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4 — Reportage<br />
Im Spital ist die Schule<br />
Vom Recht auf Schule und der grossen Befriedigung der Lehrpersonen beim Unterrichten<br />
von kranken Kindern – eine Reportage im Kinderspital Zürich: im Rehabilitationszentrum,<br />
auf der Psychosomatisch-Psychiatrischen Therapiestation und im Akutspital.<br />
Christine Loriol (Text)<br />
Thomas Burla (Fotos)<br />
Drei Kinder sind an diesem Morgen da. Jedes<br />
sitzt an einem Pult, zusammen mit einer<br />
Frau, und arbeitet. Es ist ruhig, auch wenn<br />
gesprochen wird. Es sind zwei Schulzimmer,<br />
getrennt durch eine Faltwand, die an diesem<br />
Morgen offen steht: hell, freundlich, das übliche<br />
Interieur. Schulmaterial, Arbeiten von<br />
Kindern, ein Schreibtisch mit Computer für<br />
die Lehrerin. Das Aussergewöhnliche zeigt<br />
sich an der Pinnwand neben der Türe: Dort<br />
hängt der Stundenplan der aktuellen Woche.<br />
Ein Stundenplan pro Kind! Und darin stehen<br />
nicht nur Schulstunden, sondern auch Physiotherapie,<br />
Ergotherapie, Logopädie, Gehtraining,<br />
Sporttherapie, Neuropsychologie<br />
usw. – je nach dem.<br />
Das eine ist das Schulzimmer von Anita<br />
Dutler. Sie ist Klassenlehrerin Unterstufe im<br />
Rehabilitationszentrum des Kinderspitals<br />
Zürich in Affoltern am Albis, Primarlehrerin,<br />
Schulische Heilpädagogin (SHP) und seit<br />
16 Jahren hier tätig. Wie später ihre Kolleginnen<br />
im Akutspital und in der Psychosomatisch-Psychiatrischen<br />
Therapiestation sagt sie,<br />
für diese Art Lehrberuf sei eine Zusatzausbildung<br />
als Schulische Heilpädagogin von grossem<br />
Vorteil. Und wie ausnahmslos alle Kolleginnen<br />
betont sie, wie gross die Zufriedenheit<br />
bei dieser Art Arbeit mit den Kindern sei,<br />
getragen von einem starken Gefühl von Sinn.<br />
Grosse Wertschätzung der Schule<br />
Rund 50 Kinder und Jugendliche werden im<br />
Rehabilitationszentrum von Lehrpersonen,<br />
pädagogischen Mitarbeiterinnen und Praktikantinnen<br />
schulisch betreut. Als Teil des<br />
Rehabilitationsprogrammes wird der Schulunterricht<br />
individuell mit den verschiedenen<br />
Therapien abgestimmt. Deshalb werden von<br />
den Disponentinnen der Institution wöchentlich<br />
um 4’000 Termine für die unterschiedlichen<br />
Rehabilitationsaktivitäten der<br />
Schülerinnen und Schüler geplant.<br />
Unterrichtet werden Kinder bereits im<br />
Vorschulalter (bis Vierjährige in der heilpädagogischen<br />
Früherziehung), im Schulalter im<br />
Kindergarten und auf Unter-, Mittel- und<br />
Oberstufenniveau sowie in zwei heilpädagogischen<br />
Förderklassen. Alle Kinder haben<br />
einen individuell abgestimmten Förderplan,<br />
und es finden Absprachen mit der Herkunftsschule<br />
statt. Schulleiter Richard Kissling:<br />
«Auch Kinder im Spital oder in einem<br />
Rehabilitationsprozess haben ein Recht auf<br />
Schule.» Für sie kann die Schule auch das<br />
Highlight des Tages sein, eine Struktur, die<br />
sie trägt und die etwas Normalität in den<br />
Spitalalltag bringt. «Dann sind sie Schülerinnen<br />
und Schüler – und nicht primär Patienten»,<br />
sagt Richard Kissling. «Die Schule ist<br />
ein Ort, an dem es darum geht, was sie (noch)<br />
können und wie sie eigene Ressourcen zum<br />
Wiederaufbau von Fehlendem oder zu Kompensationsstrategien<br />
nutzen können.» Und<br />
die Schule ist auch der Ort, «an dem der<br />
Schmerz einmal Pause macht.»<br />
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />
ist intensiv, die Wertschätzung der Schule im<br />
Rehabilitationszentrum sehr gross. «Wir haben<br />
Zugang zu allen Informationen und stehen<br />
in ständigem Austausch», sagt Klassenlehrerin<br />
Anita Dutler. Dies mache einen Teil<br />
ihrer beruflichen Zufriedenheit aus, «und<br />
In der Schule im Rehabilitationszentrum des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis: Schüler mit Klassenlehrerin Anita Dutler.<br />
natürlich der Erfolg der Kinder! Man darf<br />
nicht vergessen, wie sehr die Kinder auch<br />
psychisch herausgefordert sind. Wenn ein<br />
Kind nach einem Unfall nicht mehr sprechen<br />
kann und fast daran verzweifelt, weil es<br />
weiss, dass es das einmal konnte, dann ist es<br />
schön und befreiend, wenn so ein Kind dann<br />
zum ersten Mal mit wenigen Sätzen wieder<br />
eine Geschichte erzählt!»<br />
Die Kinder bleiben zwischen ein paar<br />
Wochen und mehreren Monaten im Rehabilitationszentrum.<br />
Anita Dutler: «Wir wissen,<br />
dass sie wieder gehen und freuen uns mit<br />
ihnen. Aber manchmal ist es auch gar nicht<br />
so einfach, ein Kind wieder ziehen zu lassen.<br />
Sie wachsen uns schon auch ans Herz.»<br />
Heilpädagogik in der Psychosomatik<br />
Während die Schule im Rehabilitationszentrum<br />
Affoltern am Albis aussieht wie eine<br />
normale Schule, erinnert die Psychosomatisch-Psychiatrische<br />
Therapiestation des<br />
Kinderspitals in der Stadt Zürich im Baustil<br />
ein bisschen an ein Ferienlagerhaus: ein von<br />
aussen schlichtes Gebäude, zweigeschossig,<br />
das einen Innenhof formt bzw. umfängt. Es<br />
hat diese freundliche, farbige, leichte Ausstrahlung,<br />
die man von Häusern aus Nordeuropa<br />
kennt und auch diese gescheite Funktionalität:<br />
im Parterre sind die Schulzimmer,<br />
Therapieräume und Büros, in der oberen<br />
Etage ist der Wohnbereich mit persönlichen<br />
Zimmern und Gemeinschaftsräumen.<br />
Aufgenommen werden hier Kinder und<br />
Jugendliche, die an komplexen, oft langdauernden<br />
pyschosomatischen Störungen<br />
(insbesondere Anorexie und Bulimie) oder<br />
anderen Krankheitsbildern leiden, welche<br />
«Die interdisziplinäre<br />
Zusammenarbeit<br />
ist intensiv.»<br />
Anita Dutler, Lehrerin<br />
Unterstufe und SHP,<br />
Rehabilitationszentrum Affoltern<br />
durch ambulante Behandlungen nicht gebessert<br />
werden konnten. Durch den regelmässigen<br />
Austausch von psychiatrischen, psychologischen,<br />
heilpädagogischen und medizinischen<br />
Perspektiven soll eine ganzheitliche<br />
Diagnostik und Therapie erreicht<br />
werden.<br />
Monika Kudelski ist Primarlehrerin und<br />
Schulische Heilpädagogin. Sie unterrichtet<br />
seit 22 Jahren in der Psychosomatisch-<br />
Psychia trischen Therapiestation: «Und ich<br />
lerne immer noch jeden Tag hinzu! Ich freue<br />
mich immer noch.» Drei Lehrpersonen stehen<br />
zur Verfügung: ein weiterer Primarlehrer<br />
und Heilpädagoge sowie ein Oberstufenlehrer.<br />
In zwei Schulzimmern unterrichten sie<br />
alle Schulniveaus in Gruppen von sechs bis<br />
sieben Kindern mit jeweils individuellem<br />
Arbeitsplan. «Flexibel ist bei uns das grosse<br />
Wort», sagt Monika Kudelski, «das prägt unsere<br />
Arbeit.» Am Morgen stehen immer vier<br />
Lektionen Schulunterricht auf dem Programm,<br />
an dem alle teilnehmen. Am Nachmittag<br />
finden verschiedene Gruppenarbeiten<br />
statt: von Gespräch über Entspannung bis zu<br />
Kunst-Ausdruck, Ergotherapie und Psychomotoriktherapie.<br />
Die Kinder und Jugendlichen<br />
– von Mittelstufe bis Gymnasium –<br />
sind im Durchschnitt drei Monate lang hier.<br />
«Wir versuchen einerseits, ihnen den Anschluss<br />
an ihre Stammschule nach der Rückkehr<br />
zu ermöglichen. Und das gelingt meistens.<br />
Andererseits hat die Schule hier ganz<br />
klar einen therapeutischen Auftrag.»<br />
Das heisst etwa: Alltagskonfrontation,<br />
Tagesstruktur, aber auch interdisziplinäre<br />
Information und genaue Beobachtung. Es<br />
geht u. a. auch um Schulangst, jegliche Arten<br />
von Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten<br />
und somatoforme Störungen, d. h.<br />
körperliche Symptome, die anhaltend oder