicht, weil der Gefühlswandel ungleich langsamer<br />

vor sich geht, als die Weltveränderung; weil der Mensch als fühlender<br />

hinter sich zurückbleibt. Immer wieder tritt <strong>des</strong>halb die Notwendigkeit<br />

ein, dem Fühlen nachzuhelfen oder Gefühle ganz ausdrücklich<br />

herzustellen. <strong>Die</strong>se Notwendigkeit wird namentlich dann<br />

akut, wenn das „Gefälle" ein politisches Risiko darstellt; wenn es<br />

droht, eine Weltveränderung zu verzögern oder gar zu verhindern;<br />

wenn also die Gefahr besteht, daß der Mensch die neue „Welt",<br />

die ihm aufgezwungen werden soll, abwehren könnte, weil sie ihm<br />

zu neuartig oder zu gewalttätig ist. Deutlich war das z. B. der<br />

Fall im Jahre 33. <strong>Die</strong> nationalsozialistische Propaganda, deren<br />

Zeugen und Opfer wir gewesen sind, war in der Tat nichts anderes<br />

als eine Produktion von Gefühlen im. kolossalsten Maßstabe; eine<br />

Produktion, die die Partei für geboten hielt, weil sie kalkulierte,<br />

daß die mit diesen Gefühlen ausgestatteten Opfer das überfordernde<br />

Terrorsystem leichter, wenn nicht gar enthusiastisch, akzeptieren<br />

würden.*<br />

Das vorhin schon erwähnte Fehlen einer „Geschichte der Gefühle"<br />

(in Analogie zur Geschichte der res gestae und der Ideen)<br />

stellt wohl das größte Desiderat der Geschichtsphilosophie und der<br />

Geschichtswissenschaft dar. Höchstens existiert diese Geschichte<br />

in unbeabsichtigten Versionen, z. B. in der Form von Religionsund<br />

Kunstgeschichten. Verursacht ist diese Lücke durch das Vorurteil,<br />

das Gefühlsleben sei das Konstante, das Nicht-Historische

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