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6 — Masterarbeit heilpädagogik aktuell — Frühjahr 2013<br />

Beim Coping<br />

half vor allem die Familie<br />

Welche Möglichkeiten der Bewältigung finden Kinder und Jugendliche mit einer<br />

Krebserkrankung? Ergebnisse einer Masterarbeit aus heilpädagogischer Perspektive.<br />

Ein Junge (acht Jahre alt) zeichnet zwei Raumschiffe, die mit der Erde kämpfen.<br />

Der Junge ist in dem kleinen Raumschiff, das abstürzt.<br />

Ein Junge (zehn Jahre alt) malt im Sommer Bäume ohne Laub und Erde, die nicht grünt.<br />

Als er den schwierigsten Teil seiner inneren Auseinandersetzung hinter sich hat,<br />

zeichnet er im Winter ein Bild, das zeigt, dass er jetzt an Kontakten interessiert ist<br />

und sich dem Leben wieder neu zuwendet.<br />

Quelle: Ursula Haupt (2003). Körperbehinderte Kinder verstehen lernen (3. Aufl.). Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben, Seite 3 und Seite 186.<br />

Dr. Lars Mohr<br />

Jedes Jahr erkranken in der Schweiz bis zu<br />

250 Kinder und Jugendliche an Krebs. Für<br />

das Alter von 0 bis 14 Jahren zählt das Schweizer<br />

Kinderkrebsregister 1’941 Diagnosen im<br />

Zeitraum von 2002 bis 2011 (siehe «annual<br />

report 2011–2012», S. 22 f., www.kinderkrebsregister.ch).<br />

Jede der Diagnosen ist ein<br />

Schicksalsschlag für die Patienten wie für<br />

ihre Familien. Zwar sind die Heilungschancen<br />

im Kindes- und Jugendalter grösser als<br />

bei Erwachsenen, dennoch handelt es sich<br />

um sehr ernste Erkrankungen. Von den Betroffenen<br />

und den Angehörigen verlangen<br />

sie alle Kräfte. Wie geht man damit um? Wie<br />

lässt sich die Krankheit in psychischer<br />

Hinsicht bewältigen? Wie verläuft ein Coping<br />

– so der englische Fachbegriff für Bewältigung<br />

– und was kann eine pädagogische<br />

Begleitung tun?<br />

Mit diesen Themen haben sich Christine<br />

Fluri und Franziska Flury während ihres Studiums<br />

eingehend auseinander gesetzt. Sie<br />

absolvierten von 2006 bis 2009 den Masterstudiengang<br />

«Sonderpädagogik mit Vertiefungsrichtung<br />

Schulische Heilpädagogik»<br />

(SHP) an der <strong>HfH</strong>. Gemeinsam verfassten sie<br />

ihre Abschlussarbeit über «Coping bei Krebserkrankungen<br />

im Kindes- und Jugendalter».<br />

Interviews mit Betroffenen<br />

Ausführlich kommen in der Masterarbeit<br />

Betroffene zu Wort. Aus forschungsethischen<br />

Gründen befragten die Autorinnen jedoch<br />

keine Kinder mit akuter Erkrankung, sondern<br />

retrospektiv junge Erwachsene. Entsprechend<br />

formulierten sie die Fragestellung:<br />

«Wie beschreiben und beurteilen junge<br />

Erwachsene in der Rückschau ihr Coping mit<br />

ihrer Krebserkrankung im Kindes- und<br />

Jugend alter? Welche pädagogischen Konsequenzen<br />

lassen sich daraus ziehen?» Fluri<br />

und Flury führten Leitfadeninterviews mit<br />

fünf Frauen, eine sechste beantwortete die<br />

Fragen schriftlich. Die Diagnose «Krebs» erhielten<br />

die Auskunftspersonen im Alter zwischen<br />

elf und 16 Jahren. Den Kontakt zu<br />

ihnen ermöglichte vor allem die Selbsthilfegruppe<br />

Childhood Cancer Survivors Switzerland<br />

(www.survivors.ch).<br />

Für die Auswertung der Befragung<br />

stützten sich Fluri und Flury hauptsächlich<br />

auf das Analysemodell kritischer Lebensereignisse<br />

von Sigrun-Heide Filipp, Psychologie-Professorin<br />

an der Universität Trier.<br />

Anschaulich arbeiten die Autorinnen heraus,<br />

Masterarbeit<br />

C. Fluri und F. Flury absolvierten das<br />

SHP-Studium mit dem Schwerpunkt<br />

«Pädagogik für Körper- und Mehrfachbehinderte»<br />

bzw. «Pädagogik für<br />

Menschen mit geistiger Behinderung».<br />

Heute arbeiten die Fachpersonen<br />

in der Integration: C. Fluri auf der<br />

Primarschulstufe in verschiedenen<br />

Gemeinden für das Zentrum für<br />

körper- und sinnesbehinderte Kinder<br />

und Jugendliche Solothurn, und<br />

F. Flury in einem Kindergarten in<br />

Langendorf SO. Die Masterarbeit ist<br />

verfügbar über htp://biblio.uzh.ch.<br />

dass der Umgang ihrer Gesprächspartnerinnen<br />

mit der Erkrankung und deren Behandlung<br />

stets individuell geprägt ist.<br />

Eine der Frauen schildert etwa, wie sie<br />

angesichts der schmerzhaften Therapie ausfällig<br />

reagierte. Sie habe zuweilen «geflucht<br />

und […] ausgeschlagen». Anders klingt es bei<br />

einer zweiten Gesprächspartnerin. Sie beschreibt<br />

sich nach aussen als widerstandslos:<br />

«Ich sagte immer nur ja, war mit allem einverstanden.»<br />

Stattdessen berichtet sie von<br />

starken psychischen Folgen wie depressiven<br />

Gefühlen, sozialem Rückzug, Schlafschwierigkeiten<br />

und Angst.<br />

Neben den Unterschieden im Coping-<br />

Verhalten zeigt die Arbeit von Fluri und Flury<br />

durchaus Gemeinsamkeiten in den Coping-<br />

Themen, d. h. in den Herausforderungen, vor<br />

denen die Betroffenen stehen. So äussern alle<br />

Frauen, dass ihren Krebs-Diagnosen eine<br />

Zeit der Fehleinschätzungen und teilweise<br />

der Unterstellungen vorausging. Zum körperlichen<br />

Unbehagen kam somit das Gefühl<br />

hinzu, nicht ernst genommen zu werden.<br />

Eine der Interviewten erzählt: «Ich hatte ja,<br />

seit ich sieben war, immer Kopfschmerzen<br />

und keiner wusste warum. Es hiess immer:<br />

Simulant, der nicht in die Schule will.» Übereinstimmend<br />

nennen die Befragten als wichtige<br />

Coping-Themen zudem: den Haarausfall<br />

während der Therapie, den grossen Einfluss<br />

wechselnder Gesundheitszustände oder das<br />

Finden von Ausdrucksmöglichkeiten für die<br />

eigenen Gefühle wie zum Beispiel Malen,<br />

Anlegen von Fotoalben oder Tagebuch-<br />

Schreiben.<br />

Die Bedeutung von Familie und Schule<br />

In den sozialen Beziehungen erlangt die Familie<br />

höchste Bedeutung: Mutter, Vater, Geschwister,<br />

nahe Verwandte. «Das beschreiben<br />

auch diejenigen Befragten, welche zum<br />

Zeitpunkt der Diagnose am Anfang der Pubertät<br />

und damit eigentlich in einer Phase der<br />

Ablösung standen», betonen Fluri und Flury.<br />

Als wesentlich geringer beurteilen die Interviewpartnerinnen<br />

die Relevanz der Schule.<br />

Dennoch lassen sich aus ihren Aussagen zumindest<br />

drei Hinweise gewinnen: Erstens<br />

haben die Befragten die Krankenbesuche<br />

ihrer Lehrpersonen geschätzt, aber nur,<br />

wenn sie diese als authentisch erlebten. Das<br />

heisst: mit ehrlichem Interesse an ihrer Person<br />

und einer gewissen Unbeklommenheit<br />

gegenüber der Erkrankung. Zweitens sollte<br />

die Regel-Schule dafür sorgen, dass die Lehrpersonen<br />

im Spital über den Lernstand des<br />

Kindes genau Bescheid wissen. Drittens gilt<br />

es, die Wiederaufnahme des Kindes in die<br />

«alte» Schule nach dessen Bedürfnissen zu<br />

gestalten, zum Beispiel – sofern gewünscht –<br />

die Klasse über den Verlauf der Krankheit<br />

und der Genesung vorab zu informieren.<br />

Dies hilft, bei der Rückkehr nicht immer<br />

dieselben Fragen beantworten zu müssen.<br />

Und schliesslich ist eine pädagogische Einsicht<br />

festzuhalten, die Christine Fluri und<br />

Franziska Flury in die Worte fassen: «Nachvollziehbar<br />

scheint uns, dass die Schule auch<br />

aus Sicht der Eltern an Gewicht verlieren<br />

kann, wenn das eigene Kind schwer krank<br />

im Spital liegt.»<br />

Dr. Lars Mohr ist an der Interkantonalen<br />

Hochschule für Heilpädagogik im Masterstudiengang<br />

Sonderpädagogik in der Lehre tätig.

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