Ausgabe 5a | 2013 (PDF 11.0 MB) - LCH
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BILDUNG SCHWEIZ 5 a I <strong>2013</strong> ............................................................<br />
26<br />
Verstehen, was in der Bildung läuft<br />
Autonomie, Eigenverantwortung, Qualitätssteuerung, Outputsteuerung etc.<br />
sind Ergebnisse der Schulentwicklung der letzten Jahrzehnte. Drei unterschiedliche<br />
Publikationen ermöglichen vertiefte Einblicke in den Wandel in<br />
der Bildungslandschaft.<br />
Wer schon seit einiger Zeit unterrichtet,<br />
hat in den letzten 15<br />
Jahren im System Schule viel<br />
Veränderung erlebt. Festmachen<br />
lässt sich der Wandel an<br />
Begriffen wie Teilautonomie,<br />
geleitete Schule, Schulprofil,<br />
Schulprogramm, Entwicklungsplanung,<br />
Personalentwicklung,<br />
Kooperation, Selbst- und Fremdevaluation,<br />
Qualitätsmanagement,<br />
Outputsteuerung, Evidenz,<br />
Effektivität, Bildungsstandards,<br />
Leistungstests, Accountability<br />
(eigenverantwortliche Rechenschaftslegung).<br />
Das New public<br />
management NPM oder auf<br />
deutsch die wirkungsorientierte<br />
Verwaltungsführung WOV<br />
sind Überbegriffe der neuen<br />
Formen von Governance und<br />
Steuerung.<br />
Jürg Brühlmann, Leiter Pädagogische<br />
Arbeitsstelle <strong>LCH</strong><br />
Dahinter stehen Vorstellungen<br />
eines schlanken Staates, wie<br />
sie der Neoliberalismus schon<br />
seit Ende des Weltkriegs konzipiert<br />
hat und die sich dann in<br />
den 80er Jahren und verstärkt<br />
nach dem Zusammenbruch<br />
der kommunistischen Diktaturen<br />
in den 90er Jahren weltweit<br />
unter Führung des IWF<br />
und der Weltbank in unterschiedlichsten<br />
Ausprägungen<br />
durchgesetzt haben.<br />
Interessanterweise begann die<br />
Umsetzung zuerst nach dem<br />
Militärputsch gegen Allende in<br />
Chile 1973, dann später unter<br />
Maggie Thatcher in GB (Argentinienkrieg),<br />
unter Ronald Reagan<br />
in den USA (Krieg der<br />
Sterne) oder unter Deng Xiao<br />
Ping in China (grosser Sprung).<br />
Sozialdemokratische Varianten<br />
entstanden mit Blair/Giddens<br />
in GB (dritter Weg) oder unter<br />
Schröder (Hartz IV) in Deutschland.<br />
«Mehr Freiheit – weniger Staat»<br />
Über Milton Friedman, Friedrich<br />
Hayek und die Logik einer<br />
eigenverantwortlichen und autonomen<br />
Konzeption des Individuums<br />
mit entsprechendem<br />
Staat berichtet Thomas Biebricher<br />
in einer gut verständlichen<br />
Übersicht zu den letzten<br />
60 Jahren in einem kleinen<br />
weissen handlichen Büchlein.<br />
Der öffentliche Startschuss in<br />
der Schweiz war der Freisinnige<br />
Wahlslogan von 1979:<br />
«mehr Freiheit – weniger<br />
Staat». Die Jugendbewegung<br />
der 80er Jahre bevorzugte die<br />
abgewandelte Variante: «Macht<br />
aus dem Staat Gurkensalat».<br />
Das war die Programmansage.<br />
Die radikale Umsetzung des<br />
realen Neoliberalismus geschieht<br />
oft in Form eines komplexen<br />
PPP (Public Private<br />
Partnership)-Gebildes, in dem<br />
private Unternehmen die früher<br />
als Service public öffentlich<br />
organisierten Monopolaufgaben<br />
wie Kommunikation (Telefon,<br />
Post, Internet), Verkehr<br />
(Bahn, Autobahnen), Wasserversorgung<br />
oder eben Bildung<br />
vom Staat übernehmen und<br />
den Menschen und dem Staat<br />
die Leistungen gewinnbringend<br />
zurückverkaufen.<br />
«Sinnlose Wettbewerbe»<br />
Die gemässigte Version des<br />
Neoliberalismus ist die Inszenierung<br />
von künstlichen Wettbewerben,<br />
wie sie Matthias<br />
Binswanger treffend beschrieben<br />
hat.<br />
«Steuerung im Bildungssystem»<br />
Die entstandene komplexe<br />
Governance (Steuerung und<br />
Einflussnahme aller Akteure)<br />
speziell im Bereich Bildung und<br />
Schule beschreiben diverse<br />
Autoren in einem sehr erhellenden<br />
Sammelband, herausgegeben<br />
von Altrichter/Brüsemeister/Wissinger.<br />
Dieses Buch<br />
gibt eine zwar recht theoretische,<br />
aber gerade deshalb auch<br />
sehr spannende Übersicht zu<br />
Modellen, Fragestellungen und<br />
Forschungsergebnissen der<br />
heutigen Systemsteuerung und<br />
Koordination auf Ebene Schulen,<br />
Gemeinden und Bildungsverwaltungen.<br />
Wer verstehen<br />
will, was rund um das Klassenzimmer<br />
herum geschieht, ist<br />
damit gut bedient. Wer noch<br />
mehr verstehen will und etwas<br />
in den Zug oder in die Ferien<br />
braucht, kauft sich das Büchlein<br />
von Biebricher.<br />
Altrichter, Herbert / Brüsemeister,<br />
Thomas / Wissinger, Jochen<br />
(Hg.) (2007): «Educational<br />
Governance. Handlungskoordination<br />
und Steuerung im<br />
Bildungssystem.» VS Verlag für<br />
Sozialwissenschaften, 260 Seiten,<br />
CHF 50.–<br />
Biebricher, Thomas (2012):<br />
«Neoliberalismus zur Einführung»,<br />
Junius Verlag,<br />
226 Seiten, CHF 20.–<br />
Binswanger, Matthias (2010):<br />
«Sinnlose Wettbewerbe».<br />
Herder, 239 Seiten, CHF 15.–<br />
Ethik für den<br />
Berufsalltag<br />
In Italien wurden 1977 die<br />
Kleinklassen und Sonderschulen<br />
abgeschafft, 1978 die stationäre<br />
Psychiatrie. Kinder und<br />
Jugendliche mit Behinderung<br />
besuchen seither die Volksschulen<br />
und die Schulen der<br />
Sekundarstufe II. Dass ethische<br />
Fragen unter diesen Bedingungen<br />
einen besonderen<br />
Stellenwert haben, liegt auf der<br />
Hand.<br />
Der Autor Elmar Tratter arbeitet<br />
heute als Ausbildner für Sozial-<br />
und Gesundheitsberufe.<br />
Als «Teilzeit-Alleinerziehender»<br />
kennt er Kinderfragen.<br />
Früher war er an Volksschulen<br />
tätig und hat ursprünglich Maschinenbau<br />
gelernt. Er hat Philosophie<br />
studiert und schafft<br />
es, uns mit seinem sehr didaktisch<br />
konzipierten Buch an alltägliche<br />
und berufliche Grundfragen<br />
heranzuführen.<br />
Teams können mit seinen Anleitungen<br />
analysieren, wie sie<br />
argumentieren. Wir erhalten<br />
ein Modell zum Entscheiden<br />
nach ethischen Kriterien und<br />
wir werden geprüft mit Fragen<br />
zum Leben und zu den Geheimnissen<br />
der Welt, welche<br />
auch Kinder schon früh stellen.<br />
Wer das 164 Seiten dünne Buch<br />
liest, erhält zudem Einblicke in<br />
verschiedene ethische Theorien,<br />
zum Beispiel zur Bedeutung<br />
der Anerkennung bei Axel<br />
Honneth. Gerade weil ethische<br />
Themen bei uns bisher eher<br />
stiefmütterlich behandelt wurden,<br />
in diesem Buch aber an<br />
sehr konkreten Fragestellungen<br />
aus dem inklusiven Berufsalltag<br />
praxisbezogen dargestellt<br />
sind, lohnt es sich, einen<br />
Blick hineinzuwerfen.<br />
<br />
Jürg Brühlmann<br />
Tratter, Elmar (<strong>2013</strong>): «Ethik in<br />
der Heilerziehungspflege», Köln:<br />
Bildungsverlag EINS,<br />
ca. CHF 20.–