(Russland) Tatjana Dmitrieva - Bkjpp
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Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 4– 2005 100<br />
hinaus: Als Slater 8 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter, die offenbar<br />
zeitlebens nicht sonderlich begabt war, emotionale Nähe zu ihrem<br />
Sohn herzustellen. Sie war zuvor schwer erkrankt, doch niemand<br />
sprach mit ihm über den bevorstehenden Tod der Mutter, so dass er<br />
annahm, sie sei schwanger. Die Vorstellung, einen kleinen Bruder<br />
oder eine kleine Schwester zu haben gefiel ihm. Er ging nicht zur<br />
Beerdigung, wusste nicht einmal, dass sie stattfand. Sein Vater<br />
blieb sprachlos und servierte ihm zwei Jahre lang Marshmallows auf<br />
dem Nachttischchen: „Ich weiß doch, dass du die am liebsten<br />
magst“. Das stimmte nicht, und er wusste es, aber kurz vor dem<br />
Tod der Mutter hatte Slater in einem Schulaufsatz geschrieben, sie<br />
seien in puncto Essen das, was einem Kuss am nächsten komme.<br />
Essen statt sprechen oder Liebe. Liegt hier ein Risikofaktor für Essstörungen<br />
oder andere psychische Erkrankungen bei den Kindern<br />
oder gar Enkeln infolge der Unfähigkeit, emotionale Konflikte verbal<br />
auszutragen? Die Horrorstory geht jedenfalls weiter: Menschen, die<br />
ihm lieb sind, wie z. B. der junge Gärtner, der sich in seiner Gegenwart<br />
immer ungeniert umzieht, werden umgehend entfernt, sobald<br />
Slater etwas Emotionales verlauten lässt. Der Vater will aus seinem<br />
mittlerweile neunjährigen „weibischen Muttersöhnchen“ einen<br />
„strammen Sohn“ machen, auf „den man stolz sein kann“: Unwichtig<br />
war, dass dem Muttersöhnchen bisher jedes Ei, das es zu schlucken<br />
versucht hatte, wieder hochgekommen war. Laut Vater machten<br />
„die Eier den Mann“. Wenn der Vater an seiner Diagnose noch<br />
irgendwelche Zweifel hatte, räumte die staatliche Werbekampagne<br />
für Eier sie aus. In der Fernsehwerbung sah man einen süßen blonden<br />
Frechdachs sein Frühstücksei aufklopfen, ganz zur Freude seiner<br />
pausbäckigen Tante. Genau die Art von Junge, die sich der Vater<br />
vorstellte. Jahrelang hatte die Mutter für Slater gelogen. Kein<br />
Problem, da er ja zu Abend aß, bevor der Vater nach Hause kam.<br />
Nach Angaben der Mutter hatte Slater zwei gekochte Eier verschlungen<br />
oder zwei verlorene auf Toast. Slater hatte bei den<br />
Rühreiern Nachschlag verlangt und sogar noch ein Spiegelei in Angriff<br />
genommen, wenn auch nicht ganz geschafft. Der Vater zweifelte<br />
nicht eine Sekunde an den Worten der Mutter. Wahrscheinlich<br />
hielt er sie gar nicht für fähig, ihn anzulügen. Aber: „Es stand<br />
schwabbelnd da – das Essen, das aus der Hölle kam. Bei dem Eiweiß<br />
schnürte es einem die Kehle zusammen. Bei dem Eigelb kam<br />
einem das Kotzen“.