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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Das heutige Gelöbnis 291<br />

mismus in breiterem Umfange herrschen als je zuvor, ist nicht zu<br />

erkennen, was der Wiederholung <strong>des</strong> Entsetzlichen im Wege stehen<br />

sollte; und warum ein Herostrat, dem es eines schönen Tages einfiele,<br />

einen „Genocid" oder dergleichen zu veranstalten, Ursache<br />

haben sollte, auch nur einen Augenblick lang die verläßliche Mitarbeit<br />

seiner Zeitgenossen in Zweifel zu ziehen. Er wird ruhig<br />

schlafen können. Sie werden ihn nicht im Stich lassen, sondern in<br />

Schwärmen motorisiert zur Stelle sein. Als Arbeitende sind die<br />

Zeitgenossen auf Mit-Tun als solches gedrillt. Und jene Gewissenhaftigkeit,<br />

die sie sich anstelle ihres Gewissens angeschafft haben<br />

(sich anzuschaffen, von der Epoche gezwungen wurden), kommt<br />

einem Gelöbnis gleich; dem Gelöbnis, das Ergebnis der Tätigkeit,<br />

an der sie teil nehmen, nicht vor sich, zu sehen; wenn sie nicht umhin<br />

können, es vor sich zu sehen, es nicht aufzufassen; wenn sie<br />

nicht umhin können, es aufzufassen, es nicht aufzubewahren, es zu<br />

vergessen — kurz: dem Gelöbnis, nicht zu wissen, was sie tun.<br />

Damit ist die Furchtbarkeit <strong>des</strong> heutigen moralischen Dilemmas<br />

bezeichnet. Einerseits erwarten wir vom heutigen <strong>Menschen</strong> hundertprozentiges<br />

Mit-Tun, und zwar als Bedingung seines Arbeitens<br />

überhaupt, min<strong>des</strong>tens als Arbeitstugend; andererseits möchten<br />

wir von ihm verlangen (und wir finden, eigentlich müßte die Welt<br />

so sein, daß man es von ihm verlangen könnte), daß er sich in der<br />

„Sphäre außerhalb der Betriebswelt" als „er selbst" benehme, also<br />

„unmedial", kurz: moralisch. Und das ist eine unmögliche Situation.<br />

Unmöglich aus zwei Gründen:<br />

1. weil es in demjenigen Augenblick, in dem es darauf ankommt,<br />

eine „Sphäre außerhalb der Betriebswelt" gar nicht gibt; das heißt:<br />

weil immer schon dafür gesorgt ist, daß die entscheidenden Aufgaben,<br />

die dem heutigen <strong>Menschen</strong> abverlangt werden, in Form<br />

von Betriebsaufgaben auftreten: selbst dafür, daß er als Tötender<br />

nicht „handle", sondern einen job erledige: Der Angestellte im<br />

Vernichtungslager hat nicht „gehandelt", sondern, so gräßlich es<br />

klingt, er hat gearbeitet. Und da ihn ja Ziel und Ergebnis seines<br />

Arbeitens nichts angehen; da seine Arbeit qua Arbeit ja immer als<br />

»moralisch neutral" gilt, hat er also etwas „moralisch Neutrales"<br />

erledigt. —<br />

2. Und weil man vom <strong>Menschen</strong> (und zwar vom durchschnitt-

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