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Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1

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Künstliche Schizophrenie 137<br />

könnten oder wollten, oder daß sie das auch nur wollen könnten.<br />

Da vielmehr das Ende <strong>des</strong> verengenden Druckes einer Explosion<br />

gleicht, und da die so plötzlich Befreiten von ihrer Arbeit her<br />

nichts anderes mehr kennen als Entfremdung, stürzen sie, sofern<br />

sie nicht einfach erschöpft sind, auf tausend Frem<strong>des</strong>, gleich auf<br />

welches; auf all das, was nach der Windstille der Langeweile die<br />

Zeit wieder in Gang zu bringen und in ein anderes Tempo zu<br />

versetzen geeignet ist: auf rapid wechselnde Szenen.<br />

Es gibt nichts, was diesen begreiflichen Hunger nach Omnipräsenz<br />

und Rapidität <strong>des</strong> Wechsels so vollständig befriedigte wie Radio<br />

und Fernsehsendungen. Denn diese kommen ja der Gier und der<br />

Erschöpfung gleichzeitig entgegen; Spannung und Entspannung,<br />

Tempo und Nichtstun, Gängelung und Muße — alles servieren sie<br />

zusammen; ja, sie ersparen es uns sogar, uns auf diese Zerstreuung<br />

zu stürzen, da diese uns ja entgegenstürzt — kurz: So vielfacher<br />

Versuchung zu widerstehen, ist nicht möglich. Kein Wunder also,<br />

daß der Fluch, auf zwei oder auf hundert Hochzeiten zugleich zu<br />

sein, unter dem jene Dichter gelitten hatten, nun zum (scheinbar)<br />

arglosesten Normal-Mußezustand geworden ist; also zum Zustand<br />

all jener, die, hiersitzend, dort sich aufhalten; und die nun, überall<br />

zugleich, also nirgends zu sein, so gewohnt sind, daß sie eigentlich<br />

schon nirgend mehr wohnen, jedenfalls an keinem Platze,<br />

geschweige denn in einer Wohnung, sondern höchstens noch in<br />

ihrer unwohnlichen, jeden Augenblick wechselnden, Zeitstelle: im<br />

Jetzt,<br />

Aber vollständig ist damit die „Zerstreutheit" <strong>des</strong> Zeitgenossen<br />

noch nicht beschrieben. Denn ihren Klimax findet sie in einem<br />

Zustand, den man nicht anders als „künstlich erzeugte Schizophrenie"<br />

nennen kann; und diese „Schizophrenie" ist nicht etwa<br />

nur ein Neben-Effekt der Zerstreuungsgeräte, sondern einer, der<br />

ausdrücklich beabsichtigt und auch vom Kunden verlangt wird;<br />

wenn natürlich auch nicht unter diesem Namen.<br />

Was verstehen wir hier unter „Schizophrenie"?<br />

Denjenigen Zustand <strong>des</strong> Ich, in dem dieses in zwei oder mehrere<br />

Teilwesen, min<strong>des</strong>tens in zwei oder mehrere Teilfunktionen<br />

zerschnitten ist; in Wesen oder Funktionen, die nicht nur nicht<br />

koordiniert sind, sondern auch nicht koordinierbar; und die nicht

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