12.01.2014 Aufrufe

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

200 <strong>Die</strong> Welt als Phantom und Matrize<br />

sich ohne Zielscheibe der Genuß <strong>des</strong> Zielens, ohne Beute-Tier der<br />

Genuß der Beschaffung eben nicht beschaffen ließ. Das Ziel war<br />

die Ausrede für die Mühe und den Weg.<br />

<strong>Die</strong>se Situation ist heute nun allgemein geworden. Und zwar<br />

dadurch, daß heute (so unglaubhaft das auch klingen mag) jeder,<br />

auch jeder Arbeiter, zur „leisure class" gehört. Was nicht falsch<br />

verstanden werden darf: denn gemeint ist damit lediglich, daß ihm<br />

das, was er zum Leben braucht, fertig zur Verfügung gestellt wird.<br />

Selbst der ärmste Baumwollpflücker im Süden kauft ja seine Bohnen<br />

in vorgebackenem Zustande, also genußfertig. Ja, gerade er. So<br />

wahr es auch heute noch ist, was das Neunzehnte Jahrhundert ausschließlich<br />

betont hatte: daß der Arbeitende an der Frucht seiner<br />

Arbeit nicht teilnehme; nicht minder wahr ist es heute im Zwanzigsten<br />

— und ohne Betommg dieses Pendants bliebe das Bild unseres<br />

Jahrhunderts unvollständig — daß er an der Arbeit, die ihm<br />

die Genußobjekte (vor allem die Muße-Objekte) ins Haus liefert,<br />

gleichfalls nicht teilnimmt. Sein Leben — unser aller Leben — ist<br />

doppelt entfremdet: Nicht nur aus Arbeit ohne Frucht besteht es,<br />

sondern auch aus Frucht ohne Arbeit. „Um Fische zu essen", heißt<br />

es in einem molussischen Spruch, „muß man Hasen jagen; und<br />

um Hasen zu essen, auf Fischfang ausziehen. Es ist nicht überliefert,<br />

daß irgendeiner, der Hasen gejagt hat, jemals Hasen gegessen<br />

hätte."<br />

<strong>Die</strong>se zweite Entfremdung zwischen der Arbeit und ihrer<br />

,Frucht' ist das charakteristische Trauma unserer Schlaraffensituation.<br />

Kein Wunder also, daß in ihr die Gier nach Mühe ausbricht;<br />

das Bedürfnis, zuweilen oder min<strong>des</strong>tens einmal eine Frucht zu<br />

genießen, die man selbst gezogen; ein Ziel zu erreichen, das man<br />

selbst erwandert; einen Tisch zu verwenden, den man selbst gezimmert<br />

hat; die Gier nach einem Widerstände, und nach der Anstrengung,<br />

diesen zu brechen.<br />

Und diese Gier stillt der Zeitgenosse nun. Und zwar auf künstlichste<br />

Weise: Nämlich dadurch, daß er, um Widerstände überwinden<br />

und deren Überwindung genießen zu können, Widerstände<br />

eigens herstellt, bzw. für sich herstellen läßt. Widerstände sind<br />

heute zu Produkten geworden.<br />

Unbekannt ist dieser Vorgang ja nicht. Weitgehend hatte ja be-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!