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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Moralistische Erkenntnistheorie 285<br />

Daß, ob wir einen Gegenstand (eine Angelegenheit, eine Situation)<br />

auffassen oder nicht, durch die moralische Situation entschieden<br />

wird, in der wir uns diesem Gegenstande gegenüber befinden;<br />

daß unser Sehenkönnen oder Blindsein davon abhangt, ob der Gegenstand<br />

uns etwas „angeht" oder nicht; daß uns nichts eingeht,<br />

was uns nicht angeht.<br />

Mit diesem Wortspiel ist freilich noch nichts getan. Im Gegenteil:<br />

das Problem fängt hier erst eigentlich an. Schließlich besitzen<br />

wir ja kein Patentkriterium, mit <strong>des</strong>sen Hilfe wir entscheiden könnten,<br />

was uns angeht und was nicht. Andererseits gibt es ja zahllose<br />

Dinge, die uns, obwohl sie uns „eigentlich" angehen oder angehen<br />

sollten, subjektiv doch nichts angehen. Zum Beispiel eben die „apokalyptische<br />

Situation". Aber natürlich nicht nur diese; sondern<br />

tausend Angelegenheiten, die wir selbst nicht angehen können<br />

oder nicht angehen dürfen; in die uns einzumischen, um die uns<br />

zu bekümmern, über die zu befinden wir nicht die Möglichkeit<br />

haben, weil die faktische Situation (Arbeitsteilung, Eigentumsverhaltnisse,<br />

Meinungszwang, politische Gewalt usf.) uns davon<br />

ausschließen. Sie als unsere, „uns angehende" Angelegenheit anzusehen,<br />

haben wir nicht die Chance, nicht die Freiheit. Und das<br />

war es, was ich meinte, als ich sagte, die moralische Situation sei<br />

entscheidend für unser Verstehen oder Nichtverstehen <strong>des</strong> Gegenstan<strong>des</strong>:<br />

Sind wir nämlich der Möglichkeit beraubt, über einen<br />

Gegenstand irgendwie mitzuverfügen, dann wird dieser Gegenstand,<br />

sofern wir nicht ausdrücklichen Widerstand leisten, uns bald<br />

auch nichts mehr angehen. Nicht nur gilt: „Was ich nicht weiß,<br />

macht mich nicht heiß", sondern auch: „Was ich nicht kann,<br />

geht mich nichts an". Dem Objekt gegenüber, von dem „abzusehen"<br />

wir gezwungen sind, bleiben wir blind. Evident ist das ja<br />

in totalitären Staaten, in denen der Mensch diejenigen Maßnahmen,<br />

gegen die etwas zu unternehmen, er absolut nicht in Betracht<br />

ziehen kann, nun nicht mehr auffaßt. Darum ist z. B. die<br />

Frage, ob denn nicht Abertausende etwas von den Liquidierungs-<br />

Installationen gewußt hätten, unangemessen gefragt; daß sie gewußt<br />

haben, trifft vermutlich zu; aber aufgefaßt haben sie sie eben<br />

nicht, weil es von vornherein klar war, daß irgendetwas dagegen<br />

zu unternehmen, außer Betracht blieb. Also lebten sie weiter, als

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