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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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140 <strong>Die</strong> Welt als Phantom und Matrize<br />

<strong>Die</strong>se braucht freilich nicht unbedingt in positivem Genuß zu<br />

bestehen; sondern — die Sprache hat leider kein eigenes Wort dafür<br />

— allein darin, daß die Angst oder der Hunger, die bei Fehlen<br />

<strong>des</strong> Genußobjektes auftreten würden, nicht ausbrechen können; so<br />

wie Atmen als solches keinen positiven Genuß zu bereiten braucht<br />

— dies in der Tat selten tut — Fehlen von Luft dagegen Lufthunger<br />

oder Panik zur Folge hat.<br />

<strong>Die</strong>ses Wort „Hunger" ist nun das Stichwort. Denn je<strong>des</strong> Organ<br />

glaubt, in demjenigen Augenblicke Hunger zu leiden, in dem es,<br />

statt besetzt, dem Vakuum ausgesetzt, also frei ist. Jeder momentane<br />

Nicht-konsum gilt ihm bereits als Not; wofür der Kettenraucher<br />

Kronbeispiel ist. So wird, horribili dictu, Freiheit (— Freizeit<br />

— Nichtstun = Nichtkonsum) mit Not identisch. <strong>Die</strong>s auch<br />

der Grund für die Nachfrage nach Konsummitteln, die pausenlos<br />

konsumiert werden können; die also die Gefahr der Sättigung<br />

nicht in sich bergen. Ich sage aber „Gefahr", weil Sattsein die<br />

Genußzeit ja limitieren, also dialektisch erweise wieder in Nicht-<br />

Konsumieren, also in Not umschlagen würde: dies die Erklärung<br />

für die Rolle <strong>des</strong> niemals endenden Gums und <strong>des</strong> noch und noch<br />

weiterlaufenden Radios.*<br />

Freilich stammt die perverse Identifizierung von Freiheit und<br />

Not, bzw. von Freiheitsberaubung und Glück nicht erst von heute:<br />

Schon das „Gesamtkunstwerk" <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts hatte auf<br />

den horror vacui spekuliert und Werke geliefert, die sich <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

total bemächtigen, die alle seine Sinne zugleich überfielen.<br />

Wie berauscht die Überfallenen davon waren, wie überwältigt sie<br />

die totale Freiheitsberaubung genossen, ist ja geschichtlich bekannt.<br />

Man braucht ja nur in den kurrenten Ausdruck „überwältigend",<br />

<strong>des</strong>sen genuiner Sinn gewöhnlich gar nicht mehr aufgefaßt<br />

wird, hineinzuhorchen, um zu verstehen, was ich meine. Und für<br />

„überwältigende" Aufführungen höchste Preise zu bezahlen, gehörte<br />

ja zum guten Ton. Nietzsche war der Erste, und bis heute<br />

fast der Einzige, der das Dubiose dieser „Überwältigung" an sich<br />

erfuhr und in Worte faßte. Freilich war die damalige Überwältigung,<br />

die in Bayreuth ihre Weihe erfuhr, im Vergleich zur heutigen<br />

noch durchaus human. Denn immerhin setzte doch die Idee<br />

<strong>des</strong> „Gesamtkunstwerks" noch eine altertümliche und ehrenwerte

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