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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Ausbildung der moralischen Phantasie 273<br />

Wenn dem so ist, dann besteht, sofern nicht alles verloren sein<br />

soll, die heute entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung<br />

der moralischen Phantasie, d. h. in dem Versuche, das „Gefälle" zu<br />

überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und<br />

Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren<br />

Ausmaß <strong>des</strong>sen, was wir anrichten können, anzumessen;<br />

uns also das Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden<br />

gleichzuschalten. —<br />

Es hatte eine ganze Generation, die der heute Fünfzigjährigen,<br />

fasziniert, als Rilke in seinen letzten Dichtungen in bezug auf<br />

Fühlen von „leisten", namentlich von „nicht leisten" oder dunkel<br />

in eine Zukunft verweisend, vom „noch nicht leisten" sprach. (So<br />

z. B. vom „Leisten der Liebe" in den „Duineser Elegien".) Was<br />

Rilke damit hatte sagen wollen, hatte zwar mit der von uns gemeinten<br />

Tatsache: daß wir unseren eigenen Produkten und deren<br />

Folgen phantasie- und gefühlsmäßig nicht gewachsen sind, gar<br />

nichts zu tun; und wenn er klagte, so auf Grund anderer Erfahrungen.<br />

Aber der Gedanke, daß man auch fühlen können müsse,<br />

war im zeitgenössischen Schrifttum sonst nirgends ausgesprochen<br />

worden. Und wenn wir von seiner Vokabel fasziniert waren, so<br />

<strong>des</strong>halb, weil wir, ohne den Grund zu durchschauen, spürten, daß<br />

mit dem Hinweis auf unzureichen<strong>des</strong> Fühlen wirklich ein entscheidender<br />

heutiger Defekt, und mit dem auch wirklich „geleistetes<br />

Fühlen" eine entscheidende Aufgabe von heute getroffen war. —<br />

Ob, was uns zu „leisten" heute aufgegeben ist, überhaupt geleistet<br />

werden kann; ob es möglich ist, das „Gefälle" zu überwinden,<br />

also das Volumen unserer Vorstellung und unseres Fühlens<br />

willentlich zu erweitern, das wissen wir erst einmal nicht. Vielleicht<br />

"besteht die Voraussetzung der Unmöglichkeit, also die, daß die<br />

Kapazität unseres Fühlens starr (min<strong>des</strong>tens nicht beliebig erweiterbar)<br />

sei, zu Recht. Wenn das zutrifft, ist die Lage hoffnungslos.<br />

Aber der Moralist kann diese Unterstellung nicht einfach akzeptieren.<br />

Vielleicht liegt ihr Faulheit zugrunde; vielleicht eine ungeprüfte<br />

Theorie <strong>des</strong> Fühlens. Selbst wenn er die Durchbrechbar -<br />

keit der Grenzen für ganz unwahrscheinlich hält — min<strong>des</strong>tens<br />

von sich selbst muß er den Versuch einer solchen Durchbrechung<br />

verlangen. Denn nur im wirklichen Experiment kann über Mög-<br />

18 Anders

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