NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 4 | 28. April 2013<br />
Mani Matter Die Biografie | Judith Kuckart Wünsche | Mo Yan Frösche |<br />
Doris Knecht Besser | Porträt von Alaa al-Aswani | Mario Vargas Llosa Alles<br />
Boulevard | Werner Ort Heinrich Zschokke | Urs Schoettli Die neuen Asiaten |<br />
Weitere Rezensionen zu Ernst Herbeck, Navid Kermani, Carlo Ginzburg,<br />
Stephen Hawking und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Inhalt<br />
Den roten<br />
Faden finden<br />
Mani Matter<br />
(Seite 19).<br />
Illustration von<br />
André Carrilho<br />
Der italienische Historiker Carlo Ginzburg reflektiert in seinem neuen<br />
Essayband über die Schwierigkeit eines Forschers, «im Labyrinth aus<br />
Ideen, Hypothesen, Lektüren, das tausend Irrwege bereithält», den<br />
roten Faden zu finden (Seite 18). Wie wahr! Häufig stehen auch wir vor<br />
der Situation, zwischen «wahr, falsch und fiktiv» entscheiden zu<br />
müssen – im Kontakt mit unbekannten Personen, fremden Kulturen, in<br />
unerwarteten Situationen.<br />
Solche Orientierung bietet zum Beispiel Urs Schoettli in seinem Buch<br />
über die «neuen Asiaten». In seinem instruktiven Gang durch Politik,<br />
Mentalität und Geschichte von zwölf Ländern Ostasiens legt er für uns<br />
einen eigentlichen Pfad der Erkenntnis: Wie verläuft der Aufstieg der<br />
Tigerstaaten? Worin unterscheiden sie sich? Wie kann ihnen der<br />
Westen begegnen (S. 21)? Eine bereichernde Lektüre.<br />
Dasselbe in der Belletristik. Der Besuch bei Alaa al-Aswani in Kairo<br />
hilft uns, die politische Unruhe in Ägypten besser zu verstehen und<br />
einen Blick auf inner-isl<strong>am</strong>ische Konflikte zu werfen (S. 12). Oder der<br />
lebendige Kleinstadtroman von Judith Kuckart, der den Lebensträumen<br />
einer Generation kurz vor 50 nachspürt (S. 4). Kuckarts Protagonistin<br />
Vera, die neun Monate aus der Provinz flüchtet, macht nichts anderes,<br />
als in ihrem Leben den verloren gegangenen roten Faden wieder zu<br />
finden. Viel Spass mit diesen und anderen Büchern! Urs Rauber<br />
Belletristik<br />
4 Judith Kuckart: Wünsche<br />
Von Martin Zingg<br />
6 Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied<br />
Von Stefana Sabin<br />
Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit<br />
Von Manfred Papst<br />
7 Mo Yan: Frösche<br />
Von Sieglinde Geisel<br />
8 Doris Knecht: Besser<br />
Von Sandra Leis<br />
9 Joey Goebel: Ich gegen Osborne<br />
Von Simone von Büren<br />
Dirk Luckow: Harry Callahan<br />
Von Gerhard Mack<br />
10 Ernst Herbeck: Der Hase!!!!<br />
Von Bruno Steiger<br />
11 E-Krimi des Monats<br />
Nika Lubitsch: Der 7. Tag<br />
Von Christine Brand<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
11 Sophokles: Elektra<br />
Von Manfred Papst<br />
Im Reich der Wünsche<br />
Von Regula Freuler<br />
Georges Perec: Anton Voyls Fortgang<br />
Von Manfred Papst<br />
Andrzej Stasiuk: Buch über das Sterben<br />
Von Regula Freuler<br />
Porträt<br />
12 Alaa al-Aswani, Schriftsteller und Zahnarzt<br />
«Wir Ägypter sind wieder im Rennen»<br />
Von Michael Holmes<br />
Kolumne<br />
15 Charles Lewinsky<br />
Das Zitat von Iwan Gontscharow<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
15 Amanda Ad<strong>am</strong>s: Scherben bringen Glück<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Sebastian Conrad: Globalgeschichte<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen<br />
Sehnsucht und Schande<br />
Von Urs Rauber<br />
Gregor Spuhler: Anstaltsfeind und<br />
Judenfreund<br />
Von Urs Rauber<br />
Sachbuch<br />
16 Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer<br />
seine Kultur verliert, verliert sich selbst<br />
Von Katja Gentinetta<br />
17 Andreas Jungherr, Harald Schoen: Das<br />
Internet in Wahlkämpfen<br />
Von Andreas Hirstein<br />
Die Österreicherin Doris Knecht glossiert im neuen<br />
Roman die Wiener Schickimicki-Szene (Seite 8).<br />
PAMELA RUSSMANN<br />
18 Navid Kermani: Ausnahmezustand<br />
Von Ina Boesch<br />
Carlo Ginzburg: Faden und Fährten<br />
Von Janika Gelinek<br />
19 Wilfried Meichtry: Mani Matter<br />
Von Thomas Feitknecht<br />
20 E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
21 Urs Schoettli: Die neuen Asiaten<br />
Von Urs Rauber<br />
Hans Belting: Faces<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
22 Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den Strom<br />
Von Reinhard Meier<br />
Markus Theunert: Co-Feminismus<br />
Von Walter Hollstein<br />
23 Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771–1848<br />
Von Tobias Kaestli<br />
24 Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher,<br />
das Auswärtige Amt und die Deutsche<br />
Vereinigung<br />
Von Gerd Kolbe<br />
25 Jane Hawking: Die Liebe hat elf Dimensionen<br />
Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen Hawking im<br />
3-Minuten-Takt<br />
Von André Behr<br />
Hans Adelmann: Einfacher leben<br />
Von David Strohm<br />
26 Joseph Barber: Das Huhn<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Das <strong>am</strong>erikanische Buch<br />
Meredith Mason Brown: Touching America’s<br />
History<br />
Von Andreas Mink<br />
Agenda<br />
27 Die Druckwerkstatt der Dichter<br />
Von Manfred Papst<br />
Bestseller April 2013<br />
Belletristik und Sachbuch<br />
Agenda Mai 2013<br />
Veranstaltungshinweise<br />
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG<br />
Verlag <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>, «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 3
Belletristik<br />
Roman Judith Kuckart gelingt das überzeugende Tableau einer kleinen Stadt und ihrer<br />
Menschen, die von vagen Hoffnungen und geplatzten Träumen erfüllt sind<br />
Flucht aus<br />
der Provinz<br />
Judith Kuckart: Wünsche. Dumont,<br />
Köln 2013. 301 Seiten, Fr. 28.90,<br />
E-Book 24.90.<br />
Von Martin Zingg<br />
Silvester in einer deutschen Kleinstadt.<br />
Vera wird schwimmen gehen, ihr Mann<br />
Karatsch wird inzwischen, zus<strong>am</strong>men<br />
mit dem gemeins<strong>am</strong>en Sohn Jo, erste<br />
Vorbereitungen treffen für die traditionelle<br />
Silvesterparty, die zugleich Veras<br />
Geburtstagsfest sein wird. An diesem<br />
Tag wird sie 46 Jahre alt. Wie jedes Jahr<br />
wird auch diesmal der Film gezeigt werden,<br />
in welchem die 14-jährige Vera<br />
einst mitgespielt hat, zus<strong>am</strong>men mit anderen<br />
längst erwachsenen Kindern, die<br />
an diesem Abend auch zugegen sein<br />
werden. Die Vorführung des Films, der<br />
seinerzeit auch kurz in den Kinos lief, ist<br />
ein Ritual geworden, und es sind immer<br />
dieselben Freunde aus der Kleinstadt,<br />
die dazu eingeladen werden. Es sieht<br />
alles nach einem geordneten und sorgfältig<br />
inszenierten Rückzug aus dem<br />
eben zu Ende gehenden Jahr aus. Dass<br />
das neue Jahr anders aussehen wird,<br />
kündigt sich allerdings auch an, bereits<br />
an Silvester.<br />
Judith Kuckart<br />
1959 in Schwelm (Westfalen) geboren,<br />
lebt Judith Kuckart heute als<br />
Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin<br />
und Zürich. Nach dem Studium und der<br />
Tanzausbildung leitete sie von 1986 bis<br />
1998 das Tanztheater Skoronel. Seit<br />
1998 arbeitet sie als freie Regisseurin.<br />
Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen<br />
gehören die Romane «Kaiserstrasse»<br />
(2006) und «Die Verdächtige» (2008),<br />
daneben schrieb sie Theaterstücke und<br />
Hörspiele. Sie hat zahlreiche Preise<br />
erhalten, zuletzt den Annette-von-<br />
Droste-Hülshoff-Preis 2012.<br />
4 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
«Wünsche»: So heisst der jüngste<br />
Roman von Judith Kuckart, und der<br />
Titel, das stellt sich bald heraus, ist doppeldeutig.<br />
Zum einen sind es unklare, oft<br />
unabgegoltene und wohl unerfüllbare<br />
Wünsche und Lebensträume, die einige<br />
Figuren umtreiben und aus der gewohnten<br />
Bahn drängen – und d<strong>am</strong>it zugleich<br />
die Handlung des Romans voranbringen.<br />
Zum andern ist «Wünsche» auch<br />
der N<strong>am</strong>e einer F<strong>am</strong>ilie, die in der Kleinstadt<br />
einst einiges Ansehen genoss, weil<br />
sie das einzige Kaufhaus <strong>am</strong> Ort besass.<br />
Die Geschwister Friedrich und Meret<br />
Wünsche sind die Erben des kleinen<br />
Unternehmens, und Friedrich will nach<br />
dem Tod der Mutter das längst heruntergekommene<br />
Kaufhaus wieder zu<br />
einem Einkaufsparadies machen. Das<br />
«Haus Wünsche», so seine Strategie,<br />
soll mit «Retro-Look», durch einen bewussten<br />
Schritt in die Vergangenheit,<br />
wieder attraktiv werden. Die alten<br />
Türen sollen wieder her, die alten Verkaufstische,<br />
mehr Personal – all das<br />
eben, was in anderen Kaufhäusern inzwischen<br />
geändert worden ist. Eine Mischung<br />
von Alt und Neu, mit der Möglichkeit,<br />
ganz zeitgemäss auch per Internet<br />
zu bestellen. Am Vorabend des<br />
neuen Jahres steht die Eröffnung des<br />
neu-alten Kaufhauses bevor: «<strong>Neue</strong> Zeiten»,<br />
sagt Friedrich, «brechen an, indem<br />
wir die Zeit zurückdrehen.»<br />
Für sein vermeintlich utopisches Projekt<br />
ist Friedrich Wünsche eigens in die<br />
Kleinstadt zurückgekehrt, nach langen<br />
Aufenthalten in anderen Städten und erfolgreicher<br />
Tätigkeit in grossen Betrieben.<br />
Er ist dabei zu Geld gekommen,<br />
und was er sich in seiner Heimatstadt<br />
nun vornimmt, hat auch mit Erinnerungen<br />
an die Kindheit und Jugend zu tun.<br />
Unterwegs aber ist Friedrich von seiner<br />
Frau Annalisa verlassen worden, sie hat<br />
sich mit den beiden Kindern nach Italien<br />
abgesetzt, er ist allein.<br />
Auch seine Schwester Meret war eine<br />
Weile weg, auch sie ist wieder zurück.<br />
Mit ihrem Bruder teilt sie nun ein stattliches<br />
Haus. Und gelegentlich nimmt sie<br />
einen Mann zu sich, die Liste ihrer Liebhaber<br />
ist ziemlich lang.<br />
Friedrich und Meret kennen Vera aus<br />
frühen Kindheitstagen. Diese gemeins<strong>am</strong>e<br />
Vergangenheit wird im neuen Jahr,<br />
dessen Anbruch Vera gar nicht mehr in<br />
der Kleinstadt erlebt, immer wieder heraufbeschworen<br />
werden. Vera arbeitet<br />
als Lehrerin, an einer Berufsschule unterrichtet<br />
sie Maler- und Lackiererklassen<br />
in Gestaltungstechnik und Deutsch.<br />
Ihr Sohn Jo, eigentlich Joseph, mit ganzem<br />
N<strong>am</strong>en Joseph Conrad, wird bald<br />
zur See fahren und dabei eine Ausbildung<br />
machen. Mit ihrem Mann Karatsch,<br />
der 65 Jahre alt ist, kommt sie<br />
leidlich aus. Und insges<strong>am</strong>t hat sie wohl<br />
Glück gehabt. Als junges Mädchen aus<br />
problematischen sozialen Verhältnissen<br />
ist sie seinerzeit von ihm und dessen<br />
Frau Suse aufgenommen worden, nach<br />
Suses Tod hat Karatsch sie geheiratet.<br />
<strong>Neue</strong> Identität annehmen<br />
Vera, und das löst gleich mehrere Erzählstränge<br />
von Judith Kuckarts Roman<br />
aus, geht an Silvester in ein Hallenbad –<br />
kehrt aber von dort nicht mehr nach<br />
Hause zurück, zu Mann und Kind und<br />
all den Gästen, die sich allmählich einfinden.<br />
Sie hat beim Aufbruch Handy<br />
und Haustürschlüssel zu Hause liegen<br />
lassen, ein Zeichen, das erst hinterher<br />
gedeutet werden wird. War sie bloss<br />
vergesslich? Oder hatte sie schon eine<br />
Absicht vor Augen? Im Hallenbad<br />
kommt Vera, einer plötzlichen Eingebung<br />
folgend und mit einem Trick, an<br />
den Ausweis und die Kleider einer anderen<br />
Frau heran. Das Hallenbad verlässt<br />
Vera Conrad nun als Salomé Schreiner,<br />
die gemäss neuem Ausweis zehn Jahre<br />
jünger ist, auch etwas frischer im Gesicht,<br />
Vera aber durchaus ähnlich<br />
scheint. Noch <strong>am</strong> gleichen Tag fährt sie<br />
nach Köln und bucht einen Flug, kurze<br />
Zeit später ist sie in London.<br />
Weiss Vera denn, was sie will? Sie<br />
wäre, sagt sie sich gelegentlich, gerne
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Schauspielerin geworden, aber nach<br />
einem sehr kurzen Auftritt vor Jahrzehnten<br />
hat sie nie mehr etwas in dieser<br />
Art unternommen. Bloss geträumt hat<br />
sie immer wieder, wie so viele andere in<br />
ihrer Kleinstadt auch gerne träumen<br />
von etwas anderem. Bereits mit fünf Jahren<br />
ist Vera einmal ausgebüchst, mit<br />
dem Dreirad. Später hat sie allerhand<br />
ausgeheckt, zus<strong>am</strong>men mit Meret. In<br />
London, einem Ort mit ungleich mehr<br />
Möglichkeiten, als ihre Heimatstadt bieten<br />
kann, bleibt sie lange ratlos. Aber sie<br />
ist zugleich offen und unkompliziert.<br />
Öfter geht sie hinter irgendwelchen<br />
Menschen her und lässt sich überraschen<br />
vom zufälligen Ziel.<br />
In der Zwischenzeit, als noch niemand<br />
weiss, wo Vera steckt, geht das<br />
Leben in der Kleinstadt weiter. Karatsch<br />
ist ratlos, Jo ist auf See. Die Menschen,<br />
das wird immer deutlicher und ist bald<br />
einmal beklemmend, leben hier in einer<br />
stickigen Enge. Sie laufen einander<br />
immer wieder über den Weg, und so<br />
kann es selbst zu der doch ziemlich<br />
Judith Kuckart<br />
schreibt über Traum<br />
und Aufruhr in einem<br />
kleinstädtischen Netz<br />
von Beziehungen.<br />
LAIMA CHENKELI<br />
überraschenden Begegnung kommen,<br />
die Karatsch mit jener Frau hat, der Vera<br />
den Ausweis entwendet hat: Salomé<br />
Schreiner. Ein beinahe unwahrscheinliches<br />
Zus<strong>am</strong>mentreffen, aber im Gedränge<br />
der Kleinstadt scheint es unausweichlich,<br />
dass die beiden irgendwann<br />
aufeinanderstossen. Und natürlich finden<br />
die beiden einander nicht unsympathisch<br />
– aber plötzlich stellt sich die Geschichte<br />
mit Vera dazwischen. Immer<br />
kommt etwas dazwischen, und fast<br />
immer ist es die Vergangenheit: man<br />
kennt sich hier seit immer, war mit einander<br />
in der Schule, kreuzt die Wege.<br />
Den Ort verlässt man nicht. Und wer ihn<br />
dennoch verlässt, kehrt irgendwann zurück.<br />
Auch Vera kommt nach neun Monaten<br />
wieder in die Stadt zurück, ausgerechnet<br />
in dem Moment, wo sich ihr<br />
Mann, ihr Sohn und Friedrich nach London<br />
aufgemacht haben, um sie zu holen.<br />
Filigrane Erzählweise<br />
Und die erste Person, die sie trifft, ist<br />
Meret. Ihr kann sie, warum sie d<strong>am</strong>als<br />
weggegangen und jetzt zurückgekommen<br />
ist, nur so erklären: «Weg bin ich<br />
wegen all der Leute, die ich schon so<br />
lange kenne. Aus dem gleichen Grund<br />
bin ich wieder zurückgekommen. Ich<br />
dachte immer, das ist schlimm, dass ich<br />
bei uns nur die sein kann, die alle kennen.<br />
Jetzt weiss ich, genau die kann ich<br />
nur sein.»<br />
Das Tableau der kleinen Stadt und<br />
ihrer von vagen Hoffnungen und geplatzten<br />
Träumen belagerten Menschen<br />
ist Judith Kuckart auf eine sehr schöne<br />
Weise gelungen. Der Roman ist ausserordentlich<br />
dicht und fein gewoben, aufmerks<strong>am</strong><br />
und durchlässig für unzählige<br />
Details, die ein weites Netz spannen.<br />
Zus<strong>am</strong>men entwerfen die vielen kleinen<br />
Verweise auf unaufdringliche Weise das<br />
Bild einer Welt mit fast schon wasserdichten<br />
Verhältnissen, gegen die selbst<br />
kühnste Träume <strong>am</strong> Ende nicht ankommen.<br />
Ein Rest an Traum und Aufruhr<br />
bleibt dennoch, ein unerklärlicher Rest,<br />
den diese Figuren bis zuletzt bewahren<br />
dürfen. Auch daraus, aus dem genauen<br />
Blick seiner Autorin und einer filigranen<br />
Erzählweise, schöpft dieser Roman<br />
seine Lebendigkeit. l<br />
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28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 5
Belletristik<br />
Epos Der Bericht von den Heldentaten des Gotenprinzen<br />
geht immer noch unter die Haut<br />
Beowulf<br />
neu erzählt<br />
Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied.<br />
Aus dem Altenglischen von<br />
Johannes Frey. Recl<strong>am</strong>, Stuttgart 2013.<br />
130 Seiten, Fr. 10.40.<br />
Von Stefana Sabin<br />
Es ist ein Epos aus uralten Zeiten, das<br />
eine englische sprachliche und literarische<br />
Tradition begründet hat: «Beowulf».<br />
Der Bericht über die Heldentaten<br />
des Gotenprinzen Beowulf wurde, so<br />
nimmt man an, jahrhundertelang gesungen,<br />
bevor er um 1000 niedergeschrieben<br />
wurde. Die einzige überlieferte<br />
Handschrift galt lange als verschollen,<br />
wurde wiedergefunden, dann ignoriert,<br />
dann beschädigt, gelangte erst ins British<br />
Museum, dann in die S<strong>am</strong>mlung der<br />
British Library, wurde transkribiert,<br />
ediert, aus dem ursprünglichen unverständlichen<br />
angelsächsischen Dialekt in<br />
modernes Englisch übersetzt (zuletzt<br />
2000 vom Nobelpreisträger Se<strong>am</strong>us<br />
Heaney), von der Romantik zum identitätstiftenden<br />
Nationalepos geadelt, von<br />
der Moderne zur Schullektüre trivialisiert<br />
und schliesslich in einem grossangelegten<br />
philologisch-elektronischen<br />
Projekt 1995 digitalisiert.<br />
Anders als das Rolands- und das Nibelungenlied,<br />
die auch wegen der geographischen<br />
Übereinstimmung zwischen<br />
dem Ort der Handlung und dem<br />
späteren Nationalstaat zur kulturellen<br />
Selbstfindung dienlich wurden, spielt<br />
«Beowulf» weit von den britischen Inseln<br />
entfernt im Norden Europas, im<br />
heutigen Südschweden und Dänemark;<br />
von Schweden, Dänen, Friesen und<br />
Goten ist die Rede.<br />
Dänen kommen schon in der ersten<br />
Zeile vor: In der neuen Übersetzung von<br />
Johannes Frey wird von «Ger-Dänen<br />
vergangener Tage» berichtet, die für<br />
ihren König «die grösste der Hallen»<br />
bauen und dort in «Frohsinn und Freude»<br />
leben, bis ein «Feind aus der Hölle /<br />
sein Treiben begann und Tücke vollbrachte».<br />
So kommt Beowulf übers<br />
Meer, um König Hrothgar beizustehen;<br />
er will «dem Riesen allein im Gerichtssaal<br />
begegnen» und mit ihm kämpfen:<br />
«Held gegen Held.» Zuerst tötet Beowulf<br />
den Geist Grendel, dann Grendels<br />
Mutter, er wird als Retter gefeiert, reich<br />
beschenkt und kehrt mit den Schätzen<br />
heim zu König Hygelac; als zuerst dieser<br />
und dann dessen Sohn Heardred sterben,<br />
wird Beowulf selbst König. Fünfzig<br />
Jahre regiert er friedlich, aber als sein<br />
Reich von einem Drachen überfallen<br />
wird, muss er als alter Mann noch einmal<br />
in den K<strong>am</strong>pf. Zwar gelingt es ihm,<br />
den Drachen zu bezwingen, aber dabei<br />
wird er selbst tödlich verwundet. «Er<br />
selbst wusste nicht, / wie sein Abschied<br />
von Erden sein Ende aussah.» Statt eines<br />
Happy Ends der Tod des Helden im<br />
K<strong>am</strong>pf, seine feierliche Bestattung und<br />
das Klagen des Volkes: «Er wäre ein<br />
wahrhafter Held, / ein König auf Erden,<br />
und von allen der Beste: / gerecht und<br />
auch freigebig, freundlich und gütig /<br />
und zu ewigem Ruhm immer bereit.»<br />
Wie viele kanonische Werke wurde<br />
«Beowulf» immer wieder auch ins<br />
Deutsche übersetzt, nachgedichtet und<br />
nacherzählt. 2007 hat Gisbert Haefs in<br />
Beowulf kämpft mit<br />
dem Unhold Grendel.<br />
Lithografie von John<br />
Henry F. Bacon<br />
(um 1910).<br />
einer Prosafassung Beowulf zu einem<br />
«Krieger in der Not» entmystifiziert,<br />
dessen ungewollter K<strong>am</strong>pf mit dem<br />
Drachen die Unausweichlichkeit des<br />
Todes in einer von der Schicksalsmacht<br />
Wyrd regierten Welt suggeriert. Frey<br />
dagegen deklariert das Epos, in dem<br />
sich germanische Sagenstoffe mit christlichen<br />
Motiven vermengen, schon im<br />
Untertitel als «Heldenlied» und bewahrt<br />
ihm sein Pathos. Er begradigt<br />
nicht und behält gattungsübliche Redundanzen<br />
bei; und indem er den hohen<br />
Ton heldischer Dichtung nachmacht,<br />
gekünstelt archaisierende Wortfindungen<br />
und Stabreime einsetzt, lässt er die<br />
atmosphärische Aura des Originals und<br />
seine «literarische Schönheit und<br />
Wucht» durchscheinen. ●<br />
BRIDGEMANART<br />
Briefe Jean Paul zeigt sich auch in seiner Korrespondenz als phantasievoller Wortschöpfer<br />
Voll Sprachwitz und geistigem Wagemut<br />
Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit.<br />
Briefe. Hanser, München 2013.<br />
783 Seiten, Fr. 46.90.<br />
Von Manfred Papst<br />
Zum 250. Geburtstag des wunderbaren<br />
Erzählers Jean Paul (1763–1825) sind<br />
mehrere umfangreiche Biografien erschienen<br />
(vgl. «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>»,<br />
März 2013), aber kaum etwas von ihm.<br />
Das Leben des Autors, das sich zwischen<br />
Hof, Leipzig, Schwarzenbach und Berlin,<br />
Meiningen, Coburg und Bayreuth abspielte,<br />
scheint die Menschen mehr zu<br />
interessieren als seine von Sprachwitz<br />
und geistigem Wagemut durchwirkten<br />
Romane, Erzählungen und theo retischen<br />
Schriften. Von der vorbildlichen Hanser-<br />
6 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
Ausgabe seiner Werke verkaufen sich<br />
jährlich nur neun bis zehn Exemplare:<br />
Das beklagt der Verleger Michael Krüger<br />
in seinem Blog.<br />
Ein freundlicheres Schicksal möchte<br />
man einer vortrefflichen Briefauswahl<br />
wünschen, welche die Jean-Paul-Experten<br />
Markus Bernauer, Norbert Miller<br />
und Helmut Pfotenhauer nun im gleichen<br />
Verlag vorlegen. Sie ist die erste<br />
ihrer Art seit fast hundert Jahren und<br />
zeigt Jean Paul in all seinen Facetten: als<br />
Schwärmer, Plauderer und Phantasten,<br />
als wortmächtigen Schilderer und zärtlichen<br />
Causeur, als selbstkritischen, ungemein<br />
offenen Geist, der auch die Niederungen<br />
des Alltags nicht scheut. Ob<br />
er an Goethe, Herder («Einziger und<br />
Erster!»), Jacobi oder Schlegel schreibt,<br />
an seine Mutter, die Kinder oder sein<br />
«geliebtes Weib»: Stets weiss er sich auf<br />
den Adressaten einzustellen. Er beherrscht<br />
die Klaviatur verschiedenster<br />
Tonfälle und bleibt doch immer er<br />
selbst. Den Freundinnen seiner Jugend<br />
schreibt er charmant virtuos verspielt,<br />
mit den Dichterfreunden diskutiert er<br />
über souverän poetische Fragen und<br />
Probleme des Zeitgeists.<br />
Die Auswahl «Erschriebene Unendlichkeit»<br />
beruht auf der achtbändigen,<br />
1956 bis 1964 im Akademie-Verlag erschienenen<br />
Edition der Briefe Jean Pauls<br />
im Rahmen der Historisch-kritischen<br />
Ausgabe von Eduard Berend und folgt<br />
deren Wortlaut exakt. Das erhöht den<br />
Reiz der Lektüre, ohne sie zu erschweren.<br />
Erhellende Zwischentexte, Anmerkungen<br />
und ein tadelloses Register ergänzen<br />
den schön gestalteten Band. ●
Roman Der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan hat ein harmloses Buch über die<br />
chinesische Ein-Kind-Politik geschrieben<br />
Erlebnisse einer Frauenärztin<br />
Mo Yan: Frösche. Aus dem Chinesischen<br />
von Martina Hasse. Hanser, München<br />
2013. 500 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 27.90.<br />
Von Sieglinde Geisel<br />
Im Nachwort zu seinem Roman «Frösche»<br />
aus dem Jahr 2009, also lange vor<br />
dem Nobelpreis und den Debatten über<br />
seine politische Haltung, richtet Mo Yan<br />
sich offenkundig an westliche Leser. Er<br />
beschreibt, in welche Konflikte ein chinesischer<br />
Autor gerät, wenn er «heikle<br />
Themen» anspricht. «Man braucht für<br />
heikle Fragen Mut, man braucht gute Fähigkeiten,<br />
sich schriftlich zu äussern,<br />
aber man braucht genauso das ehrliche<br />
Schriftstellergewissen.»<br />
Wenn ein Autor vor heiklen Themen<br />
zurückscheue, heisse es, er habe sich<br />
von den Funktionären kaufen lassen.<br />
Wende er sich jedoch heiklen Fragen zu,<br />
werde er gleich «der Liebedienerei gegenüber<br />
dem Westen» bezichtigt. Eine<br />
Zeitlang habe er sich Mühe gegeben,<br />
nirgends anzuecken, so Mo Yan, doch<br />
d<strong>am</strong>it sei es nun vorbei. «Nur meinem<br />
Gewissen Rechenschaft schuldig, suche<br />
ich mir die Themen aus, über die ich<br />
schreiben möchte.» Nun, das erwartet<br />
man von einem Autor, den man ernst<br />
nehmen soll, eigentlich immer, egal<br />
unter welchen Bedingungen er schreibt.<br />
Schon in der Wendung «heikle Themen»<br />
steckt die Akzeptanz der Zensur.<br />
Ob das dem Autor bewusst ist?<br />
Das Erstgeborene<br />
hat Glück und darf<br />
leben. Seit 1979<br />
wird in China mit der<br />
Ein-Kind-Politik das<br />
Bevölkerungswachstum<br />
eingedämmt.<br />
Wie eine Landärztin<br />
mit diesem Verbot<br />
umgeht, ist Thema in<br />
Mo Yans neuem Buch.<br />
Grausig, oft tödlich<br />
Das heikle Thema, das der Nobelpreisträger<br />
Mo Yan in seinem Roman «Frösche»<br />
zur Sprache bringt, ist die Ein-<br />
Kind-Politik, mit der China seit 1979 das<br />
Bevölkerungswachstum eindämmt, mit<br />
drastischen Massnahmen wie Zwangssterilisation<br />
und erzwungenen Spätabtreibungen.<br />
Der Roman umfasst ein halbes<br />
Jahrhundert chinesischer Geschichte,<br />
angefangen von der Zeit der Hungersnot<br />
1960, in dem der 1953 geborene<br />
Ich-Erzähler als Kind Kohle gegessen<br />
hat, bis ins Jahr 2008, wo die Neureichen<br />
im Ferrari herumfahren und die Ein-<br />
Kind-Politik etwa durch ein organisiertes<br />
(und trauriges) Geschäft mit Leihmüttern<br />
ausgetrickst wird.<br />
Die Protagonistin Gugu, geboren 1937<br />
und Tante des Ich-Erzählers, ist Landfrauenärztin,<br />
und sie hat fast alle Figuren,<br />
die in dem Buch vorkommen, ans<br />
Licht der Welt befördert, inklusive dem<br />
Ich-Erzähler. Gugu ist eine energische,<br />
begabte, tüchtige Frau. In den 1960er<br />
Jahren, als die Chinesinnen noch viele<br />
Kinder für ihr Land gebären sollten, war<br />
sie eine der ersten, die sich auf die westliche<br />
Geburtshilfe verstand, doch ab<br />
1979 stellt sie sich mit ihrer ganzen, zum<br />
Fanatismus neigenden, Leidenschaft in<br />
den Dienst der Ein-Kind-Politik. Oft ist<br />
es ein Wettlauf mit der Zeit zwischen<br />
den Schwangeren und dem Abtreibungskommando,<br />
denn «ist es erst<br />
durch die Ofentür, zählt es als Mensch<br />
(...). Ist es ein Mensch, geniesst es den<br />
Schutz des Gesetzes.»<br />
Die Szenen, die Mo Yan schildert,<br />
sind grausig, und oft enden sie tödlich,<br />
so auch bei der Spätabtreibung, zu welcher<br />
der Ich-Erzähler seine erste Frau<br />
zwingt. Ein Geflecht von Schuld und<br />
Verhängnis durchzieht das Buch, das<br />
sich als Briefroman ausgibt: Der Empfänger<br />
der Briefe ist der Japaner Sugitani<br />
san, Sohn eines Generals aus dem japanisch-chinesischen<br />
Krieg. Er bittet<br />
die Chinesen um Verzeihung für die<br />
Taten seines Vaters, während der Ich-<br />
Erzähler wiederum sagt, dass er durch<br />
seine Berichte an den japanischen Brieffreund<br />
sein eigenes Verbrechen sühne.<br />
Fast jeder versündigt sich in diesem<br />
Roman in irgendeiner Weise an den anderen,<br />
allen voran Gugu, die sich zum<br />
Instrument einer als notwendig empfundenen,<br />
gleichzeitig unmenschlichen<br />
Politik hat machen lassen. Diese Politik<br />
wird letztlich im Buch nicht in Frage gestellt:<br />
Die Kritik des Westens an der chinesischen<br />
Bevölkerungspolitik sei «unangebracht»,<br />
so der Ich-Erzähler,<br />
schliesslich sei die Eindämmung der<br />
Bevölkerungsexplosion im Interesse der<br />
ganzen Menschheit.<br />
Fiktion und Realität durchdringen<br />
sich in den Romanen Mo Yans. Manche<br />
Szenen fransen ins Surreale aus, und das<br />
Theaterstück über Gugu, von dem im<br />
Roman ständig die Rede ist, ist im letzten<br />
Kapitel des Buchs abgedruckt und<br />
gewinnt gleichzeitig seine eigene Wirklichkeit,<br />
wenn etwa der Regisseur in die<br />
Handlung einzugreifen versucht. Doch<br />
was auf den ersten Blick virtuos aussieht,<br />
bleibt erstaunlich flach. Die ausufernde<br />
Frosch-Symbolik etwa – die<br />
Schriftzeichen für Frosch und Baby werden<br />
im Chinesischen gleich ausgesprochen<br />
– wirkt angestrengt. Gugu leidet an<br />
einer Froschphobie (Froschquaken<br />
klingt für sie wie das Weinen von Neugeborenen).<br />
Kaulquappen erinnern<br />
zwar an Spermien, gelten jedoch auch<br />
als Verhütungsmittel. Der Erzähler<br />
selbst hat sich als Theaterautor das<br />
Pseudonym Kaulquappe gegeben, als<br />
Schriftsteller wiederum vergleicht er<br />
sich mit einem Frosch, der auf einem<br />
Seerosenblatt auf Mücken wartet – etc.<br />
Farbiges Bauernmilieu<br />
Bei aller Farbigkeit und Drastik des Bauernmilieus<br />
wirken die Figuren wie Fallbeispiele,<br />
an denen etwas demonstriert<br />
wird. «Frösche» ist ein Buch über ein<br />
Thema. Wir erfahren viel über die chinesische<br />
Bevölkerungspolitik – mit welchen<br />
Methoden die Ein-Kind-Politik<br />
durchgesetzt wurde, welche Bussen für<br />
die «überzähligen Kinder» bezahlt werden<br />
mussten, welche Lockerungen die<br />
späteren Jahre brachten. Doch wie es<br />
sich anfühlte, unter der Ein-Kind-Politik<br />
zu leben, was es für die einzelnen Menschen<br />
(vor allem die Mütter) bedeutete,<br />
in der intimen Frage des Kinderkriegens<br />
derart gewalts<strong>am</strong> fremdbestimmt zu<br />
werden, welche Trauer d<strong>am</strong>it verbunden<br />
ist – das erzählt Mo Yan nicht. Und<br />
so bleibt der Roman, trotz aller aufwühlenden<br />
Ereignisse, die er schildert, selts<strong>am</strong><br />
harmlos. ●<br />
REUTERS<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 7
Belletristik<br />
Roman Die österreichische Autorin Doris Knecht legt mit «Besser» ihr zweites grosses Werk vor. Darin<br />
beschreibt sie, warum sich ihre Heldin als Hochstaplerin fühlt<br />
Von der Unterschicht in die<br />
Wiener Schickeria<br />
Doris Knecht: Besser. Rowohlt,<br />
Berlin 2013. 285 Seiten, Fr. 28.50,<br />
E-Book 25.90.<br />
Von Sandra Leis<br />
Antonia Pollak führt ein Leben, von dem<br />
viele träumen: Sie hat einen umsichtigen<br />
Mann, der als Immobilienhändler<br />
und Kunsts<strong>am</strong>mler in den schicken<br />
Wiener Kreisen verkehrt. Sie hat zwei<br />
(meistens) schnucklige Kleinkinder, die<br />
– dem österreichischen Sozialstaat sei<br />
Dank – bereits den Kindergarten besuchen.<br />
Sie verfügt über eine Kreditkarte<br />
und hat viel freie Zeit, in der sie sich als<br />
Künstlerin betätigen kann. Im Moment<br />
allerdings ist sie eine «Künstlerin i. R.»,<br />
was sich nach ihren eigenen Angaben<br />
jederzeit wieder ändern kann.<br />
Alles paletti also, möchte man meinen.<br />
Doch das ist bloss die makellose<br />
Oberfläche. Darunter versteckt Antonia<br />
einen Liebhaber, der für Abwechslung<br />
im geordneten Alltag sorgt. Und, das ist<br />
gravierender, sie vertuscht ihre Vergangenheit,<br />
von der ihr Mann keine Ahnung<br />
hat. Sie ist die Tochter einer alkoholkranken<br />
Mutter und gerät als Teenager<br />
schliesslich auf die schiefe Bahn.<br />
Später wird sie heroinsüchtig, trägt eine<br />
wie auch immer geartete Mitschuld <strong>am</strong><br />
Tod einer alten Frau und verirrt sich in<br />
die Fänge eines ominösen Mannes, dessen<br />
äusserliches Merkmal eine grosse<br />
rote Narbe <strong>am</strong> Hals ist. Dieser Mann,<br />
der Inbegriff des Bösen, lauert ihr<br />
schliesslich in ihrem neuen properen<br />
Leben auf. Die beiden Welten drohen<br />
miteinander zu kollidieren, doch Antonia<br />
weist das Böse in die Schranken. Das<br />
alles ist sehr dick aufgetragen und wirkt<br />
arg konstruiert – mehr behauptet denn<br />
erzählt.<br />
Spitzfedrige Kolumnistin<br />
Glaubwürdig hingegen ist die Hauptfigur<br />
und Ich-Erzählerin, wenn sie schildert,<br />
wie es sich anfühlt, als Kind aus<br />
der Unterschicht plötzlich Teil der Wiener<br />
Schickeria zu sein. Und immer wieder<br />
die Blicke zu spüren, die sie der<br />
Hochstapelei überführen könnten. Antonia<br />
gehört durch Heirat zwar dazu,<br />
doch nie ganz. Ihr, die an enge, kleine<br />
Zimmer gewohnt war, sind grosse<br />
Räume immer noch fremd. Und sie<br />
weiss, dass sie nie so fantastisch aussehen<br />
wird wie andere in diesen Kreisen.<br />
«Auf diese angeboren makellose Art,<br />
wie es nur höhere Töchter draufhaben.<br />
So einen Teint kriegt man in der Unterschicht<br />
nicht zugeteilt, nicht mal in der<br />
Mittelschicht. […] Das hat man in den<br />
Genen oder man hat es nicht», heisst es<br />
im Roman «Besser» von Doris Knecht.<br />
In feinen Restaurants fühlt sich Antonia<br />
unwohl. Ihren Ad<strong>am</strong> behandeln die Kellner<br />
mit natürlichem Respekt. Bei ihr<br />
spüren sie, dass sie nichts verloren hat<br />
«in der Schönheit und Eleganz dieses<br />
Raumes».<br />
Bekannt geworden ist die gebürtige<br />
Vorarlbergerin als spitzfedrige Kolumnistin;<br />
in der Schweiz hat sie lange für<br />
den «Tages-Anzeiger» und «Das Magazin»<br />
geschrieben. Heute ist Knecht täglich<br />
im «Kurier» zu lesen; ihre wöchentliche<br />
F<strong>am</strong>ilienkolumne erscheint im<br />
«Falter». Die Fangemeinde ist riesig, für<br />
manch einen ist Knecht gar «die Garbo<br />
der Kolumnenkunst». Und wer sie leibhaftig<br />
erleben will, der besucht <strong>am</strong> besten<br />
die Wiener «rhiz-bar» – dort legt sie<br />
Einladung mit Kind<br />
und Nanny: Doris<br />
Knecht seziert<br />
Freundschaften.<br />
JODY HORTON / GALLERY STOCK<br />
regelmässig als DJane auf. Doch d<strong>am</strong>it<br />
nicht genug: Knecht, die Meisterin der<br />
Kurzstrecke, probiert auch die Langstrecke<br />
aus. Vor zwei Jahren veröffentlichte<br />
sie mit dem Roman «Gruber geht» ihr<br />
literarisches Debüt, landete einen Überraschungserfolg<br />
und obendrein auf der<br />
Longlist für den Deutschen Buchpreis.<br />
Derzeit wird das Buch verfilmt.<br />
Schildert Doris Knecht in ihrem Erstling<br />
das Leben eines frauenfressenden<br />
Kotzbrockens, der eines Tages an Krebs<br />
erkrankt und eine minimale Läuterung<br />
durchmacht, so kippt der Zweitling der<br />
Autorin auf den letzten vierzig Seiten<br />
um in Kitsch. Die zornige Antonia Pollak<br />
(«Ich wollte einen Gott, um ihn zu verfluchen»)<br />
erlebt aufgrund des Mordes<br />
an ihrer Putzfrau eine Katharsis, die zu<br />
viel des Guten ist.<br />
Die Stärken dieses Romans liegen anderswo<br />
– in der Milieustudie der Wiener<br />
Schickeria sowie in Figurenporträts.<br />
Wir wissen nun, warum und wie langjährige<br />
Freundschaften an Vegetarismus<br />
zerbrechen können. Wir wundern uns<br />
zus<strong>am</strong>men mit Antonia über Freunde,<br />
die zu einer Einladung immer ihre<br />
Nanny mitbringen, und denken nach<br />
über die Frage: «Wer hat […] die Hoheit<br />
über Rechte und Pflichten des Kindermädchens,<br />
die Arbeitgeber oder die<br />
Gastgeber?» Was immer Doris Knecht<br />
unters Mikroskop legt und seziert, sie<br />
beobachtet exakt wie eine Naturwissenschafterin<br />
und schreibt launig und klug<br />
wie eine Kolumnistin, ohne den Befund<br />
zu werten. Wobei ihre Sprache gelegentlich<br />
zu sehr ihre eigene ist und weniger<br />
die einer sozialen Aufsteigerin.<br />
Süffig zu lesen<br />
Zu Hochform läuft Doris Knecht auf,<br />
wenn sie einzelne Menschen beschreibt:<br />
Jennifer, die immer wieder von neuem<br />
an die grosse Liebe glaubt und trotzdem<br />
stets den gleichen Typ Mann auswählt.<br />
Oder Moritz, der beste Freund der Heldin,<br />
der neben ihrer Schwester als Einziger<br />
alles über sie weiss. Kurz vor Abschluss<br />
seines Medizinstudiums hat er<br />
aufgehört zu studieren. Nicht weil er die<br />
Prüfungen nicht geschafft hätte, sondern<br />
weil er plötzlich merkt, dass er<br />
doch nicht Arzt sein will. Er wollte weniger,<br />
als er haben konnte. «Weniger, als<br />
man von ihm als Sohn einer Medizinerf<strong>am</strong>ilie<br />
erwartete. Er empfand das als<br />
unerträgliche Last.» Moritz wird Krankenpfleger<br />
in der Psychiatrie, wo er die<br />
Protagonistin kennenlernt.<br />
«Besser» ist ein süffiger Unterhaltungsroman.<br />
Doch die Geschichte von<br />
der Frau mit der dunklen Vergangenheit<br />
funktioniert nicht. Da wird viel geraunt<br />
und angedeutet und zu wenig glaubhaft<br />
oder beängstigend erzählt. ●<br />
8 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013
Roman Der US-Autor Joey Goebel erzählt von einem Teenager, der als Einziger an<br />
seiner High School nicht dauernd an Sex und Pizza denkt<br />
Ich will nicht immer so kritisch sein<br />
Joey Goebel: Ich gegen Osborne. Aus dem<br />
Amerikanischen von Hans M. Herzog.<br />
Diogenes, Zürich 2013. 432 Seiten,<br />
Fr. 32.90, E-Book 25.40.<br />
Von Simone von Büren<br />
Die Schule als gesellschaftlicher Mikrokosmos<br />
ist in der angelsächsischen Literatur<br />
immer wieder ein ergiebiges Motiv<br />
– jüngst etwa im fulminanten Roman<br />
«Skippy stirbt» (Kunstmann 2011) des<br />
Iren Paul Murray, der anhand der Zustände<br />
an einer katholischen Internatsschule<br />
die irische Angewohnheit kritisiert,<br />
heikle Episoden der eigenen Geschichte<br />
über Generationen hinweg zu<br />
verschweigen.<br />
In Joey Goebels viertem Roman «Ich<br />
gegen Osborne» repräsentiert eine High<br />
School in Kentucky gar die Welt: «Osborne<br />
war die Welt in ihrer unabwendbarsten<br />
Form.» Zumindest steht sie für<br />
ein Amerika, das Ende der neunziger<br />
Jahre – der Roman spielt an einem einzigen<br />
Tag im Frühling 1999 – die aussereheliche<br />
Affäre seines Präsidenten zu<br />
verarbeiten versucht.<br />
Auch an der Osborne High School<br />
dreht sich alles um Sex, um «die Grosse<br />
Dumme Rumhurerei», wie es J<strong>am</strong>es<br />
Weinbach, der 17-jährige Ich-Erzähler,<br />
nennt. Der klapperdürre Teenager, der<br />
im Anzug zur Schule kommt und den<br />
generellen Mangel an Höflichkeit und<br />
Stil in seiner Altersgruppe beklagt, arbeitet<br />
an seinem ersten Roman über<br />
eine «geheimnisvolle Krankheit, die<br />
dazu führt, dass sich alle zurückentwickeln».<br />
In einer Mischung aus Wut und<br />
Überheblichkeit sieht er seine Mitschüler<br />
als «pickelgesichtige Trottel» mit<br />
«Kaugummi kauenden Kiefern», als<br />
hormongesteuerte «Deppen, die nur an<br />
Pizza dachten».<br />
Am ersten Schultag nach den Osterferien<br />
eskaliert J<strong>am</strong>es’ Wut, als seine bisherige<br />
Verbündete Chloe mit coolen<br />
Schuhen und überhaupt unangenehm<br />
verändert ausgerechnet mit seinem Erzfeind<br />
H<strong>am</strong>ilton, dem «ungekrönten<br />
König aller Bumser», anbändelt. Um<br />
sich an ihr und der ganzen hirnlosen<br />
Bande zu rächen, bringt J<strong>am</strong>es den Rektor<br />
durch Erpressung dazu, den Abschlussball<br />
abzusagen, und rückt dadurch<br />
ausnahmsweise ins Zentrum des<br />
Geschehens.<br />
Goebel, der mit literarischen Grössen<br />
wie T. C. Boyle und John Irving verglichen<br />
worden ist, gestaltet «Ich gegen<br />
Osborne» als Gefühlsprotokoll eines<br />
schwierigen Tages. Er unterteilt ihn in<br />
Lektionen und viele durch Minutenangaben<br />
gekennzeichnete Abschnitte. In<br />
der detaillierten emotionalen Aufzeichnung<br />
der Schulstunden von 7.47 bis 15.34<br />
dominieren J<strong>am</strong>es’ Wuttiraden, die so<br />
witzig wie langfädig geraten.<br />
Man hätte sich neben einem strengeren<br />
Lektorat mehr von diesen feinfühligen<br />
Momenten gewünscht, in denen die<br />
Gefühle durchscheinen, die die grosse<br />
Wut nur verdeckt: J<strong>am</strong>es’ Liebe für<br />
Chloe, seine Sehnsucht nach der Leichtigkeit<br />
seiner Altersgenossen, die Trauer<br />
um seinen eben verstorbenen Vater<br />
und seine Unsicherheit: «Wenn ein<br />
Seufzer menschliche Form annehmen<br />
könnte, würde er wohl wie ich mit siebzehn<br />
aussehen.»<br />
Die Wut ist nicht neu im Werk des<br />
33-jährigen Autors. Schon in früheren<br />
Romanen hat Goebel scharfzüngig abgerechnet<br />
mit gesellschaftlichen Missständen<br />
und engstirnigen Haltungen in<br />
Amerika, wenn er zum Beispiel fünf<br />
Aussenseiter in einer gottverlassenen<br />
Kleinstadt gegen das System anrennen<br />
liess («Freaks», in Deutsch 2007 erschienen)<br />
oder die Entfremdung zwischen<br />
Trailer-Park-Bewohnern und den<br />
republikanischen Politikern beschrieb,<br />
die ihre Stimme vertreten sollten<br />
(«Heartland», 2010).<br />
Auffallend ist im neuen Roman die<br />
Häufung von J<strong>am</strong>es’ Einsichten und Vorsätzen<br />
<strong>am</strong> Ende: Ich mag nicht immer so<br />
überkritisch sein, ich will die Menschen<br />
mögen, ich hätte meine Energie gescheiter<br />
in meinen Roman investiert, ich<br />
möchte andere unbeschwert anfassen<br />
können.<br />
Sogar in Anbetracht der überdurchschnittlich<br />
unbeständigen Emotionalität<br />
von Teenagern geschehen diese Veränderungen<br />
zu plötzlich, um psychologisch<br />
plausibel zu sein. Es wirkt eher so,<br />
als ob der Autor sich vorgenommen<br />
hätte, auf einer positiven Note aufzuhören,<br />
versöhnlich statt verbittert. Vielleicht<br />
gibt es in den USA unter Ob<strong>am</strong>a<br />
ein bisschen weniger Anlass für Wut als<br />
unter G. W. Bush? ●<br />
Harry Callahan Ein Fotoklassiker neu zu entdecken<br />
Die Farbe der Tür ist verwittert, aber das Licht<br />
verzaubert das Blau und schafft mit dem Rot der<br />
Äpfel einen intensiven Klang. Für einen Moment ist<br />
der Alltag verzaubert, und eine banale Situation wird<br />
der Zeit entrückt. Harry Callahan fand solche Motive<br />
bei seinen zahllosen Streifzügen durch <strong>am</strong>erikanische<br />
Städte. Er fotografierte Schaufenster, Gebäude und<br />
Passanten, und auf vielen Bildern glauben wir etwas<br />
von der Atmosphäre eines Ortes und eines Jahrzehnts<br />
zu erkennen. Die Aufnahme von den roten<br />
Äpfeln wurde 1951 in Chicago gemacht, man kann<br />
darin die Schlichtheit und die Sehnsucht der Nachkriegsjahre<br />
spüren. In Providence und Atlanta hält<br />
der Fotograf Häuser und Bürobauten wie abstrakte<br />
Strukturen fest, die der industriellen Anonymität<br />
jener Jahre entsprechen. Callahan hat sich früh vom<br />
Realismus der Street Photography abgewandt und<br />
das Bildmedium künstlerisch emanzipiert. Das<br />
geschah mit skulpturalen und zeichnerischen<br />
Abstraktionen auf den Schwarz-Weiss-Aufnahmen<br />
und mit einer neuen Handhabung der Farbe. Der<br />
1912 geborene Fotograf war einer der ersten, die sie<br />
als Kompositionsmittel verstanden, gleich ob er<br />
in Portugal, Irland oder Amerika fotografierte.<br />
In Amerika hoch geschätzt, ist Harry Callahan in<br />
Europa noch wenig bekannt. Der Band, der eine Ausstellung<br />
in H<strong>am</strong>burg begleitet (Deichtorhallen, bis<br />
16. Juni 2013) stellt das Werk in seinen Facetten vor.<br />
Gerhard Mack<br />
Dirk Luckow, Sabine Schnakenberg (Hrsg.): Harry<br />
Callahan. Kehrer, Heidelberg 2013. 256 Seiten,<br />
198 Abbildungen, Fr. 77.90.<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 9
Belletristik<br />
Lyrik Der schizophrene Künstler Ernst Herbeck (1920–1991) verbrachte Jahrzehnte in der<br />
Nervenheilanstalt Gugging bei Wien. Dort ermunterte ihn sein Psychiater zum Schreiben<br />
Eine Art universales<br />
Ur-Gewisper<br />
Ernst Herbeck: Der Hase!!!! Ausgewählte<br />
Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2013.<br />
264 Seiten, Fr. 33.90.<br />
Von Bruno Steiger<br />
1966 gab der Psychiater Leo Navratil in<br />
der kleinen, heute legendären Studie<br />
«Schizophrenie und Sprache» erstmals<br />
Einblick in das literarische Schaffen seines<br />
Patienten Ernst Herbeck. Dieser<br />
schrieb d<strong>am</strong>als noch unter dem Pseudonym<br />
Alexander. Sein erstes Gedicht<br />
verfasste er 1960, im Alter von 40 Jahren,<br />
als Insasse der niederösterreichischen<br />
Landesnervenklinik Gugging.<br />
Das Gedicht, sicherlich eines der ergreifendsten<br />
der deutschsprachigen Literatur,<br />
kann nicht oft genug zitiert werden:<br />
«Im Herbst da reiht der / Feenwind<br />
/ da sich im Schnee die / Mähnen treffen.<br />
/ Amseln pfeifen heer / im Wind<br />
und fressen.»<br />
Was daran, nebst all den geradezu<br />
vir tuos anmutenden formalen Tricks<br />
und Regelbrüchen, bis heute tief bewegt,<br />
ist wohl die horrende Kälte in den<br />
Versen, ebenso die Abwesenheit alles<br />
Menschlichen. Es tritt in diesem «Naturgedicht»<br />
eine Verlorenheit zutage,<br />
die man nur erschütternd nennen kann.<br />
Den Eindruck, man habe es mit einer<br />
Art universalem Ur-Gewisper zu tun,<br />
bestätigt der Dichter selbst, in einem<br />
wenig später entstandenen Vierzeiler,<br />
wo er sich als einen Propheten bezeichnet,<br />
dem es möglich geworden sei,<br />
«Gottes Vers zu ebnen».<br />
Befremdlich schöne Poesie<br />
Navratils stets reich dokumentierte<br />
Hinweise auf Herbeck sorgten vorab in<br />
Literatenkreisen für Aufregung. Nicht<br />
nur bei Ernst Jandl und Friederike Mayröcker<br />
lösten die so befremdlich schönen<br />
Gedichte ein begeistertes Echo aus,<br />
auch W. G. Sebald feierte, etwa in seinem<br />
Essayband «Die Beschreibung des<br />
Unglücks», die Hervorbringungen seines<br />
leidgeprüften Kollegen. Mittlerweile<br />
sind etliche S<strong>am</strong>mlungen von<br />
Herbecks Texten erschienen. Die hier<br />
anzuzeigende jüngste Auswahl besorgte<br />
Gisela Steinlechner, die viel bislang<br />
Unveröffentlichtes zus<strong>am</strong>mengetragen<br />
und den Band mit einem ebenso kenntnisreichen<br />
wie inspirierten Nachwort<br />
versehen hat. Der Buchtitel stellt mit<br />
seinem vielfach bekräftigten «Hasen»<br />
den Grundtenor einer Poesie heraus, die<br />
unserer als entleert wahrgenommenen<br />
Welt so etwas wie Substantialität einschreiben<br />
möchte.<br />
Oder zu möchten hat. Denn aus eigenem<br />
Antrieb auch nur ein einziges Wort<br />
zu Papier zu bringen, blieb dem seelisch<br />
Therapiestunde mit<br />
dem Zwangspoeten<br />
Ernst Herbeck, im<br />
Hintergrund sein<br />
Psychiater Leo<br />
Navratil. Nervenklinik<br />
Gugging, 1978.<br />
Derangierten zeitlebens versagt. Herbeck<br />
schrieb nur in der Therapiestunde,<br />
auf Drängen von Navratil hin, der ihm<br />
jeweils den Titel vorgab. Ein leiser Widerwille<br />
des zum Dichten Angehaltenen<br />
kommt nicht selten explizit zum Ausdruck,<br />
etwa in dem eingangs zitierten<br />
Meisterwerk, wo Herbeck das Motiv<br />
«Der Morgen» mutwillig in ein frostiges,<br />
ausserhalb jeder denkbaren Tageszeit<br />
liegendes Herbstszenario umbiegt.<br />
Auch für die Fälle, wo Herbeck der vorgegebene<br />
Titel nur gerade einen kleinen<br />
Einwurf wert war, finden sich zahlreiche<br />
Beispiele in dem Buch, etwa zum<br />
einigermassen provokant wirkenden<br />
Stichwort «Selbstbewusstsein», das der<br />
nikotinsüchtige Zwangspoet mit einem<br />
souveränen «Wenn man raucht erübrigt<br />
es / sich.» abtut.<br />
Von solitärem Rang<br />
Auf die Frage, ob die vier Ausrufezeichen<br />
des Titelgedichts vom zeitlebens<br />
unter der angeborenen Lippen-Kiefer-<br />
Gaumenspalte («Hasenscharte») leidenden<br />
Dichter oder gar von seinem<br />
Arzt st<strong>am</strong>men, lässt sich keine schlüssige<br />
Antwort finden. Wie auch immer sie<br />
ausfiele, <strong>am</strong> solitären Rang von Herbecks<br />
Werk würde sie nichts ändern.<br />
Wie Gisela Steinlechner in ihrem Nachwort<br />
hervorhebt, lässt sich bei Herbeck<br />
eine Stimme vernehmen, «die ebenso an<br />
die Grundlagen wie an die Grenzen der<br />
Poesie rührt». Gerade d<strong>am</strong>it unterscheiden<br />
sich die Gedichte in aller wünschenswerten<br />
Deutlichkeit von den Designprodukten<br />
der heute gängigen Spitzenlyrik.<br />
Auch wenn gesagt werden<br />
kann, dass die Texte des 1991 «ungeheilt»<br />
Verstorbenen ihren frühen Widerhall<br />
vorab in einem von Sprachkritik<br />
und Experimentierfreude geprägten<br />
Umfeld fanden, eignet ihnen eine Ursprünglichkeit,<br />
die sich jeder literaturgeschichtlichen<br />
Einordnung entzieht.<br />
Eine gewisse Nähe von Herbecks<br />
Texten zu den dichterischen Erzeugnissen<br />
des Multikünstlers Dieter Roth darf<br />
gleichwohl festgestellt werden. Bei beiden<br />
ist das Prädikat «zustandsgebunden»<br />
nicht gänzlich fehl <strong>am</strong> Platz. Für<br />
Herbeck ebenso wie für Roth hatte der<br />
Schreibakt erste Priorität, noch vor allen<br />
poetischen Absichten und Formvorstellungen.<br />
Herbecks Frage an seinen Arzt,<br />
ob er «unbedingt alles» schreiben solle,<br />
dürfte sich auch Dieter Roth gestellt<br />
haben. In einem frappant an Gertrude<br />
Stein erinnernden kleinen Prosastück<br />
spricht Herbeck von «neutralen Texten»,<br />
die sich in seiner Lyrik wie noch<br />
im Schrifttum der Profanwelt unablässig<br />
vermehren und verzweigen würden. Es<br />
könnte nicht zuletzt diese von allem<br />
kunsthaften Streben befreite «Neutralität»<br />
sein, in der die Sprache selbst zu<br />
Wort kommt. Die an unsere ältesten Bewusstseinsschichten<br />
rührende Authentizität<br />
einer «Literatur von Geisteskranken»<br />
ist d<strong>am</strong>it nicht hinreichend erklärt.<br />
Ihre verstörende, noch diesseits aller<br />
«Hermetik» liegende Unauflösbarkeit<br />
ist es denn auch, die sie vor jedem Simulationsversuch<br />
schützt – zum Glück für<br />
uns Normalneurotiker und, es lässt sich<br />
nur erhoffen, noch für lange Zeit. ●<br />
MICHAEL HOROWITZ / ANZENBERGER<br />
10 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013
E-Krimi des Monats<br />
Im Hotel zugestochen<br />
Kurzkritiken Belletristik<br />
Nika Lubitsch: Der 7. Tag. MVG-Verlag,<br />
München 2013. 192 Seiten, Fr. 13.40,<br />
E-Book 3.40.<br />
Sophokles: Elektra. Griechisch/Deutsch.<br />
Übersetzung K. Steinmann. Recl<strong>am</strong>,<br />
Ditzingen 2013. 197 Seiten, Fr. 9.40.<br />
Im Reich der Wünsche. Die schönsten<br />
Märchen deutscher Dichterinnen. Hrsg.<br />
Shawn C. Jarvis. C. H. Beck. 368 S., Fr. 28.40.<br />
Keine vier Franken kostet der E-Book-<br />
Krimi mit dem blutigen Cover. Das hält<br />
die Erwartungen tief. Zumal er im Eigenverlag<br />
erschienen ist. Und doch: Wochenlang<br />
führte «Der 7. Tag» der<br />
Berlinerin Nika Lubitsch die Kindle-<br />
Krimi-Bestsellerliste an. Viele Leser<br />
kommentierten begeistert. Darum an<br />
dieser Stelle eine Rezension zu einem<br />
4-Franken-Krimi aus einem Eigenverlag.<br />
Das Wichtigste vorweg: Das Buch<br />
bietet mehr, als es verspricht. Der<br />
Krimi ist unkonventionell erzählt, gegliedert<br />
in mehrere Teile, in denen<br />
gleiche Umstände aus unterschiedlichen<br />
Perspektiven geschildert werden.<br />
Und: Er ist spannend. Man liest ihn in<br />
einem Zug, was aber auch heisst: Sehr<br />
anspruchsvoll ist die Lektüre nicht.<br />
Dafür trumpft der Plot <strong>am</strong> Schluss mit<br />
einer überraschenden Wendung auf.<br />
Die Handlung dreht sich um Sybille<br />
Thalheim, eine Frau, die alles hat, was<br />
es zum Glücklichsein braucht – und<br />
alles verliert. Ihr Leben verwandelt<br />
sich aufgrund eines Ereignisses in<br />
einen Albtraum: Ihr Ehemann verschwindet.<br />
Sie verliert ihr ungeborenes<br />
Kind, ihr Geld, ihr Haus, auch ihre<br />
Mutter stirbt. Alles zerfliesst. Und<br />
dann taucht der Vermisste plötzlich<br />
wieder auf: Als Toter in einem Hotelzimmer,<br />
mit 18 Messerstichen ermordet.<br />
Sybille Thalheim wird verhaftet –<br />
und wegen Mordes verurteilt. Obwohl<br />
sie sich nicht an die Tat erinnern kann<br />
– oder nicht erinnern will?, wie sie<br />
sich selber fragt. «Manche Menschen<br />
werden als Opfer geboren. Bis vor<br />
zwei Jahren glaubte ich, dass ich nicht<br />
dazu gehöre. Seit sechs Monaten sitze<br />
ich in einer Zelle und warte darauf, für<br />
ein Verbrechen verurteilt zu werden,<br />
das ich nicht begangen habe», schreibt<br />
sie in ihr Tagebuch, in dem sie die Ereignisse<br />
vor Gericht als Ich-Erzählerin<br />
schildert.<br />
Wie in einem Puzzle muss sich der<br />
Leser die Geschichte selbst zus<strong>am</strong>mensetzen<br />
– mit Sybille Thalheims Bericht,<br />
mit <strong>Zeitung</strong>sartikeln über das<br />
Verfahren und mit Erzählungen aus<br />
der Aussenperspektive. Nur wer alle<br />
Seiten kennt, realisiert, dass alles anders<br />
war, als man sich dachte.<br />
«Der 7. Tag» ist nun auch als Taschenbuch<br />
erschienen. Ein später Erfolg<br />
für Nika Lubitsch. Bereits mit 26<br />
hat die heute 60-Jährige versucht,<br />
einen Krimi zu publizieren. Ein einziger<br />
Verlag hat ihr Manuskript nicht<br />
entsorgt, sondern zurückgeschickt.<br />
Im Kommentar stand:<br />
«Wir verlegen keine Kochbücher.»<br />
Von Christine<br />
Brand ●<br />
Die Geschichte der griechischen Königstochter<br />
Elektra, die mit ihrem Bruder<br />
Orest Blutrache an ihrer Mutter und<br />
an ihrem Stiefvater übt, wurde literarisch<br />
immer wieder gestaltet. Sophokles,<br />
Aischylos und Euripides haben<br />
sich des mythologischen Stoffs auf ganz<br />
verschiedene Weise angenommen. Das<br />
Dr<strong>am</strong>a des Sophokles legt der renommierte<br />
Luzerner Übersetzer Kurt Steinmann,<br />
dem wir eine formidable neue<br />
Odyssee verdanken, nun in einer mustergültigen<br />
neuen Edition vor: Seine<br />
Versübertragung ist exakt und auf dem<br />
neuesten Stand der Forschung, aber<br />
auch sprech- und spielbar. Die zweisprachige<br />
Ausgabe wird Philologen erfreuen,<br />
das luzide, ausführliche Nachwort<br />
von Markus Janka, welches die Tra -<br />
gödie gedanklich und zeitlich zwischen<br />
Aischylos und Euripides verortet,<br />
spricht auch Kulturhistoriker an.<br />
Manfred Papst<br />
Georges Perec: Anton Voyls Fortgang.<br />
Roman. Deutsch von E. Helmlé. Diaphanes,<br />
Zürich 2013. 410 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Der französische Autor und Filmemacher<br />
Georges Perec (1936-1982) zählte<br />
zur legendären Oulipo-Gruppe, die sich<br />
den waghalsigsten Sprachexperimenten<br />
verschrieb. 1969 verfasste er aufgrund<br />
einer Wette den Roman «La Disparition»,<br />
in dem der Buchstabe E kein einziges<br />
Mal auftaucht. Das ist zuerst einmal<br />
eine Spielerei. Doch das Buch bietet<br />
über die blosse Artistik hinaus eine<br />
vergnügliche und erhellende Lektüre.<br />
Erzählt wird eine krude Geschichte zwischen<br />
Revolutionskomödie und Krimiparodie.<br />
Eugen Helmlé hat das Kunststück<br />
fertiggebracht, den Roman ohne<br />
ein einziges E (den häufigsten Vokal sowohl<br />
im Französischen als auch im<br />
Deutschen) zu übertragen. 1986 ist seine<br />
kongeniale Übersetzung bei Zweitausendeins<br />
erschienen; nun liegt sie, erweitert<br />
um ein kundiges Nachwort von<br />
Ralph Schock, neu vor. Ein helles Vergnügen<br />
für alle Sprach-Turner!<br />
Manfred Papst<br />
Für dieses von Isabel Grotze Holtforth<br />
bestrickend schön illustrierte Buch benötigt<br />
man ein gewisses literaturhistorisches<br />
Interesse. In nicht wenigen der<br />
21 Märchen aus der Feder von 21 deutschen<br />
Autorinnen, zu denen Katharina<br />
die Grosse (1729–1796) ebenso gehört<br />
wie Fanny Lewald (1811–1889), die Frauenrechtlerin<br />
Hedwig Dohm (1831–1919)<br />
und die promovierte Philosophin Ricarda<br />
Huch (1864–1947), dominieren pädagogische<br />
Ansinnen über Fabulierlust.<br />
Das mag auch mit der Grund sein, weshalb<br />
sie weitgehend unbekannt beziehungsweise<br />
vergessen sind, was – nebenbei<br />
bemerkt – auch die Mehrheit der<br />
Grimm’schen Märchen betrifft. Wenn<br />
auch nicht als Gute-Nacht-Geschichten<br />
für die Kinder, so lohnt sich die Lektüre<br />
dennoch: Als Türöffner zu anderen Texten<br />
dieser Schriftstellerinnen, die zu<br />
Unrecht kaum mehr gelesen werden.<br />
Regula Freuler<br />
Andrzej Stasiuk: Kurzes Buch über das<br />
Sterben. Deutsch von Renate Schmidgall.<br />
Suhrk<strong>am</strong>p 2013. 112 S., Fr. 11.90, E-Book 9.90.<br />
1960 in Warschau geboren, seit Jahren<br />
aber in der Abgeschiedenheit der Niederen<br />
Beskiden lebend, gehört Andrzej<br />
Stasiuk zu den wichtigsten polnischen<br />
Autoren seiner Generation: ein kritischer<br />
Kopf, der sich Anfang der 1980er<br />
Jahre in der pazifistischen Oppositionsbewegung<br />
engagiert hat und wegen Desertion<br />
aus dem Militärdienst anderthalb<br />
Jahre im Gefängnis sass. Aus den<br />
Erfahrungen, die er dort gemacht hat,<br />
entstand 1992 sein aufsehenerregendes<br />
Debüt «Die Mauern von Hebron». In<br />
seinem neuesten Buch, das vier Geschichten<br />
enthält, setzt er sich mit seinen<br />
persönlichen Erfahrungen mit dem<br />
Sterben und dem Tod auseinander. Mal<br />
geht es um seine Grossmutter, mal um<br />
seine Hündin, dann wieder um enge<br />
Freunde. Alles<strong>am</strong>t sind es autobiografische<br />
Texte, in denen sich analytische<br />
Selbstbefragung und Mitgefühl sicher<br />
die Waage halten.<br />
Regula Freuler<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 11
Porträt<br />
Der Schriftsteller und Arzt Alaa al-Aswani kämpfte auf dem Tahrir-Platz<br />
für Freiheit und demokratische Rechte in Ägypten. Nun sieht er sie<br />
gefährdet durch eine Diktatur der Muslimbrüder. Michael Holmes hat<br />
den Autor in seiner Praxis in Kairo besucht<br />
«Wir Ägypter sind<br />
wieder im Rennen»<br />
Fragt man liberale Aktivisten, welche die ägyptische<br />
Revolution im Frühling 2011 geplant und<br />
zum Sieg geführt haben, nach ihren Vorbildern,<br />
fällt ein N<strong>am</strong>e besonders oft: «Ohne Alaa al-<br />
Aswani wäre all das nicht möglich gewesen».<br />
Sie sprechen gern von diesem Mann, der ihnen<br />
Mut, Selbstachtung und Hoffnung gibt. «Er<br />
schreibt, was wir fühlen.»<br />
Alaa al-Aswani ist Schriftsteller, Revolutionär<br />
und Zahnarzt. Seine Praxis liegt in Garden<br />
City, einem wohlhabenden, gepflegten Stadtteil<br />
Kairos <strong>am</strong> östlichen Nilufer mit Luxushotels,<br />
Villen im klassisch-europäischen Stil und grünen<br />
Gärten. Sie ist klein – zwei Zimmer, hellgrüne<br />
Wände, kaum ein Bild. Vom Balkon hängt<br />
die ägyptische Fahne. Der Hausherr empfängt<br />
im eleganten Anzug – fester Händedruck, breites<br />
Lächeln. Er ist gross, kräftig, charismatisch<br />
und mit einem natürlichen Selbstbewusstsein<br />
gesegnet. Wäre er nicht so freundlich, könnte<br />
er fast bedrohlich erscheinen. Der Zahnarzt<br />
setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Ich nehme<br />
neben dem Zahnarztstuhl Platz.<br />
Wie hat er selbst die Revolution erlebt? «In<br />
den Tagen der Revolution auf dem Tahrir und<br />
auf vielen anderen Plätzen in ganz Ägypten<br />
haben wir uns in bessere Menschen verwandelt.<br />
Wer frisch verliebt ist, wird oft zu einem<br />
besseren Menschen. Während dieser Tage<br />
waren wir alle verliebt», erklärt der Schriftsteller.<br />
Man habe sich gegenseitig geholfen, war<br />
hervorragend organisiert und blieb friedlich,<br />
Alaa al-Aswani<br />
Alaa al-Aswani wurde 1957 in Kairo in eine<br />
weltoffene Mittelschichtf<strong>am</strong>ilie geboren. Sein<br />
Vater war Anwalt und Schriftsteller. In Kairo<br />
besuchte er eine französische Schule. Das<br />
Studium der Zahnmedizin führte ihn nach<br />
Chicago. Heute lebt er mit seiner Frau und drei<br />
Kindern in Kairo. Im Jahre 2002 veröffentlichte<br />
er den ersten Roman «Der Jakubijan-Bau», ein<br />
Bestseller in der arabischen Welt, heute in 23<br />
Sprachen übersetzt. 2006 erschien der Roman<br />
«Chicago» (Lenos 2012). Das Buch «Im Lande<br />
Ägypten» (Fischer 2012) vers<strong>am</strong>melt die<br />
wichtigsten <strong>Zeitung</strong>skolumnen und politischen<br />
Kommentare des Autors.<br />
12 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
«Demokratie ist kein<br />
Picknick! Alle westlichen<br />
Gesellschaften haben<br />
Jahrzehnte gebraucht, bis<br />
ihre Demokratien voll<br />
entwickelt waren.»<br />
selbst als Menschen vor aller Augen von Scharfschützen<br />
ermordet wurden und niemand wusste,<br />
wer als nächster stirbt.<br />
2002 wird Alaa al-Aswani mit seinem Meisterstück<br />
«Der Jakubijan-Bau» schlagartig berühmt.<br />
In seinem ersten Roman zeichnet der<br />
Autor ein vielschichtiges, buntes Panor<strong>am</strong>a der<br />
ägyptischen Gesellschaft. Der mehrstöckige<br />
Wohnkomplex im Art-déco-Stil ist zunehmend<br />
dem Verfall preisgegeben und beherbergt Dutzende<br />
Charaktere, die viele Ägypter an reale<br />
Personen denken lassen. Auf dem Dach hausen<br />
die Ärmsten in schäbigen Hütten. Unter ihnen<br />
wohnen die Bessergestellten, meist durch<br />
Härte, Tricks und Beziehungen zu Geld gekommen.<br />
Al-Aswani bricht dabei viele Tabus der<br />
ägyptischen Gesellschaft: Ein junges Mädchen<br />
wird von ihren Arbeitgebern zum Sex genötigt.<br />
Der Sohn des Türhüters darf nicht Polizist werden,<br />
wird graus<strong>am</strong> gefoltert und mutiert<br />
zum rachedurstigen Gotteskrieger. Ein sensibler<br />
Schwuler verschafft sich als Chefredakteur<br />
einer angesehenen <strong>Zeitung</strong> Respekt. Und an<br />
der Spitze der kleptokratischen Machtpyr<strong>am</strong>ide<br />
steht der Präsident. Weil er die Sorgen und<br />
Sehnsüchte der kleinen Leute in der Riesenmetropole<br />
Kairo schildert, wird al-Aswani oft mit<br />
dem ägyptischen Nobelpreisträger Nagib<br />
Machfus verglichen.<br />
Hat al-Aswani die Revolution kommen<br />
sehen? «Ich habe grosse Veränderungen erwartet<br />
– im Gegensatz zu fast allen westlichen Experten»,<br />
sagt der Autor. Schon 2010 war er<br />
überzeugt, dass Ägypten reif für einen Wechsel<br />
sei. Er höre den jungen Aktivisten, seinen Patienten<br />
und Lesern genau zu, wenn sie ihm aus<br />
ihrem Leben erzählten. Inzwischen fragen sich<br />
viele, ob die Revolution nur ein schöner Traum<br />
gewesen sei. Die ersten Wahlen nach der Revolution<br />
waren trotz Unregelmässigkeiten die<br />
freiesten in der Geschichte des Landes. Trotzdem<br />
brachten sie mit einer knappen Mehrheit<br />
die isl<strong>am</strong>istische Muslimbruderschaft an die<br />
Macht. Die Einheit vom Tahrir-Platz ist darüber<br />
zerbrochen.<br />
Als Besucher in Kairo erlebt man, wie täglich<br />
Demonstrationszüge gegen die Regierung von<br />
Moh<strong>am</strong>med Mursi durch die Strassen ziehen.<br />
Häufig kommt es zu schweren Auseinandersetzungen.<br />
Noch immer werden Demonstranten<br />
verprügelt, gefoltert, erschossen. In rechtsfreien<br />
Räumen häufen sich Diebstähle und Vergewaltigungen.<br />
Touristen meiden das Land ebenso<br />
wie die dringend benötigten Investoren. Das<br />
Wirtschaftswachstum sinkt. Haben sich die<br />
Revolutionäre geirrt? Ist Ägypten noch nicht<br />
reif für die Demokratie? Al-Aswanis Antwort<br />
kommt sofort: «Nein! Demokratie ist kein Picknick.»<br />
Alle westlichen Gesellschaften hätten<br />
Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gebraucht,<br />
bis ihre Demokratien voll entwickelt waren.<br />
«Wir Ägypter sind nach dreissig Jahren Missherrschaft<br />
endlich wieder im Rennen.»<br />
Wie ein Bruchpilot <strong>am</strong> Steuer<br />
Immer wieder steht der Schriftsteller auf,<br />
schreitet durch den Raum. «Die Diktatur hat<br />
uns paralysiert. Jetzt sind wir auf dem richtigen<br />
Weg.» Die Auseinandersetzung mit dem politischen<br />
Isl<strong>am</strong> sei eine Prüfung, die drei Jahrzehnte<br />
hinausgeschoben worden sei. Die Mubarak-<br />
Diktatur habe die Isl<strong>am</strong>isten gestärkt. Doch<br />
nun verlören die Muslimbrüder an Popularität:<br />
«Selbst völlig ungebildete Menschen sehen,<br />
dass diese Regierung unglaublich inkompetent<br />
ist.» Auch die neue Regierung erfüllt keine der<br />
grundlegenden Aufgaben. Lärm, Abfall und<br />
Korruption sind allgegenwärtig. Der Verkehr<br />
ist lebensgefährlich.<br />
Der Zahnarzt bohrt tief. Al-Aswanis <strong>Zeitung</strong>skolumnen<br />
führen immer wieder zu Debatten.<br />
Mit spitzer Feder hat er schon 2005 bis<br />
2010 die brutale Repression, Vetternwirtschaft,<br />
religiöse Doppelmoral und Frauenverachtung<br />
angeprangert. Den Extremisten aller Seiten<br />
wirft er vor, die höchsten Ideale der Ägypter in<br />
ihr genaues Gegenteil zu verkehren. Als Patriot<br />
streitet er für das Recht, das eigene Land zu kritisieren.<br />
Als frommer Moslem verteidigt er<br />
▲
«Während dieser Tage waren wir alle verliebt», sagt der Kairoer Zahnarzt und Bestsellerautor Alaa al-Aswani über die Zeit auf dem Tahrir-Platz.<br />
BALTEL / SIPA / DUKAS<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 13
10CFWMMQ7DMAwDXySDomyrisYgW9Ch6O6l6Nz_T7WzZeCBw5Hnma3gyn4838crFaiUifDIFq3Qe2qweOuJCiPUNq1wZZA3X6DRDTaWI6gyq052IcfDMdTWw1hrWPl9vn_ttMs1gAAAAA==<br />
10CAsNsjY0MDAx0gUSluaWANEM-KcPAAAA<br />
Porträt<br />
den toleranten Isl<strong>am</strong> gegen die Isl<strong>am</strong>isten.<br />
Und fast alle Texte enden mit der Parole: «Demokratie<br />
ist die Lösung.» Al-Aswani zählt zu<br />
den Gründern der Widerstandsgruppe «Kefaya»,<br />
wurde bespitzelt, verleumdet. Nach der<br />
Revolution nahm er in einer legendären Fernsehdebatte<br />
den von Mubarak ernannten Premierminister<br />
Ahmad Shafiq so in die Mangel,<br />
dass dieser <strong>am</strong> folgenden Tag zurücktrat.<br />
Auch fromme Ägypter, sagt al-Aswani, der<br />
gerne Bilder braucht, begännen zu verstehen,<br />
wie gefährlich der politische Missbrauch der<br />
Religion sei: «Die Muslimbrüder haben das<br />
Flugzeug n<strong>am</strong>ens Ägypten entführt. Jetzt versuchen<br />
sie verzweifelt herauszufinden, wie<br />
man eine solche Maschine fliegt.» Mit kindlichem<br />
Vergnügen spielt der Zahnarzt einen tollpatschigen<br />
Bruchpiloten, der hektisch <strong>am</strong> Steuer<br />
dreht und wahllos Knöpfe drückt.<br />
▲<br />
«Mursi hat keinen Realitätsbezug»<br />
Dann wird er ernst. «Wir leben heute in einer<br />
faschistischen Diktatur». Die Muslimbrüder,<br />
die glaubten, den Willen Gottes zu kennen und<br />
mithin alles zu dürfen, selbst foltern und morden,<br />
versuchten die Macht ganz an sich zu reissen.<br />
Gerade Schriftsteller wie Mario Vargas<br />
Llosa oder Gabriel Garcia Marquez hätten wunderbar<br />
beschrieben, wie Diktatoren zunehmend<br />
den Kontakt zur Realität und zum Volk<br />
verlieren, weil sie von Bewunderern umgeben<br />
sind, die ihnen nur sagen, was sie hören wollen.<br />
«Mubarak hatte <strong>am</strong> Ende seiner Herrschaft<br />
jeden Kontakt zur Realität verloren. Mursi hat<br />
ihn schon verloren, als er Präsident wurde.»<br />
Trotz allem bleibt er optimistisch: Die ägyptische<br />
Zivilgesellschaft sei stark. Einfache ebenso<br />
wie prominente Ägypter kritisierten heute<br />
offen die Regierung, auf der Strasse, im Fernsehen,<br />
in den <strong>Zeitung</strong>en: «Wir werden einander<br />
beistehen. Wir haben keine Angst und sind auf<br />
alles vorbereitet. Wir erleben die zweite Welle<br />
der Revolution.»<br />
2006 hat al-Aswani seinen Roman «Chicago»<br />
veröffentlicht, der im Milieu ägyptischer Studenten<br />
an der University of Illinois spielt, wo er<br />
selbst studiert hat. Unter Stipendiaten und emigrierten<br />
Akademikern tobt der Konflikt zwischen<br />
Tradition und Moderne, verinnerlichten<br />
Kulturnormen und Freizügigkeit. Es geht im<br />
Buch um Abtreibung, Selbstbefriedigung und<br />
die Liebe zwischen einem Ägypter und einer<br />
Jüdin. Das Niveau des «Jakubijan-Bau» erreicht<br />
«Chicago» nicht mehr. Die Darstellung Amerikas<br />
enthält Klischees und Übertreibungen. Al-<br />
Aswani versteht offensichtlich mehr von den<br />
Institutionen als vom Alltag der westlichen<br />
Welt. In zahlreichen Kolumnen hat er seinen<br />
ägyptischen Lesern in einfachen Worten die<br />
Prinzipien der offenen Gesellschaft erläutert.<br />
Der Protest geht weiter: 25. Januar 2013, zweiter Jahrestag des Volksaufstandes auf dem Tahrir-Platz in Kairo.<br />
Auch deshalb verdient seine scharfe Kritik an<br />
der massiven westlichen Unterstützung für<br />
Mubarak unsere Aufmerks<strong>am</strong>keit.<br />
Vom Westen als einer Einheit zu sprechen,<br />
sei genauso falsch wie alle Vorurteile gegen<br />
«die» Araber, meint Alaa al-Aswani: «Die meisten<br />
Menschen im Westen wollen Menschenrechte<br />
für alle. Dennoch glauben sogar einflussreiche<br />
Denker, dass die armen Länder nicht<br />
bereit seien für die Demokratie.» Er zündet<br />
sich eine Zigarette an und öffnet eine Coladose.<br />
Die meisten westlichen Regierungen würden<br />
sich nicht für die Leiden der Ägypter interessieren.<br />
Sie kämen gut mit korrupten Diktaturen<br />
zurecht, weil diese, immer für ausreichend<br />
«Viele Künstler unterstützen<br />
die Revolution. Aber Kunst<br />
kann Politik nicht verändern.<br />
Kunstwerke sensibilisieren<br />
für die Bedürfnisse und<br />
Ängste anderer Menschen.»<br />
Schmiergeld, die westlichen Sicherheits- und<br />
Wirtschaftsinteressen bedienten. «Nun unterstützen<br />
die USA sogar die Muslimbrüder.» Er<br />
zuckt mit den Schultern. Man sieht ihm die Enttäuschung<br />
an.<br />
Welche Rolle spielen die Kulturschaffenden<br />
beim ägyptischen Frühling? «Viele Künstlerinnen<br />
und Künstler unterstützen die Revolution.»<br />
Aber Kunst könne die Politik nicht verändern.<br />
Grosse Kunstwerke sensibilisierten für<br />
die Bedürfnisse, Ängste und Situationen anderer<br />
Menschen, sie schenken Mitgefühl: «Wenn<br />
Menschen einander verstehen, werden sie sich<br />
auch um die Rechte ihrer Mitmenschen kümmern.»<br />
In seinem nächsten Buch will al-Aswani von<br />
der Auseinandersetzung um die Einführung des<br />
Autos in den 1940er-Jahren in Ägypten erzählen.<br />
Viel verrät er heute noch nicht. Im Mittelpunkt<br />
stehe die Beziehung zwischen den feinen<br />
Mitgliedern des Kairoer Automobilclubs und<br />
ihrer ägyptischen Dienerschaft.<br />
Wird er dereinst einen Roman über die<br />
ägyptische Revolution schreiben? «Ich hoffe<br />
sehr!», ruft er aus. «Aber ebenso wie man sich<br />
nicht dazu entschliessen kann, sich <strong>am</strong> Montagabend<br />
zu verlieben, kann man sich auch<br />
nicht dazu zwingen, einen Roman zu schreiben.<br />
Der richtige Zeitpunkt lässt sich nicht<br />
vorhersagen.» Seine Abschiedsworte sind voller<br />
Zuversicht: «Vielleicht sehen wir uns ja<br />
schon bald auf dem Tahrir wieder. So Gott<br />
will.»<br />
Dort stehen jetzt nur noch wenige Zelte. Barfüssige,<br />
verdreckte Strassenkinder betteln um<br />
Geld oder Essen. Ein junger Mann zeigt mir die<br />
Narben eines Messerangriffs. «Ich wäre fast gestorben<br />
in unserer Revolution. Wofür?» Er ist<br />
den Tränen nahe. «Kopf hoch, die halbe Welt<br />
weiss wofür», entgegne ich. Er denkt nach.<br />
Dann nickt er und lächelt. «Na klar! Wir dürfen<br />
es nie vergessen!» l<br />
ANDRE PAIN / EPA<br />
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14 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013
Kolumne<br />
Charles Lewinskys Zitatenlese<br />
Kurzkritiken Sachbuch<br />
GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />
Der Autor Charles<br />
Lewinsky arbeitet in<br />
den verschiedensten<br />
Sparten. Sein neues<br />
Buch «Schweizen –<br />
vierundzwanzig<br />
Zukünfte» ist soeben<br />
im Verlag Nagel &<br />
Kimche erschienen.<br />
. . . unbearbeitet, eine<br />
rohe Tonmasse, voller<br />
Kehricht, mit Baugerüsten,<br />
herumliegendem<br />
Werkzeug und allerlei<br />
Gerümpel.<br />
Iwan Gontscharow über<br />
einen unfertigen Text<br />
Wer zum Teufel hat wieder diese Adjektive<br />
herumliegen lassen? Muss denn<br />
ums Verrecken der nächste Unfall passieren?<br />
Erst letzte Woche ist einer über<br />
ein vergessenes «nachhaltig» gestolpert<br />
und hat sich die Gr<strong>am</strong>matik gebrochen.<br />
Und die Versicherung hat sich<br />
geweigert, auch nur einen Rappen zu<br />
bezahlen. Weil «nachhaltig» überhaupt<br />
kein Wort sei, sondern nur ein modisches<br />
Klischee.<br />
Und wenn ihr dabei seid: Räumt<br />
auch gleich den Haufen mit den «und»<br />
weg, gopfertellisiech! Wofür hängen<br />
denn überall diese Plakate? «Zuviel und<br />
ist ungesund!» Merkt euch das endlich!<br />
Sonst hol ich mir meine nächsten<br />
Schreiber aus einem Billiglohnland!<br />
So ein Trupp Inder schraubt euch eine<br />
Trilogie im Akkord zus<strong>am</strong>men, da<br />
könnt ihr dann sehen, wo ihr bleibt!<br />
Wie bitte? Was hast du? Einen<br />
Bachelor in «Creative Writing»? Jöö!<br />
Bist du nicht der Typ, der gestern einen<br />
Nebensatz ohne Sicherheitsabsperrung<br />
hat in der Luft hängen lassen? Und<br />
dann behauptet, das sei kein Fehler<br />
sondern Stil? Nicht nur, dass das<br />
lebensgefährlich war – die ganze Baustelle<br />
ist stillgestanden, wegen diesem<br />
Seich! Weil alle auf das Verb gewartet<br />
haben, das du vergessen hast. Wir machen<br />
hier nicht Kunst, merk dir das, wir<br />
machen einen Roman! Meinst du, der<br />
Generalunternehmer will den Erscheinungstermin<br />
verschieben, bloss weil<br />
der Herr Bachelor jedes Mal erst ein<br />
Synonym suchen muss, bevor er ein<br />
Substantiv festschraubt?<br />
Und wer, huerecheibeschiissdräck,<br />
hat diese beiden Kapitel aneinander<br />
montiert! Ja, die beiden, mit dem Zeitsprung<br />
dazwischen, so gross dass sich<br />
jeder Leser das Kontinuum verrenkt!<br />
Soll sich melden, der Dilettant! Natürlich,<br />
jetzt will es wieder keiner gewesen<br />
sein! Aber «Ghostwriter» kommt<br />
von «Geist», nicht von «Pfusch», merkt<br />
euch das endlich!<br />
Also, Leute, nehmt euch ein bisschen<br />
zus<strong>am</strong>men! Sonst muss ich dann andere<br />
Seiten aufziehen!<br />
Ihr seid ja wirklich die letzten Säcke!<br />
Nicht einer hat gemerkt, dass das soeben<br />
ein brillantes Wortspiel war! Seiten<br />
statt Saiten. Von wegen Bücher.<br />
Aber so was kriegt ihr ja überhaupt<br />
nicht mit! Sucht euch doch einen Hilfsarbeiterjob<br />
bei einem Ärzteroman! Für<br />
die echte Literatur seid ihr alle überhaupt<br />
nicht zu gebrauchen!<br />
Und es soll mal sofort einer die viel<br />
zu vielen Ausrufezeichen<br />
wegräumen, die in diesem<br />
Text herumliegen!<br />
Ich weiss auch nicht, wo<br />
die alle herkommen.<br />
Amanda Ad<strong>am</strong>s: Scherben bringen<br />
Glück. Gerstenberg, Hildesheim 2013.<br />
240 Seiten, Fr. 36.90.<br />
«Pionierinnen der Archäologie» heisst<br />
der Untertitel des reich bebilderten Buches,<br />
das sieben beherzte Frauen porträtiert,<br />
die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
ihrer Abenteuerlust nicht widerstehen<br />
konnten. Darunter sind bekannte<br />
N<strong>am</strong>en wie Agatha Christie oder<br />
Gertrude Bell, aber auch unbekannte<br />
wie die schöne Amelia Edwards oder<br />
Jane Dieulafoy im Herrenanzug mit<br />
Kurzhaarschnitt. Alle waren sie mutig,<br />
eigenwillig und klug. Sie reisten allein<br />
oder in Begleitung ihrer Ehemänner in<br />
noch kaum erforschte Weltregionen, um<br />
dort längst vergangene Kulturen zu entdecken.<br />
Amanda Ad<strong>am</strong>s, Autorin und<br />
selber Archäologin, möchte diese Frauen<br />
aber nicht mythisieren. Sie waren<br />
keine Feministinnen und übernahmen<br />
gelegentlich sogar patriarchalische Klischees,<br />
wie sie kritisiert. Aber gerade<br />
das mache sie «umso faszinierender».<br />
Geneviève Lüscher<br />
Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen<br />
Sehnsucht und Schande. Überarb. Aufl.<br />
Hier + Jetzt, Baden 2013. 234 S., Fr. 39.90.<br />
Das Autorenpaar Herger und Looser<br />
geht auf Spurensuche nach dem Leben<br />
der Ostschweizer Stickerin Anna Maria<br />
Boxler (1884–1965). Die in der F<strong>am</strong>ilie<br />
lange tabuisierte Grossmutter von<br />
Heinz Looser war unehelich geboren,<br />
galt als «liederlich» und «arbeitsscheu».<br />
Wegen Abtreibung, Prostitution und<br />
Diebstahl verurteilt, wurde sie zum Objekt<br />
und Opfer administrativer Fürsorge<br />
und Verfolgung: ein tragisches, ein trauriges<br />
Schicksal in einer Welt voll Elend,<br />
Alkohol und Armut. Die persönliche Betroffenheit<br />
und Irritation des Nachkommen<br />
ist spürbar; verständlich auch, dass<br />
Behörden und Administrativ-Justiz als<br />
kalt und gefühllos gezeichnet werden.<br />
Die historische Wahrheit liegt wohl irgendwo<br />
dazwischen. Fast etwas zu viel<br />
wird aus den reichlich gefundenen<br />
Akten zitiert. Doch die anschaulich erzählte<br />
Geschichte einer Gemassregelten<br />
vermag unsere Herzen zu berühren.<br />
Urs Rauber<br />
Sebastian Conrad: Globalgeschichte.<br />
Eine Einführung. C. H. Beck, München 2013.<br />
300 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Globalgeschichte hat Konjunktur. Sebastian<br />
Conrad definiert sie als «eine<br />
historische Analyse, bei der Phänomene,<br />
Ereignisse oder Prozesse in globale<br />
Kontexte eingeordnet werden», und<br />
präsentiert dann eine präzise und lesbare<br />
Einführung, voller konkreter Beispiele.<br />
Er diskutiert die grossen Kontroversen<br />
der Globalgeschichte: die Debatte<br />
um die Hegemonie des Westens. Oder<br />
die Frage nach dem Beginn der Globalisierung<br />
und nach den nichtwestlichen<br />
Modernisierungsphänomenen. Umfassend<br />
beschreibt der Historiker auch die<br />
typischen globalgeschichtlichen Themenfelder<br />
– wie Migration und Arbeitsmärkte,<br />
Geschichte der Ozeane oder<br />
auch die Kulturgeschichte: Was sagt<br />
«Tim und Struppi» über die Vernetzung<br />
der Welt aus? Und er schliesst mit exzellenten<br />
Würdigungen der zehn wichtigsten<br />
Bücher zum Thema.<br />
Kathrin Meier-Rust<br />
Gregor Spuhler (Hrsg.): Anstaltsfeind<br />
und Judenfreund. Carl Albert Loosli.<br />
Chronos, Zürich 2013. 138 Seiten, Fr. 37.90.<br />
Der Berner Schriftsteller Carl Albert<br />
Loosli (1877–1959) war ein Unangepasster,<br />
ein Mundartdichter, P<strong>am</strong>phletist<br />
und Homme de Lettres. Als ehemaliger<br />
Heimzögling kämpfte er gegen das<br />
schweizerische Anstaltswesen – das er<br />
reichlich überschiessend mit deutschen<br />
Konzentrationslagern verglich – und für<br />
das Recht der Jugend auf eine eigenständige<br />
Existenz. Später wurde der «Philosoph<br />
von Bümpliz» zu einem der ersten<br />
und vehementesten nichtjüdischen Kritiker<br />
des Antisemitismus; so trat er als<br />
Experte im Berner Prozess über die<br />
«Protokolle der Weisen von Zion»<br />
(1935) auf. Ob das eine mit dem anderen<br />
zu tun hat? Dieser Frage und der biografischen<br />
Prägung des Seeländer Nonkonformisten<br />
sowie seinen gesellschaftspolitischen<br />
Wirkungen geht diese spät erschienene<br />
Texts<strong>am</strong>mlung nach, die die<br />
Resultate einer Loosli-Tagung von 2009<br />
zus<strong>am</strong>menfasst.<br />
Urs Rauber<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 15
Sachbuch<br />
Philosophie Mario Vargas Llosa kritisiert in seinem<br />
neuen Essay das Verkümmern der Kultur zur seichten<br />
Unterhaltung – brillant, aber überzogen<br />
Was zählt, ist<br />
das Spektakel<br />
Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer<br />
seine Kultur verliert, verliert sich selbst.<br />
Suhrk<strong>am</strong>p, Berlin 2013. 229 Seiten,<br />
Fr. 34.90.<br />
Von Katja Gentinetta<br />
Was Vargas Llosa bescheiden als Essay<br />
ankündigt, ist ein fast 230 Seiten starker<br />
Abgesang auf das, was Kultur einmal<br />
war: eine den Erfahrungshorizont erweiternde,<br />
die Geheimnisse des Lebens<br />
enthüllende, unser Empfinden revolutionierende,<br />
den Blick in unsere Abgründe<br />
öffnende, unsere Überzeugungen<br />
stetig überprüfende Summe grosser<br />
Werke und Leistungen. In sechs Kapiteln<br />
durchforstet er die Massenmedien,<br />
den Kunstbetrieb, die «Multikultur», die<br />
Erotik, die Politik und die Religion – und<br />
stellt ernüchtert fest: «Kultur ist Unterhaltung,<br />
und was nicht unterhält, ist<br />
keine Kultur.»<br />
Der Autor macht kein Hehl daraus,<br />
dass er sich in die Reihe der Kulturpessimisten<br />
stellt. In Referenz an frühere<br />
und zeitgenössische Kulturkritiker<br />
stellt er fest, dass sie alle, so unterschiedlich<br />
sie sind, in einem Punkt übereinstimmen:<br />
nämlich darin, dass die<br />
Kultur in einer Krise steckt, ja im Niedergang<br />
begriffen ist. Dazu gehört auch<br />
der Befund, dass die vielversprechende<br />
Demokratisierung der Kultur, gipfelnd<br />
in der weit verbreiteten Piraterie, zwar<br />
allen Zugang zur Kultur eröffnet hat. Die<br />
Kultur selbst aber – Werke, die einen in<br />
Bann schlagen, weil sie die Gegenwart<br />
zu transzendieren vermögen und die<br />
Generationen überdauern – ist dabei auf<br />
der Strecke geblieben.<br />
Wie sehr unsere Gesellschaft auf<br />
Spektakel aus ist, versinnbildlicht ein<br />
Bericht über New York im September<br />
2008, wo eine Meute von Pressefotografen<br />
nur darauf wartete, dass sich endlich<br />
ein Broker aus dem Fenster eines Hochhauses<br />
stürzen würde. Wo Nachrichten<br />
nicht mehr aufgrund ihrer politischen,<br />
ökonomischen oder sozialen Bedeutung<br />
wichtig sind, sondern aufgrund ihres<br />
Neuigkeits- und Skandalisierungspotenzials,<br />
schwinden die Grenzen zwischen<br />
seriösem Journalismus und Boulevard.<br />
Vargas Llosa ist jedoch umsichtig genug,<br />
dass er diese Entwicklung nicht allein<br />
den Medien anlastet, sondern letztlich<br />
der Gesellschaft selbst, die nach dieser<br />
Art der Information verlangt.<br />
Zur «Kultur light» gehört auch, dass<br />
nicht mehr Künstler oder Intellektuelle,<br />
sondern Köche und Modedesigner die<br />
Referenzfiguren von heute sind. Intellektuelle<br />
reden und schreiben zwar<br />
noch, werden aber nicht wahrgenommen<br />
– ausser, sie spielen «das Spiel des<br />
Tages» mit. Wohltuend direkt begründet<br />
der Schriftsteller, den man als vehementen<br />
Verfechter der Freiheit kennt,<br />
den Ansehensverlust der Intellektuellen<br />
auch mit deren weit verbreiteten Sympathien<br />
für Totalitarismen. Den wahren<br />
Grund aber sieht er im geringen Ansehen<br />
des Denkens selbst – und dem Primat<br />
der Bilder sowie, möchte man noch<br />
ergänzen, der Zahlen.<br />
Schein über Sein<br />
Ein Begriff, der Vargas Llosas Kulturkritik<br />
wie ein roter Faden durchzieht, ist<br />
die Frivolität, wobei es ihm nicht um das<br />
Bedenkenlose, Leichte, Leichtfertige<br />
geht. Er beobachtet vielmehr eine<br />
grundlegende Umkehrung der Werte:<br />
Form geht über Inhalt, Schein über Sein,<br />
Spektakel über Ernsthaftigkeit. Frivol –<br />
und als solche Mitverursacher der Geringschätzung<br />
des Denkens – sind für<br />
Vargas Llosa auch die postmodernen<br />
Philosophen. Er beruft sich dabei auf andere<br />
Kritiker, schildert aber in einer witzigen<br />
Passage seine eigene angestrengte,<br />
aber wenig erhellende Derrida-Lektüre.<br />
Frivolität ortet Vargas Llosa auch in<br />
der Politik. Nicht nur, weil sich die Politiker<br />
lieber mit Film- oder Fussballstars<br />
ablichten lassen als mit Philosophen<br />
Konfetti-Show bei<br />
den Präsidentschaftswahlen<br />
in den USA<br />
(7. November 2012).<br />
oder Wissenschaftern, sondern weil –<br />
hier wird er geradezu prophetisch – in<br />
der «Kultur des Spektakels (...) der Komiker<br />
der König» ist. An die Stelle des<br />
Progr<strong>am</strong>ms ist die Plattitüde getreten, an<br />
jene der Argumente Äusserlichkeiten.<br />
Worauf der Autor letztlich zielt, ist<br />
die Verschiebung – er spricht von einem<br />
qualitativen Sprung – unseres ges<strong>am</strong>ten<br />
Koordinatensystems. Es sind nicht mehr<br />
Theorien, Weltanschauungen oder Äusserungen<br />
von klugen und kritischen<br />
Zeitgenossen, die unseren Blick für die<br />
Welt schärfen. Heute sind es Werbeagenturen,<br />
Marketingtechniken und<br />
Medien, die über Geschmack, Empfinden<br />
und Phantasie herrschen. Unterhaltung<br />
ist das Höchste, und im Zuge der<br />
16 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013
Internet Immer häufiger verhilft das<br />
World Wide Web zum Erfolg in der Politik<br />
Die digitale Welt als<br />
Wahlhelfer<br />
Andreas Jungherr, Harald Schoen:<br />
Das Internet in Wahlkämpfen. Konzepte,<br />
Wirkungen und K<strong>am</strong>pagnenfunktionen.<br />
Springer VS, Wiesbaden 2013. 185 Seiten,<br />
Fr. 34.20.<br />
Von Andreas Hirstein<br />
political correctness darf auch nicht<br />
mehr unterschieden werden zwischen<br />
gut und schlecht. Wo alles wertvoll ist,<br />
gibt es keinen Wert mehr. Wenn alles<br />
Kultur ist, gibt es keine Unkultur.<br />
E-Book ist nicht das Ende<br />
Die Befunde, die Vargas Llosa anführt,<br />
sind zahlreich, und sie vermögen als<br />
Einzelanalysen zu überzeugen. In den<br />
pessimistischen Grundtenor einzustimmen,<br />
fällt dennoch schwer. Nicht nur,<br />
weil man im E-Book, mit dessen Kritik<br />
er seinen Essay schliesst, nicht das Ende<br />
des Buchs sehen mag; und auch nicht,<br />
weil man Fortschritt allenthalben erblickt,<br />
denn ein Grossteil dieses Fortschritts<br />
ist, wie Vargas Llosa richtig bemerkt,<br />
Spezialisten verdankt, denen ein<br />
Disziplinen übergreifender Blick oft abgeht.<br />
Nein, vor allem deshalb, weil sich<br />
(und Vargas Llosa führt sie an seltenen<br />
Stellen an) für jedes Kapitel auch Gegenbeispiele<br />
finden liessen.<br />
Dennoch oder gerade deshalb ist der<br />
Essay eine lohnende Lektüre, weil er in<br />
konziser Form und Fülle den Blick auf<br />
unsere Gegenwart richtet und dazu auffordert,<br />
genauer hinzusehen, manchmal<br />
auch einfach wegzusehen und überhaupt<br />
wieder den Mut aufzubringen, zu<br />
unterscheiden – und zu bewerten. ●<br />
Katja Gentinetta ist Philosophin,<br />
Lehrbeauftragte der Uni St. Gallen und<br />
Gesprächsleiterin der «Sternstunde<br />
Philosophie» <strong>am</strong> Schweizer Fernsehen.<br />
TANNEN MAURY / EPA<br />
Spätestens seit den Wahlerfolgen von<br />
Barack Ob<strong>am</strong>a in den USA wissen die<br />
politischen Strategen: Mit dem Internet<br />
kann man Wahlen gewinnen. Und das<br />
jetzt auch in Europa. Der Aufstieg des<br />
italienischen Komikers Beppe Grillo zu<br />
einem einflussreichen Politiker und<br />
gegen die mediale Übermacht seiner<br />
Konkurrenten wäre ohne das Internet<br />
undenkbar gewesen.<br />
Fast immer sind es die vermeintlichen<br />
Underdogs, die sich erfolgreich<br />
des neuen Mediums bedienen. Das war<br />
in Italien nicht anders als bei den Vorwahlen<br />
im <strong>am</strong>erikanischen Präsidentschaftswahlk<strong>am</strong>pf<br />
2008. D<strong>am</strong>als war es<br />
der noch unbekannte Senator aus Illinois,<br />
der sich gegen Hillary Clinton, die<br />
haushohe Favoritin des Partei-Establishments<br />
der Demokraten, durchsetzte.<br />
Die Blaupause zu Ob<strong>am</strong>as Erfolg<br />
hatte 2004 der spätere Parteichef der<br />
Demokraten, Howard Dean, geliefert.<br />
Zwar unterlag Dean bei der parteiinternen<br />
Ausscheidung – Präsidentschaftskandidat<br />
wurde der heutige Aussenminister<br />
John Kerry. Deans E-Mailba<br />
sierter Wahlk<strong>am</strong>pf aber machte in der<br />
demokratischen Partei Karriere und begründete<br />
den Vorsprung, den die Partei<br />
bis heute gegenüber den Republikanern<br />
besitzt. Aus Deans K<strong>am</strong>pagne ging auch<br />
die private, den Demokraten nahestehende<br />
Firma «Blue State Digital»<br />
hervor, die inzwischen weltweit Politikberatung<br />
betreibt. In Frankreich half sie<br />
François Hollande, in Brasilien der Ministerpräsidentin<br />
Dilma Rousseff.<br />
Doch ist das Internet wirklich der<br />
Auslöser einer gesellschaftlichen Revolution,<br />
die bisher machtlosen Randgruppen<br />
generell zu mehr Einfluss verhilft?<br />
Die Politologen Andreas Jungherr und<br />
Helmut Schoen (Uni B<strong>am</strong>berg) äussern<br />
Zweifel an dieser zwar Talkshow-tauglichen,<br />
empirisch aber nicht bewiesenen<br />
These. Stattdessen wählen sie einen<br />
differenzierteren Ansatz.<br />
Es kommt eben ganz darauf an: wie<br />
das Wahlsystem eines Landes aussieht,<br />
wie intensiv das Internet genutzt wird<br />
und wie die rechtlichen Grundlagen<br />
etwa des Datenschutzes sind.<br />
Was in den USA funktioniert,<br />
muss in Ländern wie zum Beispiel<br />
der Schweiz noch lange<br />
keinen Erfolg bringen und<br />
Web-Wahl: Dilma Rousseff. könnte sogar illegal sein. ●<br />
REUTERS<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 17
Sachbuch<br />
Isl<strong>am</strong>ische Welt Navid Kermanis Reiseberichte über Krisenregionen von Afghanistan bis Palästina<br />
führen zu überraschenden Einsichten<br />
Länder, in denen der<br />
Ausnahmezustand normal ist<br />
Navid Kermani: Ausnahmezustand.<br />
Reisen in eine beunruhigende Welt.<br />
C. H. Beck, München 2013. 253 Seiten,<br />
Fr. 28.40, E-Book 19.40.<br />
Von Ina Boesch<br />
Als Navid Kermani nach langer Zeit in<br />
Kairo wieder einmal sein St<strong>am</strong>mlokal<br />
aufsuchte, fragte ihn der Oberkellner,<br />
der dort zum Inventar gehört: Wo warst<br />
du denn so lange? Diese Anekdote steht<br />
<strong>am</strong> Schluss des Reportagenbandes, der<br />
mit dem Besuch in eben jenem Lokal,<br />
einem Teehaus, sechs Jahre zuvor beginnt.<br />
Für den Autor gibt es in Kairo keinen<br />
beständigeren, vom Fortschritt weniger<br />
beeindruckten Ort als das Teehaus,<br />
wo selbst das «Stühlerücken eine<br />
Kulturrevolution» ist. Das Teehaus ist<br />
für Kermani ein einzigartiger Pol der<br />
Ruhe auf seinen «Reisen in eine beunruhigte<br />
Welt». In Ländern wie Syrien, Pakistan,<br />
Afghanistan, in Regionen wie<br />
Kaschmir oder Palästina herrscht nämlich<br />
der Ausnahmezustand. Ein Zustand,<br />
der schon so lange dauert, dass er einem<br />
fast normal vorkommt.<br />
Gegen die Akzeptanz dieser «Normalität»<br />
will der vielfach ausgezeichnete<br />
Schriftsteller und Essayist ein Zeichen<br />
setzen. Deshalb hat er in den letzten Jahren<br />
diese Krisenländer bereist und darüber<br />
berichtet. Die Texte sind zwischen<br />
2005 und 2012, wenn auch in sehr viel<br />
kürzerer Fassung, in deutschsprachigen<br />
<strong>Zeitung</strong>en publiziert worden, unter anderem<br />
in der <strong>NZZ</strong>. Die S<strong>am</strong>mlung hat<br />
Besinnlicher Moment<br />
in einem Friedhof von<br />
Kabul, wo die Opfer<br />
des Bürgerkriegs<br />
ruhen (2007).<br />
SHAH MARAI / AFP<br />
nichts von ihrer Aktualität eingebüsst,<br />
bietet in ihrer Konzentration einen erhellenden<br />
Blick auf die vor allem von<br />
Muslimen bewohnte Krisenregion vom<br />
Mittelmeer bis zum Subkontinent Indien<br />
und korrigiert Vorurteile. So fühlen<br />
sich beispielsweise in Pakistan, das wir<br />
mit Gewalt assoziieren, vier Fünftel der<br />
Pakistaner den Sufis nah, die Gewalt ablehnen<br />
und Toleranz vorleben.<br />
Dank seiner umfassenden Kenntnisse<br />
von Sprache, Kultur und Religion der<br />
besuchten Länder hat sich der deutschiranische<br />
Isl<strong>am</strong>wissenschafter Zugang<br />
zu Menschen und Schicksalen erobert,<br />
die in den täglichen Nachrichtenbulletins<br />
nicht vorkommen. Dabei gelingen<br />
ihm berührende Porträts. Etwa von<br />
einem Greis, der in Kabul auf dem Friedhof<br />
lebt und sich über das Ende der Taliban<br />
freut: «Niemand sagt mir mehr,<br />
was ich tun, was ich sagen, wie ich meinen<br />
Bart tragen muss.» Und immer leitet<br />
Kermani die Frage, wie Menschen<br />
mit einem jahrelangen Leben im Ausnahmezustand<br />
umgehen. Ganz unterschiedlich:<br />
In Kaschmir zum Beispiel<br />
haben sie sich «im Ausnahmezustand<br />
eingerichtet», sie sind «fed up», niemand<br />
mag mehr kämpfen. Ähnlich in<br />
Syrien, wo die Bevölkerung tagtäglich<br />
mit Kämpfen konfrontiert ist – und dennoch<br />
Angst und Hass verloren hat.<br />
Als Grenzgänger zwischen den Genres,<br />
der ebenso die Kunst des Romanschreibens<br />
beherrscht wie die glasklare<br />
Sprache des Essays, schafft Navid<br />
Kermani Texte von poetischer Kraft und<br />
analytischer Einsicht. So wartet er mit<br />
überraschenden Erkenntnissen auf, von<br />
denen man in der tagesaktuellen Berichterstattung<br />
kaum etwas erfährt. Erhellend<br />
die Tatsache, dass in Kaschmir<br />
sowohl Regierungspolitiker als auch<br />
Widerständler das gleiche wollen: Autonomie,<br />
offene Grenzen, Rückzug der<br />
Armee. Augen öffnend die Erkenntnis,<br />
dass in Pakistan Bauern und Handwerker,<br />
jedoch nicht Bürger und Intellektuelle<br />
das weltliche Staatsmodell stützen.<br />
Paradox schliesslich, dass in Syrien das<br />
weltliche Regime Hauptsponsor einer<br />
isl<strong>am</strong>ischen Theokratie ist, während der<br />
Westen auf der Seite von teils ausgesprochen<br />
religiösen Menschen steht.<br />
Man legt das Buch nach der Lektüre beglückt<br />
aus der Hand, weil man sowohl<br />
berührt als auch belehrt worden ist. ●<br />
Wissenschaft Der italienische Historiker Carlo Ginzburg über die Suche nach dem «roten Faden»<br />
Im Labor historischen Forschens<br />
Carlo Ginzburg: Faden und Fährten. Wahr<br />
– falsch – fiktiv. Wagenbach, Berlin 2013.<br />
156 Seiten, Fr. 32.90.<br />
Von Janika Gelinek<br />
18 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
In der Einleitung seines neuen Essaybands<br />
rekapituliert der Kulturwissenschafter<br />
Carlo Ginzburg die Geschichte<br />
von Theseus, der sich mit Hilfe von<br />
Ariad nes Faden im Labyrinth des Minotaurus<br />
orientiert und bemerkt lakonisch:<br />
«Von den Fährten, die Theseus hinterliess,<br />
als er im Labyrinth umherlief, erzählt<br />
der Mythos nichts.»<br />
Mit dieser Eingangsmetapher des<br />
strukturverheissenden roten Fadens im<br />
Verhältnis zu zahllosen, zunächst ziellosen<br />
Spuren, charakterisiert der Historiker<br />
den Alltag eines Forscherlebens: das<br />
Labyrinth aus Ideen, Hypothesen, Lektüren,<br />
das tausend Irrwege bereithält,<br />
aber eben eines genau nicht – den roten<br />
Faden, der gefahrlos zur Erkenntnis<br />
führt. Das Handwerk der Historiker ist<br />
zusätzlich vor die Herausforderung gestellt,<br />
den jeweiligen Gegenstand erzählen<br />
zu müssen und dabei das «Geflecht<br />
von Wahr, Falsch und Fiktiv zu entwirren,<br />
das das Webmuster unseres In-der-<br />
Welt-Seins bildet.»<br />
Diese immer neu zu verhandelnde<br />
Grenze zwischen fiktivem und historischem<br />
Erzählen, als produktiver Streit<br />
im Ringen um die Darstellung von Wirklichkeit,<br />
stellt ein Axiom von Ginzburgs<br />
Forschungen dar, die auch hier nicht in<br />
Form von Thesen, sondern vielmehr als<br />
Blick ins Laboratorium präsentiert werden:<br />
etwa das close-reading des Dialogs<br />
«De la lecture des vieux romans» von<br />
1646, eine Szene in Stendhals «Le Rouge<br />
et le Noir» über die Langeweile als historisches<br />
Phänomen, «Randbemerkungen»<br />
über Kracauer, die Begriffsgeschichte<br />
der Microstoria.<br />
Die Genauigkeit, mit der Ginzburg<br />
die Entstehungsbedingungen der einzelnen<br />
Texte untersucht und Verbindungen<br />
zu ästhetischen und sozialen Ereignissen<br />
der Zeit herstellt, die Fülle der<br />
von ihm verarbeiteten Literatur, nötigt<br />
Bewunderung ab. Gleichzeitig verweigern<br />
die Vielfalt der Themen und Paraphrasen,<br />
sowie das Fehlen einer einheitlichen<br />
Terminologie, was genau eine<br />
historische Quelle von einem fiktionalen<br />
Text unterscheidet, zuletzt eine<br />
schlüssige Erkenntnis, wie Historie und<br />
Fiktion, Literatur und Wissenschaft<br />
denn nun zus<strong>am</strong>menhängen könnten.<br />
Der rote Faden ist mit Carlo Ginzburg<br />
nicht zu finden – doch wer, wenn nicht<br />
er, sollte uns sonst durchs Labyrinth von<br />
Wissen und Erkenntnis führen? ●
Biografie Der Berner Jurist Mani Matter (1936–1972) war nicht nur ein populärer Chansonnier,<br />
sondern auch ein scharfsinniger, selbstkritischer Denker<br />
«Warum syt dir so truurig?»<br />
Wilfried Meichtry: Mani Matter. Eine<br />
Biographie. Nagel & Kimche,<br />
Zürich 2013. 320 Seiten, Fr. 34.90.<br />
Von Thomas Feitknecht<br />
Als Daniel Spoerri 1956 in einem Kellertheater<br />
der Berner Altstadt Stücke von<br />
Eugène Ionesco und Pablo Picasso als<br />
deutschsprachige Erstaufführungen inszenierte,<br />
brachte es der aus Zürich angereiste<br />
«Weltwoche»-Kritiker Hugo<br />
Loetscher auf den Punkt: Bern habe<br />
«etwas gemacht, worum sich Zürich,<br />
das doch gerne mit Prätention aufgeschlossen<br />
ist, nicht einmal richtig bemüht<br />
hat: eine Experimentier- und Studioaufführung<br />
von Witz und Wert». Zur<br />
illustren Schar der Künstler und Intellektuellen<br />
jener Zeit in Bern gehörten<br />
u. a. Meret Oppenheim, Bernhard Luginbühl,<br />
Claus Bremer, Dieter Roth, Otto<br />
Nebel und Harald Szeemann. Das war<br />
das kulturelle Biotop, in das der Gymnasiast<br />
und Student Hans Peter Matter<br />
hineinwuchs. Und schon bald galt er selber<br />
als einer der wichtigsten Vertreter<br />
dieser «Berner Szene».<br />
Seinen ersten Bühnenauftritt hatte<br />
der 17-jährige Matter als <strong>Zeitung</strong>sjunge<br />
in Thornton Wilders Stück «Unsere<br />
kleine Stadt». In den folgenden Jahren<br />
trug er auf den Spuren von Georges<br />
Brassens seine ersten Chansons vor, an<br />
einem Fest des Gymnasiums Kirchenfeld<br />
und an Unterhaltungsabenden der<br />
Pfadfinderabteilung Patria. Der N<strong>am</strong>e<br />
Mani, auf den Hans Peter Matter bei den<br />
Pfadfindern getauft wurde, war fortan<br />
sein Markenzeichen. Und obwohl er seiner<br />
«kleinen» Stadt stets eng verbunden<br />
blieb und bis auf ein Forschungsjahr in<br />
C<strong>am</strong>bridge nie länger von dort weg k<strong>am</strong>,<br />
gewann er als Berner Troubadour eine<br />
Ausstrahlung, die weit über Bern hinausreicht<br />
und bis heute andauert.<br />
Ein Jahr in C<strong>am</strong>bridge<br />
Schon 1977 veröffentlichte Franz Hohler<br />
den auch heute noch sehr lesenswerten<br />
Porträtband über den fünf Jahre zuvor<br />
tödlich verunfallten Künstlerfreund.<br />
Auf literaturwissenschaftlicher Ebene<br />
setzten sich Christine Wirz und Stephan<br />
H<strong>am</strong>mer mit seinem Werk auseinander.<br />
Grosse Publikumserfolge waren 2002<br />
Friedrich Kappelers Film «Warum syt<br />
dir so truurig» und 2011 die Mani-Matter-Ausstellung,<br />
die – nach Zwischenstationen<br />
in Schwyz und Bern – jetzt<br />
bereits zum zweiten Mal im Landesmuseum<br />
Zürich zu sehen ist (bis 8. September).<br />
Nun legt der Co-Kurator dieser<br />
Ausstellung, Wilfried Meichtry, die<br />
erste umfassende Monografie über<br />
Mani Matter vor.<br />
Der 48-jährige promovierte Walliser<br />
Historiker und Germanist hat Erfahrung<br />
im Umgang mit anspruchsvollen Biografien.<br />
Er ist schon der Geschichte des aus<br />
dem Wallis st<strong>am</strong>menden deutschen<br />
Jagdfliegers Franz von Werra nachgegangen<br />
und hat das gemeins<strong>am</strong>e Leben<br />
der «Verliebten Feinde» Peter und Iris<br />
von Roten nachgezeichnet, das in diesem<br />
Frühjahr als Dokufiction in die<br />
Kinos gekommen ist. Für sein Mani-<br />
Matter-Buch hatte Meichtry Zugang zu<br />
bisher verschlossenen Teilen des Nachlasses<br />
im Schweizerischen Literaturarchiv<br />
und zu unveröffentlichten Briefen<br />
aus Privatarchiven. Eine weitere<br />
wichtige Quelle waren Manis Freunde<br />
und Angehörige, allen voran seine Frau<br />
Joy. In erzählerischen Passagen versucht<br />
Meichtry, Lücken in der Überlieferung<br />
der Dokumente und in der Erinnerung<br />
der Zeitzeugen zu schliessen.<br />
Das wichtigste Kapitel, das Meichtry<br />
in Mani Matters Leben aufschlägt und<br />
als erster ausführlich darstellt, ist der<br />
Aufenthalt in C<strong>am</strong>bridge von Anfang<br />
Oktober 1967 bis Ende September 1968.<br />
Matter verbrachte dort mit seiner F<strong>am</strong>ilie<br />
ein Jahr, um an seiner juristischen<br />
Habilitationsschrift über «Die pluralistische<br />
Staatstheorie» zu arbeiten, die<br />
sich u. a. mit dem englischen Politikwissenschafter<br />
Harold Laski befasste<br />
Einer der frühesten<br />
Auftritte: Mani Matter<br />
<strong>am</strong> 12. Juni 1954<br />
an einem Schulfest<br />
des Kirchenfeld-<br />
Gymnasiums.<br />
JOY MATTER<br />
(vgl. Rezension in Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>,<br />
März 2013). C<strong>am</strong>bridge wurde für Matter<br />
ein Wendepunkt – wissenschaftlich,<br />
beruflich, politisch, künstlerisch und<br />
persönlich. Er wurde nach der Rückkehr<br />
in die Schweiz juristischer Mitarbeiter<br />
der Berner Stadtverwaltung, stellte die<br />
akademische Karriere zurück und liess<br />
seine Habilitationsarbeit unvollendet.<br />
Er engagierte sich in der Gruppe Olten,<br />
in der sich Autorinnen und Autoren aus<br />
Protest gegen die Politik des Schweizerischen<br />
Schriftstellervereins zus<strong>am</strong>menschlossen.<br />
Seine Chansons wurden<br />
abgründiger, abstrakter, weniger «lustig»,<br />
so dass sein Freund, der Komponist<br />
und Pianist Jürg Wyttenbach, den Ausspruch<br />
vom «spröden Altersstil» des<br />
Mittdreissigers prägte. Zunehmend belastete<br />
ihn die Frage, ob und wie er all<br />
seine Verpflichtungen miteinander in<br />
Einklang bringen könne.<br />
Viele unbekannte Seiten<br />
Das C<strong>am</strong>bridge-Kapitel ist typisch für<br />
Wilfried Meichtrys Vorgehen. Um zu<br />
verstehen, was dieser Aufenthalt für<br />
Mani Matter bedeutete, reiste der Autor<br />
mit Joy Matter in die englische Universitätsstadt.<br />
In langen Gesprächen auf der<br />
Reise und <strong>am</strong> Ort selber nähert sich<br />
Meichtry den Fragen und Problemen,<br />
die Mani Matter d<strong>am</strong>als beschäftigten.<br />
Die beiden Reisenden treffen den Philosophen<br />
und Soziologen Alexander Stewart,<br />
mit dem Mani d<strong>am</strong>als einen regen<br />
wissenschaftlichen Gedankenaustausch<br />
über Freiheit und Determination pflegte.<br />
Zitate aus Manis Tagebuch und aus<br />
der Korrespondenz mit dem Vater und<br />
mit Berner Freunden wie dem Troubadour<br />
Fritz Widmer, dem Juristen Christoph<br />
von Greyerz und dem Musikerpaar<br />
Urs und Ingrid Frauchiger zeigen, wie<br />
sehr ihn die Frage nach dem «Wie weiter?»<br />
umtrieb. Eine Antwort fand er<br />
nicht, weil er die Komplexität der Dinge<br />
kannte. Und er blieb häufig auch ratlos,<br />
weil er selbstkritisch bis zur Selbstzerstörung<br />
war.<br />
Nahtlos fügt Wilfried Meichtry Abschnitte<br />
ein, in denen er sich vorstellt,<br />
wie «es» gewesen sein könnte. Diese<br />
narrativen Stellen sind ein Wagnis – und<br />
sie gelingen nicht immer gleich gut. Gelegentlich<br />
geraten sie inhaltlich etwas<br />
weitschweifig oder bleiben sprachlich<br />
in abgegriffenen Formulierungen stecken.<br />
Die Anmerkungen sind für ein<br />
nichtwissenschaftliches Buch richtigerweise<br />
spars<strong>am</strong> eingesetzt – allerdings in<br />
einzelnen Fällen allzu spars<strong>am</strong>: wenn<br />
z. B. Mani Matter den Waadtländer<br />
Chansonnier Gilles erwähnt, müsste<br />
dieser dem deutschsprachigen Publikum<br />
von heute wohl näher vorgestellt<br />
werden.<br />
Aber diese Einwände schmälern den<br />
Wert dieser Biografie nicht, die nicht<br />
nur spannend zu lesen ist, sondern auch<br />
dem Kenner von Mani Matter viele bisher<br />
unbekannte Seiten zeigt. ●<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 19
Sachbuch<br />
ARCO IMAGES<br />
Evolution In einem Vergleich der Entwicklung der sozialen Insekten mit jener des Homo sapiens<br />
will der grosse Ameisenforscher E. O. Wilson der Natur des Menschen auf die Spur kommen<br />
Am Anfang war das Nest<br />
E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der<br />
Erde. Eine biologische Geschichte des<br />
Menschen. C. H. Beck, München 2013.<br />
382 Seiten, Fr. 32.90.<br />
Von Kathrin Meier-Rust<br />
20 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
Den Vergleich mit Menschenaffen sind<br />
wir gewohnt – doch Ameisen und Termiten?<br />
Genau dies unternimmt der<br />
83-jährige emeritierte Harvard-Professor<br />
Edward Osborne Wilson, der weltweit<br />
grösste Kenner der Welt der Ameisen<br />
und Verfasser zahlreicher Standardwerke.<br />
Doch während in seinen Klassikern<br />
zu den sozialen Insekten im letzten<br />
Kapitel dann jeweils auch noch der<br />
Mensch zur Sprache k<strong>am</strong>, ist es diesmal<br />
umgekehrt: Von der ersten Seite an geht<br />
es dem Forscher darum, die biologischen<br />
Ursprünge der menschlichen<br />
Natur und d<strong>am</strong>it auch der menschlichen<br />
Kreativität, Kultur und Geschichte zu<br />
erhellen. Woher wir kommen, was wir<br />
sind, wohin wir gehen – das sind die uralten<br />
Fragen, die der Naturwissenschafter<br />
mit Hilfe der Biologie zu beantworten<br />
verspricht.<br />
Gelassen-selbstsicher und auch etwas<br />
redundant lässt Wilson die Evolutionsgeschichte<br />
des Homo sapiens und der<br />
Insekten Revue passieren, mal mit Details<br />
angereichert, mal in grossen Zügen.<br />
Nur wenige Tierarten leben in sozialen<br />
Verbänden, und noch viel seltener ist<br />
der Schritt zur höchsten Form des sozialen<br />
Zus<strong>am</strong>menlebens, zur sogenannten<br />
Eusozialität. Gemeint ist d<strong>am</strong>it das Zus<strong>am</strong>menleben<br />
von mehreren Generationen<br />
mit einer Arbeitsteilung, die altruistische<br />
Züge zeigt. Abgesehen von Insekten<br />
und Menschen haben nur einige<br />
Krebsarten sowie die Nacktmulle Afrikas<br />
dieses Stadium erreicht. Und selbst<br />
die sozialen Insekten machen nur 2 Prozent<br />
von einer Million Insektenarten<br />
aus – und doch dominieren sie die Welt<br />
der wirbellosen Tieren genauso wie der<br />
Mensch jene der Wirbeltiere: «Gemeins<strong>am</strong><br />
repräsentieren wir die beiden grossen<br />
Hegemonien der landbewohnten<br />
Welt», schreibt Wilson.<br />
Die Frage, wie eine natürliche Selektion,<br />
die Fortpflanzung belohnt, sterile<br />
Arbeiterbienen hervorbringen konnte,<br />
hat schon Darwin beunruhigt. Für Wilson<br />
gibt es keine grossen Fragen mehr.<br />
Am Anfang zur Entwicklung zur Eusozialität<br />
steht immer der Nestbau. Der<br />
nächste und entscheidende Schritt verlangt,<br />
dass die Jungtiere dieses Nest<br />
nicht verlassen, sondern «daheimbleiben»<br />
und «mithelfen». In einer letzten<br />
Phase entstehen dann die eigentlichen<br />
sozialen Systeme oder Staaten, mit<br />
ihrem Kastenwesen von spezialisierten<br />
Wächtern, Soldaten, Arbeitern und<br />
Ammen. Während den Ameisen dieser<br />
Schritt schon vor 100 Millionen Jahren<br />
gelang, begannen unsere Vorfahren allerdings<br />
erst vor 3 Millionen Jahren, sich<br />
in grösseren Gruppen um feste Lagerplätze<br />
zu scharen.<br />
Gruppenselektion umstritten<br />
Ob Individuen, die an diesem Nest-Lagerplatz<br />
zus<strong>am</strong>menleben, verwandt sind<br />
oder nicht, spielt für Wilson keine Rolle.<br />
Denn sobald dieses Zus<strong>am</strong>menleben gelingt,<br />
findet der darwinistische Überlebensk<strong>am</strong>pf<br />
nicht mehr nur zwischen<br />
verschiedenen Individuen statt, sondern<br />
gleichzeitig auch zwischen verschiedenen<br />
Gruppen: je besser eine Gruppe sich<br />
zu ernähren, zu bewachen und zu verteidigen<br />
versteht, desto erfolgreicher wird<br />
sie überleben. So harmlos diese These<br />
für den Laien klingen mag – ihrem Autor<br />
beschert sie die erbitterte Ablehnung<br />
der Fachwelt. Seit Jahrzehnten hat sich<br />
die Evolutionswissenschaft und mit ihr<br />
auch E. O. Wilson darauf geeinigt, dass<br />
die natürliche Selektion nur auf der<br />
Ebene der Verwandtschaft ansetzt. Die<br />
Abkehr von diesem Dogma zugunsten<br />
einer bisher verfemten «Gruppenselektion»<br />
kommt hier deshalb nicht gut an.<br />
Über 130 Evolutionsbiologen unterzeichneten<br />
Protestbriefe an «Nature»<br />
(wo vor zwei Jahren Wilsons erster wissenschaftlicher<br />
Artikel zum Thema erschien),<br />
und entsprechend gehässig<br />
wird das Buch nun von einigen Wissenschaftern<br />
als «unplausibel» und «selbstgefällig»<br />
taxiert.<br />
Wilson, der «Die soziale Eroberung<br />
der Erde» für eine allgemeine Leserschaft<br />
schreibt und wissenschaftliche<br />
Kontroversen darin nur <strong>am</strong> Rande erwähnt,<br />
scheint dies wenig anzufechten.<br />
Gerade die umstrittene Gruppenselektion<br />
ist nämlich für die Entstehung der<br />
menschlichen Natur zentral. Denn während<br />
die natürliche Selektion beim Individuum<br />
den platten Egoismus in all<br />
seinen negativen Spielarten fördert, erzeugt<br />
der Konkurrenzk<strong>am</strong>pf zwischen<br />
Gruppen ganz andere Werte: Es sind Eigenschaften<br />
wie Zus<strong>am</strong>menarbeit, Opferbereitschaft,<br />
Empathie, Altruismus<br />
oder Pflichtbewusstsein, die dem Überleben<br />
der Gruppe dienen.<br />
«Die genetische Fitness eines Menschen<br />
muss daher eine Folge sowohl<br />
der individuellen als auch der Gruppenselektion<br />
sein», schreibt Wilson,<br />
was dazu führe, dass die Natur des Menschen<br />
ein «endemisches Getümmel»<br />
darstelle: «In unserer Natur existiert das<br />
Schlimmste neben dem Besten, und das<br />
wird immer so bleiben.» Nicht nur Krieg<br />
und Gewalt sind deshalb unabänderlich<br />
mit der menschlichen Geschichte verbunden,<br />
auch Religion, Kunst und Kultur<br />
will der Naturwissenschafter aus<br />
dieser in unserer Biologie tief verankerten<br />
Ambivalenz erklären.<br />
Biologische Deutung<br />
Das neue Buch des grossen Ameisenforschers<br />
E. O. Wilson bietet viel Wissenswertes<br />
zu den sozialen Insekten,<br />
Einsicht in die rätselhafte Entstehung<br />
von sozialem Leben und eine einigermassen<br />
plausible, wenn auch etwas simplistische<br />
Erklärung der Zerrissenheit<br />
der menschlichen Natur. Ob sich mit<br />
dieser «wahren» biologischen Schöpfungsgeschichte<br />
nun wirklich, wie Wilson<br />
überzeugt ist, die mythischen und<br />
religiösen erübrigen – das mag jeder<br />
selbst entscheiden. ●
Globalisierung Das 21. ist das asiatische Jahrhundert. Der frühere <strong>NZZ</strong>-Korrespondent Urs Schoettli<br />
zeichnet dessen Hintergründe kenntnisreich nach<br />
Tigerstaaten fordern den Westen heraus<br />
MAN RAY TRUS/ADAGP / PRO LITTERIS<br />
Urs Schoettli: Die neuen Asiaten. Ein<br />
Generationenwechsel und seine Folgen.<br />
<strong>NZZ</strong> Libro, Zürich 2013. 378 Seiten,<br />
Fr. 39.90, E-Book 27.90.<br />
Von Urs Rauber<br />
Seit ein paar Jahren blickt die Welt fasziniert<br />
auf die rasanten Entwicklungen in<br />
Ostasien. Der Aufstieg Chinas zur zweitgrössten<br />
Wirtschaftsmacht der Welt<br />
2010, Indiens Sprung zur IT-Supermacht<br />
und Japans ungeheure Innovationskraft<br />
weckt in Europa Erstaunen, Begeisterung,<br />
aber auch Ängste vor der asiatischen<br />
Dominanz. Bei Schoettli, seit 30<br />
Jahren Korrespondent und Kolumnist<br />
für die <strong>NZZ</strong> aus Delhi, Hongkong, Peking<br />
und Tokio sowie Asienberater<br />
mehrerer Schweizer Unternehmen, verbinden<br />
sich fundierte Landeskenntnisse<br />
mit journalistischer Gestaltungskraft.<br />
Seine 370 Seiten starke Auseinandersetzung<br />
mit Geschichte, Mentalität und<br />
Entwicklungspotenzial der asiatischen<br />
Völker und Regionen liest sich flüssig<br />
und ist trotz Anreicherung mit neustem<br />
Zahlenmaterial alles andere als ein trockener<br />
Wälzer.<br />
Im Zentrum von Schoettlis Betrachtungen<br />
steht der Generationenwechsel,<br />
der im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts<br />
in Asien über die Bühne geht. Er<br />
spürt den Veränderungen und Konstanten<br />
nach, die sich mit der Übergabe der<br />
politischen und wirtschaftlichen Macht<br />
von der Generation der 68er auf deren<br />
Kinder und Enkel ergeben.<br />
In prägnanten Kapiteln wird die Entwicklung<br />
der drei Grossmächte China,<br />
Indien und Japan aus ihren spezifischen<br />
Das Gesicht Von der antiken Maske zum Fotoporträt<br />
Zweimal Gertrude Stein: Im Hintergrund ein Porträt<br />
von Picasso (Paris, 1906), im Vordergrund fotografiert<br />
durch von Man Ray (Paris, 1922). Die Schriftstellerin<br />
sass vor dem Gemälde gleichs<strong>am</strong> vor sich selbst,<br />
einem gemalten Double. Hans Belting schreibt in<br />
«Eine Geschichte des Gesichts», diese Fotografie sei<br />
ein «Schlüsselwerk für die Frage nach Maske und<br />
Porträt». Um das frühe Gemälde Picassos rankt sich<br />
eine Legende: Frau Stein soll dem Künstler über 80-<br />
mal Modell gesessen haben, ohne dass er es schaffte,<br />
ihr Antlitz darzustellen. Schliesslich malte er anstelle<br />
ihres Gesichts eine prähistorische Maske, wodurch es<br />
zeitlos und doch ein Porträt von Gertrude Stein<br />
wurde. Für das Foto von Man Ray verwandelte Stein<br />
ihr Gesicht wiederum in eine Maske, als wolle sie dem<br />
Porträt ähneln. Der Kunsthistoriker Hans Belting ist<br />
den Bildern nachgegangen, die sich der Mensch im<br />
Laufe seiner Existenz von sich selbst gemacht hat.<br />
Entstanden ist eine auf den europäischen Raum<br />
beschränkte Kulturgeschichte des menschlichen<br />
Gesichts – nicht des Porträts –, von den Anfängen in<br />
der Steinzeit bis zu den modernen Massenmedien. Es<br />
ist eine Geschichte des Scheiterns, da sich das Leben<br />
in einem Antlitz nicht bannen lässt, es erstarrt immer<br />
zur Maske, weshalb Beltings Buch auch eine<br />
Geschichte der Maske ist. Geneviève Lüscher<br />
Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts.<br />
C. H. Beck, München 2013. 343 Seiten, Fr. 40.90.<br />
historischen Bedingungen heraus geschildert.<br />
Im Reich der Mitte steht die<br />
Überwindung des Erbes von Mao, der<br />
«zu den grössten Verbrechern der<br />
Menschheitsgeschichte gehört», bevor.<br />
Den entscheidenden Anstoss dazu gab<br />
Maos Mitstreiter Deng Xiaoping mit seinen<br />
Reformen ab 1978: «Reich zu werden,<br />
ist wunderbar.» Diese ermöglichten<br />
die Zulassung des Privateigentums<br />
und den Aufstieg der Mittelschichten –<br />
allerdings verbunden mit einem wachsenden<br />
Reichtums- sowie dem Stadt-<br />
Land-Gefälle, zunehmender Korruption<br />
und dem Weiterbestehen des totalitären<br />
Einparteiensystems.<br />
Im Gegensatz dazu hatte Indien aus<br />
dem britischen Kolonialerbe eine robuste<br />
parl<strong>am</strong>entarische Demokratie sowie<br />
Englisch als Verkehrs- und Verwaltungssprache<br />
übernommen, was den späteren<br />
Aufstieg des Landes zur IT-Supermacht<br />
erleichterte. Politische Stabilität garantierte<br />
die langanhaltende Macht des<br />
Nehru-Gandhi-Clans, dessen sozialistische<br />
Politik das Land 1991 jedoch an den<br />
Rand des Bankrotts brachte. Zu den spezifisch<br />
indischen Herausforderungen<br />
gehört die Überwindung des Kastenwesens<br />
und der fehlenden Berufsbildung.<br />
Für Japan bedeutete die periphere Insellage<br />
stets Gunst und Fluch. Der Pazifik<br />
wirkt als Barriere sowohl gegen<br />
fremde Eroberer wie auch gegenüber<br />
fremden Einflüssen. Der japanische<br />
Sonderweg ist geprägt durch eine eigentliche<br />
«Obsession zur Verbesserung».<br />
Ist China ein Meister im Kopieren,<br />
besticht Japan durch seine Innovationskraft,<br />
in dem man alles, was man aus<br />
fremden Kulturen und Zivilisationen<br />
übernimmt, ständig perfektioniert. Dieses<br />
Rezept liess Japan in den 1970er Jahren<br />
zur zweitgrössten (heute: drittgrössten)<br />
Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen.<br />
Schoettli skizziert auch die ostasiatischen<br />
«Tiger» Indonesien (Untertitel:<br />
die Überraschung), Malaysia (stille Beständigkeit),<br />
Vietn<strong>am</strong> (das Prinzip zähe<br />
Pragmatik), Thailand (machiavellische<br />
Eliten), Singapur (Stadtstaat par excellence),<br />
Philippinen (ein Stück Latein<strong>am</strong>erika),<br />
Myanmar (der Nachzügler),<br />
Südkorea (Überlebenskünstler) sowie<br />
Hongkong und Taiwan (Grosschina).<br />
Die Zuschreibungen zeigen, wie präzise<br />
es dem Verfasser gelingt, sowohl Eigenheiten<br />
wie Unterschiedlichkeiten herauszuarbeiten.<br />
Die Bilanz lautet, dass das asiatische<br />
Zeitalter, das um die Jahrtausendwende<br />
begann, für Europa und die USA eine<br />
wirtschaftliche wie sicherheitspolitische<br />
Herausforderung darstelle. Eine<br />
Herausforderung, die – wenn sie positiv<br />
gemeistert werde – zu «einer Welt mit<br />
mehr Stabilität und grösserem Wohlstand»<br />
führen könne. Voraussetzung allerdings<br />
sei, dass der Westen sich mit<br />
den Werten der östlichen Kulturen auseinandersetze<br />
und den «neuen Asiaten»<br />
auf Augenhöhe begegne. ●<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 21
Sachbuch<br />
Politik Der frühere Aussenminister Joschka Fischer und der Geschichtsforscher Fritz Stern im<br />
Gespräch über Deutschland, Europa und Amerika<br />
Ex-Sponti lernt, historisch zu denken<br />
Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den<br />
Strom. Ein Gespräch über Geschichte<br />
und Politik. C. H. Beck, München 2013.<br />
224 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.90.<br />
Von Reinhard Meier<br />
Ungleich in Alter und<br />
Herkunft, nahe in<br />
den Auffassungen:<br />
Historiker Fritz Stern<br />
(links) und Joschka<br />
Fischer <strong>am</strong> 28.5.2012.<br />
Vor drei Jahren ist im C.-H.-Beck-Verlag<br />
unter dem Titel «Unser Jahrhundert»<br />
ein mehrtägiges Gespräch zwischen<br />
dem früheren Bundeskanzler Schmidt<br />
und dem Historiker Fritz Stern erschienen.<br />
Die Debatte zwischen den beiden<br />
kenntnisreichen Altmeistern wurde<br />
schnell zum Bestseller. Nun legt der<br />
Verlag einen ähnlich angelegten weltpolitischen<br />
Tour d’horizon in Buchform<br />
vor. Der Gesprächspartner des 1926 in<br />
Breslau geborenen und wegen der Nazi-<br />
Herrschaft nach Amerika geflohenen<br />
Historikers Fritz Stern ist diesmal Joschka<br />
Fischer, deutscher Aussenminister<br />
von 1998 bis 2005, Jahrgang 1948.<br />
Der Dialog verläuft also zwischen<br />
zwei Vertretern verschiedener Generationen<br />
mit höchst unterschiedlicher Lebenserfahrung.<br />
Fischers Eltern waren<br />
kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
von Ungarn nach Süddeutschland<br />
gezogen. Sie waren erzkatholisch,<br />
klassische CDU-Wähler. Gegen dieses<br />
Milieu habe er als jugendlicher Aktivist<br />
in der sogenannten Sponti-Szene und<br />
als prominenter Vertreter der bundesdeutschen<br />
Grünen rebelliert, erklärt er<br />
im Gespräch.<br />
Ungeachtet des Unterschieds in Alter<br />
und Herkunft kommen sich Stern und<br />
Fischer in der Beurteilung vieler aktueller<br />
und zeitgeschichtlicher Phänomene<br />
erstaunlich nahe – was der Lebendigkeit<br />
dieses informativen Gesprächs keinerlei<br />
Abbruch tut. Wer hätte noch zu Zeiten<br />
der alten Bundesrepublik je gedacht,<br />
dass sich ein führender Grüner je zu<br />
einem Kompliment für die «historische<br />
Leistung» des früheren CSU-Chefs<br />
Franz Josef Strauss bereitfinden würde?<br />
Jetzt verweist Fischer darauf, dass es zu<br />
den wesentlichen Verdiensten von<br />
Strauss gehörte, die Integration der politischen<br />
Rechten in Westdeutschland befördert<br />
zu haben. Auch Helmut Kohl<br />
wird für seine tatkräftige Rolle bei der<br />
Vereinigung Deutschlands und bei der<br />
Durchsetzung des Euro respektvolles<br />
Lob zuteil.<br />
Solche rückblickend positiven Einschätzungen<br />
ehemals scharfer politischer<br />
Gegner bezeugen den beeindruckenden<br />
Wandlungs- und Reifeprozess<br />
HELMUT FRICKE<br />
vom jugendlichen Rebellen und Strassenkämpfer<br />
Fischer zum Verantwortungsträger,<br />
der durch Erfahrung gelernt<br />
hat, historisch zu denken. Das bedeutet,<br />
die Dinge in einen geschichtlichen<br />
Kontext einzuordnen. «D<strong>am</strong>als<br />
lebten wir ja alle noch in unseren Feindbildern»,<br />
sagt Fischer an einer Stelle im<br />
Zus<strong>am</strong>menhang mit seinen Vorstellungen<br />
als junger Grüner im Bonner Bundestag.<br />
Kein Wunder, dass der Ex-Aussenminister<br />
von ideologisch verbohrten<br />
ehemaligen Gesinnungsfreunden heute<br />
mit Gift und Galle überzogen wird.<br />
Zentrale Themen im Gespräch von<br />
Stern und Fischer sind die EU-Krise, die<br />
Zukunft Europas und die ideologische<br />
Spaltung in den USA. Beide beklagen<br />
ein Führungsdefizit in Europa. Das<br />
Grundelement der europäischen Einigungsidee<br />
sei ein politisches, nicht ein<br />
ökonomisches. Wenn aber die Europäer<br />
noch Einfluss haben wollten auf das<br />
Weltgeschehen, dann müssten sie, meint<br />
Fischer, unmissverständlich erklären,<br />
«wir gehören zus<strong>am</strong>men und wir bleiben<br />
zus<strong>am</strong>men, egal was es kostet».<br />
Gegenüber Israel und seiner jetzigen<br />
Politik äussert sich der Historiker mit<br />
jüdischen Wurzeln kritischer als der<br />
frühere Aussenminister. Dieser betont,<br />
dass es völlig kontraproduktiv sei, als<br />
Deutscher den Israeli die Leviten lesen<br />
zu wollen. Und er fügt psychologisch<br />
tiefblickend und auf das Beispiel Günter<br />
Grass verweisend hinzu, dass es bei<br />
deutscher Kritik an der israelischen Politik<br />
«meistens gar nicht um Israel geht»,<br />
sondern – unbewusst – um ein Problem<br />
der Deutschen mit sich selber. ●<br />
Emanzipation Männer-Lobbyist Markus Theunert bleibt abstrakt in seinem Buch über Genderpolitik<br />
Feministische Sexisten – die wahren Feinde<br />
Markus Theunert: Co-Feminismus. Wie<br />
Männer Emanzipation sabotieren – und<br />
was Frauen davon haben. Hans Huber,<br />
Bern 2013. 209 Seiten, Fr. 35.40.<br />
Von Walter Hollstein<br />
22 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
Erinnern wir uns: Im Frühsommer 2o12<br />
hatte der Kanton Zürich für seine<br />
Gleichstellungsarbeit einen «Männerbeauftragten»<br />
eingestellt: Markus Theunert.<br />
Nach rekordverdächtigen drei Wochen<br />
war das Arbeitsverhältnis schon<br />
wieder aufgelöst.<br />
Wenn Theunert nun ein Buch zur Geschlechterpolitik<br />
vorlegt, könnte erwartet<br />
werden, dass er dieses persönliche<br />
Erlebnis mit der Gleichstellungswirklichkeit<br />
in unserem Land kritisch bearbeitet.<br />
Doch dem ist nicht so. Allenfalls<br />
finden sich einige Seitenhiebe gegen<br />
den «Gleichstellungsfeminismus», der<br />
sich zu einem «bürokratischen Herrschaftsinstrument»<br />
gewandelt habe.<br />
Dies in der Tat ist das Problem, wie vor<br />
längerer Zeit auch schon kritische Feministinnen<br />
wie Elisabeth Badinter oder<br />
die kürzlich verstorbene Tissy Bruns<br />
analysiert haben. Theunert hätte hier ja<br />
wahrscheinlich auch mehr als nur einiges<br />
zu erzählen gehabt: als Mitglied der<br />
Eidgenössischen Frauenkommission, als<br />
Lobbyist von männer.ch, als Teilnehmer<br />
von Gleichstellungskonferenzen.<br />
Doch Theunert vermeidet es, aus<br />
dem Nähkästchen zu plaudern. Kann<br />
man verstehen. Schliesslich ist er primär<br />
Politiker und kann es sich nicht erlauben,<br />
die Gleichstellungskaste nachhaltig<br />
zu vergrätzen. So baut er denn als<br />
bequemen Nebenkriegsschauplatz den<br />
Popanz des «Co-Feminismus» auf.<br />
D<strong>am</strong>it meint er Männer, die «die schweigende<br />
Mehrheit im Gleichstellungsprozess»<br />
bilden. Das sei der wirkliche<br />
Feind: «Wölfe im Schafspelz der Geschlechtergerechtigkeit».<br />
Sie gehören<br />
bekämpft und vor allem demaskiert.<br />
«Der Co-Feminist findet Gleichstellung<br />
eine gute Sache, solange er d<strong>am</strong>it nichts<br />
zu tun hat. Er ist sozusagen ein profeministischer<br />
Sexist. Aus Indifferenz, Angst<br />
oder Kalkül gibt er den Frauenversteher<br />
und drückt sich d<strong>am</strong>it erfolgreich vor<br />
der Auseinandersetzung mit seinem<br />
Mann-Sein».<br />
Über 2oo Seiten entwirft Theunert<br />
Typologien, Raster, Kategorien und<br />
schliesslich gar «zehn Spielarten» des<br />
Co-Feminismus. Das alles bleibt aber<br />
gar abstrakt. Irgendwann möchte der geneigte<br />
Leser gerne wissen, wer denn<br />
nun eigentlich ein Co-Feminist ist.<br />
Aber diese Antwort liefert der Autor<br />
nicht: kein einziger N<strong>am</strong>en, null Literatur,<br />
nicht einmal ein Verweis, nichts.<br />
Meint Theunert <strong>am</strong> Ende vielleicht sich<br />
selber? ●<br />
Walter Hollstein ist emeritierter<br />
Professor für Soziologie und Autor<br />
diverser Bücher zur Männerforschung.
Lebenswerk Eine solide Biografie zeigt den Beitrag des Aufklärers Heinrich Zschokke (1771± 1848)<br />
zur Entwicklung der modernen Schweiz<br />
Ein Deutscher prägte das<br />
helvetische Nationalbewusstsein<br />
Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771–<br />
1848. Eine Biografie. Hier + jetzt,<br />
Baden 2013. 720 Seiten, Fr. 69.–.<br />
Von Tobias Kaestli<br />
Nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft<br />
im Jahr 1798 dauerte es<br />
50 Jahre, bis die Schweiz mit der<br />
Bundesverfassung von 1848 ihre<br />
dauerhafte Staatsform fand.<br />
Einer, der während der ganzen<br />
Zeitspanne in verschiedensten<br />
Funktionen die Transformation<br />
der Schweiz in einen modernen<br />
Nationalstaat begleitete<br />
und förderte, war Heinrich<br />
Zschokke.<br />
Zschokke war zwar nur<br />
ein zweitrangiger Politiker,<br />
dafür aber ein erstrangiger<br />
Aufklärer und «Volkserzieher».<br />
Seine patriotisch- moralischen<br />
Erzählungen und seine<br />
allgemein verständlichen historischen<br />
Abhandlungen entfalteten<br />
eine kaum zu überschätzende<br />
Wirkung. Von 1798 bis 1836 gab er<br />
die populäre Zeitschrift «Der aufrichtige<br />
und wohlerfahrene Schweizer-Bote»<br />
heraus, in der er im Oktober<br />
1822 das erste Kapitel seiner «Schweizerlandsgeschichte<br />
für das Schweizervolk»<br />
veröffentlichte. «Von wunderbaren<br />
Dingen, Heldenfahrten, guten und<br />
bösen Tagen der Väter ist viel gesungen<br />
und gelehrt», schrieb er in der Ankündigung.<br />
«Nun will ich die alten Sagen verjüngen<br />
im Gemüth alles Volks.» Eindrücklich<br />
liess er Gessler, Winkelried<br />
und andere sagenhafte Gestalten auffahren,<br />
spannend schilderte er Tells Apfelschuss,<br />
den Rütlischwur, die Schlacht<br />
<strong>am</strong> Morgarten.<br />
Vom Lehrer zum Politiker<br />
1822 erschien sein Werk in Buchform bei<br />
Sauerländer in Aarau und wurde bis<br />
1847 siebenmal neu aufgelegt. Nach seinem<br />
Tod wurde es, von Sohn Emil um<br />
die neuesten geschichtlichen Ereignisse<br />
erweitert, 1852 und 1859 erneut publiziert.<br />
Wahrscheinlich war es die <strong>am</strong><br />
meisten gelesene Schweizer Geschichte,<br />
die es jemals gegeben hat, und sie widerstand<br />
lange der kritischen Geschichtsforschung.<br />
Bis weit ins 20. Jahrhundert<br />
hinein war sie Leitlinie für den<br />
Geschichtsunterricht in unseren Volksschulen<br />
und prägte nachhaltig das Nationalbewusstsein<br />
ganzer Generationen<br />
junger Schweizerinnen und Schweizer.<br />
Wer war Heinrich Zschokke? Geboren<br />
als Sohn eines Tuchmachers in Magdeburg<br />
absolvierte er das dortige Gymnasium<br />
und wurde als Sechzehnjähriger<br />
Hauslehrer bei einem Buchdrucker in<br />
Schwerin.<br />
Nebenher schrieb er volkstümliche<br />
Erzählungen und Theaterstücke, war<br />
Autor einer Wanderbühne und nannte<br />
sich «homme de lettres». Mit 19 Jahren<br />
ging er an die Universität Frankfurt an<br />
der Oder, wo er beim liberalen Theologen<br />
und Philosophen Gotthilf S<strong>am</strong>uel<br />
Steinbart im Eiltempo studierte und<br />
doktorierte. Mit 21 Jahren war er Privatdozent.<br />
Auf einem Urlaub in seiner Heimatstadt<br />
Magdeburg bek<strong>am</strong> er Gelegenheit,<br />
die Kanzel zu besteigen und als<br />
Prediger sein rhetorisches Talent zu<br />
üben. Zum Pfarrer fühlte er sich aber<br />
nicht berufen. Er war kein frommer<br />
Christ, eher ein Freigeist und Moralist.<br />
Später sollte er in Aarau eine Freimaurerloge<br />
gründen.<br />
Nach Aufenthalten in Zürich, Bern<br />
und Paris wurde Zschokke 1796 Lehrer<br />
<strong>am</strong> renommierten Seminar Reichenau<br />
in Graubünden und bald schon dessen<br />
Direktor. Er schrieb ein Lehrbuch für<br />
die Volksschule und wollte, dass es auf<br />
Romanisch übersetzt werde, weil dies<br />
die eigentliche Sprache des Volkes sei.<br />
Heinrich Zschokke<br />
schrieb 1822 die<br />
wohl meistgelesene<br />
Schweizer<br />
Geschichte. Hier auf<br />
einem Gemälde als<br />
Regierungsstatthalter<br />
(um 1800).<br />
Doch das Ende der alten Eidgenossenschaft<br />
im Jahr 1798 führte ihn auf andere<br />
Wege. Der deutsche Pädagoge schloss<br />
sich der helvetischen Revolution an;<br />
und weil er die Rache der Bündner Aristokraten<br />
fürchten musste, floh er nach<br />
Aarau, der ersten Hauptstadt der Helvetischen<br />
Republik. Er erhielt das helvetische<br />
Bürgerrecht, und Philipp<br />
Alber Stapfer, der helvetische Kulturminister,<br />
ernannte ihn schon<br />
bald zum Leiter des Büros für Nationalkultur.<br />
Danach war Zschokke Regierungskommissar<br />
in Stans und<br />
lernte Pestalozzi kennen, der<br />
dort die Kriegswaisen betreute.<br />
1804 ernannte ihn der Kanton<br />
Aarau zum Oberforst- und<br />
Bergrat, 1810 wurde er kantonaler<br />
Oberforstinspektor.<br />
Gleichzeitig versuchte er sich<br />
als Unternehmer, gründete zus<strong>am</strong>men<br />
mit zwei Lohgerbern<br />
eine Gerberei und einen Handel<br />
mit Leder. In dieser Sparte vermochte<br />
er sich aber nicht zu behaupten.<br />
Sein schon bald beträchtliches<br />
Vermögen erwarb er sich durch das<br />
Schreiben, wobei ihm die Geschäftstüchtigkeit<br />
seines Verlegers Heinrich<br />
Remigius Sauerländer sehr zustatten<br />
k<strong>am</strong>. Während 20 Jahren sass Zschokke<br />
im Grossen Rat des Kantons Aargau.<br />
Daneben blieb er immer ein ungeheuer<br />
produktiver Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber<br />
und effektvoller Vortragsredner.<br />
Differenziertes Zeitbild<br />
Zschokke selbst hat in verschiedenen<br />
autobiografischen Schriften über sein<br />
Leben Auskunft gegeben. Abgesehen<br />
davon, dass diese Schriften heute kaum<br />
noch bekannt sind, vermögen sie dem<br />
Bedürfnis nach einem umfassenden und<br />
kritischen Lebensbild in keiner Weise<br />
zu genügen.<br />
Erst mit der von der Heinrich-<br />
Zschokke-Gesellschaft initiierten wissenschaftlichen<br />
Arbeit von Werner Ort<br />
bekommen wir eine solide, interessante,<br />
stellenweise vielleicht etwas allzu weit<br />
ausholende Biografie in die Hand. In<br />
fruchtbarer Art hat der Biograf Geschichtsforschung<br />
und Literaturforschung<br />
miteinander verknüpft und ein<br />
differenziertes Lebens- und Zeitbild geschaffen.<br />
Die Stofffülle hat er klug gegliedert<br />
und nie lässt er ob all der Erlebnisse<br />
und Taten Zschokkes den historischen<br />
Kontext vergessen. Mit diesem<br />
Werk ist ein grosser Schritt zum besseren<br />
Verständnis der Geschichte der<br />
Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
getan. ●<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 23
Sachbuch<br />
Zeitgeschichte Der Historiker Gerhard Ritter schildert Hans-Dietrich Genschers Rolle beim Weg zur<br />
deutschen Einheit<br />
Kleinarbeit im langen Schatten<br />
Helmut Kohls<br />
Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich<br />
Genscher, das Auswärtige Amt und die<br />
Deutsche Vereinigung. C. H. Beck,<br />
München 2013. 263 Seiten, Fr. 36.90,<br />
E-Book 26.90.<br />
Von Gerd Kolbe<br />
Wer wie Gerhard A. Ritter 23 Jahre nach<br />
der Wiedervereinigung ein Buch über<br />
dieses wohl spannendste Kapitel deutscher<br />
Geschichte <strong>am</strong> Ende eines ereignisreichen<br />
Jahrhunderts schreibt, muss<br />
sich, mag er auch ein bedeutender Historiker<br />
und eine Art Doyen seiner Zunft<br />
sein, unwillkürlich die Frage stellen lassen,<br />
was es denn noch wirklich <strong>Neue</strong>s zu<br />
analysieren und zu referieren gibt. Literatur<br />
über diese Zeit existiert bereits in<br />
Hülle und Fülle. Doch sie st<strong>am</strong>mt zu<br />
grossen Teilen von den unmittelbar Beteiligten<br />
selbst. Ritters Verdienst besteht<br />
allemal darin, eine überschaubare<br />
Zus<strong>am</strong>menfassung der Ereignisse zu liefern,<br />
Zus<strong>am</strong>menhänge zu erläutern und<br />
Blicke in lange Zeit verschlossene Archive<br />
zu gestatten.<br />
24 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />
Erste ges<strong>am</strong>tdeutsche<br />
Bundestagssitzung<br />
<strong>am</strong> 4. Oktober 1990<br />
mit Hans-Dietrich<br />
Genscher, Helmut<br />
Kohl und Gregor Gysi.<br />
WOLFGANG KUMM / KEYSTONE<br />
Totgeschwiegene Begegnung<br />
Auf diese Weise wird deutlich, dass<br />
selbst der <strong>am</strong>erikanische Aussenminister<br />
J<strong>am</strong>es Baker anfangs geneigt war,<br />
dem zweiten deutschen Staat, der DDR,<br />
eine Chance zu geben. Nach einem Besuch<br />
in Potsd<strong>am</strong> berichtete er Präsident<br />
Bush senior, dass er von dem «Willen<br />
zur Reform und zum friedlichen Wandel»<br />
der letzten SED-geführten Regierung<br />
beeindruckt sei. Auch in Washington<br />
wollte man sich zunächst Zeit lassen<br />
mit der Vereinigung. Doch früher als in<br />
anderen westlichen Hauptstädten dämmerte<br />
im State Departement die Erkenntnis,<br />
dass die deutsche Einigung<br />
aufgrund ihrer Eigendyn<strong>am</strong>ik «vermutlich<br />
schneller» verlaufen werde als die<br />
europäische. Für die USA war fortan nur<br />
noch wichtig, dass Deutschland in der<br />
Nato bleibt. Margaret Thatcher und<br />
François Mitterrand waren sich in ihrer<br />
Ablehnung hingegen einig. Der Franzose<br />
gab allerdings im Gespräch mit der<br />
Premierministerin zu bedenken, dass<br />
man wenig Karten in der Hand habe, um<br />
die Deutschen zu stoppen.<br />
Als Mitterrand kurz vor Weihnachten<br />
1989 zum Verdruss seines Freundes Helmut<br />
Kohl zum ersten und zugleich letzten<br />
Staatsbesuch in die DDR aufbrach –<br />
die Berliner Mauer war immerhin seit<br />
anderthalb Monaten Geschichte –, legte<br />
er grossen Wert auf eine Begegnung mit<br />
Gregor Gysi, der d<strong>am</strong>als gerade Vorsitzender<br />
der in PDS umbenannten SED<br />
geworden war und heute noch das Zugpferd<br />
der Partei «Die Linke» ist. Mitterrand<br />
erklärte sein Interesse, «die Bande<br />
und Bindungen» mit der DDR «enger zu<br />
gestalten». Gysi war bemüht, Mitterrand<br />
davon zu überzeugen, dass eine klare<br />
Mehrheit der Bevölkerung Ostdeutschlands<br />
gegen eine Wiedervereinigung sei,<br />
weil sie die DDR zum «Armenhaus» der<br />
Bundesrepublik machen würde. So kann<br />
man sich irren.<br />
Das eigentlich Überraschende an der<br />
Begegnung mit Gysi ist, das sie in französischen<br />
Archiven totgeschwiegen<br />
wird. Mitterrand hatte nicht einmal seinen<br />
Aussenminister Roland Dumas informiert.<br />
Zum Glück für die Nachwelt<br />
fand sich im Nachlass des Ostberliner<br />
Aussenministeriums ein Vermerk, der<br />
das Gespräch zwischen «Genosse Dr.<br />
Gysi und dem Präsidenten der Französischen<br />
Republik» festhielt. Es war dies<br />
noch einmal eine grosse Zeit der Geheimdiplomatie.<br />
Auch deshalb überraschte<br />
Helmut Kohl Ende November<br />
1989 nicht nur die vier Siegermächte des<br />
Zweiten Weltkriegs, sondern den eigenen<br />
Aussenminister mit einem im Küchenkabinett<br />
des Bundeskanzlers verfassten<br />
Zehn-Punkte-Progr<strong>am</strong>m, das<br />
über «konföderative Strukturen» einen<br />
Weg zur Deutschen Einheit aufzeichnete.<br />
Genscher blieb, um keine Zweifel zu<br />
wecken, gar keine andere Wahl, als Kohl<br />
trotz Vorbehalten vor dem Bundestag<br />
spontan zur Seite zu stehen. Ritter sieht<br />
in Kohls Vorgehen einen Versuchsballon,<br />
der bei aller Kritik im Ausland «den<br />
Menschen im Osten Deutschlands eine<br />
klare Zielvorgabe» gab und in der DDR<br />
wesentlich zum Ruf nach der Deutschen<br />
Einheit beigetragen habe.<br />
Kein störungsfreies Tandem<br />
Genschers Wirken stand im entscheidenden<br />
Zeitraum vom Mauerfall bis zur<br />
Wiedervereinigung ganz im Schatten<br />
der Aktivitäten Kohls, dem es bei seiner<br />
legendären Reise nach Moskau und in<br />
den Kaukasus gelang, Staatspräsident<br />
Gorbatschow die Vereinigung und den<br />
Verbleib Deutschlands in der Nato abzuringen.<br />
Dabei war schon bei einem<br />
Treffen der beiden Aussenminister<br />
einen Monat vorher klar geworden, dass<br />
Moskau zu Kompromissen bereit war.<br />
Doch Fortschritte konnten den vor den<br />
Türen wartenden Journalisten nur vage<br />
angedeutet werden. Der Vorgang war<br />
schliesslich Chefsache.<br />
Unverkennbar verfolgt Ritters Buch<br />
den Zweck einer Ehrenrettung. Kohls<br />
Bild als «Kanzler der Deutschen Einheit»,<br />
resümiert Ritter, müsse ergänzt<br />
werden durch die Verdeutlichung der<br />
mitentscheidenden Rolle Genschers<br />
und des Auswärtigen Amtes. Der Autor<br />
spricht von einem «nicht immer störungsfrei<br />
funktionierenden Tandem».<br />
Man könnte auch sagen: Kohl und sein<br />
Stab waren für die grossen Linien, die<br />
Diplomaten und ihr Chef für die Kleinarbeit<br />
wie die Verhandlungen mit den<br />
vier Mächten und Polen zuständig.<br />
Was schliesslich wäre das Buch eines<br />
Historikers wert, gäbe es nicht auch<br />
Antworten auf aktuelle Fragen. Ist etwa<br />
beim Maastricht-Vertrag über die Währungsunion<br />
seinerzeit geschludert worden?<br />
Ritter ist rigoros. Die These, Kohl<br />
habe mit der Zustimmung zur Europäischen<br />
Währungsunion einen Preis für<br />
Frankreichs Zustimmung zur Deutschen<br />
Einheit gezahlt, sei falsch. Die Weichen<br />
zur Währungsunion seien schon früher<br />
gestellt worden. Gerhard A. Ritter – und<br />
er steht d<strong>am</strong>it nicht allein – bedauert jedoch,<br />
dass es d<strong>am</strong>als in der Eile nicht<br />
zur Festlegung auf eine gemeins<strong>am</strong>e Fiskalpolitik<br />
k<strong>am</strong>. ●
Astrophysik Das Buch seiner ersten Frau Jane erzählt das Martyrium von Stephen Hawking: ein<br />
wacher Geist in einem gelähmten Körper<br />
Popstar der Physik<br />
Jane Hawking: Die Liebe hat elf<br />
Dimensionen. Mein Leben mit Stephen<br />
Hawking. Piper, München 2013.<br />
448 Seiten, Fr. 35.90.<br />
Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen<br />
Hawking im 3-Minuten-Takt. Spektrum,<br />
Heidelberg 2013. 160 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Von André Behr<br />
In der Wissenschaft gibt es Preise aller<br />
Art, aber keine Ranglisten. Sie würden<br />
keinen Sinn ergeben, denn selbst so abstrakte<br />
Disziplinen wie Mathematik und<br />
Theoretische Physik waren immer mehr<br />
Mannschafts- als Einzelsport. Die PR-<br />
Maschinerie jedoch will Helden. Das<br />
führt zu Kaskaden von Superlativen. Ein<br />
Paradebeispiel für diesen Mechanismus<br />
ist der englische Physiker Stephen<br />
Hawking, den man gerne auf gleiche<br />
Höhe wie Albert Einstein stellt.<br />
Hawking, 1942 in Oxford geboren, war<br />
21 und ein hoffnungsvoller Student, als<br />
ihm die Ärzte eröffneten, dass er an ALS<br />
leidet, einer degenerativen Erkrankung<br />
des motorischen Nervensystems. Mit<br />
der Diagnose wurde ihm eine Lebenserwartung<br />
von wenigen Jahren vorausgesagt.<br />
Im Januar wurde er 71. Für seine<br />
innovativen Arbeiten zu Schwarzen Löchern<br />
und Quantenaspekten des frühen<br />
Universums hat er zahlreiche Auszeichnungen<br />
erhalten, zuletzt im März den<br />
«Fund<strong>am</strong>ental Physics Price», der vom<br />
russischen Investor Juri Milner in Eigenregie<br />
vergeben wird.<br />
Die Thematik von Hawkings Forschungen<br />
ist einer der Gründe für seine<br />
Popularität, denn Gedanken über den<br />
Kosmos sprechen uns naturgemäss an.<br />
Stephen Hawking<br />
leidet an einer<br />
Nervenkrankheit,<br />
die ihm nur wenige<br />
Lebensjahre<br />
bescheren sollte – im<br />
Januar wurde er 71.<br />
Als Schwarze Löcher, die Hawking studierte,<br />
bezeichnet man Gebiete des Universums,<br />
in denen die Gravitation so<br />
stark ist, dass kein Lichtsignal entweichen<br />
kann. Etabliert wurde der Begriff<br />
durch John Archibald Wheeler Ende der<br />
sechziger Jahre. Hawking hatte 1975<br />
postuliert, dass diese Objekte dennoch<br />
Strahlung abgeben und d<strong>am</strong>it viele weitere<br />
Untersuchungen angestossen.<br />
Da es in Hawkings wichtigsten Forschungen<br />
bis Mitte der achtziger Jahre<br />
um die möglichen Grenzen der Allgemeinen<br />
Relativitätstheorie geht, reihen<br />
ihn seine Kollegen durchaus in die<br />
oberste Klasse der Physiker nach Einstein<br />
ein. Zum zweiten Popstar nach<br />
Einstein wurde er freilich aufgrund seines<br />
Martyriums als wacher Geist in<br />
einem gelähmten Körper. Diese Hilflosigkeit<br />
ist für alle schwer auszuhalten.<br />
GUILLERMO GRANJA / KEYSTONE<br />
Das schilderte bewegend Hawkings<br />
erste Ehefrau Jane Wilde 1999 in ihrer<br />
Autobiografie «Music to move the<br />
stars», die ihn als Teenager kennen<br />
und später lieben lernte, mit ihm eine<br />
Tochter und zwei Söhne hat, und über<br />
25 Jahre bis zur Trennung 1990 alle Phasen<br />
seines beruflichen Erfolgs und persönlichen<br />
Leids durchstand.<br />
Das sehr freimütige Buch brachte der<br />
promovierten Romanistin Solidaritätsbekundungen<br />
anderer Frauen, aber auch<br />
einiges an harscher Kritik ein. In der<br />
stark überarbeiteten Version von 2007,<br />
die nun auf Deutsch vorliegt, spürt man<br />
angenehm die Distanz zu jener Krise, als<br />
Hawking einer seiner Helferinnen nahe<br />
k<strong>am</strong> und dann heiratete. Inzwischen ist<br />
er auch von dieser Frau geschieden und<br />
wieder in gutem Kontakt mit Jane. Ihr<br />
neues Buch ersetzt keine kritische Biografie<br />
von Leben und Werk Stephen<br />
Hawkings, zeigt aber eindrücklich, dass<br />
es zwischen Lobhudelei und Bashing<br />
Wesentlicheres gibt.<br />
Hawking selbst wurde als Autor weltberühmt<br />
mit seinem Bestseller «Eine<br />
kurze Geschichte der Zeit», von dem<br />
seit 1988 über 10 Millionen Stück verkauft<br />
worden sind. Im Schlepptau dieses<br />
Erfolgs erscheinen immer wieder Bücher<br />
mit dem gelähmten Mann auf dem<br />
Cover, der vorwiegend durch Wimpernschläge<br />
kommuniziert. Das jüngste von<br />
Paul Parsons und Gail Dixon will ihn<br />
uns «im 3-Minuten-Takt» näherbringen.<br />
Es tappt an einigen Stellen unschön in<br />
die Superlativfalle, etwa wenn Hawking<br />
als «ausserordentlich begabt» und<br />
Roger Penrose, von dem Hawking sehr<br />
viel lernte, nur als «talentierter Mathematiker»<br />
bezeichnet wird. ●<br />
Autobiografie Frank Stronachs kleiner Bruder erzählt seine Lebens- und F<strong>am</strong>iliengeschichte<br />
2000-mal auf die Hundwiler Höhe<br />
Hans Adelmann: Einfacher leben. Warum<br />
Frank Stronachs kleiner Bruder 2072-mal<br />
den gleichen Berg bestieg. Edition a,<br />
Wien 2013. 95 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Von David Strohm<br />
Zwei Brüder, die unterschiedliche Wege<br />
gingen und sich doch nie aus den Augen<br />
verloren, zwei Charaktere mit gegensätzlichen<br />
Vorstellungen vom Leben:<br />
Der eine ist ein erfolgreicher Unternehmer<br />
geworden, ehrgeizig, rastlos, fleissig.<br />
Der andere wurde ein bescheidener<br />
Arbeiter. Er findet sein Glück im Kleinen,<br />
<strong>am</strong> Liebsten geht er zu Fuss hinaus<br />
in die Natur.<br />
Hans Adelmann hat sich mit «Einfacher<br />
leben» den eigenen Werdegang<br />
von der Seele geschrieben und d<strong>am</strong>it<br />
eine persönlich gehaltene Begründung<br />
geliefert für die ideellen und materiellen<br />
Differenzen, die ihn von seinem sieben<br />
Jahre älteren Halbbruder Frank Stronach<br />
trennen. Der österreichisch-kanadische<br />
Milliardär, Gründer des Autoteile-Konzerns<br />
Magna und Spiritus Rector<br />
des populistischen, euroskeptischen<br />
«Te<strong>am</strong>s Stronach für Österreich», teilt<br />
mit dem Autor Kindheit und Jugend in<br />
der ländlichen Steiermark. Ihr gemeins<strong>am</strong>er<br />
Vater war ein überzeugter Kommunist.<br />
Die beiden machen – nacheinander<br />
– eine Lehre zum Werkzeugmacher.<br />
Dann zieht es Frank in die weite<br />
Welt, er geht nach Kanada und legt dort<br />
den Grundstein zu seiner Karriere und<br />
seinem Vermögen.<br />
1958 holt er seinen kleinen Bruder<br />
nach, Adelmann wird Stronachs erster<br />
Angestellter. Doch ihre Wege trennen<br />
sich bald wieder. Hans kann und will die<br />
hohen Ansprüche von Frank nicht erfüllen.<br />
Er zieht mit seiner Frau Eva in die<br />
Ostschweiz, findet Arbeit als Monteur<br />
und Abwart. Zwei Töchter machen das<br />
F<strong>am</strong>ilienidyll komplett. In seiner freien<br />
Zeit zieht es Hans Adelmann hinaus,<br />
immer und immer wieder erwandert er<br />
die Hundwiler Höhe. Im Laufe der Jahre<br />
steht er mehr als 2000-mal auf dem Aussichtsberg<br />
im Appenzeller Hinterland.<br />
«Kein Aufstieg war wie der andere»,<br />
schreibt er über seinen geliebten Rückzugsort.<br />
In einer einfachen Hütte sinniert<br />
er über seine Vergangenheit und<br />
den eigenen Weg. Die Welt seines Bruders<br />
ist ihm fremd geworden. Und doch<br />
mag er sich von ihr nicht lösen.<br />
95 Seiten dünn ist das Bändchen mit<br />
der Lebensgeschichte eines Mannes, der<br />
sich für das bescheidene Glück entschieden<br />
hat. Leicht liest es sich, es gibt<br />
keine Schnörkel und Schlaufen. Ein einfaches<br />
Buch über ein einfaches Leben. ●<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 25
Sachbuch<br />
Zoologie Vom Küken zum K<strong>am</strong>pfhahn: Die Welt des Huhns ist faszinierend, wie uns ein bibliophiles<br />
Buch über das Federvieh lehrt<br />
Und jeden Tag ein Ei<br />
Joseph Barber (Hrsg.): Das Huhn.<br />
Geschichte, Biologie, Rassen. Haupt,<br />
Bern 2013. 224 Seiten, Fr. 38.90.<br />
Von Geneviève Lüscher<br />
Wussten Sie, dass das Huhn vom Dinosaurier<br />
abst<strong>am</strong>mt? Dass die kleinsten<br />
Hühner nur 500 Gr<strong>am</strong>m wiegen, während<br />
es K<strong>am</strong>pfhähne auf über fünf Kilo<br />
bringen? Dass es keinen Hahn braucht,<br />
d<strong>am</strong>it die Henne Eier legt? Dass Hühner<br />
mit dem einen Auge den Himmel nach<br />
Feinden und mit dem anderen den<br />
Boden nach Körnern absuchen können?<br />
Das nennt man monokulares Sehen; der<br />
Mensch kann nur binokular sehen, also<br />
denselben Gegenstand mit beiden<br />
Augen gleichzeitig; das Huhn ist ihm –<br />
wenigstens diesbezüglich – überlegen.<br />
Das und vieles andere lernt man im<br />
schön gestalteten Buch aus dem Haupt-<br />
Verlag. Es st<strong>am</strong>mt aus der Feder von<br />
Spezialisten, denen es vorzüglich gelungen<br />
ist, ihr Wissen für ein breites Publikum<br />
aufzubereiten. Die Hühner wachsen<br />
einem jedenfalls ans Herz.<br />
Das Urhuhn st<strong>am</strong>mt aus dem ostasiatischen<br />
Dschungel. Seine Domestikation<br />
begann vor rund 10 000 Jahren.<br />
Nach Europa gelangte das Haushuhn<br />
aber erst kurz vor der Zeitenwende, viel<br />
später als die anderen Haustiere. Bis in<br />
die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten<br />
Hühner in kleinen Gruppen auf dem<br />
Bauernhof, gehalten wurden sie in erster<br />
Linie wegen der täglich «anfallenden»<br />
Eier. Wenn die Legeleistung merklich<br />
nachliess, k<strong>am</strong>en sie in den Topf.<br />
Erst mit der wenig tiergerechten industriellen<br />
Haltung wurde das Huhn entweder<br />
zum Eier- oder zum Fleischlieferanten<br />
degradiert.<br />
Hühner sind «angenehme Hausgenossen».<br />
Sie erkennen ihre Halterin und<br />
reagieren auf sie. Ihr ausgeprägtes Hierarchieverhalten<br />
in der Gruppe unterliegt<br />
strengen Regeln, die faszinierend<br />
zu beobachten sind. Obwohl mit Flügeln<br />
ausgestattet, gehört das Fliegen nicht zu<br />
ihren Lieblingsbeschäftigungen; nur<br />
leichtere Arten können kleine Strecken<br />
im Flug überwinden. Dafür erreichen<br />
laufende Hühner Spitzengeschwindigkeiten<br />
von 14 Stundenkilometern.<br />
Im letzten Buchkapitel werden einige<br />
der über 1000 Hühnerrassen vorgestellt.<br />
Sie unterscheiden sich nicht nur vom<br />
Aussehen her, sondern auch vom Charakter.<br />
Ein paar sind zutraulich, andere<br />
aggressiv. Es gibt ausdauernde Brüterinnen,<br />
aber auch Hennen, die ihre Eier<br />
vernachlässigen. Viele Arten st<strong>am</strong>men<br />
aus England. Aus der Schweiz hingegen<br />
kommt die «Appenzeller Spitzhaube»:<br />
Das Zierhuhn mit guten Legeeigenschaften<br />
gehört – wen wundert’s – zu<br />
den kleinen Geflügelrassen. ●<br />
Das <strong>am</strong>erikanische Buch Hobelspäne und Scherben: Geschichte zum Anfassen<br />
Ein Kompass und ein Tagebuch, Hobelspäne<br />
eines Galgens und ein Groschenroman<br />
über den Goldrausch in Alaska,<br />
dazu eine Toiletten-Scherbe von Hitlers<br />
Berghof <strong>am</strong> Obersalzberg. In einer<br />
Schublade mögen diese Relikte ein<br />
merkwürdiges S<strong>am</strong>melsurium abgeben.<br />
Zwischen Buchdeckeln wird daraus<br />
eine spannende «<strong>am</strong>erikanische Geschichte<br />
zum Anfassen». Dafür ist dem<br />
Historiker und Juristen Meredith Mason<br />
Brown zu danken, dem die genannten<br />
Gegenstände und über ein Dutzend<br />
weitere als Grundlage für Touching<br />
America’s History. From the Pequot<br />
Wars through World War Two (Indiana<br />
University Press, 271 Seiten) dienen.<br />
Brown hat 2008 nach einer erfolgreichen<br />
Karriere bei einer grossen New<br />
Yorker Kanzlei mit «Frontiersman»<br />
eine vielbeachtete Daniel-Boone-Biografie<br />
vorgelegt. Nicht zufällig tritt der<br />
legendäre Pionier auch in «Touching<br />
America’s History» auf. Für ihn steht<br />
der Kompass, den Browns Vorfahre<br />
Colonel Willi<strong>am</strong> Preston (1729–1783) als<br />
Landvermesser in Virginia und Kentucky<br />
benutzt hat. Er hat dabei mit Boone<br />
zus<strong>am</strong>mengearbeitet. Doch im Gegensatz<br />
zu diesem konnte der Oberst ausgedehnte<br />
Ländereien erwerben, die<br />
seinen Nachkommen eine prominente<br />
Position nicht nur in Kentucky sicherten.<br />
Bald mit weiteren Sippen wie den<br />
Browns und den Masons verschwägert,<br />
blieben die Vorfahren des Autors als<br />
Offiziere und Politiker prominente<br />
Akteure auf der Bühne der <strong>am</strong>erikanischen<br />
Geschichte.<br />
Der Vater des Autors,<br />
Presseoffizier John<br />
Mason Brown, 1945 in<br />
der Normandie.<br />
Autor Meredith<br />
Mason Brown (unten).<br />
Gegenstände aus ihrem Nachlass dienen<br />
Brown als Einstieg in dieser Historie.<br />
D<strong>am</strong>it gibt er gerade europäischen<br />
Lesern auch Aufschluss über ein Milieu:<br />
die F<strong>am</strong>ilien, die Amerika aufgebaut und<br />
zu seiner Weltmachtposition geführt<br />
haben. Der Leser notiert, wie Pioniere<br />
ihre Söhne auf Universitäten wie Yale<br />
schicken und diese Eliten keine Schranken<br />
zwischen Wirtschaft, Militär und<br />
Politik kannten. Auch literarisches<br />
Talent taucht früh, etwa in den Tagebüchern<br />
von John Mason Brown (1837–<br />
1890), auf. Diesen lockte Abenteuerlust<br />
in den d<strong>am</strong>als noch wilden Westen, ehe<br />
er als Offizier im Bürgerkrieg für den<br />
Norden ins Feld zog. Unter seinen Gegnern<br />
waren Verwandte wie der Sklavenbesitzer<br />
und General Willi<strong>am</strong> Preston<br />
(1816–1887), der nach der Niederlage des<br />
Südens vorübergehend in Kanada Zuflucht<br />
fand. Die Hobelspäne st<strong>am</strong>men<br />
derweil von dem Galgen, an dem der<br />
Abolitionist John Brown kurz vor<br />
Kriegsbeginn 1859 gehängt wurde; mit<br />
ihm ist der Autor indes nicht verwandt.<br />
Als Literat tat sich dagegen John Mason<br />
Brown (1900–1969) hervor, der Vater<br />
des Autors. Dieser brachte als Presseoffizier<br />
im Stab von Dwight D. Eisenhower<br />
den Goldrausch-Roman in die<br />
Heimat zurück, mit dem sich «Ike» <strong>am</strong><br />
Vorabend der Invasion in der Normandie<br />
das Warten auf besseres Wetter<br />
verkürzt hatte. Ein Freund des Vaters<br />
vertraute dem Autor später das Souvenir<br />
vom Berghof an.<br />
Eine Ausnahme unter diesen nachgelassenen<br />
Relikten bilden zwei indianische<br />
Steinäxte aus dem Südosten<br />
Connecticuts, die Brown jüngst in seinem<br />
Wohnort Stonington erworben<br />
hat. Hier setzt seine chronologisch geordnete<br />
und mit Karten und Abbildungen<br />
leicht zugängliche Schilderung des<br />
Massakers von 1637 an, das Briten und<br />
indianische Verbündete unter dem<br />
St<strong>am</strong>m der Pequots angerichtet haben.<br />
D<strong>am</strong>it setzt Brown ein Leitmotiv: In<br />
einem kurzen Nachwort lässt er keinen<br />
Zweifel daran, dass kriegerische Gewalt<br />
wesentlich zum Wachstum der USA<br />
beigetragen hat. Aber daneben will er<br />
Forscherdrang, Landhunger, intellektuelle<br />
Neugierde, Einfallsreichtum,<br />
Beharrlichkeit und «Mut im Überfluss»<br />
ihren Rang nicht streitig machen.<br />
Wenn das Buch einen Mangel hat, dann<br />
die marginale Rolle, die Frauen darin<br />
spielen. Aber dies stört den prominenten<br />
Historiker Joseph J. Ellis nicht, der<br />
Brown für diesen innovativen Beitrag<br />
zum Verständnis Amerikas lobt.<br />
Von Andreas Mink ●<br />
26 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013
Agenda<br />
Druckwerkstatt Rixdorfer Wort- und Bilderbögen<br />
Agenda Mai 2013<br />
Basel<br />
Freitag, 3. Mai, 18.30 Uhr<br />
Claude Lachat: Muttertag zum Ersten.<br />
Buchvernissage, Lesung und Apéro, musikalisch<br />
umrahmt. Alterszentrum Zum<br />
L<strong>am</strong>m, Rebgasse 16, Tel. 061 690 21 11.<br />
Montag, 6. Mai, 20 Uhr<br />
Dani von Wattenwyl: Pfauenstolz. Buchvernissage<br />
mit Lesung. Thalia Bücher,<br />
Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55.<br />
Mittwoch, 22. Mai, 19 Uhr<br />
Thomas Hettche: Totenberg. Lesung ,<br />
Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,<br />
Tel. 061 261 29 50.<br />
Bern<br />
Dienstag, 7. Mai, 20 Uhr<br />
Patrice Nganang: Mont Plaisant – Der<br />
Schatten des Sultans. Lesung und<br />
Gespräch, Fr. 15.–. ONO Bühne, Kr<strong>am</strong>gasse<br />
6. Info: www.onobern.ch.<br />
Die «Rixdorfer» zählen zu den interessantesten und<br />
langlebigsten deutschen Künstlergruppen der letzten<br />
Jahrzehnte. Anfang der 1960er Jahre trafen sich die<br />
d<strong>am</strong>als noch jungen Männer erstmals in einem<br />
Hinterhof der Berliner Oranienstrasse; bis heute ist<br />
das Ensemble aktiv. Es arbeitete mittels ausgedienter<br />
Blei- und Holzlettern und verband Wort und Bild in<br />
bibliophilen Bilderbogen, Kalendern und Flugblättern.<br />
Uwe Bremer, Albert Schindehütte, Johannes Vennek<strong>am</strong>p<br />
und Arno Waldschmidt zählten zum Kern der<br />
Bestseller April 2013<br />
Belletristik<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.<br />
Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.<br />
Nora Roberts: Die letzte Zeugin.<br />
Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 28.40.<br />
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff.<br />
Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90.<br />
Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret.<br />
dtv. 656 Seiten, Fr. 27.90.<br />
Paulo Coelho: Die Schriften von Accra.<br />
Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Franz Hohler: Der Geisterfahrer.<br />
Luchterhand. 576 Seiten, Fr. 28.50.<br />
Arne Dahl: Zorn.<br />
Piper. 496 Seiten, Fr. 24.90.<br />
Dora Heldt: Herzlichen Glückwunsch, Sie<br />
haben gewonnen. dtv. 352 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Timur Vermes: Er ist wieder da.<br />
Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90.<br />
Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche<br />
Reise. Salis. 276 Seiten, Fr. 34.80.<br />
Sachbuch<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16.4.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch.<br />
stilbildenden Gruppe. Ihr Übervater war der grosse<br />
Berliner Malerpoet Günter Bruno Fuchs, der sich aber<br />
um 1970 zurückzog. Christian Döring hat als Herausgeber<br />
den «Rixdorfern» nun einen liebevoll gestalteten<br />
Bildband gewidmet. Grossformatige Abbildungen<br />
der Handpressen-Drucke werden ergänzt durch<br />
zahlreiche Fotos und Dokumente. Manfred Papst<br />
Die Druckwerkstatt der Dichter. Rixdorfer Wort- und<br />
Bilderbögen. Die Andere Bibliothek, Sonderband,<br />
Berlin 2013. 447 Seiten, Fr. 139.–.<br />
7<br />
Duden.<br />
8<br />
9<br />
Sheryl<br />
10<br />
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.<br />
Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.<br />
Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt.<br />
Droemer/Knaur. 188 Seiten, Fr. 27.90.<br />
Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.<br />
Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.<br />
Petra Bock: Mindfuck – Warum wir uns sabotieren.<br />
Droemer/Knaur. 250 Seiten, Fr. 30.90.<br />
Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende <strong>am</strong><br />
meisten bereuen. Arkana. 351 Seiten, Fr. 28.40.<br />
Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt<br />
ihr nie. Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90.<br />
Die deutsche Rechtschreibung. 25.<br />
Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90.<br />
Florian Illies: 1913 – der Sommer des Jahr -<br />
hunderts. Fischer. 319 Seiten, Fr. 28.90.<br />
Sandberg: Lean In.<br />
Econ. 312 Seiten, Fr. 27.90.<br />
Frank Baumann: Single in 365 Tagen.<br />
Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 34.90.<br />
Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr<br />
Susanne Schanda:<br />
Literatur der Rebellion.<br />
Buchpräsentation.<br />
Käfigturm, Marktgasse 67,<br />
Tel. 031 322 75 00.<br />
Solothurn<br />
Freitag, 10., bis <strong>Sonntag</strong>, 12. Mai<br />
35. Solothurner Literaturtage.<br />
Progr<strong>am</strong>m unter: www.literatur.ch .<br />
Zürich<br />
Donnerstag, 2. Mai, 20 Uhr<br />
Sibylle Baumann liest Geschichten über<br />
Bäume und Träume. Mit der Harfenistin<br />
Rahel Schweizer. Palmenhaus, Alter<br />
Botanischer Garten, Pelikanstrasse 40.<br />
Info: 079 339 01 20.<br />
Dienstag, 7. Mai, 19.30 Uhr<br />
Ute Kröger: Nirgends Sünde, nirgends<br />
Laster. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.<br />
Literaturhaus, Limmatquai 62,<br />
Tel. 044 254 50 00.<br />
Dienstag, 14. Mai, 20 Uhr<br />
Alain de Botton: Religion für Atheisten.<br />
Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal,<br />
Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.<br />
Mittwoch, 15. Mai, 20.30 Uhr<br />
Doris Knecht: Besser. Lesung, Fr. 15.–.<br />
Orell Füssli Buchhandlung <strong>am</strong> Bellevue,<br />
Theaterstrasse 8 , Tel. 0848 849 848.<br />
Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr<br />
Wilfried Meichtry:<br />
Mani Matter. Lesung mit<br />
Liedern, Fr. 25.–. Lieder:<br />
Jacob Stickelberger.<br />
Kaufleuten (s. oben) .<br />
Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> Nr. 5<br />
erscheint <strong>am</strong> 26.5.2013<br />
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher <strong>am</strong><br />
<strong>Sonntag</strong>» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />
oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind ± solange<br />
Vorrat ± beim Kundendienst der <strong>NZZ</strong>, Falkenstrasse 11,<br />
8001 Zürich, erhältlich.<br />
CHRISTIAN HELMLE<br />
NATHALIE BENELLI<br />
28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 27
10CFWMOw7CMBAFT7TWe_uJvbhE6aIUEf02iJr7V2A6imlGozmOGQ0_7vv52K9JwEOY1lVnZDTt2xyqDd4nnKmg3WieyhH61wuYm8FqNQL_6iLFh_SKGEhE0dak1gDa3s_XB-6dEKuDAAAA<br />
10CAsNsjY0MDAx1TW0NDY3MgIAYoydFg8AAAA=<br />
D<strong>am</strong>it Ihre Neugierde gestillt<br />
wird: Wir unterstützen<br />
gute Literatur.<br />
Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring<br />
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