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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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138 <strong>Die</strong> Welt als Phantom und Matrize<br />

nur nicht koordinierbar sind, sondern auf deren Koordination<br />

das Ich auch keinen Wert legt; und auf deren Koordination das Ich<br />

nicht nur keinen Wert legt, sondern deren Koordination das Ich<br />

sogar energisch ablehnt.<br />

In seiner zweiten Meditation hatte Descartes es als unmöglich<br />

bezeichnet, „a concevoir la moitie d'aucune äme". Heute ist die<br />

halbierte Seele eine Alltagserscheinung. Tatsächlich gibt es keinen<br />

Zug, der für den Zeitgenossen, min<strong>des</strong>tens für den müßigen, so<br />

charakteristisch wäre wie sein Hang, sich zwei oder mehreren disparaten<br />

Beschäftigungen zugleich hinzugeben.<br />

Der Mann im Sonnenbad etwa, der seinen Rücken bräunen läßt,<br />

während seine Augen durch eine Illustrierte schwimmen, seine<br />

Ohren am Sportsmatch teilnehmen, seine Kiefer einen gum kauen<br />

— diese Figur <strong>des</strong> passiven Simultanspielers und vieltätigen Nichtstuers<br />

ist eine internationale Alltagserscheinung.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, daß sie als selbstverständlich gilt und als normal<br />

akzeptiert ist, macht sie aber nicht etwa uninteressant; vielmehr<br />

erst vollends erklärungsbedürftig.<br />

Würde man diesen Mann im Sonnenbad fragen, worin denn nun<br />

seine „eigentliche" Beschäftigung bestehe; bei was seine Seele sich<br />

denn nun „eigentlich" aufhalte, er könnte natürlich nicht antworten;<br />

und zwar eben <strong>des</strong>halb nicht, weil die Frage nach etwa<br />

„Eigentlichem" bereits auf einer falschen Voraussetzung beruhte;<br />

nämlich auf der, daß er das Subjekt der Beschäftigung und<br />

<strong>des</strong> sich-Aufhaltens sei. Wenn von „Subjekt" oder „Subjekten"<br />

hier überhaupt noch gesprochen werden kann, so bestehen diese<br />

lediglich in seinen Organen: in seinen Augen, die sich bei ihren<br />

Bildern; seinen Ohren, die sich bei ihrem Sportsmatch; seinen Kiefern,<br />

die sich bei ihrem gum aufhalten — kurz: seine Identität ist<br />

so gründlich <strong>des</strong>organisiert, daß die Suche nach ,ihm selbst' die<br />

Suche nach etwas Nichtexistentem wäre. Zerstreut ist er also nicht<br />

nur (wie vorhin) über eine Vielzahl von Weltstellen; sondern in<br />

eine Pluralität von Einzelfunktionen.*<br />

<strong>Die</strong> Frage, was den Mann zu dieser <strong>des</strong>organisierten Betriebsamkeit<br />

treibe, was seine Einzelfunktionen so selbständig (oder<br />

so scheinbar autonom) mache, ist ja eigentlich schon beantwortet.<br />

Aber wiederholen wir: Es ist horror vacui; die Angst vor Selb-

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