Heimat-Rundblick Nr. 106 herbst 2013
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„Sehnsuchtsvoll nach dem vollen ganzen Leben“<br />
Die Bremer Malerin Elisabeth Noltenius (1888–1964)<br />
Das bewegte Leben der Bremer Malerin<br />
Elisabeth Noltenius (1888-1964) ist ein faszinierendes<br />
Stück Bremer Zeitgeschichte.<br />
Im „3-Kaiser-Jahr“ wurde sie als Tochter<br />
eines Rechtsanwalts geboren und wuchs<br />
mit drei Geschwistern in großbürgerlicher<br />
Atmosphäre auf. Ihr Talent zeigte sich früh,<br />
Elisabeth Noltenius<br />
doch die Kunstakademien in Deutschland<br />
gewährten Frauen keinen Zutritt, und so<br />
ließ sich Elisabeth Noltenius zur Zeichenlehrerin<br />
ausbilden – ein Beruf, der Frauen<br />
eher zugestanden wurde. Sie wusste wohl<br />
Unterricht bei<br />
Hans am Ende und<br />
Clara Rilke-Westhoff<br />
von Anfang an, dass ihr das nicht genügte,<br />
nahm Unterricht im Radieren bei Hans am<br />
Ende und lernte Bildhauern bei Clara Rilke-<br />
Westhoff. 1911 zog sie nach München, um<br />
an der dortigen „Damenakademie“ Kunst<br />
zu studieren. In einer Zeit, in der Universitäten<br />
und Akademien Frauen kategorisch<br />
vom Studium ausschlossen, war eine<br />
Damenakademie die einzige Möglichkeit<br />
für Frauen, sich systematisch auf den Beruf<br />
der bildenden Künstlerin vorzubereiten.<br />
Doch nur die wenigsten Absolventinnen<br />
übten ihn anschließend auch wirklich aus:<br />
Noch immer galt eine Ausbildung für bürgerliche<br />
Frauen vor allem als Zeitvertreib,<br />
um die Jahre bis zur Heirat sinnvoll zu überbrücken.<br />
Elisabeth Noltenius hatte andere<br />
Pläne: Sie genoss das Studium, die Anregungen<br />
der Großstadt und die Freiheiten<br />
eines selbstständigen Lebens fern von<br />
zuhause.<br />
Der Erste Weltkrieg, den sie in München<br />
erlebte, brachte ihr tragische Verluste:<br />
Beide Brüder fielen im Krieg, ihre Schwester<br />
starb, als sie im Lazarett Soldaten<br />
pflegte. 1919 wurde ihr Verlobter in der<br />
Münchner Räterepublik als Geisel erschossen,<br />
zeitgleich starb ihr Vater. Elisabeth<br />
Noltenius kehrte nach Bremen zurück und<br />
musste von nun an allein für sich und ihre<br />
Mutter sorgen, indem sie mit ihrer Kunst<br />
Geld verdiente.<br />
Lebensunterhalt mit<br />
Kunst verdient<br />
Mit beeindruckendem Lebensmut und<br />
unbedingtem Willen zur Kunst behauptete<br />
sich die junge Malerin trotz der Schicksalsschläge:<br />
Sie richtete sich in Bremen am<br />
Osterdeich ein eigenes Atelier ein und<br />
begann, sich mit Auftragsarbeiten als Porträtistin<br />
ihr Geld zu verdienen. Zwei Jahre<br />
später entdeckte sie bei Radfahrten in der<br />
Bremer Umgebung den kleinen Ort Meyenburg<br />
in der Nähe von Schwanewede für<br />
sich – hier fand sie die Ruhe und Nähe zur<br />
Natur, die sie zum Malen brauchte, und<br />
mietete sich ein Atelier. In den folgenden<br />
Jahren schuf sie unzählige Bilder: Landschaftsgemälde,<br />
deren Motive sie in und<br />
um Meyenburg fand, aber auch Stillleben<br />
und Porträts. Ihre Werke zeugen von ihrer<br />
intensiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen<br />
Kunstströmungen, aber<br />
auch von ihrer Liebe zur norddeutschen<br />
Landschaft.<br />
Die Sehnsucht nach dem Leben lockte<br />
sie aber auch in die Ferne: In den 1920er<br />
Spanische Landschaft<br />
Elisabeth Noltenius: Selbstporträt<br />
und 1930er Jahren reiste sie nach Italien<br />
und Spanien, nach Ungarn und Norwegen.<br />
Meist reiste sie allein, was in dieser<br />
Zeit alles andere als selbstverständlich für<br />
Frauen war. Sie vertiefte sich in die Kunstschätze<br />
vor Ort, verbrachte Stunden in<br />
Museen und Kirchen, schaute, zeichnete<br />
und führte ein Tagebuch, in dem sie ihre<br />
oft leidenschaftlichen, oft aber auch kritischen<br />
Beobachtungen festhielt. Sie nahm<br />
Unterricht bei Willi Jäckel in Berlin und studierte<br />
einige Zeit in Paris, um sich künstlerisch<br />
weiterzuentwickeln. Um als unverheiratete<br />
Frau ihr Auskommen zu sichern,<br />
musste sie auch Zeichenunterricht und<br />
Kunstgeschichtskurse geben und vor allem<br />
Porträtaufträge annehmen.<br />
Vielbeschäftigte Porträtistin<br />
Dass sie zur gefragten Porträtistin<br />
wurde, war Fluch und Segen zugleich:<br />
Zwar bescherten ihr die Aufträge, die sie<br />
durch ganz Deutschland und bis in die<br />
Schweiz führten, ein mehr oder weniger<br />
regelmäßiges Einkommen, aber oft genug<br />
waren künstlerische Zugeständnisse an die<br />
Auftraggeber erforderlich, und die Porträtmalerei<br />
kostete viel Zeit und Kraft, die ihr<br />
für die eigene künstlerische Arbeit fehlte.<br />
Nach 1933 setzte sich Elisabeth Noltenius<br />
wiederholt für ihre Freundin und<br />
Kollegin, die jüdische Malerin Dora Bromberger<br />
ein. Sie organisierte mehrfach Ausstellungen<br />
in ihrem Atelier mit den Bildern<br />
der Freundin und intervenierte – vergeblich<br />
– bei der Gestapo, als Dora Bromberger<br />
mit ihrer Schwester in ein Lager<br />
abtransportiert werden sollte. Im November<br />
1939 schrieb sie in ihr Tagebuch über<br />
24 RUNDBLICK Herbst <strong>2013</strong>