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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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272 Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit<br />

rissensten, die in sich disproportioniertesten, die inhumansten Wesen,<br />

die es je gegeben hat. Verglichen mit diesem heutigen Kiß,<br />

waren die Antagonismen, mit denen der Mensch sich bisher hatte<br />

abfinden müssen, tatsächlich harmlos. Ob es der Antagonismus<br />

zwischen „Geist und Fleisch" war, oder der zwischen „Pflicht und<br />

Neigung" — wie furchtbar der Streit in uns auch getobt haben<br />

mochte, jede Differenz war doch insofern noch immer eine humane<br />

Tatsache gewesen, als sie sich eben als Streit verwirklicht hatte;<br />

miteinander streitend waren die Kräfte doch noch aufeinander eingespielt<br />

gewesen; min<strong>des</strong>tens als Schlachtfeld der beiden fechtenden<br />

Mächte hatte der Mensch seine Existenz noch unangefochten bewahrt;<br />

daß es derselbe Mensch war, der sich in den einander bekämpfenden<br />

Kräften bekämpfte, das hatte außer Frage gestanden.<br />

Und da die Kämpfenden einander nicht aus den Augen verloren<br />

hatten, die Pflicht nicht die Neigung, und die Neigung nicht die<br />

Pflicht, war Fühlungnahme und Zusammengehörigkeit der beiden<br />

eben doch verbürgt, war der Mensch noch dagewesen.<br />

Nicht so heute. Selbst dieses Minimum an Sicherung der Identität<br />

ist nun verspielt. Denn das Entsetzliche am heutigen Zustande<br />

besteht ja gerade darin, daß von einem Kampf gar keine Rede sein<br />

kann, daß vielmehr alles friedlich und in bester Ordnung zu sein<br />

scheint; und daß ein kollektives smiling die Situation zudeckt.<br />

Da die Vermögen sich von einander entfernt haben, sehen sie schon<br />

einander nicht mehr; da sie einander nicht mehr sehen, geraten<br />

sie schon nicht mehr aneinander*; da sie nicht mehr aneinander<br />

geraten, tun sie einander schon nicht mehr wehe. Kurz: der<br />

Mensch als solcher existiert überhaupt gar nicht mehr, sondern<br />

nur der Tuende oder Produzierende hier, der Fühlende dort; der<br />

Mensch als Produzierender oder als Fühlender; und Realität kommt<br />

allein diesen spezialisierten Menschfragmenten zu. Was uns vor<br />

zehn Jahren mit solchem Grauen erfüllt hatte: daß derselbe Mensch<br />

Angestellter im Vernichtungslager und guter Familienvater sein<br />

konnte, daß sich die beiden Fragmente nicht im Wege standen, weil<br />

sie einander schon nicht mehr kannten, diese entsetzliche Harmlosigkeit<br />

<strong>des</strong> Entsetzlichen ist kein Einzelfall geblieben. Wir alle<br />

sind die Nachfolger dieser im wahrsten Sinne schizophrenen<br />

Wesen.

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