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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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240 Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit<br />

nicht weniger unterscheiden, als sich etwa, in Nietzsches Augen,<br />

der Übermensch vom <strong>Menschen</strong> unterschieden hatte. Positiv ausgedrückt<br />

— und das gilt unmetaphorisch: Wir sind Titanen. Min<strong>des</strong>tens<br />

für die mehr oder minder kurze Frist, in der wir omnipotent<br />

sind, ohne von dieser unserer Omnipotenz endgültig Gebrauch<br />

gemacht zu haben.<br />

Wirklich ist in der kurzen Zeit unserer Herrschaft die Kluft<br />

zwischen uns Titanen und unseren Vätern, den <strong>Menschen</strong> von<br />

gestern, so breit geworden, daß diese uns bereits fremd zu werden<br />

beginnen. Kronbeispiel ist die Figur, in der die letzten Generationen<br />

unserer Vorfahren ihr „Wesen" erkannten: Faust, der verzweifelt<br />

Titan zu sein begehrte. Es mag wie ein Sakrileg gegen<br />

Goethe und gegen sein (ohnehin sakrilegisch zum Stolzobjekt und<br />

Kulturgut-Beispiel erniedrigtes) Werk klingen, aber gegen Goethe<br />

besagt es wirklich nicht das Min<strong>des</strong>te, wenn ich den Verdacht ausspreche,<br />

daß die Figur Faust heute schon beinahe unnachvollziehbar<br />

geworden ist. Zu fühlen, was der sogenannte „faustische<br />

Mensch" meinte, wenn er darüber klagte, „nur endlich" sein zu<br />

müssen, das sind wir kaum mehr instande. <strong>Die</strong> unendliche Sehnsucht<br />

nach dem Unendlichen, die fast ein Jahrtausend lang tiefste<br />

Leiden verursacht und höchste Leistungen befeuert hatte, verliert<br />

sich durch das „Unendliche", das wir in Händen halten, so rapide,<br />

daß wir eigentlich nur noch von ihr „wissen", nur noch<br />

wissen, daß es sie gegeben hat. Das Wichtigste, was von unseren<br />

Eltern, den „letzten <strong>Menschen</strong>", gegolten hatte, ist für uns Söhne,<br />

die „ersten Titanen", ungültig geworden; ihre liebsten Gefühle<br />

sind uns bereits fremd; und die Alternativen, mit deren Hilfe sie<br />

sich verstanden und ihr Dasein artikuliert hatten, schon außer<br />

Kurs.*<br />

Freilich, eine gewisse „unendliche Sehnsucht" existiert auch<br />

heute; und sogar eine, die leicht zur Epidemie werden könnte;<br />

aber sie ist keine, die heute noch lebendig wäre, sondern eine, die<br />

gerade erst auszubrechen beginnt; das grenzenlose Heimweh nämlich<br />

nach der „guten alten" Weltzeit, in der wir rechtschaffen endlich<br />

waren; also der verzweifelte maschinenstürmerische Wunsch,<br />

das über Nacht erworbene (oder uns aufgeladene) Titanenrum wieder<br />

abzuwerfen und, wie in der aetas aurea von gestern, wieder

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