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NZZ am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

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Nr. 4 | 28. April 2013<br />

Mani Matter Die Biografie | Judith Kuckart Wünsche | Mo Yan Frösche |<br />

Doris Knecht Besser | Porträt von Alaa al-Aswani | Mario Vargas Llosa Alles<br />

Boulevard | Werner Ort Heinrich Zschokke | Urs Schoettli Die neuen Asiaten |<br />

Weitere Rezensionen zu Ernst Herbeck, Navid Kermani, Carlo Ginzburg,<br />

Stephen Hawking und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese


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Inhalt<br />

Den roten<br />

Faden finden<br />

Mani Matter<br />

(Seite 19).<br />

Illustration von<br />

André Carrilho<br />

Der italienische Historiker Carlo Ginzburg reflektiert in seinem neuen<br />

Essayband über die Schwierigkeit eines Forschers, «im Labyrinth aus<br />

Ideen, Hypothesen, Lektüren, das tausend Irrwege bereithält», den<br />

roten Faden zu finden (Seite 18). Wie wahr! Häufig stehen auch wir vor<br />

der Situation, zwischen «wahr, falsch und fiktiv» entscheiden zu<br />

müssen – im Kontakt mit unbekannten Personen, fremden Kulturen, in<br />

unerwarteten Situationen.<br />

Solche Orientierung bietet zum Beispiel Urs Schoettli in seinem Buch<br />

über die «neuen Asiaten». In seinem instruktiven Gang durch Politik,<br />

Mentalität und Geschichte von zwölf Ländern Ostasiens legt er für uns<br />

einen eigentlichen Pfad der Erkenntnis: Wie verläuft der Aufstieg der<br />

Tigerstaaten? Worin unterscheiden sie sich? Wie kann ihnen der<br />

Westen begegnen (S. 21)? Eine bereichernde Lektüre.<br />

Dasselbe in der Belletristik. Der Besuch bei Alaa al-Aswani in Kairo<br />

hilft uns, die politische Unruhe in Ägypten besser zu verstehen und<br />

einen Blick auf inner-isl<strong>am</strong>ische Konflikte zu werfen (S. 12). Oder der<br />

lebendige Kleinstadtroman von Judith Kuckart, der den Lebensträumen<br />

einer Generation kurz vor 50 nachspürt (S. 4). Kuckarts Protagonistin<br />

Vera, die neun Monate aus der Provinz flüchtet, macht nichts anderes,<br />

als in ihrem Leben den verloren gegangenen roten Faden wieder zu<br />

finden. Viel Spass mit diesen und anderen Büchern! Urs Rauber<br />

Belletristik<br />

4 Judith Kuckart: Wünsche<br />

Von Martin Zingg<br />

6 Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied<br />

Von Stefana Sabin<br />

Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit<br />

Von Manfred Papst<br />

7 Mo Yan: Frösche<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

8 Doris Knecht: Besser<br />

Von Sandra Leis<br />

9 Joey Goebel: Ich gegen Osborne<br />

Von Simone von Büren<br />

Dirk Luckow: Harry Callahan<br />

Von Gerhard Mack<br />

10 Ernst Herbeck: Der Hase!!!!<br />

Von Bruno Steiger<br />

11 E-Krimi des Monats<br />

Nika Lubitsch: Der 7. Tag<br />

Von Christine Brand<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

11 Sophokles: Elektra<br />

Von Manfred Papst<br />

Im Reich der Wünsche<br />

Von Regula Freuler<br />

Georges Perec: Anton Voyls Fortgang<br />

Von Manfred Papst<br />

Andrzej Stasiuk: Buch über das Sterben<br />

Von Regula Freuler<br />

Porträt<br />

12 Alaa al-Aswani, Schriftsteller und Zahnarzt<br />

«Wir Ägypter sind wieder im Rennen»<br />

Von Michael Holmes<br />

Kolumne<br />

15 Charles Lewinsky<br />

Das Zitat von Iwan Gontscharow<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

15 Amanda Ad<strong>am</strong>s: Scherben bringen Glück<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Sebastian Conrad: Globalgeschichte<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen<br />

Sehnsucht und Schande<br />

Von Urs Rauber<br />

Gregor Spuhler: Anstaltsfeind und<br />

Judenfreund<br />

Von Urs Rauber<br />

Sachbuch<br />

16 Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer<br />

seine Kultur verliert, verliert sich selbst<br />

Von Katja Gentinetta<br />

17 Andreas Jungherr, Harald Schoen: Das<br />

Internet in Wahlkämpfen<br />

Von Andreas Hirstein<br />

Die Österreicherin Doris Knecht glossiert im neuen<br />

Roman die Wiener Schickimicki-Szene (Seite 8).<br />

PAMELA RUSSMANN<br />

18 Navid Kermani: Ausnahmezustand<br />

Von Ina Boesch<br />

Carlo Ginzburg: Faden und Fährten<br />

Von Janika Gelinek<br />

19 Wilfried Meichtry: Mani Matter<br />

Von Thomas Feitknecht<br />

20 E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

21 Urs Schoettli: Die neuen Asiaten<br />

Von Urs Rauber<br />

Hans Belting: Faces<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

22 Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den Strom<br />

Von Reinhard Meier<br />

Markus Theunert: Co-Feminismus<br />

Von Walter Hollstein<br />

23 Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771–1848<br />

Von Tobias Kaestli<br />

24 Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher,<br />

das Auswärtige Amt und die Deutsche<br />

Vereinigung<br />

Von Gerd Kolbe<br />

25 Jane Hawking: Die Liebe hat elf Dimensionen<br />

Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen Hawking im<br />

3-Minuten-Takt<br />

Von André Behr<br />

Hans Adelmann: Einfacher leben<br />

Von David Strohm<br />

26 Joseph Barber: Das Huhn<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Das <strong>am</strong>erikanische Buch<br />

Meredith Mason Brown: Touching America’s<br />

History<br />

Von Andreas Mink<br />

Agenda<br />

27 Die Druckwerkstatt der Dichter<br />

Von Manfred Papst<br />

Bestseller April 2013<br />

Belletristik und Sachbuch<br />

Agenda Mai 2013<br />

Veranstaltungshinweise<br />

Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)<br />

Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,<br />

Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG<br />

Verlag <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>, «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 3


Belletristik<br />

Roman Judith Kuckart gelingt das überzeugende Tableau einer kleinen Stadt und ihrer<br />

Menschen, die von vagen Hoffnungen und geplatzten Träumen erfüllt sind<br />

Flucht aus<br />

der Provinz<br />

Judith Kuckart: Wünsche. Dumont,<br />

Köln 2013. 301 Seiten, Fr. 28.90,<br />

E-Book 24.90.<br />

Von Martin Zingg<br />

Silvester in einer deutschen Kleinstadt.<br />

Vera wird schwimmen gehen, ihr Mann<br />

Karatsch wird inzwischen, zus<strong>am</strong>men<br />

mit dem gemeins<strong>am</strong>en Sohn Jo, erste<br />

Vorbereitungen treffen für die traditionelle<br />

Silvesterparty, die zugleich Veras<br />

Geburtstagsfest sein wird. An diesem<br />

Tag wird sie 46 Jahre alt. Wie jedes Jahr<br />

wird auch diesmal der Film gezeigt werden,<br />

in welchem die 14-jährige Vera<br />

einst mitgespielt hat, zus<strong>am</strong>men mit anderen<br />

längst erwachsenen Kindern, die<br />

an diesem Abend auch zugegen sein<br />

werden. Die Vorführung des Films, der<br />

seinerzeit auch kurz in den Kinos lief, ist<br />

ein Ritual geworden, und es sind immer<br />

dieselben Freunde aus der Kleinstadt,<br />

die dazu eingeladen werden. Es sieht<br />

alles nach einem geordneten und sorgfältig<br />

inszenierten Rückzug aus dem<br />

eben zu Ende gehenden Jahr aus. Dass<br />

das neue Jahr anders aussehen wird,<br />

kündigt sich allerdings auch an, bereits<br />

an Silvester.<br />

Judith Kuckart<br />

1959 in Schwelm (Westfalen) geboren,<br />

lebt Judith Kuckart heute als<br />

Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin<br />

und Zürich. Nach dem Studium und der<br />

Tanzausbildung leitete sie von 1986 bis<br />

1998 das Tanztheater Skoronel. Seit<br />

1998 arbeitet sie als freie Regisseurin.<br />

Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen<br />

gehören die Romane «Kaiserstrasse»<br />

(2006) und «Die Verdächtige» (2008),<br />

daneben schrieb sie Theaterstücke und<br />

Hörspiele. Sie hat zahlreiche Preise<br />

erhalten, zuletzt den Annette-von-<br />

Droste-Hülshoff-Preis 2012.<br />

4 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

«Wünsche»: So heisst der jüngste<br />

Roman von Judith Kuckart, und der<br />

Titel, das stellt sich bald heraus, ist doppeldeutig.<br />

Zum einen sind es unklare, oft<br />

unabgegoltene und wohl unerfüllbare<br />

Wünsche und Lebensträume, die einige<br />

Figuren umtreiben und aus der gewohnten<br />

Bahn drängen – und d<strong>am</strong>it zugleich<br />

die Handlung des Romans voranbringen.<br />

Zum andern ist «Wünsche» auch<br />

der N<strong>am</strong>e einer F<strong>am</strong>ilie, die in der Kleinstadt<br />

einst einiges Ansehen genoss, weil<br />

sie das einzige Kaufhaus <strong>am</strong> Ort besass.<br />

Die Geschwister Friedrich und Meret<br />

Wünsche sind die Erben des kleinen<br />

Unternehmens, und Friedrich will nach<br />

dem Tod der Mutter das längst heruntergekommene<br />

Kaufhaus wieder zu<br />

einem Einkaufsparadies machen. Das<br />

«Haus Wünsche», so seine Strategie,<br />

soll mit «Retro-Look», durch einen bewussten<br />

Schritt in die Vergangenheit,<br />

wieder attraktiv werden. Die alten<br />

Türen sollen wieder her, die alten Verkaufstische,<br />

mehr Personal – all das<br />

eben, was in anderen Kaufhäusern inzwischen<br />

geändert worden ist. Eine Mischung<br />

von Alt und Neu, mit der Möglichkeit,<br />

ganz zeitgemäss auch per Internet<br />

zu bestellen. Am Vorabend des<br />

neuen Jahres steht die Eröffnung des<br />

neu-alten Kaufhauses bevor: «<strong>Neue</strong> Zeiten»,<br />

sagt Friedrich, «brechen an, indem<br />

wir die Zeit zurückdrehen.»<br />

Für sein vermeintlich utopisches Projekt<br />

ist Friedrich Wünsche eigens in die<br />

Kleinstadt zurückgekehrt, nach langen<br />

Aufenthalten in anderen Städten und erfolgreicher<br />

Tätigkeit in grossen Betrieben.<br />

Er ist dabei zu Geld gekommen,<br />

und was er sich in seiner Heimatstadt<br />

nun vornimmt, hat auch mit Erinnerungen<br />

an die Kindheit und Jugend zu tun.<br />

Unterwegs aber ist Friedrich von seiner<br />

Frau Annalisa verlassen worden, sie hat<br />

sich mit den beiden Kindern nach Italien<br />

abgesetzt, er ist allein.<br />

Auch seine Schwester Meret war eine<br />

Weile weg, auch sie ist wieder zurück.<br />

Mit ihrem Bruder teilt sie nun ein stattliches<br />

Haus. Und gelegentlich nimmt sie<br />

einen Mann zu sich, die Liste ihrer Liebhaber<br />

ist ziemlich lang.<br />

Friedrich und Meret kennen Vera aus<br />

frühen Kindheitstagen. Diese gemeins<strong>am</strong>e<br />

Vergangenheit wird im neuen Jahr,<br />

dessen Anbruch Vera gar nicht mehr in<br />

der Kleinstadt erlebt, immer wieder heraufbeschworen<br />

werden. Vera arbeitet<br />

als Lehrerin, an einer Berufsschule unterrichtet<br />

sie Maler- und Lackiererklassen<br />

in Gestaltungstechnik und Deutsch.<br />

Ihr Sohn Jo, eigentlich Joseph, mit ganzem<br />

N<strong>am</strong>en Joseph Conrad, wird bald<br />

zur See fahren und dabei eine Ausbildung<br />

machen. Mit ihrem Mann Karatsch,<br />

der 65 Jahre alt ist, kommt sie<br />

leidlich aus. Und insges<strong>am</strong>t hat sie wohl<br />

Glück gehabt. Als junges Mädchen aus<br />

problematischen sozialen Verhältnissen<br />

ist sie seinerzeit von ihm und dessen<br />

Frau Suse aufgenommen worden, nach<br />

Suses Tod hat Karatsch sie geheiratet.<br />

<strong>Neue</strong> Identität annehmen<br />

Vera, und das löst gleich mehrere Erzählstränge<br />

von Judith Kuckarts Roman<br />

aus, geht an Silvester in ein Hallenbad –<br />

kehrt aber von dort nicht mehr nach<br />

Hause zurück, zu Mann und Kind und<br />

all den Gästen, die sich allmählich einfinden.<br />

Sie hat beim Aufbruch Handy<br />

und Haustürschlüssel zu Hause liegen<br />

lassen, ein Zeichen, das erst hinterher<br />

gedeutet werden wird. War sie bloss<br />

vergesslich? Oder hatte sie schon eine<br />

Absicht vor Augen? Im Hallenbad<br />

kommt Vera, einer plötzlichen Eingebung<br />

folgend und mit einem Trick, an<br />

den Ausweis und die Kleider einer anderen<br />

Frau heran. Das Hallenbad verlässt<br />

Vera Conrad nun als Salomé Schreiner,<br />

die gemäss neuem Ausweis zehn Jahre<br />

jünger ist, auch etwas frischer im Gesicht,<br />

Vera aber durchaus ähnlich<br />

scheint. Noch <strong>am</strong> gleichen Tag fährt sie<br />

nach Köln und bucht einen Flug, kurze<br />

Zeit später ist sie in London.<br />

Weiss Vera denn, was sie will? Sie<br />

wäre, sagt sie sich gelegentlich, gerne


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Schauspielerin geworden, aber nach<br />

einem sehr kurzen Auftritt vor Jahrzehnten<br />

hat sie nie mehr etwas in dieser<br />

Art unternommen. Bloss geträumt hat<br />

sie immer wieder, wie so viele andere in<br />

ihrer Kleinstadt auch gerne träumen<br />

von etwas anderem. Bereits mit fünf Jahren<br />

ist Vera einmal ausgebüchst, mit<br />

dem Dreirad. Später hat sie allerhand<br />

ausgeheckt, zus<strong>am</strong>men mit Meret. In<br />

London, einem Ort mit ungleich mehr<br />

Möglichkeiten, als ihre Heimatstadt bieten<br />

kann, bleibt sie lange ratlos. Aber sie<br />

ist zugleich offen und unkompliziert.<br />

Öfter geht sie hinter irgendwelchen<br />

Menschen her und lässt sich überraschen<br />

vom zufälligen Ziel.<br />

In der Zwischenzeit, als noch niemand<br />

weiss, wo Vera steckt, geht das<br />

Leben in der Kleinstadt weiter. Karatsch<br />

ist ratlos, Jo ist auf See. Die Menschen,<br />

das wird immer deutlicher und ist bald<br />

einmal beklemmend, leben hier in einer<br />

stickigen Enge. Sie laufen einander<br />

immer wieder über den Weg, und so<br />

kann es selbst zu der doch ziemlich<br />

Judith Kuckart<br />

schreibt über Traum<br />

und Aufruhr in einem<br />

kleinstädtischen Netz<br />

von Beziehungen.<br />

LAIMA CHENKELI<br />

überraschenden Begegnung kommen,<br />

die Karatsch mit jener Frau hat, der Vera<br />

den Ausweis entwendet hat: Salomé<br />

Schreiner. Ein beinahe unwahrscheinliches<br />

Zus<strong>am</strong>mentreffen, aber im Gedränge<br />

der Kleinstadt scheint es unausweichlich,<br />

dass die beiden irgendwann<br />

aufeinanderstossen. Und natürlich finden<br />

die beiden einander nicht unsympathisch<br />

– aber plötzlich stellt sich die Geschichte<br />

mit Vera dazwischen. Immer<br />

kommt etwas dazwischen, und fast<br />

immer ist es die Vergangenheit: man<br />

kennt sich hier seit immer, war mit einander<br />

in der Schule, kreuzt die Wege.<br />

Den Ort verlässt man nicht. Und wer ihn<br />

dennoch verlässt, kehrt irgendwann zurück.<br />

Auch Vera kommt nach neun Monaten<br />

wieder in die Stadt zurück, ausgerechnet<br />

in dem Moment, wo sich ihr<br />

Mann, ihr Sohn und Friedrich nach London<br />

aufgemacht haben, um sie zu holen.<br />

Filigrane Erzählweise<br />

Und die erste Person, die sie trifft, ist<br />

Meret. Ihr kann sie, warum sie d<strong>am</strong>als<br />

weggegangen und jetzt zurückgekommen<br />

ist, nur so erklären: «Weg bin ich<br />

wegen all der Leute, die ich schon so<br />

lange kenne. Aus dem gleichen Grund<br />

bin ich wieder zurückgekommen. Ich<br />

dachte immer, das ist schlimm, dass ich<br />

bei uns nur die sein kann, die alle kennen.<br />

Jetzt weiss ich, genau die kann ich<br />

nur sein.»<br />

Das Tableau der kleinen Stadt und<br />

ihrer von vagen Hoffnungen und geplatzten<br />

Träumen belagerten Menschen<br />

ist Judith Kuckart auf eine sehr schöne<br />

Weise gelungen. Der Roman ist ausserordentlich<br />

dicht und fein gewoben, aufmerks<strong>am</strong><br />

und durchlässig für unzählige<br />

Details, die ein weites Netz spannen.<br />

Zus<strong>am</strong>men entwerfen die vielen kleinen<br />

Verweise auf unaufdringliche Weise das<br />

Bild einer Welt mit fast schon wasserdichten<br />

Verhältnissen, gegen die selbst<br />

kühnste Träume <strong>am</strong> Ende nicht ankommen.<br />

Ein Rest an Traum und Aufruhr<br />

bleibt dennoch, ein unerklärlicher Rest,<br />

den diese Figuren bis zuletzt bewahren<br />

dürfen. Auch daraus, aus dem genauen<br />

Blick seiner Autorin und einer filigranen<br />

Erzählweise, schöpft dieser Roman<br />

seine Lebendigkeit. l<br />

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28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 5


Belletristik<br />

Epos Der Bericht von den Heldentaten des Gotenprinzen<br />

geht immer noch unter die Haut<br />

Beowulf<br />

neu erzählt<br />

Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied.<br />

Aus dem Altenglischen von<br />

Johannes Frey. Recl<strong>am</strong>, Stuttgart 2013.<br />

130 Seiten, Fr. 10.40.<br />

Von Stefana Sabin<br />

Es ist ein Epos aus uralten Zeiten, das<br />

eine englische sprachliche und literarische<br />

Tradition begründet hat: «Beowulf».<br />

Der Bericht über die Heldentaten<br />

des Gotenprinzen Beowulf wurde, so<br />

nimmt man an, jahrhundertelang gesungen,<br />

bevor er um 1000 niedergeschrieben<br />

wurde. Die einzige überlieferte<br />

Handschrift galt lange als verschollen,<br />

wurde wiedergefunden, dann ignoriert,<br />

dann beschädigt, gelangte erst ins British<br />

Museum, dann in die S<strong>am</strong>mlung der<br />

British Library, wurde transkribiert,<br />

ediert, aus dem ursprünglichen unverständlichen<br />

angelsächsischen Dialekt in<br />

modernes Englisch übersetzt (zuletzt<br />

2000 vom Nobelpreisträger Se<strong>am</strong>us<br />

Heaney), von der Romantik zum identitätstiftenden<br />

Nationalepos geadelt, von<br />

der Moderne zur Schullektüre trivialisiert<br />

und schliesslich in einem grossangelegten<br />

philologisch-elektronischen<br />

Projekt 1995 digitalisiert.<br />

Anders als das Rolands- und das Nibelungenlied,<br />

die auch wegen der geographischen<br />

Übereinstimmung zwischen<br />

dem Ort der Handlung und dem<br />

späteren Nationalstaat zur kulturellen<br />

Selbstfindung dienlich wurden, spielt<br />

«Beowulf» weit von den britischen Inseln<br />

entfernt im Norden Europas, im<br />

heutigen Südschweden und Dänemark;<br />

von Schweden, Dänen, Friesen und<br />

Goten ist die Rede.<br />

Dänen kommen schon in der ersten<br />

Zeile vor: In der neuen Übersetzung von<br />

Johannes Frey wird von «Ger-Dänen<br />

vergangener Tage» berichtet, die für<br />

ihren König «die grösste der Hallen»<br />

bauen und dort in «Frohsinn und Freude»<br />

leben, bis ein «Feind aus der Hölle /<br />

sein Treiben begann und Tücke vollbrachte».<br />

So kommt Beowulf übers<br />

Meer, um König Hrothgar beizustehen;<br />

er will «dem Riesen allein im Gerichtssaal<br />

begegnen» und mit ihm kämpfen:<br />

«Held gegen Held.» Zuerst tötet Beowulf<br />

den Geist Grendel, dann Grendels<br />

Mutter, er wird als Retter gefeiert, reich<br />

beschenkt und kehrt mit den Schätzen<br />

heim zu König Hygelac; als zuerst dieser<br />

und dann dessen Sohn Heardred sterben,<br />

wird Beowulf selbst König. Fünfzig<br />

Jahre regiert er friedlich, aber als sein<br />

Reich von einem Drachen überfallen<br />

wird, muss er als alter Mann noch einmal<br />

in den K<strong>am</strong>pf. Zwar gelingt es ihm,<br />

den Drachen zu bezwingen, aber dabei<br />

wird er selbst tödlich verwundet. «Er<br />

selbst wusste nicht, / wie sein Abschied<br />

von Erden sein Ende aussah.» Statt eines<br />

Happy Ends der Tod des Helden im<br />

K<strong>am</strong>pf, seine feierliche Bestattung und<br />

das Klagen des Volkes: «Er wäre ein<br />

wahrhafter Held, / ein König auf Erden,<br />

und von allen der Beste: / gerecht und<br />

auch freigebig, freundlich und gütig /<br />

und zu ewigem Ruhm immer bereit.»<br />

Wie viele kanonische Werke wurde<br />

«Beowulf» immer wieder auch ins<br />

Deutsche übersetzt, nachgedichtet und<br />

nacherzählt. 2007 hat Gisbert Haefs in<br />

Beowulf kämpft mit<br />

dem Unhold Grendel.<br />

Lithografie von John<br />

Henry F. Bacon<br />

(um 1910).<br />

einer Prosafassung Beowulf zu einem<br />

«Krieger in der Not» entmystifiziert,<br />

dessen ungewollter K<strong>am</strong>pf mit dem<br />

Drachen die Unausweichlichkeit des<br />

Todes in einer von der Schicksalsmacht<br />

Wyrd regierten Welt suggeriert. Frey<br />

dagegen deklariert das Epos, in dem<br />

sich germanische Sagenstoffe mit christlichen<br />

Motiven vermengen, schon im<br />

Untertitel als «Heldenlied» und bewahrt<br />

ihm sein Pathos. Er begradigt<br />

nicht und behält gattungsübliche Redundanzen<br />

bei; und indem er den hohen<br />

Ton heldischer Dichtung nachmacht,<br />

gekünstelt archaisierende Wortfindungen<br />

und Stabreime einsetzt, lässt er die<br />

atmosphärische Aura des Originals und<br />

seine «literarische Schönheit und<br />

Wucht» durchscheinen. ●<br />

BRIDGEMANART<br />

Briefe Jean Paul zeigt sich auch in seiner Korrespondenz als phantasievoller Wortschöpfer<br />

Voll Sprachwitz und geistigem Wagemut<br />

Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit.<br />

Briefe. Hanser, München 2013.<br />

783 Seiten, Fr. 46.90.<br />

Von Manfred Papst<br />

Zum 250. Geburtstag des wunderbaren<br />

Erzählers Jean Paul (1763–1825) sind<br />

mehrere umfangreiche Biografien erschienen<br />

(vgl. «Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>»,<br />

März 2013), aber kaum etwas von ihm.<br />

Das Leben des Autors, das sich zwischen<br />

Hof, Leipzig, Schwarzenbach und Berlin,<br />

Meiningen, Coburg und Bayreuth abspielte,<br />

scheint die Menschen mehr zu<br />

interessieren als seine von Sprachwitz<br />

und geistigem Wagemut durchwirkten<br />

Romane, Erzählungen und theo retischen<br />

Schriften. Von der vorbildlichen Hanser-<br />

6 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

Ausgabe seiner Werke verkaufen sich<br />

jährlich nur neun bis zehn Exemplare:<br />

Das beklagt der Verleger Michael Krüger<br />

in seinem Blog.<br />

Ein freundlicheres Schicksal möchte<br />

man einer vortrefflichen Briefauswahl<br />

wünschen, welche die Jean-Paul-Experten<br />

Markus Bernauer, Norbert Miller<br />

und Helmut Pfotenhauer nun im gleichen<br />

Verlag vorlegen. Sie ist die erste<br />

ihrer Art seit fast hundert Jahren und<br />

zeigt Jean Paul in all seinen Facetten: als<br />

Schwärmer, Plauderer und Phantasten,<br />

als wortmächtigen Schilderer und zärtlichen<br />

Causeur, als selbstkritischen, ungemein<br />

offenen Geist, der auch die Niederungen<br />

des Alltags nicht scheut. Ob<br />

er an Goethe, Herder («Einziger und<br />

Erster!»), Jacobi oder Schlegel schreibt,<br />

an seine Mutter, die Kinder oder sein<br />

«geliebtes Weib»: Stets weiss er sich auf<br />

den Adressaten einzustellen. Er beherrscht<br />

die Klaviatur verschiedenster<br />

Tonfälle und bleibt doch immer er<br />

selbst. Den Freundinnen seiner Jugend<br />

schreibt er charmant virtuos verspielt,<br />

mit den Dichterfreunden diskutiert er<br />

über souverän poetische Fragen und<br />

Probleme des Zeitgeists.<br />

Die Auswahl «Erschriebene Unendlichkeit»<br />

beruht auf der achtbändigen,<br />

1956 bis 1964 im Akademie-Verlag erschienenen<br />

Edition der Briefe Jean Pauls<br />

im Rahmen der Historisch-kritischen<br />

Ausgabe von Eduard Berend und folgt<br />

deren Wortlaut exakt. Das erhöht den<br />

Reiz der Lektüre, ohne sie zu erschweren.<br />

Erhellende Zwischentexte, Anmerkungen<br />

und ein tadelloses Register ergänzen<br />

den schön gestalteten Band. ●


Roman Der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan hat ein harmloses Buch über die<br />

chinesische Ein-Kind-Politik geschrieben<br />

Erlebnisse einer Frauenärztin<br />

Mo Yan: Frösche. Aus dem Chinesischen<br />

von Martina Hasse. Hanser, München<br />

2013. 500 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 27.90.<br />

Von Sieglinde Geisel<br />

Im Nachwort zu seinem Roman «Frösche»<br />

aus dem Jahr 2009, also lange vor<br />

dem Nobelpreis und den Debatten über<br />

seine politische Haltung, richtet Mo Yan<br />

sich offenkundig an westliche Leser. Er<br />

beschreibt, in welche Konflikte ein chinesischer<br />

Autor gerät, wenn er «heikle<br />

Themen» anspricht. «Man braucht für<br />

heikle Fragen Mut, man braucht gute Fähigkeiten,<br />

sich schriftlich zu äussern,<br />

aber man braucht genauso das ehrliche<br />

Schriftstellergewissen.»<br />

Wenn ein Autor vor heiklen Themen<br />

zurückscheue, heisse es, er habe sich<br />

von den Funktionären kaufen lassen.<br />

Wende er sich jedoch heiklen Fragen zu,<br />

werde er gleich «der Liebedienerei gegenüber<br />

dem Westen» bezichtigt. Eine<br />

Zeitlang habe er sich Mühe gegeben,<br />

nirgends anzuecken, so Mo Yan, doch<br />

d<strong>am</strong>it sei es nun vorbei. «Nur meinem<br />

Gewissen Rechenschaft schuldig, suche<br />

ich mir die Themen aus, über die ich<br />

schreiben möchte.» Nun, das erwartet<br />

man von einem Autor, den man ernst<br />

nehmen soll, eigentlich immer, egal<br />

unter welchen Bedingungen er schreibt.<br />

Schon in der Wendung «heikle Themen»<br />

steckt die Akzeptanz der Zensur.<br />

Ob das dem Autor bewusst ist?<br />

Das Erstgeborene<br />

hat Glück und darf<br />

leben. Seit 1979<br />

wird in China mit der<br />

Ein-Kind-Politik das<br />

Bevölkerungswachstum<br />

eingedämmt.<br />

Wie eine Landärztin<br />

mit diesem Verbot<br />

umgeht, ist Thema in<br />

Mo Yans neuem Buch.<br />

Grausig, oft tödlich<br />

Das heikle Thema, das der Nobelpreisträger<br />

Mo Yan in seinem Roman «Frösche»<br />

zur Sprache bringt, ist die Ein-<br />

Kind-Politik, mit der China seit 1979 das<br />

Bevölkerungswachstum eindämmt, mit<br />

drastischen Massnahmen wie Zwangssterilisation<br />

und erzwungenen Spätabtreibungen.<br />

Der Roman umfasst ein halbes<br />

Jahrhundert chinesischer Geschichte,<br />

angefangen von der Zeit der Hungersnot<br />

1960, in dem der 1953 geborene<br />

Ich-Erzähler als Kind Kohle gegessen<br />

hat, bis ins Jahr 2008, wo die Neureichen<br />

im Ferrari herumfahren und die Ein-<br />

Kind-Politik etwa durch ein organisiertes<br />

(und trauriges) Geschäft mit Leihmüttern<br />

ausgetrickst wird.<br />

Die Protagonistin Gugu, geboren 1937<br />

und Tante des Ich-Erzählers, ist Landfrauenärztin,<br />

und sie hat fast alle Figuren,<br />

die in dem Buch vorkommen, ans<br />

Licht der Welt befördert, inklusive dem<br />

Ich-Erzähler. Gugu ist eine energische,<br />

begabte, tüchtige Frau. In den 1960er<br />

Jahren, als die Chinesinnen noch viele<br />

Kinder für ihr Land gebären sollten, war<br />

sie eine der ersten, die sich auf die westliche<br />

Geburtshilfe verstand, doch ab<br />

1979 stellt sie sich mit ihrer ganzen, zum<br />

Fanatismus neigenden, Leidenschaft in<br />

den Dienst der Ein-Kind-Politik. Oft ist<br />

es ein Wettlauf mit der Zeit zwischen<br />

den Schwangeren und dem Abtreibungskommando,<br />

denn «ist es erst<br />

durch die Ofentür, zählt es als Mensch<br />

(...). Ist es ein Mensch, geniesst es den<br />

Schutz des Gesetzes.»<br />

Die Szenen, die Mo Yan schildert,<br />

sind grausig, und oft enden sie tödlich,<br />

so auch bei der Spätabtreibung, zu welcher<br />

der Ich-Erzähler seine erste Frau<br />

zwingt. Ein Geflecht von Schuld und<br />

Verhängnis durchzieht das Buch, das<br />

sich als Briefroman ausgibt: Der Empfänger<br />

der Briefe ist der Japaner Sugitani<br />

san, Sohn eines Generals aus dem japanisch-chinesischen<br />

Krieg. Er bittet<br />

die Chinesen um Verzeihung für die<br />

Taten seines Vaters, während der Ich-<br />

Erzähler wiederum sagt, dass er durch<br />

seine Berichte an den japanischen Brieffreund<br />

sein eigenes Verbrechen sühne.<br />

Fast jeder versündigt sich in diesem<br />

Roman in irgendeiner Weise an den anderen,<br />

allen voran Gugu, die sich zum<br />

Instrument einer als notwendig empfundenen,<br />

gleichzeitig unmenschlichen<br />

Politik hat machen lassen. Diese Politik<br />

wird letztlich im Buch nicht in Frage gestellt:<br />

Die Kritik des Westens an der chinesischen<br />

Bevölkerungspolitik sei «unangebracht»,<br />

so der Ich-Erzähler,<br />

schliesslich sei die Eindämmung der<br />

Bevölkerungsexplosion im Interesse der<br />

ganzen Menschheit.<br />

Fiktion und Realität durchdringen<br />

sich in den Romanen Mo Yans. Manche<br />

Szenen fransen ins Surreale aus, und das<br />

Theaterstück über Gugu, von dem im<br />

Roman ständig die Rede ist, ist im letzten<br />

Kapitel des Buchs abgedruckt und<br />

gewinnt gleichzeitig seine eigene Wirklichkeit,<br />

wenn etwa der Regisseur in die<br />

Handlung einzugreifen versucht. Doch<br />

was auf den ersten Blick virtuos aussieht,<br />

bleibt erstaunlich flach. Die ausufernde<br />

Frosch-Symbolik etwa – die<br />

Schriftzeichen für Frosch und Baby werden<br />

im Chinesischen gleich ausgesprochen<br />

– wirkt angestrengt. Gugu leidet an<br />

einer Froschphobie (Froschquaken<br />

klingt für sie wie das Weinen von Neugeborenen).<br />

Kaulquappen erinnern<br />

zwar an Spermien, gelten jedoch auch<br />

als Verhütungsmittel. Der Erzähler<br />

selbst hat sich als Theaterautor das<br />

Pseudonym Kaulquappe gegeben, als<br />

Schriftsteller wiederum vergleicht er<br />

sich mit einem Frosch, der auf einem<br />

Seerosenblatt auf Mücken wartet – etc.<br />

Farbiges Bauernmilieu<br />

Bei aller Farbigkeit und Drastik des Bauernmilieus<br />

wirken die Figuren wie Fallbeispiele,<br />

an denen etwas demonstriert<br />

wird. «Frösche» ist ein Buch über ein<br />

Thema. Wir erfahren viel über die chinesische<br />

Bevölkerungspolitik – mit welchen<br />

Methoden die Ein-Kind-Politik<br />

durchgesetzt wurde, welche Bussen für<br />

die «überzähligen Kinder» bezahlt werden<br />

mussten, welche Lockerungen die<br />

späteren Jahre brachten. Doch wie es<br />

sich anfühlte, unter der Ein-Kind-Politik<br />

zu leben, was es für die einzelnen Menschen<br />

(vor allem die Mütter) bedeutete,<br />

in der intimen Frage des Kinderkriegens<br />

derart gewalts<strong>am</strong> fremdbestimmt zu<br />

werden, welche Trauer d<strong>am</strong>it verbunden<br />

ist – das erzählt Mo Yan nicht. Und<br />

so bleibt der Roman, trotz aller aufwühlenden<br />

Ereignisse, die er schildert, selts<strong>am</strong><br />

harmlos. ●<br />

REUTERS<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 7


Belletristik<br />

Roman Die österreichische Autorin Doris Knecht legt mit «Besser» ihr zweites grosses Werk vor. Darin<br />

beschreibt sie, warum sich ihre Heldin als Hochstaplerin fühlt<br />

Von der Unterschicht in die<br />

Wiener Schickeria<br />

Doris Knecht: Besser. Rowohlt,<br />

Berlin 2013. 285 Seiten, Fr. 28.50,<br />

E-Book 25.90.<br />

Von Sandra Leis<br />

Antonia Pollak führt ein Leben, von dem<br />

viele träumen: Sie hat einen umsichtigen<br />

Mann, der als Immobilienhändler<br />

und Kunsts<strong>am</strong>mler in den schicken<br />

Wiener Kreisen verkehrt. Sie hat zwei<br />

(meistens) schnucklige Kleinkinder, die<br />

– dem österreichischen Sozialstaat sei<br />

Dank – bereits den Kindergarten besuchen.<br />

Sie verfügt über eine Kreditkarte<br />

und hat viel freie Zeit, in der sie sich als<br />

Künstlerin betätigen kann. Im Moment<br />

allerdings ist sie eine «Künstlerin i. R.»,<br />

was sich nach ihren eigenen Angaben<br />

jederzeit wieder ändern kann.<br />

Alles paletti also, möchte man meinen.<br />

Doch das ist bloss die makellose<br />

Oberfläche. Darunter versteckt Antonia<br />

einen Liebhaber, der für Abwechslung<br />

im geordneten Alltag sorgt. Und, das ist<br />

gravierender, sie vertuscht ihre Vergangenheit,<br />

von der ihr Mann keine Ahnung<br />

hat. Sie ist die Tochter einer alkoholkranken<br />

Mutter und gerät als Teenager<br />

schliesslich auf die schiefe Bahn.<br />

Später wird sie heroinsüchtig, trägt eine<br />

wie auch immer geartete Mitschuld <strong>am</strong><br />

Tod einer alten Frau und verirrt sich in<br />

die Fänge eines ominösen Mannes, dessen<br />

äusserliches Merkmal eine grosse<br />

rote Narbe <strong>am</strong> Hals ist. Dieser Mann,<br />

der Inbegriff des Bösen, lauert ihr<br />

schliesslich in ihrem neuen properen<br />

Leben auf. Die beiden Welten drohen<br />

miteinander zu kollidieren, doch Antonia<br />

weist das Böse in die Schranken. Das<br />

alles ist sehr dick aufgetragen und wirkt<br />

arg konstruiert – mehr behauptet denn<br />

erzählt.<br />

Spitzfedrige Kolumnistin<br />

Glaubwürdig hingegen ist die Hauptfigur<br />

und Ich-Erzählerin, wenn sie schildert,<br />

wie es sich anfühlt, als Kind aus<br />

der Unterschicht plötzlich Teil der Wiener<br />

Schickeria zu sein. Und immer wieder<br />

die Blicke zu spüren, die sie der<br />

Hochstapelei überführen könnten. Antonia<br />

gehört durch Heirat zwar dazu,<br />

doch nie ganz. Ihr, die an enge, kleine<br />

Zimmer gewohnt war, sind grosse<br />

Räume immer noch fremd. Und sie<br />

weiss, dass sie nie so fantastisch aussehen<br />

wird wie andere in diesen Kreisen.<br />

«Auf diese angeboren makellose Art,<br />

wie es nur höhere Töchter draufhaben.<br />

So einen Teint kriegt man in der Unterschicht<br />

nicht zugeteilt, nicht mal in der<br />

Mittelschicht. […] Das hat man in den<br />

Genen oder man hat es nicht», heisst es<br />

im Roman «Besser» von Doris Knecht.<br />

In feinen Restaurants fühlt sich Antonia<br />

unwohl. Ihren Ad<strong>am</strong> behandeln die Kellner<br />

mit natürlichem Respekt. Bei ihr<br />

spüren sie, dass sie nichts verloren hat<br />

«in der Schönheit und Eleganz dieses<br />

Raumes».<br />

Bekannt geworden ist die gebürtige<br />

Vorarlbergerin als spitzfedrige Kolumnistin;<br />

in der Schweiz hat sie lange für<br />

den «Tages-Anzeiger» und «Das Magazin»<br />

geschrieben. Heute ist Knecht täglich<br />

im «Kurier» zu lesen; ihre wöchentliche<br />

F<strong>am</strong>ilienkolumne erscheint im<br />

«Falter». Die Fangemeinde ist riesig, für<br />

manch einen ist Knecht gar «die Garbo<br />

der Kolumnenkunst». Und wer sie leibhaftig<br />

erleben will, der besucht <strong>am</strong> besten<br />

die Wiener «rhiz-bar» – dort legt sie<br />

Einladung mit Kind<br />

und Nanny: Doris<br />

Knecht seziert<br />

Freundschaften.<br />

JODY HORTON / GALLERY STOCK<br />

regelmässig als DJane auf. Doch d<strong>am</strong>it<br />

nicht genug: Knecht, die Meisterin der<br />

Kurzstrecke, probiert auch die Langstrecke<br />

aus. Vor zwei Jahren veröffentlichte<br />

sie mit dem Roman «Gruber geht» ihr<br />

literarisches Debüt, landete einen Überraschungserfolg<br />

und obendrein auf der<br />

Longlist für den Deutschen Buchpreis.<br />

Derzeit wird das Buch verfilmt.<br />

Schildert Doris Knecht in ihrem Erstling<br />

das Leben eines frauenfressenden<br />

Kotzbrockens, der eines Tages an Krebs<br />

erkrankt und eine minimale Läuterung<br />

durchmacht, so kippt der Zweitling der<br />

Autorin auf den letzten vierzig Seiten<br />

um in Kitsch. Die zornige Antonia Pollak<br />

(«Ich wollte einen Gott, um ihn zu verfluchen»)<br />

erlebt aufgrund des Mordes<br />

an ihrer Putzfrau eine Katharsis, die zu<br />

viel des Guten ist.<br />

Die Stärken dieses Romans liegen anderswo<br />

– in der Milieustudie der Wiener<br />

Schickeria sowie in Figurenporträts.<br />

Wir wissen nun, warum und wie langjährige<br />

Freundschaften an Vegetarismus<br />

zerbrechen können. Wir wundern uns<br />

zus<strong>am</strong>men mit Antonia über Freunde,<br />

die zu einer Einladung immer ihre<br />

Nanny mitbringen, und denken nach<br />

über die Frage: «Wer hat […] die Hoheit<br />

über Rechte und Pflichten des Kindermädchens,<br />

die Arbeitgeber oder die<br />

Gastgeber?» Was immer Doris Knecht<br />

unters Mikroskop legt und seziert, sie<br />

beobachtet exakt wie eine Naturwissenschafterin<br />

und schreibt launig und klug<br />

wie eine Kolumnistin, ohne den Befund<br />

zu werten. Wobei ihre Sprache gelegentlich<br />

zu sehr ihre eigene ist und weniger<br />

die einer sozialen Aufsteigerin.<br />

Süffig zu lesen<br />

Zu Hochform läuft Doris Knecht auf,<br />

wenn sie einzelne Menschen beschreibt:<br />

Jennifer, die immer wieder von neuem<br />

an die grosse Liebe glaubt und trotzdem<br />

stets den gleichen Typ Mann auswählt.<br />

Oder Moritz, der beste Freund der Heldin,<br />

der neben ihrer Schwester als Einziger<br />

alles über sie weiss. Kurz vor Abschluss<br />

seines Medizinstudiums hat er<br />

aufgehört zu studieren. Nicht weil er die<br />

Prüfungen nicht geschafft hätte, sondern<br />

weil er plötzlich merkt, dass er<br />

doch nicht Arzt sein will. Er wollte weniger,<br />

als er haben konnte. «Weniger, als<br />

man von ihm als Sohn einer Medizinerf<strong>am</strong>ilie<br />

erwartete. Er empfand das als<br />

unerträgliche Last.» Moritz wird Krankenpfleger<br />

in der Psychiatrie, wo er die<br />

Protagonistin kennenlernt.<br />

«Besser» ist ein süffiger Unterhaltungsroman.<br />

Doch die Geschichte von<br />

der Frau mit der dunklen Vergangenheit<br />

funktioniert nicht. Da wird viel geraunt<br />

und angedeutet und zu wenig glaubhaft<br />

oder beängstigend erzählt. ●<br />

8 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013


Roman Der US-Autor Joey Goebel erzählt von einem Teenager, der als Einziger an<br />

seiner High School nicht dauernd an Sex und Pizza denkt<br />

Ich will nicht immer so kritisch sein<br />

Joey Goebel: Ich gegen Osborne. Aus dem<br />

Amerikanischen von Hans M. Herzog.<br />

Diogenes, Zürich 2013. 432 Seiten,<br />

Fr. 32.90, E-Book 25.40.<br />

Von Simone von Büren<br />

Die Schule als gesellschaftlicher Mikrokosmos<br />

ist in der angelsächsischen Literatur<br />

immer wieder ein ergiebiges Motiv<br />

– jüngst etwa im fulminanten Roman<br />

«Skippy stirbt» (Kunstmann 2011) des<br />

Iren Paul Murray, der anhand der Zustände<br />

an einer katholischen Internatsschule<br />

die irische Angewohnheit kritisiert,<br />

heikle Episoden der eigenen Geschichte<br />

über Generationen hinweg zu<br />

verschweigen.<br />

In Joey Goebels viertem Roman «Ich<br />

gegen Osborne» repräsentiert eine High<br />

School in Kentucky gar die Welt: «Osborne<br />

war die Welt in ihrer unabwendbarsten<br />

Form.» Zumindest steht sie für<br />

ein Amerika, das Ende der neunziger<br />

Jahre – der Roman spielt an einem einzigen<br />

Tag im Frühling 1999 – die aussereheliche<br />

Affäre seines Präsidenten zu<br />

verarbeiten versucht.<br />

Auch an der Osborne High School<br />

dreht sich alles um Sex, um «die Grosse<br />

Dumme Rumhurerei», wie es J<strong>am</strong>es<br />

Weinbach, der 17-jährige Ich-Erzähler,<br />

nennt. Der klapperdürre Teenager, der<br />

im Anzug zur Schule kommt und den<br />

generellen Mangel an Höflichkeit und<br />

Stil in seiner Altersgruppe beklagt, arbeitet<br />

an seinem ersten Roman über<br />

eine «geheimnisvolle Krankheit, die<br />

dazu führt, dass sich alle zurückentwickeln».<br />

In einer Mischung aus Wut und<br />

Überheblichkeit sieht er seine Mitschüler<br />

als «pickelgesichtige Trottel» mit<br />

«Kaugummi kauenden Kiefern», als<br />

hormongesteuerte «Deppen, die nur an<br />

Pizza dachten».<br />

Am ersten Schultag nach den Osterferien<br />

eskaliert J<strong>am</strong>es’ Wut, als seine bisherige<br />

Verbündete Chloe mit coolen<br />

Schuhen und überhaupt unangenehm<br />

verändert ausgerechnet mit seinem Erzfeind<br />

H<strong>am</strong>ilton, dem «ungekrönten<br />

König aller Bumser», anbändelt. Um<br />

sich an ihr und der ganzen hirnlosen<br />

Bande zu rächen, bringt J<strong>am</strong>es den Rektor<br />

durch Erpressung dazu, den Abschlussball<br />

abzusagen, und rückt dadurch<br />

ausnahmsweise ins Zentrum des<br />

Geschehens.<br />

Goebel, der mit literarischen Grössen<br />

wie T. C. Boyle und John Irving verglichen<br />

worden ist, gestaltet «Ich gegen<br />

Osborne» als Gefühlsprotokoll eines<br />

schwierigen Tages. Er unterteilt ihn in<br />

Lektionen und viele durch Minutenangaben<br />

gekennzeichnete Abschnitte. In<br />

der detaillierten emotionalen Aufzeichnung<br />

der Schulstunden von 7.47 bis 15.34<br />

dominieren J<strong>am</strong>es’ Wuttiraden, die so<br />

witzig wie langfädig geraten.<br />

Man hätte sich neben einem strengeren<br />

Lektorat mehr von diesen feinfühligen<br />

Momenten gewünscht, in denen die<br />

Gefühle durchscheinen, die die grosse<br />

Wut nur verdeckt: J<strong>am</strong>es’ Liebe für<br />

Chloe, seine Sehnsucht nach der Leichtigkeit<br />

seiner Altersgenossen, die Trauer<br />

um seinen eben verstorbenen Vater<br />

und seine Unsicherheit: «Wenn ein<br />

Seufzer menschliche Form annehmen<br />

könnte, würde er wohl wie ich mit siebzehn<br />

aussehen.»<br />

Die Wut ist nicht neu im Werk des<br />

33-jährigen Autors. Schon in früheren<br />

Romanen hat Goebel scharfzüngig abgerechnet<br />

mit gesellschaftlichen Missständen<br />

und engstirnigen Haltungen in<br />

Amerika, wenn er zum Beispiel fünf<br />

Aussenseiter in einer gottverlassenen<br />

Kleinstadt gegen das System anrennen<br />

liess («Freaks», in Deutsch 2007 erschienen)<br />

oder die Entfremdung zwischen<br />

Trailer-Park-Bewohnern und den<br />

republikanischen Politikern beschrieb,<br />

die ihre Stimme vertreten sollten<br />

(«Heartland», 2010).<br />

Auffallend ist im neuen Roman die<br />

Häufung von J<strong>am</strong>es’ Einsichten und Vorsätzen<br />

<strong>am</strong> Ende: Ich mag nicht immer so<br />

überkritisch sein, ich will die Menschen<br />

mögen, ich hätte meine Energie gescheiter<br />

in meinen Roman investiert, ich<br />

möchte andere unbeschwert anfassen<br />

können.<br />

Sogar in Anbetracht der überdurchschnittlich<br />

unbeständigen Emotionalität<br />

von Teenagern geschehen diese Veränderungen<br />

zu plötzlich, um psychologisch<br />

plausibel zu sein. Es wirkt eher so,<br />

als ob der Autor sich vorgenommen<br />

hätte, auf einer positiven Note aufzuhören,<br />

versöhnlich statt verbittert. Vielleicht<br />

gibt es in den USA unter Ob<strong>am</strong>a<br />

ein bisschen weniger Anlass für Wut als<br />

unter G. W. Bush? ●<br />

Harry Callahan Ein Fotoklassiker neu zu entdecken<br />

Die Farbe der Tür ist verwittert, aber das Licht<br />

verzaubert das Blau und schafft mit dem Rot der<br />

Äpfel einen intensiven Klang. Für einen Moment ist<br />

der Alltag verzaubert, und eine banale Situation wird<br />

der Zeit entrückt. Harry Callahan fand solche Motive<br />

bei seinen zahllosen Streifzügen durch <strong>am</strong>erikanische<br />

Städte. Er fotografierte Schaufenster, Gebäude und<br />

Passanten, und auf vielen Bildern glauben wir etwas<br />

von der Atmosphäre eines Ortes und eines Jahrzehnts<br />

zu erkennen. Die Aufnahme von den roten<br />

Äpfeln wurde 1951 in Chicago gemacht, man kann<br />

darin die Schlichtheit und die Sehnsucht der Nachkriegsjahre<br />

spüren. In Providence und Atlanta hält<br />

der Fotograf Häuser und Bürobauten wie abstrakte<br />

Strukturen fest, die der industriellen Anonymität<br />

jener Jahre entsprechen. Callahan hat sich früh vom<br />

Realismus der Street Photography abgewandt und<br />

das Bildmedium künstlerisch emanzipiert. Das<br />

geschah mit skulpturalen und zeichnerischen<br />

Abstraktionen auf den Schwarz-Weiss-Aufnahmen<br />

und mit einer neuen Handhabung der Farbe. Der<br />

1912 geborene Fotograf war einer der ersten, die sie<br />

als Kompositionsmittel verstanden, gleich ob er<br />

in Portugal, Irland oder Amerika fotografierte.<br />

In Amerika hoch geschätzt, ist Harry Callahan in<br />

Europa noch wenig bekannt. Der Band, der eine Ausstellung<br />

in H<strong>am</strong>burg begleitet (Deichtorhallen, bis<br />

16. Juni 2013) stellt das Werk in seinen Facetten vor.<br />

Gerhard Mack<br />

Dirk Luckow, Sabine Schnakenberg (Hrsg.): Harry<br />

Callahan. Kehrer, Heidelberg 2013. 256 Seiten,<br />

198 Abbildungen, Fr. 77.90.<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 9


Belletristik<br />

Lyrik Der schizophrene Künstler Ernst Herbeck (1920–1991) verbrachte Jahrzehnte in der<br />

Nervenheilanstalt Gugging bei Wien. Dort ermunterte ihn sein Psychiater zum Schreiben<br />

Eine Art universales<br />

Ur-Gewisper<br />

Ernst Herbeck: Der Hase!!!! Ausgewählte<br />

Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2013.<br />

264 Seiten, Fr. 33.90.<br />

Von Bruno Steiger<br />

1966 gab der Psychiater Leo Navratil in<br />

der kleinen, heute legendären Studie<br />

«Schizophrenie und Sprache» erstmals<br />

Einblick in das literarische Schaffen seines<br />

Patienten Ernst Herbeck. Dieser<br />

schrieb d<strong>am</strong>als noch unter dem Pseudonym<br />

Alexander. Sein erstes Gedicht<br />

verfasste er 1960, im Alter von 40 Jahren,<br />

als Insasse der niederösterreichischen<br />

Landesnervenklinik Gugging.<br />

Das Gedicht, sicherlich eines der ergreifendsten<br />

der deutschsprachigen Literatur,<br />

kann nicht oft genug zitiert werden:<br />

«Im Herbst da reiht der / Feenwind<br />

/ da sich im Schnee die / Mähnen treffen.<br />

/ Amseln pfeifen heer / im Wind<br />

und fressen.»<br />

Was daran, nebst all den geradezu<br />

vir tuos anmutenden formalen Tricks<br />

und Regelbrüchen, bis heute tief bewegt,<br />

ist wohl die horrende Kälte in den<br />

Versen, ebenso die Abwesenheit alles<br />

Menschlichen. Es tritt in diesem «Naturgedicht»<br />

eine Verlorenheit zutage,<br />

die man nur erschütternd nennen kann.<br />

Den Eindruck, man habe es mit einer<br />

Art universalem Ur-Gewisper zu tun,<br />

bestätigt der Dichter selbst, in einem<br />

wenig später entstandenen Vierzeiler,<br />

wo er sich als einen Propheten bezeichnet,<br />

dem es möglich geworden sei,<br />

«Gottes Vers zu ebnen».<br />

Befremdlich schöne Poesie<br />

Navratils stets reich dokumentierte<br />

Hinweise auf Herbeck sorgten vorab in<br />

Literatenkreisen für Aufregung. Nicht<br />

nur bei Ernst Jandl und Friederike Mayröcker<br />

lösten die so befremdlich schönen<br />

Gedichte ein begeistertes Echo aus,<br />

auch W. G. Sebald feierte, etwa in seinem<br />

Essayband «Die Beschreibung des<br />

Unglücks», die Hervorbringungen seines<br />

leidgeprüften Kollegen. Mittlerweile<br />

sind etliche S<strong>am</strong>mlungen von<br />

Herbecks Texten erschienen. Die hier<br />

anzuzeigende jüngste Auswahl besorgte<br />

Gisela Steinlechner, die viel bislang<br />

Unveröffentlichtes zus<strong>am</strong>mengetragen<br />

und den Band mit einem ebenso kenntnisreichen<br />

wie inspirierten Nachwort<br />

versehen hat. Der Buchtitel stellt mit<br />

seinem vielfach bekräftigten «Hasen»<br />

den Grundtenor einer Poesie heraus, die<br />

unserer als entleert wahrgenommenen<br />

Welt so etwas wie Substantialität einschreiben<br />

möchte.<br />

Oder zu möchten hat. Denn aus eigenem<br />

Antrieb auch nur ein einziges Wort<br />

zu Papier zu bringen, blieb dem seelisch<br />

Therapiestunde mit<br />

dem Zwangspoeten<br />

Ernst Herbeck, im<br />

Hintergrund sein<br />

Psychiater Leo<br />

Navratil. Nervenklinik<br />

Gugging, 1978.<br />

Derangierten zeitlebens versagt. Herbeck<br />

schrieb nur in der Therapiestunde,<br />

auf Drängen von Navratil hin, der ihm<br />

jeweils den Titel vorgab. Ein leiser Widerwille<br />

des zum Dichten Angehaltenen<br />

kommt nicht selten explizit zum Ausdruck,<br />

etwa in dem eingangs zitierten<br />

Meisterwerk, wo Herbeck das Motiv<br />

«Der Morgen» mutwillig in ein frostiges,<br />

ausserhalb jeder denkbaren Tageszeit<br />

liegendes Herbstszenario umbiegt.<br />

Auch für die Fälle, wo Herbeck der vorgegebene<br />

Titel nur gerade einen kleinen<br />

Einwurf wert war, finden sich zahlreiche<br />

Beispiele in dem Buch, etwa zum<br />

einigermassen provokant wirkenden<br />

Stichwort «Selbstbewusstsein», das der<br />

nikotinsüchtige Zwangspoet mit einem<br />

souveränen «Wenn man raucht erübrigt<br />

es / sich.» abtut.<br />

Von solitärem Rang<br />

Auf die Frage, ob die vier Ausrufezeichen<br />

des Titelgedichts vom zeitlebens<br />

unter der angeborenen Lippen-Kiefer-<br />

Gaumenspalte («Hasenscharte») leidenden<br />

Dichter oder gar von seinem<br />

Arzt st<strong>am</strong>men, lässt sich keine schlüssige<br />

Antwort finden. Wie auch immer sie<br />

ausfiele, <strong>am</strong> solitären Rang von Herbecks<br />

Werk würde sie nichts ändern.<br />

Wie Gisela Steinlechner in ihrem Nachwort<br />

hervorhebt, lässt sich bei Herbeck<br />

eine Stimme vernehmen, «die ebenso an<br />

die Grundlagen wie an die Grenzen der<br />

Poesie rührt». Gerade d<strong>am</strong>it unterscheiden<br />

sich die Gedichte in aller wünschenswerten<br />

Deutlichkeit von den Designprodukten<br />

der heute gängigen Spitzenlyrik.<br />

Auch wenn gesagt werden<br />

kann, dass die Texte des 1991 «ungeheilt»<br />

Verstorbenen ihren frühen Widerhall<br />

vorab in einem von Sprachkritik<br />

und Experimentierfreude geprägten<br />

Umfeld fanden, eignet ihnen eine Ursprünglichkeit,<br />

die sich jeder literaturgeschichtlichen<br />

Einordnung entzieht.<br />

Eine gewisse Nähe von Herbecks<br />

Texten zu den dichterischen Erzeugnissen<br />

des Multikünstlers Dieter Roth darf<br />

gleichwohl festgestellt werden. Bei beiden<br />

ist das Prädikat «zustandsgebunden»<br />

nicht gänzlich fehl <strong>am</strong> Platz. Für<br />

Herbeck ebenso wie für Roth hatte der<br />

Schreibakt erste Priorität, noch vor allen<br />

poetischen Absichten und Formvorstellungen.<br />

Herbecks Frage an seinen Arzt,<br />

ob er «unbedingt alles» schreiben solle,<br />

dürfte sich auch Dieter Roth gestellt<br />

haben. In einem frappant an Gertrude<br />

Stein erinnernden kleinen Prosastück<br />

spricht Herbeck von «neutralen Texten»,<br />

die sich in seiner Lyrik wie noch<br />

im Schrifttum der Profanwelt unablässig<br />

vermehren und verzweigen würden. Es<br />

könnte nicht zuletzt diese von allem<br />

kunsthaften Streben befreite «Neutralität»<br />

sein, in der die Sprache selbst zu<br />

Wort kommt. Die an unsere ältesten Bewusstseinsschichten<br />

rührende Authentizität<br />

einer «Literatur von Geisteskranken»<br />

ist d<strong>am</strong>it nicht hinreichend erklärt.<br />

Ihre verstörende, noch diesseits aller<br />

«Hermetik» liegende Unauflösbarkeit<br />

ist es denn auch, die sie vor jedem Simulationsversuch<br />

schützt – zum Glück für<br />

uns Normalneurotiker und, es lässt sich<br />

nur erhoffen, noch für lange Zeit. ●<br />

MICHAEL HOROWITZ / ANZENBERGER<br />

10 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013


E-Krimi des Monats<br />

Im Hotel zugestochen<br />

Kurzkritiken Belletristik<br />

Nika Lubitsch: Der 7. Tag. MVG-Verlag,<br />

München 2013. 192 Seiten, Fr. 13.40,<br />

E-Book 3.40.<br />

Sophokles: Elektra. Griechisch/Deutsch.<br />

Übersetzung K. Steinmann. Recl<strong>am</strong>,<br />

Ditzingen 2013. 197 Seiten, Fr. 9.40.<br />

Im Reich der Wünsche. Die schönsten<br />

Märchen deutscher Dichterinnen. Hrsg.<br />

Shawn C. Jarvis. C. H. Beck. 368 S., Fr. 28.40.<br />

Keine vier Franken kostet der E-Book-<br />

Krimi mit dem blutigen Cover. Das hält<br />

die Erwartungen tief. Zumal er im Eigenverlag<br />

erschienen ist. Und doch: Wochenlang<br />

führte «Der 7. Tag» der<br />

Berlinerin Nika Lubitsch die Kindle-<br />

Krimi-Bestsellerliste an. Viele Leser<br />

kommentierten begeistert. Darum an<br />

dieser Stelle eine Rezension zu einem<br />

4-Franken-Krimi aus einem Eigenverlag.<br />

Das Wichtigste vorweg: Das Buch<br />

bietet mehr, als es verspricht. Der<br />

Krimi ist unkonventionell erzählt, gegliedert<br />

in mehrere Teile, in denen<br />

gleiche Umstände aus unterschiedlichen<br />

Perspektiven geschildert werden.<br />

Und: Er ist spannend. Man liest ihn in<br />

einem Zug, was aber auch heisst: Sehr<br />

anspruchsvoll ist die Lektüre nicht.<br />

Dafür trumpft der Plot <strong>am</strong> Schluss mit<br />

einer überraschenden Wendung auf.<br />

Die Handlung dreht sich um Sybille<br />

Thalheim, eine Frau, die alles hat, was<br />

es zum Glücklichsein braucht – und<br />

alles verliert. Ihr Leben verwandelt<br />

sich aufgrund eines Ereignisses in<br />

einen Albtraum: Ihr Ehemann verschwindet.<br />

Sie verliert ihr ungeborenes<br />

Kind, ihr Geld, ihr Haus, auch ihre<br />

Mutter stirbt. Alles zerfliesst. Und<br />

dann taucht der Vermisste plötzlich<br />

wieder auf: Als Toter in einem Hotelzimmer,<br />

mit 18 Messerstichen ermordet.<br />

Sybille Thalheim wird verhaftet –<br />

und wegen Mordes verurteilt. Obwohl<br />

sie sich nicht an die Tat erinnern kann<br />

– oder nicht erinnern will?, wie sie<br />

sich selber fragt. «Manche Menschen<br />

werden als Opfer geboren. Bis vor<br />

zwei Jahren glaubte ich, dass ich nicht<br />

dazu gehöre. Seit sechs Monaten sitze<br />

ich in einer Zelle und warte darauf, für<br />

ein Verbrechen verurteilt zu werden,<br />

das ich nicht begangen habe», schreibt<br />

sie in ihr Tagebuch, in dem sie die Ereignisse<br />

vor Gericht als Ich-Erzählerin<br />

schildert.<br />

Wie in einem Puzzle muss sich der<br />

Leser die Geschichte selbst zus<strong>am</strong>mensetzen<br />

– mit Sybille Thalheims Bericht,<br />

mit <strong>Zeitung</strong>sartikeln über das<br />

Verfahren und mit Erzählungen aus<br />

der Aussenperspektive. Nur wer alle<br />

Seiten kennt, realisiert, dass alles anders<br />

war, als man sich dachte.<br />

«Der 7. Tag» ist nun auch als Taschenbuch<br />

erschienen. Ein später Erfolg<br />

für Nika Lubitsch. Bereits mit 26<br />

hat die heute 60-Jährige versucht,<br />

einen Krimi zu publizieren. Ein einziger<br />

Verlag hat ihr Manuskript nicht<br />

entsorgt, sondern zurückgeschickt.<br />

Im Kommentar stand:<br />

«Wir verlegen keine Kochbücher.»<br />

Von Christine<br />

Brand ●<br />

Die Geschichte der griechischen Königstochter<br />

Elektra, die mit ihrem Bruder<br />

Orest Blutrache an ihrer Mutter und<br />

an ihrem Stiefvater übt, wurde literarisch<br />

immer wieder gestaltet. Sophokles,<br />

Aischylos und Euripides haben<br />

sich des mythologischen Stoffs auf ganz<br />

verschiedene Weise angenommen. Das<br />

Dr<strong>am</strong>a des Sophokles legt der renommierte<br />

Luzerner Übersetzer Kurt Steinmann,<br />

dem wir eine formidable neue<br />

Odyssee verdanken, nun in einer mustergültigen<br />

neuen Edition vor: Seine<br />

Versübertragung ist exakt und auf dem<br />

neuesten Stand der Forschung, aber<br />

auch sprech- und spielbar. Die zweisprachige<br />

Ausgabe wird Philologen erfreuen,<br />

das luzide, ausführliche Nachwort<br />

von Markus Janka, welches die Tra -<br />

gödie gedanklich und zeitlich zwischen<br />

Aischylos und Euripides verortet,<br />

spricht auch Kulturhistoriker an.<br />

Manfred Papst<br />

Georges Perec: Anton Voyls Fortgang.<br />

Roman. Deutsch von E. Helmlé. Diaphanes,<br />

Zürich 2013. 410 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Der französische Autor und Filmemacher<br />

Georges Perec (1936-1982) zählte<br />

zur legendären Oulipo-Gruppe, die sich<br />

den waghalsigsten Sprachexperimenten<br />

verschrieb. 1969 verfasste er aufgrund<br />

einer Wette den Roman «La Disparition»,<br />

in dem der Buchstabe E kein einziges<br />

Mal auftaucht. Das ist zuerst einmal<br />

eine Spielerei. Doch das Buch bietet<br />

über die blosse Artistik hinaus eine<br />

vergnügliche und erhellende Lektüre.<br />

Erzählt wird eine krude Geschichte zwischen<br />

Revolutionskomödie und Krimiparodie.<br />

Eugen Helmlé hat das Kunststück<br />

fertiggebracht, den Roman ohne<br />

ein einziges E (den häufigsten Vokal sowohl<br />

im Französischen als auch im<br />

Deutschen) zu übertragen. 1986 ist seine<br />

kongeniale Übersetzung bei Zweitausendeins<br />

erschienen; nun liegt sie, erweitert<br />

um ein kundiges Nachwort von<br />

Ralph Schock, neu vor. Ein helles Vergnügen<br />

für alle Sprach-Turner!<br />

Manfred Papst<br />

Für dieses von Isabel Grotze Holtforth<br />

bestrickend schön illustrierte Buch benötigt<br />

man ein gewisses literaturhistorisches<br />

Interesse. In nicht wenigen der<br />

21 Märchen aus der Feder von 21 deutschen<br />

Autorinnen, zu denen Katharina<br />

die Grosse (1729–1796) ebenso gehört<br />

wie Fanny Lewald (1811–1889), die Frauenrechtlerin<br />

Hedwig Dohm (1831–1919)<br />

und die promovierte Philosophin Ricarda<br />

Huch (1864–1947), dominieren pädagogische<br />

Ansinnen über Fabulierlust.<br />

Das mag auch mit der Grund sein, weshalb<br />

sie weitgehend unbekannt beziehungsweise<br />

vergessen sind, was – nebenbei<br />

bemerkt – auch die Mehrheit der<br />

Grimm’schen Märchen betrifft. Wenn<br />

auch nicht als Gute-Nacht-Geschichten<br />

für die Kinder, so lohnt sich die Lektüre<br />

dennoch: Als Türöffner zu anderen Texten<br />

dieser Schriftstellerinnen, die zu<br />

Unrecht kaum mehr gelesen werden.<br />

Regula Freuler<br />

Andrzej Stasiuk: Kurzes Buch über das<br />

Sterben. Deutsch von Renate Schmidgall.<br />

Suhrk<strong>am</strong>p 2013. 112 S., Fr. 11.90, E-Book 9.90.<br />

1960 in Warschau geboren, seit Jahren<br />

aber in der Abgeschiedenheit der Niederen<br />

Beskiden lebend, gehört Andrzej<br />

Stasiuk zu den wichtigsten polnischen<br />

Autoren seiner Generation: ein kritischer<br />

Kopf, der sich Anfang der 1980er<br />

Jahre in der pazifistischen Oppositionsbewegung<br />

engagiert hat und wegen Desertion<br />

aus dem Militärdienst anderthalb<br />

Jahre im Gefängnis sass. Aus den<br />

Erfahrungen, die er dort gemacht hat,<br />

entstand 1992 sein aufsehenerregendes<br />

Debüt «Die Mauern von Hebron». In<br />

seinem neuesten Buch, das vier Geschichten<br />

enthält, setzt er sich mit seinen<br />

persönlichen Erfahrungen mit dem<br />

Sterben und dem Tod auseinander. Mal<br />

geht es um seine Grossmutter, mal um<br />

seine Hündin, dann wieder um enge<br />

Freunde. Alles<strong>am</strong>t sind es autobiografische<br />

Texte, in denen sich analytische<br />

Selbstbefragung und Mitgefühl sicher<br />

die Waage halten.<br />

Regula Freuler<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 11


Porträt<br />

Der Schriftsteller und Arzt Alaa al-Aswani kämpfte auf dem Tahrir-Platz<br />

für Freiheit und demokratische Rechte in Ägypten. Nun sieht er sie<br />

gefährdet durch eine Diktatur der Muslimbrüder. Michael Holmes hat<br />

den Autor in seiner Praxis in Kairo besucht<br />

«Wir Ägypter sind<br />

wieder im Rennen»<br />

Fragt man liberale Aktivisten, welche die ägyptische<br />

Revolution im Frühling 2011 geplant und<br />

zum Sieg geführt haben, nach ihren Vorbildern,<br />

fällt ein N<strong>am</strong>e besonders oft: «Ohne Alaa al-<br />

Aswani wäre all das nicht möglich gewesen».<br />

Sie sprechen gern von diesem Mann, der ihnen<br />

Mut, Selbstachtung und Hoffnung gibt. «Er<br />

schreibt, was wir fühlen.»<br />

Alaa al-Aswani ist Schriftsteller, Revolutionär<br />

und Zahnarzt. Seine Praxis liegt in Garden<br />

City, einem wohlhabenden, gepflegten Stadtteil<br />

Kairos <strong>am</strong> östlichen Nilufer mit Luxushotels,<br />

Villen im klassisch-europäischen Stil und grünen<br />

Gärten. Sie ist klein – zwei Zimmer, hellgrüne<br />

Wände, kaum ein Bild. Vom Balkon hängt<br />

die ägyptische Fahne. Der Hausherr empfängt<br />

im eleganten Anzug – fester Händedruck, breites<br />

Lächeln. Er ist gross, kräftig, charismatisch<br />

und mit einem natürlichen Selbstbewusstsein<br />

gesegnet. Wäre er nicht so freundlich, könnte<br />

er fast bedrohlich erscheinen. Der Zahnarzt<br />

setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Ich nehme<br />

neben dem Zahnarztstuhl Platz.<br />

Wie hat er selbst die Revolution erlebt? «In<br />

den Tagen der Revolution auf dem Tahrir und<br />

auf vielen anderen Plätzen in ganz Ägypten<br />

haben wir uns in bessere Menschen verwandelt.<br />

Wer frisch verliebt ist, wird oft zu einem<br />

besseren Menschen. Während dieser Tage<br />

waren wir alle verliebt», erklärt der Schriftsteller.<br />

Man habe sich gegenseitig geholfen, war<br />

hervorragend organisiert und blieb friedlich,<br />

Alaa al-Aswani<br />

Alaa al-Aswani wurde 1957 in Kairo in eine<br />

weltoffene Mittelschichtf<strong>am</strong>ilie geboren. Sein<br />

Vater war Anwalt und Schriftsteller. In Kairo<br />

besuchte er eine französische Schule. Das<br />

Studium der Zahnmedizin führte ihn nach<br />

Chicago. Heute lebt er mit seiner Frau und drei<br />

Kindern in Kairo. Im Jahre 2002 veröffentlichte<br />

er den ersten Roman «Der Jakubijan-Bau», ein<br />

Bestseller in der arabischen Welt, heute in 23<br />

Sprachen übersetzt. 2006 erschien der Roman<br />

«Chicago» (Lenos 2012). Das Buch «Im Lande<br />

Ägypten» (Fischer 2012) vers<strong>am</strong>melt die<br />

wichtigsten <strong>Zeitung</strong>skolumnen und politischen<br />

Kommentare des Autors.<br />

12 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

«Demokratie ist kein<br />

Picknick! Alle westlichen<br />

Gesellschaften haben<br />

Jahrzehnte gebraucht, bis<br />

ihre Demokratien voll<br />

entwickelt waren.»<br />

selbst als Menschen vor aller Augen von Scharfschützen<br />

ermordet wurden und niemand wusste,<br />

wer als nächster stirbt.<br />

2002 wird Alaa al-Aswani mit seinem Meisterstück<br />

«Der Jakubijan-Bau» schlagartig berühmt.<br />

In seinem ersten Roman zeichnet der<br />

Autor ein vielschichtiges, buntes Panor<strong>am</strong>a der<br />

ägyptischen Gesellschaft. Der mehrstöckige<br />

Wohnkomplex im Art-déco-Stil ist zunehmend<br />

dem Verfall preisgegeben und beherbergt Dutzende<br />

Charaktere, die viele Ägypter an reale<br />

Personen denken lassen. Auf dem Dach hausen<br />

die Ärmsten in schäbigen Hütten. Unter ihnen<br />

wohnen die Bessergestellten, meist durch<br />

Härte, Tricks und Beziehungen zu Geld gekommen.<br />

Al-Aswani bricht dabei viele Tabus der<br />

ägyptischen Gesellschaft: Ein junges Mädchen<br />

wird von ihren Arbeitgebern zum Sex genötigt.<br />

Der Sohn des Türhüters darf nicht Polizist werden,<br />

wird graus<strong>am</strong> gefoltert und mutiert<br />

zum rachedurstigen Gotteskrieger. Ein sensibler<br />

Schwuler verschafft sich als Chefredakteur<br />

einer angesehenen <strong>Zeitung</strong> Respekt. Und an<br />

der Spitze der kleptokratischen Machtpyr<strong>am</strong>ide<br />

steht der Präsident. Weil er die Sorgen und<br />

Sehnsüchte der kleinen Leute in der Riesenmetropole<br />

Kairo schildert, wird al-Aswani oft mit<br />

dem ägyptischen Nobelpreisträger Nagib<br />

Machfus verglichen.<br />

Hat al-Aswani die Revolution kommen<br />

sehen? «Ich habe grosse Veränderungen erwartet<br />

– im Gegensatz zu fast allen westlichen Experten»,<br />

sagt der Autor. Schon 2010 war er<br />

überzeugt, dass Ägypten reif für einen Wechsel<br />

sei. Er höre den jungen Aktivisten, seinen Patienten<br />

und Lesern genau zu, wenn sie ihm aus<br />

ihrem Leben erzählten. Inzwischen fragen sich<br />

viele, ob die Revolution nur ein schöner Traum<br />

gewesen sei. Die ersten Wahlen nach der Revolution<br />

waren trotz Unregelmässigkeiten die<br />

freiesten in der Geschichte des Landes. Trotzdem<br />

brachten sie mit einer knappen Mehrheit<br />

die isl<strong>am</strong>istische Muslimbruderschaft an die<br />

Macht. Die Einheit vom Tahrir-Platz ist darüber<br />

zerbrochen.<br />

Als Besucher in Kairo erlebt man, wie täglich<br />

Demonstrationszüge gegen die Regierung von<br />

Moh<strong>am</strong>med Mursi durch die Strassen ziehen.<br />

Häufig kommt es zu schweren Auseinandersetzungen.<br />

Noch immer werden Demonstranten<br />

verprügelt, gefoltert, erschossen. In rechtsfreien<br />

Räumen häufen sich Diebstähle und Vergewaltigungen.<br />

Touristen meiden das Land ebenso<br />

wie die dringend benötigten Investoren. Das<br />

Wirtschaftswachstum sinkt. Haben sich die<br />

Revolutionäre geirrt? Ist Ägypten noch nicht<br />

reif für die Demokratie? Al-Aswanis Antwort<br />

kommt sofort: «Nein! Demokratie ist kein Picknick.»<br />

Alle westlichen Gesellschaften hätten<br />

Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gebraucht,<br />

bis ihre Demokratien voll entwickelt waren.<br />

«Wir Ägypter sind nach dreissig Jahren Missherrschaft<br />

endlich wieder im Rennen.»<br />

Wie ein Bruchpilot <strong>am</strong> Steuer<br />

Immer wieder steht der Schriftsteller auf,<br />

schreitet durch den Raum. «Die Diktatur hat<br />

uns paralysiert. Jetzt sind wir auf dem richtigen<br />

Weg.» Die Auseinandersetzung mit dem politischen<br />

Isl<strong>am</strong> sei eine Prüfung, die drei Jahrzehnte<br />

hinausgeschoben worden sei. Die Mubarak-<br />

Diktatur habe die Isl<strong>am</strong>isten gestärkt. Doch<br />

nun verlören die Muslimbrüder an Popularität:<br />

«Selbst völlig ungebildete Menschen sehen,<br />

dass diese Regierung unglaublich inkompetent<br />

ist.» Auch die neue Regierung erfüllt keine der<br />

grundlegenden Aufgaben. Lärm, Abfall und<br />

Korruption sind allgegenwärtig. Der Verkehr<br />

ist lebensgefährlich.<br />

Der Zahnarzt bohrt tief. Al-Aswanis <strong>Zeitung</strong>skolumnen<br />

führen immer wieder zu Debatten.<br />

Mit spitzer Feder hat er schon 2005 bis<br />

2010 die brutale Repression, Vetternwirtschaft,<br />

religiöse Doppelmoral und Frauenverachtung<br />

angeprangert. Den Extremisten aller Seiten<br />

wirft er vor, die höchsten Ideale der Ägypter in<br />

ihr genaues Gegenteil zu verkehren. Als Patriot<br />

streitet er für das Recht, das eigene Land zu kritisieren.<br />

Als frommer Moslem verteidigt er<br />


«Während dieser Tage waren wir alle verliebt», sagt der Kairoer Zahnarzt und Bestsellerautor Alaa al-Aswani über die Zeit auf dem Tahrir-Platz.<br />

BALTEL / SIPA / DUKAS<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 13


10CFWMMQ7DMAwDXySDomyrisYgW9Ch6O6l6Nz_T7WzZeCBw5Hnma3gyn4838crFaiUifDIFq3Qe2qweOuJCiPUNq1wZZA3X6DRDTaWI6gyq052IcfDMdTWw1hrWPl9vn_ttMs1gAAAAA==<br />

10CAsNsjY0MDAx0gUSluaWANEM-KcPAAAA<br />

Porträt<br />

den toleranten Isl<strong>am</strong> gegen die Isl<strong>am</strong>isten.<br />

Und fast alle Texte enden mit der Parole: «Demokratie<br />

ist die Lösung.» Al-Aswani zählt zu<br />

den Gründern der Widerstandsgruppe «Kefaya»,<br />

wurde bespitzelt, verleumdet. Nach der<br />

Revolution nahm er in einer legendären Fernsehdebatte<br />

den von Mubarak ernannten Premierminister<br />

Ahmad Shafiq so in die Mangel,<br />

dass dieser <strong>am</strong> folgenden Tag zurücktrat.<br />

Auch fromme Ägypter, sagt al-Aswani, der<br />

gerne Bilder braucht, begännen zu verstehen,<br />

wie gefährlich der politische Missbrauch der<br />

Religion sei: «Die Muslimbrüder haben das<br />

Flugzeug n<strong>am</strong>ens Ägypten entführt. Jetzt versuchen<br />

sie verzweifelt herauszufinden, wie<br />

man eine solche Maschine fliegt.» Mit kindlichem<br />

Vergnügen spielt der Zahnarzt einen tollpatschigen<br />

Bruchpiloten, der hektisch <strong>am</strong> Steuer<br />

dreht und wahllos Knöpfe drückt.<br />

▲<br />

«Mursi hat keinen Realitätsbezug»<br />

Dann wird er ernst. «Wir leben heute in einer<br />

faschistischen Diktatur». Die Muslimbrüder,<br />

die glaubten, den Willen Gottes zu kennen und<br />

mithin alles zu dürfen, selbst foltern und morden,<br />

versuchten die Macht ganz an sich zu reissen.<br />

Gerade Schriftsteller wie Mario Vargas<br />

Llosa oder Gabriel Garcia Marquez hätten wunderbar<br />

beschrieben, wie Diktatoren zunehmend<br />

den Kontakt zur Realität und zum Volk<br />

verlieren, weil sie von Bewunderern umgeben<br />

sind, die ihnen nur sagen, was sie hören wollen.<br />

«Mubarak hatte <strong>am</strong> Ende seiner Herrschaft<br />

jeden Kontakt zur Realität verloren. Mursi hat<br />

ihn schon verloren, als er Präsident wurde.»<br />

Trotz allem bleibt er optimistisch: Die ägyptische<br />

Zivilgesellschaft sei stark. Einfache ebenso<br />

wie prominente Ägypter kritisierten heute<br />

offen die Regierung, auf der Strasse, im Fernsehen,<br />

in den <strong>Zeitung</strong>en: «Wir werden einander<br />

beistehen. Wir haben keine Angst und sind auf<br />

alles vorbereitet. Wir erleben die zweite Welle<br />

der Revolution.»<br />

2006 hat al-Aswani seinen Roman «Chicago»<br />

veröffentlicht, der im Milieu ägyptischer Studenten<br />

an der University of Illinois spielt, wo er<br />

selbst studiert hat. Unter Stipendiaten und emigrierten<br />

Akademikern tobt der Konflikt zwischen<br />

Tradition und Moderne, verinnerlichten<br />

Kulturnormen und Freizügigkeit. Es geht im<br />

Buch um Abtreibung, Selbstbefriedigung und<br />

die Liebe zwischen einem Ägypter und einer<br />

Jüdin. Das Niveau des «Jakubijan-Bau» erreicht<br />

«Chicago» nicht mehr. Die Darstellung Amerikas<br />

enthält Klischees und Übertreibungen. Al-<br />

Aswani versteht offensichtlich mehr von den<br />

Institutionen als vom Alltag der westlichen<br />

Welt. In zahlreichen Kolumnen hat er seinen<br />

ägyptischen Lesern in einfachen Worten die<br />

Prinzipien der offenen Gesellschaft erläutert.<br />

Der Protest geht weiter: 25. Januar 2013, zweiter Jahrestag des Volksaufstandes auf dem Tahrir-Platz in Kairo.<br />

Auch deshalb verdient seine scharfe Kritik an<br />

der massiven westlichen Unterstützung für<br />

Mubarak unsere Aufmerks<strong>am</strong>keit.<br />

Vom Westen als einer Einheit zu sprechen,<br />

sei genauso falsch wie alle Vorurteile gegen<br />

«die» Araber, meint Alaa al-Aswani: «Die meisten<br />

Menschen im Westen wollen Menschenrechte<br />

für alle. Dennoch glauben sogar einflussreiche<br />

Denker, dass die armen Länder nicht<br />

bereit seien für die Demokratie.» Er zündet<br />

sich eine Zigarette an und öffnet eine Coladose.<br />

Die meisten westlichen Regierungen würden<br />

sich nicht für die Leiden der Ägypter interessieren.<br />

Sie kämen gut mit korrupten Diktaturen<br />

zurecht, weil diese, immer für ausreichend<br />

«Viele Künstler unterstützen<br />

die Revolution. Aber Kunst<br />

kann Politik nicht verändern.<br />

Kunstwerke sensibilisieren<br />

für die Bedürfnisse und<br />

Ängste anderer Menschen.»<br />

Schmiergeld, die westlichen Sicherheits- und<br />

Wirtschaftsinteressen bedienten. «Nun unterstützen<br />

die USA sogar die Muslimbrüder.» Er<br />

zuckt mit den Schultern. Man sieht ihm die Enttäuschung<br />

an.<br />

Welche Rolle spielen die Kulturschaffenden<br />

beim ägyptischen Frühling? «Viele Künstlerinnen<br />

und Künstler unterstützen die Revolution.»<br />

Aber Kunst könne die Politik nicht verändern.<br />

Grosse Kunstwerke sensibilisierten für<br />

die Bedürfnisse, Ängste und Situationen anderer<br />

Menschen, sie schenken Mitgefühl: «Wenn<br />

Menschen einander verstehen, werden sie sich<br />

auch um die Rechte ihrer Mitmenschen kümmern.»<br />

In seinem nächsten Buch will al-Aswani von<br />

der Auseinandersetzung um die Einführung des<br />

Autos in den 1940er-Jahren in Ägypten erzählen.<br />

Viel verrät er heute noch nicht. Im Mittelpunkt<br />

stehe die Beziehung zwischen den feinen<br />

Mitgliedern des Kairoer Automobilclubs und<br />

ihrer ägyptischen Dienerschaft.<br />

Wird er dereinst einen Roman über die<br />

ägyptische Revolution schreiben? «Ich hoffe<br />

sehr!», ruft er aus. «Aber ebenso wie man sich<br />

nicht dazu entschliessen kann, sich <strong>am</strong> Montagabend<br />

zu verlieben, kann man sich auch<br />

nicht dazu zwingen, einen Roman zu schreiben.<br />

Der richtige Zeitpunkt lässt sich nicht<br />

vorhersagen.» Seine Abschiedsworte sind voller<br />

Zuversicht: «Vielleicht sehen wir uns ja<br />

schon bald auf dem Tahrir wieder. So Gott<br />

will.»<br />

Dort stehen jetzt nur noch wenige Zelte. Barfüssige,<br />

verdreckte Strassenkinder betteln um<br />

Geld oder Essen. Ein junger Mann zeigt mir die<br />

Narben eines Messerangriffs. «Ich wäre fast gestorben<br />

in unserer Revolution. Wofür?» Er ist<br />

den Tränen nahe. «Kopf hoch, die halbe Welt<br />

weiss wofür», entgegne ich. Er denkt nach.<br />

Dann nickt er und lächelt. «Na klar! Wir dürfen<br />

es nie vergessen!» l<br />

ANDRE PAIN / EPA<br />

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JUNGE FREIHEIT<br />

14 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013


Kolumne<br />

Charles Lewinskys Zitatenlese<br />

Kurzkritiken Sachbuch<br />

GAËTAN BALLY / KEYSTONE<br />

Der Autor Charles<br />

Lewinsky arbeitet in<br />

den verschiedensten<br />

Sparten. Sein neues<br />

Buch «Schweizen –<br />

vierundzwanzig<br />

Zukünfte» ist soeben<br />

im Verlag Nagel &<br />

Kimche erschienen.<br />

. . . unbearbeitet, eine<br />

rohe Tonmasse, voller<br />

Kehricht, mit Baugerüsten,<br />

herumliegendem<br />

Werkzeug und allerlei<br />

Gerümpel.<br />

Iwan Gontscharow über<br />

einen unfertigen Text<br />

Wer zum Teufel hat wieder diese Adjektive<br />

herumliegen lassen? Muss denn<br />

ums Verrecken der nächste Unfall passieren?<br />

Erst letzte Woche ist einer über<br />

ein vergessenes «nachhaltig» gestolpert<br />

und hat sich die Gr<strong>am</strong>matik gebrochen.<br />

Und die Versicherung hat sich<br />

geweigert, auch nur einen Rappen zu<br />

bezahlen. Weil «nachhaltig» überhaupt<br />

kein Wort sei, sondern nur ein modisches<br />

Klischee.<br />

Und wenn ihr dabei seid: Räumt<br />

auch gleich den Haufen mit den «und»<br />

weg, gopfertellisiech! Wofür hängen<br />

denn überall diese Plakate? «Zuviel und<br />

ist ungesund!» Merkt euch das endlich!<br />

Sonst hol ich mir meine nächsten<br />

Schreiber aus einem Billiglohnland!<br />

So ein Trupp Inder schraubt euch eine<br />

Trilogie im Akkord zus<strong>am</strong>men, da<br />

könnt ihr dann sehen, wo ihr bleibt!<br />

Wie bitte? Was hast du? Einen<br />

Bachelor in «Creative Writing»? Jöö!<br />

Bist du nicht der Typ, der gestern einen<br />

Nebensatz ohne Sicherheitsabsperrung<br />

hat in der Luft hängen lassen? Und<br />

dann behauptet, das sei kein Fehler<br />

sondern Stil? Nicht nur, dass das<br />

lebensgefährlich war – die ganze Baustelle<br />

ist stillgestanden, wegen diesem<br />

Seich! Weil alle auf das Verb gewartet<br />

haben, das du vergessen hast. Wir machen<br />

hier nicht Kunst, merk dir das, wir<br />

machen einen Roman! Meinst du, der<br />

Generalunternehmer will den Erscheinungstermin<br />

verschieben, bloss weil<br />

der Herr Bachelor jedes Mal erst ein<br />

Synonym suchen muss, bevor er ein<br />

Substantiv festschraubt?<br />

Und wer, huerecheibeschiissdräck,<br />

hat diese beiden Kapitel aneinander<br />

montiert! Ja, die beiden, mit dem Zeitsprung<br />

dazwischen, so gross dass sich<br />

jeder Leser das Kontinuum verrenkt!<br />

Soll sich melden, der Dilettant! Natürlich,<br />

jetzt will es wieder keiner gewesen<br />

sein! Aber «Ghostwriter» kommt<br />

von «Geist», nicht von «Pfusch», merkt<br />

euch das endlich!<br />

Also, Leute, nehmt euch ein bisschen<br />

zus<strong>am</strong>men! Sonst muss ich dann andere<br />

Seiten aufziehen!<br />

Ihr seid ja wirklich die letzten Säcke!<br />

Nicht einer hat gemerkt, dass das soeben<br />

ein brillantes Wortspiel war! Seiten<br />

statt Saiten. Von wegen Bücher.<br />

Aber so was kriegt ihr ja überhaupt<br />

nicht mit! Sucht euch doch einen Hilfsarbeiterjob<br />

bei einem Ärzteroman! Für<br />

die echte Literatur seid ihr alle überhaupt<br />

nicht zu gebrauchen!<br />

Und es soll mal sofort einer die viel<br />

zu vielen Ausrufezeichen<br />

wegräumen, die in diesem<br />

Text herumliegen!<br />

Ich weiss auch nicht, wo<br />

die alle herkommen.<br />

Amanda Ad<strong>am</strong>s: Scherben bringen<br />

Glück. Gerstenberg, Hildesheim 2013.<br />

240 Seiten, Fr. 36.90.<br />

«Pionierinnen der Archäologie» heisst<br />

der Untertitel des reich bebilderten Buches,<br />

das sieben beherzte Frauen porträtiert,<br />

die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

ihrer Abenteuerlust nicht widerstehen<br />

konnten. Darunter sind bekannte<br />

N<strong>am</strong>en wie Agatha Christie oder<br />

Gertrude Bell, aber auch unbekannte<br />

wie die schöne Amelia Edwards oder<br />

Jane Dieulafoy im Herrenanzug mit<br />

Kurzhaarschnitt. Alle waren sie mutig,<br />

eigenwillig und klug. Sie reisten allein<br />

oder in Begleitung ihrer Ehemänner in<br />

noch kaum erforschte Weltregionen, um<br />

dort längst vergangene Kulturen zu entdecken.<br />

Amanda Ad<strong>am</strong>s, Autorin und<br />

selber Archäologin, möchte diese Frauen<br />

aber nicht mythisieren. Sie waren<br />

keine Feministinnen und übernahmen<br />

gelegentlich sogar patriarchalische Klischees,<br />

wie sie kritisiert. Aber gerade<br />

das mache sie «umso faszinierender».<br />

Geneviève Lüscher<br />

Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen<br />

Sehnsucht und Schande. Überarb. Aufl.<br />

Hier + Jetzt, Baden 2013. 234 S., Fr. 39.90.<br />

Das Autorenpaar Herger und Looser<br />

geht auf Spurensuche nach dem Leben<br />

der Ostschweizer Stickerin Anna Maria<br />

Boxler (1884–1965). Die in der F<strong>am</strong>ilie<br />

lange tabuisierte Grossmutter von<br />

Heinz Looser war unehelich geboren,<br />

galt als «liederlich» und «arbeitsscheu».<br />

Wegen Abtreibung, Prostitution und<br />

Diebstahl verurteilt, wurde sie zum Objekt<br />

und Opfer administrativer Fürsorge<br />

und Verfolgung: ein tragisches, ein trauriges<br />

Schicksal in einer Welt voll Elend,<br />

Alkohol und Armut. Die persönliche Betroffenheit<br />

und Irritation des Nachkommen<br />

ist spürbar; verständlich auch, dass<br />

Behörden und Administrativ-Justiz als<br />

kalt und gefühllos gezeichnet werden.<br />

Die historische Wahrheit liegt wohl irgendwo<br />

dazwischen. Fast etwas zu viel<br />

wird aus den reichlich gefundenen<br />

Akten zitiert. Doch die anschaulich erzählte<br />

Geschichte einer Gemassregelten<br />

vermag unsere Herzen zu berühren.<br />

Urs Rauber<br />

Sebastian Conrad: Globalgeschichte.<br />

Eine Einführung. C. H. Beck, München 2013.<br />

300 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Globalgeschichte hat Konjunktur. Sebastian<br />

Conrad definiert sie als «eine<br />

historische Analyse, bei der Phänomene,<br />

Ereignisse oder Prozesse in globale<br />

Kontexte eingeordnet werden», und<br />

präsentiert dann eine präzise und lesbare<br />

Einführung, voller konkreter Beispiele.<br />

Er diskutiert die grossen Kontroversen<br />

der Globalgeschichte: die Debatte<br />

um die Hegemonie des Westens. Oder<br />

die Frage nach dem Beginn der Globalisierung<br />

und nach den nichtwestlichen<br />

Modernisierungsphänomenen. Umfassend<br />

beschreibt der Historiker auch die<br />

typischen globalgeschichtlichen Themenfelder<br />

– wie Migration und Arbeitsmärkte,<br />

Geschichte der Ozeane oder<br />

auch die Kulturgeschichte: Was sagt<br />

«Tim und Struppi» über die Vernetzung<br />

der Welt aus? Und er schliesst mit exzellenten<br />

Würdigungen der zehn wichtigsten<br />

Bücher zum Thema.<br />

Kathrin Meier-Rust<br />

Gregor Spuhler (Hrsg.): Anstaltsfeind<br />

und Judenfreund. Carl Albert Loosli.<br />

Chronos, Zürich 2013. 138 Seiten, Fr. 37.90.<br />

Der Berner Schriftsteller Carl Albert<br />

Loosli (1877–1959) war ein Unangepasster,<br />

ein Mundartdichter, P<strong>am</strong>phletist<br />

und Homme de Lettres. Als ehemaliger<br />

Heimzögling kämpfte er gegen das<br />

schweizerische Anstaltswesen – das er<br />

reichlich überschiessend mit deutschen<br />

Konzentrationslagern verglich – und für<br />

das Recht der Jugend auf eine eigenständige<br />

Existenz. Später wurde der «Philosoph<br />

von Bümpliz» zu einem der ersten<br />

und vehementesten nichtjüdischen Kritiker<br />

des Antisemitismus; so trat er als<br />

Experte im Berner Prozess über die<br />

«Protokolle der Weisen von Zion»<br />

(1935) auf. Ob das eine mit dem anderen<br />

zu tun hat? Dieser Frage und der biografischen<br />

Prägung des Seeländer Nonkonformisten<br />

sowie seinen gesellschaftspolitischen<br />

Wirkungen geht diese spät erschienene<br />

Texts<strong>am</strong>mlung nach, die die<br />

Resultate einer Loosli-Tagung von 2009<br />

zus<strong>am</strong>menfasst.<br />

Urs Rauber<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 15


Sachbuch<br />

Philosophie Mario Vargas Llosa kritisiert in seinem<br />

neuen Essay das Verkümmern der Kultur zur seichten<br />

Unterhaltung – brillant, aber überzogen<br />

Was zählt, ist<br />

das Spektakel<br />

Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer<br />

seine Kultur verliert, verliert sich selbst.<br />

Suhrk<strong>am</strong>p, Berlin 2013. 229 Seiten,<br />

Fr. 34.90.<br />

Von Katja Gentinetta<br />

Was Vargas Llosa bescheiden als Essay<br />

ankündigt, ist ein fast 230 Seiten starker<br />

Abgesang auf das, was Kultur einmal<br />

war: eine den Erfahrungshorizont erweiternde,<br />

die Geheimnisse des Lebens<br />

enthüllende, unser Empfinden revolutionierende,<br />

den Blick in unsere Abgründe<br />

öffnende, unsere Überzeugungen<br />

stetig überprüfende Summe grosser<br />

Werke und Leistungen. In sechs Kapiteln<br />

durchforstet er die Massenmedien,<br />

den Kunstbetrieb, die «Multikultur», die<br />

Erotik, die Politik und die Religion – und<br />

stellt ernüchtert fest: «Kultur ist Unterhaltung,<br />

und was nicht unterhält, ist<br />

keine Kultur.»<br />

Der Autor macht kein Hehl daraus,<br />

dass er sich in die Reihe der Kulturpessimisten<br />

stellt. In Referenz an frühere<br />

und zeitgenössische Kulturkritiker<br />

stellt er fest, dass sie alle, so unterschiedlich<br />

sie sind, in einem Punkt übereinstimmen:<br />

nämlich darin, dass die<br />

Kultur in einer Krise steckt, ja im Niedergang<br />

begriffen ist. Dazu gehört auch<br />

der Befund, dass die vielversprechende<br />

Demokratisierung der Kultur, gipfelnd<br />

in der weit verbreiteten Piraterie, zwar<br />

allen Zugang zur Kultur eröffnet hat. Die<br />

Kultur selbst aber – Werke, die einen in<br />

Bann schlagen, weil sie die Gegenwart<br />

zu transzendieren vermögen und die<br />

Generationen überdauern – ist dabei auf<br />

der Strecke geblieben.<br />

Wie sehr unsere Gesellschaft auf<br />

Spektakel aus ist, versinnbildlicht ein<br />

Bericht über New York im September<br />

2008, wo eine Meute von Pressefotografen<br />

nur darauf wartete, dass sich endlich<br />

ein Broker aus dem Fenster eines Hochhauses<br />

stürzen würde. Wo Nachrichten<br />

nicht mehr aufgrund ihrer politischen,<br />

ökonomischen oder sozialen Bedeutung<br />

wichtig sind, sondern aufgrund ihres<br />

Neuigkeits- und Skandalisierungspotenzials,<br />

schwinden die Grenzen zwischen<br />

seriösem Journalismus und Boulevard.<br />

Vargas Llosa ist jedoch umsichtig genug,<br />

dass er diese Entwicklung nicht allein<br />

den Medien anlastet, sondern letztlich<br />

der Gesellschaft selbst, die nach dieser<br />

Art der Information verlangt.<br />

Zur «Kultur light» gehört auch, dass<br />

nicht mehr Künstler oder Intellektuelle,<br />

sondern Köche und Modedesigner die<br />

Referenzfiguren von heute sind. Intellektuelle<br />

reden und schreiben zwar<br />

noch, werden aber nicht wahrgenommen<br />

– ausser, sie spielen «das Spiel des<br />

Tages» mit. Wohltuend direkt begründet<br />

der Schriftsteller, den man als vehementen<br />

Verfechter der Freiheit kennt,<br />

den Ansehensverlust der Intellektuellen<br />

auch mit deren weit verbreiteten Sympathien<br />

für Totalitarismen. Den wahren<br />

Grund aber sieht er im geringen Ansehen<br />

des Denkens selbst – und dem Primat<br />

der Bilder sowie, möchte man noch<br />

ergänzen, der Zahlen.<br />

Schein über Sein<br />

Ein Begriff, der Vargas Llosas Kulturkritik<br />

wie ein roter Faden durchzieht, ist<br />

die Frivolität, wobei es ihm nicht um das<br />

Bedenkenlose, Leichte, Leichtfertige<br />

geht. Er beobachtet vielmehr eine<br />

grundlegende Umkehrung der Werte:<br />

Form geht über Inhalt, Schein über Sein,<br />

Spektakel über Ernsthaftigkeit. Frivol –<br />

und als solche Mitverursacher der Geringschätzung<br />

des Denkens – sind für<br />

Vargas Llosa auch die postmodernen<br />

Philosophen. Er beruft sich dabei auf andere<br />

Kritiker, schildert aber in einer witzigen<br />

Passage seine eigene angestrengte,<br />

aber wenig erhellende Derrida-Lektüre.<br />

Frivolität ortet Vargas Llosa auch in<br />

der Politik. Nicht nur, weil sich die Politiker<br />

lieber mit Film- oder Fussballstars<br />

ablichten lassen als mit Philosophen<br />

Konfetti-Show bei<br />

den Präsidentschaftswahlen<br />

in den USA<br />

(7. November 2012).<br />

oder Wissenschaftern, sondern weil –<br />

hier wird er geradezu prophetisch – in<br />

der «Kultur des Spektakels (...) der Komiker<br />

der König» ist. An die Stelle des<br />

Progr<strong>am</strong>ms ist die Plattitüde getreten, an<br />

jene der Argumente Äusserlichkeiten.<br />

Worauf der Autor letztlich zielt, ist<br />

die Verschiebung – er spricht von einem<br />

qualitativen Sprung – unseres ges<strong>am</strong>ten<br />

Koordinatensystems. Es sind nicht mehr<br />

Theorien, Weltanschauungen oder Äusserungen<br />

von klugen und kritischen<br />

Zeitgenossen, die unseren Blick für die<br />

Welt schärfen. Heute sind es Werbeagenturen,<br />

Marketingtechniken und<br />

Medien, die über Geschmack, Empfinden<br />

und Phantasie herrschen. Unterhaltung<br />

ist das Höchste, und im Zuge der<br />

16 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013


Internet Immer häufiger verhilft das<br />

World Wide Web zum Erfolg in der Politik<br />

Die digitale Welt als<br />

Wahlhelfer<br />

Andreas Jungherr, Harald Schoen:<br />

Das Internet in Wahlkämpfen. Konzepte,<br />

Wirkungen und K<strong>am</strong>pagnenfunktionen.<br />

Springer VS, Wiesbaden 2013. 185 Seiten,<br />

Fr. 34.20.<br />

Von Andreas Hirstein<br />

political correctness darf auch nicht<br />

mehr unterschieden werden zwischen<br />

gut und schlecht. Wo alles wertvoll ist,<br />

gibt es keinen Wert mehr. Wenn alles<br />

Kultur ist, gibt es keine Unkultur.<br />

E-Book ist nicht das Ende<br />

Die Befunde, die Vargas Llosa anführt,<br />

sind zahlreich, und sie vermögen als<br />

Einzelanalysen zu überzeugen. In den<br />

pessimistischen Grundtenor einzustimmen,<br />

fällt dennoch schwer. Nicht nur,<br />

weil man im E-Book, mit dessen Kritik<br />

er seinen Essay schliesst, nicht das Ende<br />

des Buchs sehen mag; und auch nicht,<br />

weil man Fortschritt allenthalben erblickt,<br />

denn ein Grossteil dieses Fortschritts<br />

ist, wie Vargas Llosa richtig bemerkt,<br />

Spezialisten verdankt, denen ein<br />

Disziplinen übergreifender Blick oft abgeht.<br />

Nein, vor allem deshalb, weil sich<br />

(und Vargas Llosa führt sie an seltenen<br />

Stellen an) für jedes Kapitel auch Gegenbeispiele<br />

finden liessen.<br />

Dennoch oder gerade deshalb ist der<br />

Essay eine lohnende Lektüre, weil er in<br />

konziser Form und Fülle den Blick auf<br />

unsere Gegenwart richtet und dazu auffordert,<br />

genauer hinzusehen, manchmal<br />

auch einfach wegzusehen und überhaupt<br />

wieder den Mut aufzubringen, zu<br />

unterscheiden – und zu bewerten. ●<br />

Katja Gentinetta ist Philosophin,<br />

Lehrbeauftragte der Uni St. Gallen und<br />

Gesprächsleiterin der «Sternstunde<br />

Philosophie» <strong>am</strong> Schweizer Fernsehen.<br />

TANNEN MAURY / EPA<br />

Spätestens seit den Wahlerfolgen von<br />

Barack Ob<strong>am</strong>a in den USA wissen die<br />

politischen Strategen: Mit dem Internet<br />

kann man Wahlen gewinnen. Und das<br />

jetzt auch in Europa. Der Aufstieg des<br />

italienischen Komikers Beppe Grillo zu<br />

einem einflussreichen Politiker und<br />

gegen die mediale Übermacht seiner<br />

Konkurrenten wäre ohne das Internet<br />

undenkbar gewesen.<br />

Fast immer sind es die vermeintlichen<br />

Underdogs, die sich erfolgreich<br />

des neuen Mediums bedienen. Das war<br />

in Italien nicht anders als bei den Vorwahlen<br />

im <strong>am</strong>erikanischen Präsidentschaftswahlk<strong>am</strong>pf<br />

2008. D<strong>am</strong>als war es<br />

der noch unbekannte Senator aus Illinois,<br />

der sich gegen Hillary Clinton, die<br />

haushohe Favoritin des Partei-Establishments<br />

der Demokraten, durchsetzte.<br />

Die Blaupause zu Ob<strong>am</strong>as Erfolg<br />

hatte 2004 der spätere Parteichef der<br />

Demokraten, Howard Dean, geliefert.<br />

Zwar unterlag Dean bei der parteiinternen<br />

Ausscheidung – Präsidentschaftskandidat<br />

wurde der heutige Aussenminister<br />

John Kerry. Deans E-Mailba<br />

sierter Wahlk<strong>am</strong>pf aber machte in der<br />

demokratischen Partei Karriere und begründete<br />

den Vorsprung, den die Partei<br />

bis heute gegenüber den Republikanern<br />

besitzt. Aus Deans K<strong>am</strong>pagne ging auch<br />

die private, den Demokraten nahestehende<br />

Firma «Blue State Digital»<br />

hervor, die inzwischen weltweit Politikberatung<br />

betreibt. In Frankreich half sie<br />

François Hollande, in Brasilien der Ministerpräsidentin<br />

Dilma Rousseff.<br />

Doch ist das Internet wirklich der<br />

Auslöser einer gesellschaftlichen Revolution,<br />

die bisher machtlosen Randgruppen<br />

generell zu mehr Einfluss verhilft?<br />

Die Politologen Andreas Jungherr und<br />

Helmut Schoen (Uni B<strong>am</strong>berg) äussern<br />

Zweifel an dieser zwar Talkshow-tauglichen,<br />

empirisch aber nicht bewiesenen<br />

These. Stattdessen wählen sie einen<br />

differenzierteren Ansatz.<br />

Es kommt eben ganz darauf an: wie<br />

das Wahlsystem eines Landes aussieht,<br />

wie intensiv das Internet genutzt wird<br />

und wie die rechtlichen Grundlagen<br />

etwa des Datenschutzes sind.<br />

Was in den USA funktioniert,<br />

muss in Ländern wie zum Beispiel<br />

der Schweiz noch lange<br />

keinen Erfolg bringen und<br />

Web-Wahl: Dilma Rousseff. könnte sogar illegal sein. ●<br />

REUTERS<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 17


Sachbuch<br />

Isl<strong>am</strong>ische Welt Navid Kermanis Reiseberichte über Krisenregionen von Afghanistan bis Palästina<br />

führen zu überraschenden Einsichten<br />

Länder, in denen der<br />

Ausnahmezustand normal ist<br />

Navid Kermani: Ausnahmezustand.<br />

Reisen in eine beunruhigende Welt.<br />

C. H. Beck, München 2013. 253 Seiten,<br />

Fr. 28.40, E-Book 19.40.<br />

Von Ina Boesch<br />

Als Navid Kermani nach langer Zeit in<br />

Kairo wieder einmal sein St<strong>am</strong>mlokal<br />

aufsuchte, fragte ihn der Oberkellner,<br />

der dort zum Inventar gehört: Wo warst<br />

du denn so lange? Diese Anekdote steht<br />

<strong>am</strong> Schluss des Reportagenbandes, der<br />

mit dem Besuch in eben jenem Lokal,<br />

einem Teehaus, sechs Jahre zuvor beginnt.<br />

Für den Autor gibt es in Kairo keinen<br />

beständigeren, vom Fortschritt weniger<br />

beeindruckten Ort als das Teehaus,<br />

wo selbst das «Stühlerücken eine<br />

Kulturrevolution» ist. Das Teehaus ist<br />

für Kermani ein einzigartiger Pol der<br />

Ruhe auf seinen «Reisen in eine beunruhigte<br />

Welt». In Ländern wie Syrien, Pakistan,<br />

Afghanistan, in Regionen wie<br />

Kaschmir oder Palästina herrscht nämlich<br />

der Ausnahmezustand. Ein Zustand,<br />

der schon so lange dauert, dass er einem<br />

fast normal vorkommt.<br />

Gegen die Akzeptanz dieser «Normalität»<br />

will der vielfach ausgezeichnete<br />

Schriftsteller und Essayist ein Zeichen<br />

setzen. Deshalb hat er in den letzten Jahren<br />

diese Krisenländer bereist und darüber<br />

berichtet. Die Texte sind zwischen<br />

2005 und 2012, wenn auch in sehr viel<br />

kürzerer Fassung, in deutschsprachigen<br />

<strong>Zeitung</strong>en publiziert worden, unter anderem<br />

in der <strong>NZZ</strong>. Die S<strong>am</strong>mlung hat<br />

Besinnlicher Moment<br />

in einem Friedhof von<br />

Kabul, wo die Opfer<br />

des Bürgerkriegs<br />

ruhen (2007).<br />

SHAH MARAI / AFP<br />

nichts von ihrer Aktualität eingebüsst,<br />

bietet in ihrer Konzentration einen erhellenden<br />

Blick auf die vor allem von<br />

Muslimen bewohnte Krisenregion vom<br />

Mittelmeer bis zum Subkontinent Indien<br />

und korrigiert Vorurteile. So fühlen<br />

sich beispielsweise in Pakistan, das wir<br />

mit Gewalt assoziieren, vier Fünftel der<br />

Pakistaner den Sufis nah, die Gewalt ablehnen<br />

und Toleranz vorleben.<br />

Dank seiner umfassenden Kenntnisse<br />

von Sprache, Kultur und Religion der<br />

besuchten Länder hat sich der deutschiranische<br />

Isl<strong>am</strong>wissenschafter Zugang<br />

zu Menschen und Schicksalen erobert,<br />

die in den täglichen Nachrichtenbulletins<br />

nicht vorkommen. Dabei gelingen<br />

ihm berührende Porträts. Etwa von<br />

einem Greis, der in Kabul auf dem Friedhof<br />

lebt und sich über das Ende der Taliban<br />

freut: «Niemand sagt mir mehr,<br />

was ich tun, was ich sagen, wie ich meinen<br />

Bart tragen muss.» Und immer leitet<br />

Kermani die Frage, wie Menschen<br />

mit einem jahrelangen Leben im Ausnahmezustand<br />

umgehen. Ganz unterschiedlich:<br />

In Kaschmir zum Beispiel<br />

haben sie sich «im Ausnahmezustand<br />

eingerichtet», sie sind «fed up», niemand<br />

mag mehr kämpfen. Ähnlich in<br />

Syrien, wo die Bevölkerung tagtäglich<br />

mit Kämpfen konfrontiert ist – und dennoch<br />

Angst und Hass verloren hat.<br />

Als Grenzgänger zwischen den Genres,<br />

der ebenso die Kunst des Romanschreibens<br />

beherrscht wie die glasklare<br />

Sprache des Essays, schafft Navid<br />

Kermani Texte von poetischer Kraft und<br />

analytischer Einsicht. So wartet er mit<br />

überraschenden Erkenntnissen auf, von<br />

denen man in der tagesaktuellen Berichterstattung<br />

kaum etwas erfährt. Erhellend<br />

die Tatsache, dass in Kaschmir<br />

sowohl Regierungspolitiker als auch<br />

Widerständler das gleiche wollen: Autonomie,<br />

offene Grenzen, Rückzug der<br />

Armee. Augen öffnend die Erkenntnis,<br />

dass in Pakistan Bauern und Handwerker,<br />

jedoch nicht Bürger und Intellektuelle<br />

das weltliche Staatsmodell stützen.<br />

Paradox schliesslich, dass in Syrien das<br />

weltliche Regime Hauptsponsor einer<br />

isl<strong>am</strong>ischen Theokratie ist, während der<br />

Westen auf der Seite von teils ausgesprochen<br />

religiösen Menschen steht.<br />

Man legt das Buch nach der Lektüre beglückt<br />

aus der Hand, weil man sowohl<br />

berührt als auch belehrt worden ist. ●<br />

Wissenschaft Der italienische Historiker Carlo Ginzburg über die Suche nach dem «roten Faden»<br />

Im Labor historischen Forschens<br />

Carlo Ginzburg: Faden und Fährten. Wahr<br />

– falsch – fiktiv. Wagenbach, Berlin 2013.<br />

156 Seiten, Fr. 32.90.<br />

Von Janika Gelinek<br />

18 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

In der Einleitung seines neuen Essaybands<br />

rekapituliert der Kulturwissenschafter<br />

Carlo Ginzburg die Geschichte<br />

von Theseus, der sich mit Hilfe von<br />

Ariad nes Faden im Labyrinth des Minotaurus<br />

orientiert und bemerkt lakonisch:<br />

«Von den Fährten, die Theseus hinterliess,<br />

als er im Labyrinth umherlief, erzählt<br />

der Mythos nichts.»<br />

Mit dieser Eingangsmetapher des<br />

strukturverheissenden roten Fadens im<br />

Verhältnis zu zahllosen, zunächst ziellosen<br />

Spuren, charakterisiert der Historiker<br />

den Alltag eines Forscherlebens: das<br />

Labyrinth aus Ideen, Hypothesen, Lektüren,<br />

das tausend Irrwege bereithält,<br />

aber eben eines genau nicht – den roten<br />

Faden, der gefahrlos zur Erkenntnis<br />

führt. Das Handwerk der Historiker ist<br />

zusätzlich vor die Herausforderung gestellt,<br />

den jeweiligen Gegenstand erzählen<br />

zu müssen und dabei das «Geflecht<br />

von Wahr, Falsch und Fiktiv zu entwirren,<br />

das das Webmuster unseres In-der-<br />

Welt-Seins bildet.»<br />

Diese immer neu zu verhandelnde<br />

Grenze zwischen fiktivem und historischem<br />

Erzählen, als produktiver Streit<br />

im Ringen um die Darstellung von Wirklichkeit,<br />

stellt ein Axiom von Ginzburgs<br />

Forschungen dar, die auch hier nicht in<br />

Form von Thesen, sondern vielmehr als<br />

Blick ins Laboratorium präsentiert werden:<br />

etwa das close-reading des Dialogs<br />

«De la lecture des vieux romans» von<br />

1646, eine Szene in Stendhals «Le Rouge<br />

et le Noir» über die Langeweile als historisches<br />

Phänomen, «Randbemerkungen»<br />

über Kracauer, die Begriffsgeschichte<br />

der Microstoria.<br />

Die Genauigkeit, mit der Ginzburg<br />

die Entstehungsbedingungen der einzelnen<br />

Texte untersucht und Verbindungen<br />

zu ästhetischen und sozialen Ereignissen<br />

der Zeit herstellt, die Fülle der<br />

von ihm verarbeiteten Literatur, nötigt<br />

Bewunderung ab. Gleichzeitig verweigern<br />

die Vielfalt der Themen und Paraphrasen,<br />

sowie das Fehlen einer einheitlichen<br />

Terminologie, was genau eine<br />

historische Quelle von einem fiktionalen<br />

Text unterscheidet, zuletzt eine<br />

schlüssige Erkenntnis, wie Historie und<br />

Fiktion, Literatur und Wissenschaft<br />

denn nun zus<strong>am</strong>menhängen könnten.<br />

Der rote Faden ist mit Carlo Ginzburg<br />

nicht zu finden – doch wer, wenn nicht<br />

er, sollte uns sonst durchs Labyrinth von<br />

Wissen und Erkenntnis führen? ●


Biografie Der Berner Jurist Mani Matter (1936–1972) war nicht nur ein populärer Chansonnier,<br />

sondern auch ein scharfsinniger, selbstkritischer Denker<br />

«Warum syt dir so truurig?»<br />

Wilfried Meichtry: Mani Matter. Eine<br />

Biographie. Nagel & Kimche,<br />

Zürich 2013. 320 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Von Thomas Feitknecht<br />

Als Daniel Spoerri 1956 in einem Kellertheater<br />

der Berner Altstadt Stücke von<br />

Eugène Ionesco und Pablo Picasso als<br />

deutschsprachige Erstaufführungen inszenierte,<br />

brachte es der aus Zürich angereiste<br />

«Weltwoche»-Kritiker Hugo<br />

Loetscher auf den Punkt: Bern habe<br />

«etwas gemacht, worum sich Zürich,<br />

das doch gerne mit Prätention aufgeschlossen<br />

ist, nicht einmal richtig bemüht<br />

hat: eine Experimentier- und Studioaufführung<br />

von Witz und Wert». Zur<br />

illustren Schar der Künstler und Intellektuellen<br />

jener Zeit in Bern gehörten<br />

u. a. Meret Oppenheim, Bernhard Luginbühl,<br />

Claus Bremer, Dieter Roth, Otto<br />

Nebel und Harald Szeemann. Das war<br />

das kulturelle Biotop, in das der Gymnasiast<br />

und Student Hans Peter Matter<br />

hineinwuchs. Und schon bald galt er selber<br />

als einer der wichtigsten Vertreter<br />

dieser «Berner Szene».<br />

Seinen ersten Bühnenauftritt hatte<br />

der 17-jährige Matter als <strong>Zeitung</strong>sjunge<br />

in Thornton Wilders Stück «Unsere<br />

kleine Stadt». In den folgenden Jahren<br />

trug er auf den Spuren von Georges<br />

Brassens seine ersten Chansons vor, an<br />

einem Fest des Gymnasiums Kirchenfeld<br />

und an Unterhaltungsabenden der<br />

Pfadfinderabteilung Patria. Der N<strong>am</strong>e<br />

Mani, auf den Hans Peter Matter bei den<br />

Pfadfindern getauft wurde, war fortan<br />

sein Markenzeichen. Und obwohl er seiner<br />

«kleinen» Stadt stets eng verbunden<br />

blieb und bis auf ein Forschungsjahr in<br />

C<strong>am</strong>bridge nie länger von dort weg k<strong>am</strong>,<br />

gewann er als Berner Troubadour eine<br />

Ausstrahlung, die weit über Bern hinausreicht<br />

und bis heute andauert.<br />

Ein Jahr in C<strong>am</strong>bridge<br />

Schon 1977 veröffentlichte Franz Hohler<br />

den auch heute noch sehr lesenswerten<br />

Porträtband über den fünf Jahre zuvor<br />

tödlich verunfallten Künstlerfreund.<br />

Auf literaturwissenschaftlicher Ebene<br />

setzten sich Christine Wirz und Stephan<br />

H<strong>am</strong>mer mit seinem Werk auseinander.<br />

Grosse Publikumserfolge waren 2002<br />

Friedrich Kappelers Film «Warum syt<br />

dir so truurig» und 2011 die Mani-Matter-Ausstellung,<br />

die – nach Zwischenstationen<br />

in Schwyz und Bern – jetzt<br />

bereits zum zweiten Mal im Landesmuseum<br />

Zürich zu sehen ist (bis 8. September).<br />

Nun legt der Co-Kurator dieser<br />

Ausstellung, Wilfried Meichtry, die<br />

erste umfassende Monografie über<br />

Mani Matter vor.<br />

Der 48-jährige promovierte Walliser<br />

Historiker und Germanist hat Erfahrung<br />

im Umgang mit anspruchsvollen Biografien.<br />

Er ist schon der Geschichte des aus<br />

dem Wallis st<strong>am</strong>menden deutschen<br />

Jagdfliegers Franz von Werra nachgegangen<br />

und hat das gemeins<strong>am</strong>e Leben<br />

der «Verliebten Feinde» Peter und Iris<br />

von Roten nachgezeichnet, das in diesem<br />

Frühjahr als Dokufiction in die<br />

Kinos gekommen ist. Für sein Mani-<br />

Matter-Buch hatte Meichtry Zugang zu<br />

bisher verschlossenen Teilen des Nachlasses<br />

im Schweizerischen Literaturarchiv<br />

und zu unveröffentlichten Briefen<br />

aus Privatarchiven. Eine weitere<br />

wichtige Quelle waren Manis Freunde<br />

und Angehörige, allen voran seine Frau<br />

Joy. In erzählerischen Passagen versucht<br />

Meichtry, Lücken in der Überlieferung<br />

der Dokumente und in der Erinnerung<br />

der Zeitzeugen zu schliessen.<br />

Das wichtigste Kapitel, das Meichtry<br />

in Mani Matters Leben aufschlägt und<br />

als erster ausführlich darstellt, ist der<br />

Aufenthalt in C<strong>am</strong>bridge von Anfang<br />

Oktober 1967 bis Ende September 1968.<br />

Matter verbrachte dort mit seiner F<strong>am</strong>ilie<br />

ein Jahr, um an seiner juristischen<br />

Habilitationsschrift über «Die pluralistische<br />

Staatstheorie» zu arbeiten, die<br />

sich u. a. mit dem englischen Politikwissenschafter<br />

Harold Laski befasste<br />

Einer der frühesten<br />

Auftritte: Mani Matter<br />

<strong>am</strong> 12. Juni 1954<br />

an einem Schulfest<br />

des Kirchenfeld-<br />

Gymnasiums.<br />

JOY MATTER<br />

(vgl. Rezension in Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong>,<br />

März 2013). C<strong>am</strong>bridge wurde für Matter<br />

ein Wendepunkt – wissenschaftlich,<br />

beruflich, politisch, künstlerisch und<br />

persönlich. Er wurde nach der Rückkehr<br />

in die Schweiz juristischer Mitarbeiter<br />

der Berner Stadtverwaltung, stellte die<br />

akademische Karriere zurück und liess<br />

seine Habilitationsarbeit unvollendet.<br />

Er engagierte sich in der Gruppe Olten,<br />

in der sich Autorinnen und Autoren aus<br />

Protest gegen die Politik des Schweizerischen<br />

Schriftstellervereins zus<strong>am</strong>menschlossen.<br />

Seine Chansons wurden<br />

abgründiger, abstrakter, weniger «lustig»,<br />

so dass sein Freund, der Komponist<br />

und Pianist Jürg Wyttenbach, den Ausspruch<br />

vom «spröden Altersstil» des<br />

Mittdreissigers prägte. Zunehmend belastete<br />

ihn die Frage, ob und wie er all<br />

seine Verpflichtungen miteinander in<br />

Einklang bringen könne.<br />

Viele unbekannte Seiten<br />

Das C<strong>am</strong>bridge-Kapitel ist typisch für<br />

Wilfried Meichtrys Vorgehen. Um zu<br />

verstehen, was dieser Aufenthalt für<br />

Mani Matter bedeutete, reiste der Autor<br />

mit Joy Matter in die englische Universitätsstadt.<br />

In langen Gesprächen auf der<br />

Reise und <strong>am</strong> Ort selber nähert sich<br />

Meichtry den Fragen und Problemen,<br />

die Mani Matter d<strong>am</strong>als beschäftigten.<br />

Die beiden Reisenden treffen den Philosophen<br />

und Soziologen Alexander Stewart,<br />

mit dem Mani d<strong>am</strong>als einen regen<br />

wissenschaftlichen Gedankenaustausch<br />

über Freiheit und Determination pflegte.<br />

Zitate aus Manis Tagebuch und aus<br />

der Korrespondenz mit dem Vater und<br />

mit Berner Freunden wie dem Troubadour<br />

Fritz Widmer, dem Juristen Christoph<br />

von Greyerz und dem Musikerpaar<br />

Urs und Ingrid Frauchiger zeigen, wie<br />

sehr ihn die Frage nach dem «Wie weiter?»<br />

umtrieb. Eine Antwort fand er<br />

nicht, weil er die Komplexität der Dinge<br />

kannte. Und er blieb häufig auch ratlos,<br />

weil er selbstkritisch bis zur Selbstzerstörung<br />

war.<br />

Nahtlos fügt Wilfried Meichtry Abschnitte<br />

ein, in denen er sich vorstellt,<br />

wie «es» gewesen sein könnte. Diese<br />

narrativen Stellen sind ein Wagnis – und<br />

sie gelingen nicht immer gleich gut. Gelegentlich<br />

geraten sie inhaltlich etwas<br />

weitschweifig oder bleiben sprachlich<br />

in abgegriffenen Formulierungen stecken.<br />

Die Anmerkungen sind für ein<br />

nichtwissenschaftliches Buch richtigerweise<br />

spars<strong>am</strong> eingesetzt – allerdings in<br />

einzelnen Fällen allzu spars<strong>am</strong>: wenn<br />

z. B. Mani Matter den Waadtländer<br />

Chansonnier Gilles erwähnt, müsste<br />

dieser dem deutschsprachigen Publikum<br />

von heute wohl näher vorgestellt<br />

werden.<br />

Aber diese Einwände schmälern den<br />

Wert dieser Biografie nicht, die nicht<br />

nur spannend zu lesen ist, sondern auch<br />

dem Kenner von Mani Matter viele bisher<br />

unbekannte Seiten zeigt. ●<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 19


Sachbuch<br />

ARCO IMAGES<br />

Evolution In einem Vergleich der Entwicklung der sozialen Insekten mit jener des Homo sapiens<br />

will der grosse Ameisenforscher E. O. Wilson der Natur des Menschen auf die Spur kommen<br />

Am Anfang war das Nest<br />

E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der<br />

Erde. Eine biologische Geschichte des<br />

Menschen. C. H. Beck, München 2013.<br />

382 Seiten, Fr. 32.90.<br />

Von Kathrin Meier-Rust<br />

20 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

Den Vergleich mit Menschenaffen sind<br />

wir gewohnt – doch Ameisen und Termiten?<br />

Genau dies unternimmt der<br />

83-jährige emeritierte Harvard-Professor<br />

Edward Osborne Wilson, der weltweit<br />

grösste Kenner der Welt der Ameisen<br />

und Verfasser zahlreicher Standardwerke.<br />

Doch während in seinen Klassikern<br />

zu den sozialen Insekten im letzten<br />

Kapitel dann jeweils auch noch der<br />

Mensch zur Sprache k<strong>am</strong>, ist es diesmal<br />

umgekehrt: Von der ersten Seite an geht<br />

es dem Forscher darum, die biologischen<br />

Ursprünge der menschlichen<br />

Natur und d<strong>am</strong>it auch der menschlichen<br />

Kreativität, Kultur und Geschichte zu<br />

erhellen. Woher wir kommen, was wir<br />

sind, wohin wir gehen – das sind die uralten<br />

Fragen, die der Naturwissenschafter<br />

mit Hilfe der Biologie zu beantworten<br />

verspricht.<br />

Gelassen-selbstsicher und auch etwas<br />

redundant lässt Wilson die Evolutionsgeschichte<br />

des Homo sapiens und der<br />

Insekten Revue passieren, mal mit Details<br />

angereichert, mal in grossen Zügen.<br />

Nur wenige Tierarten leben in sozialen<br />

Verbänden, und noch viel seltener ist<br />

der Schritt zur höchsten Form des sozialen<br />

Zus<strong>am</strong>menlebens, zur sogenannten<br />

Eusozialität. Gemeint ist d<strong>am</strong>it das Zus<strong>am</strong>menleben<br />

von mehreren Generationen<br />

mit einer Arbeitsteilung, die altruistische<br />

Züge zeigt. Abgesehen von Insekten<br />

und Menschen haben nur einige<br />

Krebsarten sowie die Nacktmulle Afrikas<br />

dieses Stadium erreicht. Und selbst<br />

die sozialen Insekten machen nur 2 Prozent<br />

von einer Million Insektenarten<br />

aus – und doch dominieren sie die Welt<br />

der wirbellosen Tieren genauso wie der<br />

Mensch jene der Wirbeltiere: «Gemeins<strong>am</strong><br />

repräsentieren wir die beiden grossen<br />

Hegemonien der landbewohnten<br />

Welt», schreibt Wilson.<br />

Die Frage, wie eine natürliche Selektion,<br />

die Fortpflanzung belohnt, sterile<br />

Arbeiterbienen hervorbringen konnte,<br />

hat schon Darwin beunruhigt. Für Wilson<br />

gibt es keine grossen Fragen mehr.<br />

Am Anfang zur Entwicklung zur Eusozialität<br />

steht immer der Nestbau. Der<br />

nächste und entscheidende Schritt verlangt,<br />

dass die Jungtiere dieses Nest<br />

nicht verlassen, sondern «daheimbleiben»<br />

und «mithelfen». In einer letzten<br />

Phase entstehen dann die eigentlichen<br />

sozialen Systeme oder Staaten, mit<br />

ihrem Kastenwesen von spezialisierten<br />

Wächtern, Soldaten, Arbeitern und<br />

Ammen. Während den Ameisen dieser<br />

Schritt schon vor 100 Millionen Jahren<br />

gelang, begannen unsere Vorfahren allerdings<br />

erst vor 3 Millionen Jahren, sich<br />

in grösseren Gruppen um feste Lagerplätze<br />

zu scharen.<br />

Gruppenselektion umstritten<br />

Ob Individuen, die an diesem Nest-Lagerplatz<br />

zus<strong>am</strong>menleben, verwandt sind<br />

oder nicht, spielt für Wilson keine Rolle.<br />

Denn sobald dieses Zus<strong>am</strong>menleben gelingt,<br />

findet der darwinistische Überlebensk<strong>am</strong>pf<br />

nicht mehr nur zwischen<br />

verschiedenen Individuen statt, sondern<br />

gleichzeitig auch zwischen verschiedenen<br />

Gruppen: je besser eine Gruppe sich<br />

zu ernähren, zu bewachen und zu verteidigen<br />

versteht, desto erfolgreicher wird<br />

sie überleben. So harmlos diese These<br />

für den Laien klingen mag – ihrem Autor<br />

beschert sie die erbitterte Ablehnung<br />

der Fachwelt. Seit Jahrzehnten hat sich<br />

die Evolutionswissenschaft und mit ihr<br />

auch E. O. Wilson darauf geeinigt, dass<br />

die natürliche Selektion nur auf der<br />

Ebene der Verwandtschaft ansetzt. Die<br />

Abkehr von diesem Dogma zugunsten<br />

einer bisher verfemten «Gruppenselektion»<br />

kommt hier deshalb nicht gut an.<br />

Über 130 Evolutionsbiologen unterzeichneten<br />

Protestbriefe an «Nature»<br />

(wo vor zwei Jahren Wilsons erster wissenschaftlicher<br />

Artikel zum Thema erschien),<br />

und entsprechend gehässig<br />

wird das Buch nun von einigen Wissenschaftern<br />

als «unplausibel» und «selbstgefällig»<br />

taxiert.<br />

Wilson, der «Die soziale Eroberung<br />

der Erde» für eine allgemeine Leserschaft<br />

schreibt und wissenschaftliche<br />

Kontroversen darin nur <strong>am</strong> Rande erwähnt,<br />

scheint dies wenig anzufechten.<br />

Gerade die umstrittene Gruppenselektion<br />

ist nämlich für die Entstehung der<br />

menschlichen Natur zentral. Denn während<br />

die natürliche Selektion beim Individuum<br />

den platten Egoismus in all<br />

seinen negativen Spielarten fördert, erzeugt<br />

der Konkurrenzk<strong>am</strong>pf zwischen<br />

Gruppen ganz andere Werte: Es sind Eigenschaften<br />

wie Zus<strong>am</strong>menarbeit, Opferbereitschaft,<br />

Empathie, Altruismus<br />

oder Pflichtbewusstsein, die dem Überleben<br />

der Gruppe dienen.<br />

«Die genetische Fitness eines Menschen<br />

muss daher eine Folge sowohl<br />

der individuellen als auch der Gruppenselektion<br />

sein», schreibt Wilson,<br />

was dazu führe, dass die Natur des Menschen<br />

ein «endemisches Getümmel»<br />

darstelle: «In unserer Natur existiert das<br />

Schlimmste neben dem Besten, und das<br />

wird immer so bleiben.» Nicht nur Krieg<br />

und Gewalt sind deshalb unabänderlich<br />

mit der menschlichen Geschichte verbunden,<br />

auch Religion, Kunst und Kultur<br />

will der Naturwissenschafter aus<br />

dieser in unserer Biologie tief verankerten<br />

Ambivalenz erklären.<br />

Biologische Deutung<br />

Das neue Buch des grossen Ameisenforschers<br />

E. O. Wilson bietet viel Wissenswertes<br />

zu den sozialen Insekten,<br />

Einsicht in die rätselhafte Entstehung<br />

von sozialem Leben und eine einigermassen<br />

plausible, wenn auch etwas simplistische<br />

Erklärung der Zerrissenheit<br />

der menschlichen Natur. Ob sich mit<br />

dieser «wahren» biologischen Schöpfungsgeschichte<br />

nun wirklich, wie Wilson<br />

überzeugt ist, die mythischen und<br />

religiösen erübrigen – das mag jeder<br />

selbst entscheiden. ●


Globalisierung Das 21. ist das asiatische Jahrhundert. Der frühere <strong>NZZ</strong>-Korrespondent Urs Schoettli<br />

zeichnet dessen Hintergründe kenntnisreich nach<br />

Tigerstaaten fordern den Westen heraus<br />

MAN RAY TRUS/ADAGP / PRO LITTERIS<br />

Urs Schoettli: Die neuen Asiaten. Ein<br />

Generationenwechsel und seine Folgen.<br />

<strong>NZZ</strong> Libro, Zürich 2013. 378 Seiten,<br />

Fr. 39.90, E-Book 27.90.<br />

Von Urs Rauber<br />

Seit ein paar Jahren blickt die Welt fasziniert<br />

auf die rasanten Entwicklungen in<br />

Ostasien. Der Aufstieg Chinas zur zweitgrössten<br />

Wirtschaftsmacht der Welt<br />

2010, Indiens Sprung zur IT-Supermacht<br />

und Japans ungeheure Innovationskraft<br />

weckt in Europa Erstaunen, Begeisterung,<br />

aber auch Ängste vor der asiatischen<br />

Dominanz. Bei Schoettli, seit 30<br />

Jahren Korrespondent und Kolumnist<br />

für die <strong>NZZ</strong> aus Delhi, Hongkong, Peking<br />

und Tokio sowie Asienberater<br />

mehrerer Schweizer Unternehmen, verbinden<br />

sich fundierte Landeskenntnisse<br />

mit journalistischer Gestaltungskraft.<br />

Seine 370 Seiten starke Auseinandersetzung<br />

mit Geschichte, Mentalität und<br />

Entwicklungspotenzial der asiatischen<br />

Völker und Regionen liest sich flüssig<br />

und ist trotz Anreicherung mit neustem<br />

Zahlenmaterial alles andere als ein trockener<br />

Wälzer.<br />

Im Zentrum von Schoettlis Betrachtungen<br />

steht der Generationenwechsel,<br />

der im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts<br />

in Asien über die Bühne geht. Er<br />

spürt den Veränderungen und Konstanten<br />

nach, die sich mit der Übergabe der<br />

politischen und wirtschaftlichen Macht<br />

von der Generation der 68er auf deren<br />

Kinder und Enkel ergeben.<br />

In prägnanten Kapiteln wird die Entwicklung<br />

der drei Grossmächte China,<br />

Indien und Japan aus ihren spezifischen<br />

Das Gesicht Von der antiken Maske zum Fotoporträt<br />

Zweimal Gertrude Stein: Im Hintergrund ein Porträt<br />

von Picasso (Paris, 1906), im Vordergrund fotografiert<br />

durch von Man Ray (Paris, 1922). Die Schriftstellerin<br />

sass vor dem Gemälde gleichs<strong>am</strong> vor sich selbst,<br />

einem gemalten Double. Hans Belting schreibt in<br />

«Eine Geschichte des Gesichts», diese Fotografie sei<br />

ein «Schlüsselwerk für die Frage nach Maske und<br />

Porträt». Um das frühe Gemälde Picassos rankt sich<br />

eine Legende: Frau Stein soll dem Künstler über 80-<br />

mal Modell gesessen haben, ohne dass er es schaffte,<br />

ihr Antlitz darzustellen. Schliesslich malte er anstelle<br />

ihres Gesichts eine prähistorische Maske, wodurch es<br />

zeitlos und doch ein Porträt von Gertrude Stein<br />

wurde. Für das Foto von Man Ray verwandelte Stein<br />

ihr Gesicht wiederum in eine Maske, als wolle sie dem<br />

Porträt ähneln. Der Kunsthistoriker Hans Belting ist<br />

den Bildern nachgegangen, die sich der Mensch im<br />

Laufe seiner Existenz von sich selbst gemacht hat.<br />

Entstanden ist eine auf den europäischen Raum<br />

beschränkte Kulturgeschichte des menschlichen<br />

Gesichts – nicht des Porträts –, von den Anfängen in<br />

der Steinzeit bis zu den modernen Massenmedien. Es<br />

ist eine Geschichte des Scheiterns, da sich das Leben<br />

in einem Antlitz nicht bannen lässt, es erstarrt immer<br />

zur Maske, weshalb Beltings Buch auch eine<br />

Geschichte der Maske ist. Geneviève Lüscher<br />

Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts.<br />

C. H. Beck, München 2013. 343 Seiten, Fr. 40.90.<br />

historischen Bedingungen heraus geschildert.<br />

Im Reich der Mitte steht die<br />

Überwindung des Erbes von Mao, der<br />

«zu den grössten Verbrechern der<br />

Menschheitsgeschichte gehört», bevor.<br />

Den entscheidenden Anstoss dazu gab<br />

Maos Mitstreiter Deng Xiaoping mit seinen<br />

Reformen ab 1978: «Reich zu werden,<br />

ist wunderbar.» Diese ermöglichten<br />

die Zulassung des Privateigentums<br />

und den Aufstieg der Mittelschichten –<br />

allerdings verbunden mit einem wachsenden<br />

Reichtums- sowie dem Stadt-<br />

Land-Gefälle, zunehmender Korruption<br />

und dem Weiterbestehen des totalitären<br />

Einparteiensystems.<br />

Im Gegensatz dazu hatte Indien aus<br />

dem britischen Kolonialerbe eine robuste<br />

parl<strong>am</strong>entarische Demokratie sowie<br />

Englisch als Verkehrs- und Verwaltungssprache<br />

übernommen, was den späteren<br />

Aufstieg des Landes zur IT-Supermacht<br />

erleichterte. Politische Stabilität garantierte<br />

die langanhaltende Macht des<br />

Nehru-Gandhi-Clans, dessen sozialistische<br />

Politik das Land 1991 jedoch an den<br />

Rand des Bankrotts brachte. Zu den spezifisch<br />

indischen Herausforderungen<br />

gehört die Überwindung des Kastenwesens<br />

und der fehlenden Berufsbildung.<br />

Für Japan bedeutete die periphere Insellage<br />

stets Gunst und Fluch. Der Pazifik<br />

wirkt als Barriere sowohl gegen<br />

fremde Eroberer wie auch gegenüber<br />

fremden Einflüssen. Der japanische<br />

Sonderweg ist geprägt durch eine eigentliche<br />

«Obsession zur Verbesserung».<br />

Ist China ein Meister im Kopieren,<br />

besticht Japan durch seine Innovationskraft,<br />

in dem man alles, was man aus<br />

fremden Kulturen und Zivilisationen<br />

übernimmt, ständig perfektioniert. Dieses<br />

Rezept liess Japan in den 1970er Jahren<br />

zur zweitgrössten (heute: drittgrössten)<br />

Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen.<br />

Schoettli skizziert auch die ostasiatischen<br />

«Tiger» Indonesien (Untertitel:<br />

die Überraschung), Malaysia (stille Beständigkeit),<br />

Vietn<strong>am</strong> (das Prinzip zähe<br />

Pragmatik), Thailand (machiavellische<br />

Eliten), Singapur (Stadtstaat par excellence),<br />

Philippinen (ein Stück Latein<strong>am</strong>erika),<br />

Myanmar (der Nachzügler),<br />

Südkorea (Überlebenskünstler) sowie<br />

Hongkong und Taiwan (Grosschina).<br />

Die Zuschreibungen zeigen, wie präzise<br />

es dem Verfasser gelingt, sowohl Eigenheiten<br />

wie Unterschiedlichkeiten herauszuarbeiten.<br />

Die Bilanz lautet, dass das asiatische<br />

Zeitalter, das um die Jahrtausendwende<br />

begann, für Europa und die USA eine<br />

wirtschaftliche wie sicherheitspolitische<br />

Herausforderung darstelle. Eine<br />

Herausforderung, die – wenn sie positiv<br />

gemeistert werde – zu «einer Welt mit<br />

mehr Stabilität und grösserem Wohlstand»<br />

führen könne. Voraussetzung allerdings<br />

sei, dass der Westen sich mit<br />

den Werten der östlichen Kulturen auseinandersetze<br />

und den «neuen Asiaten»<br />

auf Augenhöhe begegne. ●<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 21


Sachbuch<br />

Politik Der frühere Aussenminister Joschka Fischer und der Geschichtsforscher Fritz Stern im<br />

Gespräch über Deutschland, Europa und Amerika<br />

Ex-Sponti lernt, historisch zu denken<br />

Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den<br />

Strom. Ein Gespräch über Geschichte<br />

und Politik. C. H. Beck, München 2013.<br />

224 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.90.<br />

Von Reinhard Meier<br />

Ungleich in Alter und<br />

Herkunft, nahe in<br />

den Auffassungen:<br />

Historiker Fritz Stern<br />

(links) und Joschka<br />

Fischer <strong>am</strong> 28.5.2012.<br />

Vor drei Jahren ist im C.-H.-Beck-Verlag<br />

unter dem Titel «Unser Jahrhundert»<br />

ein mehrtägiges Gespräch zwischen<br />

dem früheren Bundeskanzler Schmidt<br />

und dem Historiker Fritz Stern erschienen.<br />

Die Debatte zwischen den beiden<br />

kenntnisreichen Altmeistern wurde<br />

schnell zum Bestseller. Nun legt der<br />

Verlag einen ähnlich angelegten weltpolitischen<br />

Tour d’horizon in Buchform<br />

vor. Der Gesprächspartner des 1926 in<br />

Breslau geborenen und wegen der Nazi-<br />

Herrschaft nach Amerika geflohenen<br />

Historikers Fritz Stern ist diesmal Joschka<br />

Fischer, deutscher Aussenminister<br />

von 1998 bis 2005, Jahrgang 1948.<br />

Der Dialog verläuft also zwischen<br />

zwei Vertretern verschiedener Generationen<br />

mit höchst unterschiedlicher Lebenserfahrung.<br />

Fischers Eltern waren<br />

kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

von Ungarn nach Süddeutschland<br />

gezogen. Sie waren erzkatholisch,<br />

klassische CDU-Wähler. Gegen dieses<br />

Milieu habe er als jugendlicher Aktivist<br />

in der sogenannten Sponti-Szene und<br />

als prominenter Vertreter der bundesdeutschen<br />

Grünen rebelliert, erklärt er<br />

im Gespräch.<br />

Ungeachtet des Unterschieds in Alter<br />

und Herkunft kommen sich Stern und<br />

Fischer in der Beurteilung vieler aktueller<br />

und zeitgeschichtlicher Phänomene<br />

erstaunlich nahe – was der Lebendigkeit<br />

dieses informativen Gesprächs keinerlei<br />

Abbruch tut. Wer hätte noch zu Zeiten<br />

der alten Bundesrepublik je gedacht,<br />

dass sich ein führender Grüner je zu<br />

einem Kompliment für die «historische<br />

Leistung» des früheren CSU-Chefs<br />

Franz Josef Strauss bereitfinden würde?<br />

Jetzt verweist Fischer darauf, dass es zu<br />

den wesentlichen Verdiensten von<br />

Strauss gehörte, die Integration der politischen<br />

Rechten in Westdeutschland befördert<br />

zu haben. Auch Helmut Kohl<br />

wird für seine tatkräftige Rolle bei der<br />

Vereinigung Deutschlands und bei der<br />

Durchsetzung des Euro respektvolles<br />

Lob zuteil.<br />

Solche rückblickend positiven Einschätzungen<br />

ehemals scharfer politischer<br />

Gegner bezeugen den beeindruckenden<br />

Wandlungs- und Reifeprozess<br />

HELMUT FRICKE<br />

vom jugendlichen Rebellen und Strassenkämpfer<br />

Fischer zum Verantwortungsträger,<br />

der durch Erfahrung gelernt<br />

hat, historisch zu denken. Das bedeutet,<br />

die Dinge in einen geschichtlichen<br />

Kontext einzuordnen. «D<strong>am</strong>als<br />

lebten wir ja alle noch in unseren Feindbildern»,<br />

sagt Fischer an einer Stelle im<br />

Zus<strong>am</strong>menhang mit seinen Vorstellungen<br />

als junger Grüner im Bonner Bundestag.<br />

Kein Wunder, dass der Ex-Aussenminister<br />

von ideologisch verbohrten<br />

ehemaligen Gesinnungsfreunden heute<br />

mit Gift und Galle überzogen wird.<br />

Zentrale Themen im Gespräch von<br />

Stern und Fischer sind die EU-Krise, die<br />

Zukunft Europas und die ideologische<br />

Spaltung in den USA. Beide beklagen<br />

ein Führungsdefizit in Europa. Das<br />

Grundelement der europäischen Einigungsidee<br />

sei ein politisches, nicht ein<br />

ökonomisches. Wenn aber die Europäer<br />

noch Einfluss haben wollten auf das<br />

Weltgeschehen, dann müssten sie, meint<br />

Fischer, unmissverständlich erklären,<br />

«wir gehören zus<strong>am</strong>men und wir bleiben<br />

zus<strong>am</strong>men, egal was es kostet».<br />

Gegenüber Israel und seiner jetzigen<br />

Politik äussert sich der Historiker mit<br />

jüdischen Wurzeln kritischer als der<br />

frühere Aussenminister. Dieser betont,<br />

dass es völlig kontraproduktiv sei, als<br />

Deutscher den Israeli die Leviten lesen<br />

zu wollen. Und er fügt psychologisch<br />

tiefblickend und auf das Beispiel Günter<br />

Grass verweisend hinzu, dass es bei<br />

deutscher Kritik an der israelischen Politik<br />

«meistens gar nicht um Israel geht»,<br />

sondern – unbewusst – um ein Problem<br />

der Deutschen mit sich selber. ●<br />

Emanzipation Männer-Lobbyist Markus Theunert bleibt abstrakt in seinem Buch über Genderpolitik<br />

Feministische Sexisten – die wahren Feinde<br />

Markus Theunert: Co-Feminismus. Wie<br />

Männer Emanzipation sabotieren – und<br />

was Frauen davon haben. Hans Huber,<br />

Bern 2013. 209 Seiten, Fr. 35.40.<br />

Von Walter Hollstein<br />

22 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

Erinnern wir uns: Im Frühsommer 2o12<br />

hatte der Kanton Zürich für seine<br />

Gleichstellungsarbeit einen «Männerbeauftragten»<br />

eingestellt: Markus Theunert.<br />

Nach rekordverdächtigen drei Wochen<br />

war das Arbeitsverhältnis schon<br />

wieder aufgelöst.<br />

Wenn Theunert nun ein Buch zur Geschlechterpolitik<br />

vorlegt, könnte erwartet<br />

werden, dass er dieses persönliche<br />

Erlebnis mit der Gleichstellungswirklichkeit<br />

in unserem Land kritisch bearbeitet.<br />

Doch dem ist nicht so. Allenfalls<br />

finden sich einige Seitenhiebe gegen<br />

den «Gleichstellungsfeminismus», der<br />

sich zu einem «bürokratischen Herrschaftsinstrument»<br />

gewandelt habe.<br />

Dies in der Tat ist das Problem, wie vor<br />

längerer Zeit auch schon kritische Feministinnen<br />

wie Elisabeth Badinter oder<br />

die kürzlich verstorbene Tissy Bruns<br />

analysiert haben. Theunert hätte hier ja<br />

wahrscheinlich auch mehr als nur einiges<br />

zu erzählen gehabt: als Mitglied der<br />

Eidgenössischen Frauenkommission, als<br />

Lobbyist von männer.ch, als Teilnehmer<br />

von Gleichstellungskonferenzen.<br />

Doch Theunert vermeidet es, aus<br />

dem Nähkästchen zu plaudern. Kann<br />

man verstehen. Schliesslich ist er primär<br />

Politiker und kann es sich nicht erlauben,<br />

die Gleichstellungskaste nachhaltig<br />

zu vergrätzen. So baut er denn als<br />

bequemen Nebenkriegsschauplatz den<br />

Popanz des «Co-Feminismus» auf.<br />

D<strong>am</strong>it meint er Männer, die «die schweigende<br />

Mehrheit im Gleichstellungsprozess»<br />

bilden. Das sei der wirkliche<br />

Feind: «Wölfe im Schafspelz der Geschlechtergerechtigkeit».<br />

Sie gehören<br />

bekämpft und vor allem demaskiert.<br />

«Der Co-Feminist findet Gleichstellung<br />

eine gute Sache, solange er d<strong>am</strong>it nichts<br />

zu tun hat. Er ist sozusagen ein profeministischer<br />

Sexist. Aus Indifferenz, Angst<br />

oder Kalkül gibt er den Frauenversteher<br />

und drückt sich d<strong>am</strong>it erfolgreich vor<br />

der Auseinandersetzung mit seinem<br />

Mann-Sein».<br />

Über 2oo Seiten entwirft Theunert<br />

Typologien, Raster, Kategorien und<br />

schliesslich gar «zehn Spielarten» des<br />

Co-Feminismus. Das alles bleibt aber<br />

gar abstrakt. Irgendwann möchte der geneigte<br />

Leser gerne wissen, wer denn<br />

nun eigentlich ein Co-Feminist ist.<br />

Aber diese Antwort liefert der Autor<br />

nicht: kein einziger N<strong>am</strong>en, null Literatur,<br />

nicht einmal ein Verweis, nichts.<br />

Meint Theunert <strong>am</strong> Ende vielleicht sich<br />

selber? ●<br />

Walter Hollstein ist emeritierter<br />

Professor für Soziologie und Autor<br />

diverser Bücher zur Männerforschung.


Lebenswerk Eine solide Biografie zeigt den Beitrag des Aufklärers Heinrich Zschokke (1771± 1848)<br />

zur Entwicklung der modernen Schweiz<br />

Ein Deutscher prägte das<br />

helvetische Nationalbewusstsein<br />

Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771–<br />

1848. Eine Biografie. Hier + jetzt,<br />

Baden 2013. 720 Seiten, Fr. 69.–.<br />

Von Tobias Kaestli<br />

Nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft<br />

im Jahr 1798 dauerte es<br />

50 Jahre, bis die Schweiz mit der<br />

Bundesverfassung von 1848 ihre<br />

dauerhafte Staatsform fand.<br />

Einer, der während der ganzen<br />

Zeitspanne in verschiedensten<br />

Funktionen die Transformation<br />

der Schweiz in einen modernen<br />

Nationalstaat begleitete<br />

und förderte, war Heinrich<br />

Zschokke.<br />

Zschokke war zwar nur<br />

ein zweitrangiger Politiker,<br />

dafür aber ein erstrangiger<br />

Aufklärer und «Volkserzieher».<br />

Seine patriotisch- moralischen<br />

Erzählungen und seine<br />

allgemein verständlichen historischen<br />

Abhandlungen entfalteten<br />

eine kaum zu überschätzende<br />

Wirkung. Von 1798 bis 1836 gab er<br />

die populäre Zeitschrift «Der aufrichtige<br />

und wohlerfahrene Schweizer-Bote»<br />

heraus, in der er im Oktober<br />

1822 das erste Kapitel seiner «Schweizerlandsgeschichte<br />

für das Schweizervolk»<br />

veröffentlichte. «Von wunderbaren<br />

Dingen, Heldenfahrten, guten und<br />

bösen Tagen der Väter ist viel gesungen<br />

und gelehrt», schrieb er in der Ankündigung.<br />

«Nun will ich die alten Sagen verjüngen<br />

im Gemüth alles Volks.» Eindrücklich<br />

liess er Gessler, Winkelried<br />

und andere sagenhafte Gestalten auffahren,<br />

spannend schilderte er Tells Apfelschuss,<br />

den Rütlischwur, die Schlacht<br />

<strong>am</strong> Morgarten.<br />

Vom Lehrer zum Politiker<br />

1822 erschien sein Werk in Buchform bei<br />

Sauerländer in Aarau und wurde bis<br />

1847 siebenmal neu aufgelegt. Nach seinem<br />

Tod wurde es, von Sohn Emil um<br />

die neuesten geschichtlichen Ereignisse<br />

erweitert, 1852 und 1859 erneut publiziert.<br />

Wahrscheinlich war es die <strong>am</strong><br />

meisten gelesene Schweizer Geschichte,<br />

die es jemals gegeben hat, und sie widerstand<br />

lange der kritischen Geschichtsforschung.<br />

Bis weit ins 20. Jahrhundert<br />

hinein war sie Leitlinie für den<br />

Geschichtsunterricht in unseren Volksschulen<br />

und prägte nachhaltig das Nationalbewusstsein<br />

ganzer Generationen<br />

junger Schweizerinnen und Schweizer.<br />

Wer war Heinrich Zschokke? Geboren<br />

als Sohn eines Tuchmachers in Magdeburg<br />

absolvierte er das dortige Gymnasium<br />

und wurde als Sechzehnjähriger<br />

Hauslehrer bei einem Buchdrucker in<br />

Schwerin.<br />

Nebenher schrieb er volkstümliche<br />

Erzählungen und Theaterstücke, war<br />

Autor einer Wanderbühne und nannte<br />

sich «homme de lettres». Mit 19 Jahren<br />

ging er an die Universität Frankfurt an<br />

der Oder, wo er beim liberalen Theologen<br />

und Philosophen Gotthilf S<strong>am</strong>uel<br />

Steinbart im Eiltempo studierte und<br />

doktorierte. Mit 21 Jahren war er Privatdozent.<br />

Auf einem Urlaub in seiner Heimatstadt<br />

Magdeburg bek<strong>am</strong> er Gelegenheit,<br />

die Kanzel zu besteigen und als<br />

Prediger sein rhetorisches Talent zu<br />

üben. Zum Pfarrer fühlte er sich aber<br />

nicht berufen. Er war kein frommer<br />

Christ, eher ein Freigeist und Moralist.<br />

Später sollte er in Aarau eine Freimaurerloge<br />

gründen.<br />

Nach Aufenthalten in Zürich, Bern<br />

und Paris wurde Zschokke 1796 Lehrer<br />

<strong>am</strong> renommierten Seminar Reichenau<br />

in Graubünden und bald schon dessen<br />

Direktor. Er schrieb ein Lehrbuch für<br />

die Volksschule und wollte, dass es auf<br />

Romanisch übersetzt werde, weil dies<br />

die eigentliche Sprache des Volkes sei.<br />

Heinrich Zschokke<br />

schrieb 1822 die<br />

wohl meistgelesene<br />

Schweizer<br />

Geschichte. Hier auf<br />

einem Gemälde als<br />

Regierungsstatthalter<br />

(um 1800).<br />

Doch das Ende der alten Eidgenossenschaft<br />

im Jahr 1798 führte ihn auf andere<br />

Wege. Der deutsche Pädagoge schloss<br />

sich der helvetischen Revolution an;<br />

und weil er die Rache der Bündner Aristokraten<br />

fürchten musste, floh er nach<br />

Aarau, der ersten Hauptstadt der Helvetischen<br />

Republik. Er erhielt das helvetische<br />

Bürgerrecht, und Philipp<br />

Alber Stapfer, der helvetische Kulturminister,<br />

ernannte ihn schon<br />

bald zum Leiter des Büros für Nationalkultur.<br />

Danach war Zschokke Regierungskommissar<br />

in Stans und<br />

lernte Pestalozzi kennen, der<br />

dort die Kriegswaisen betreute.<br />

1804 ernannte ihn der Kanton<br />

Aarau zum Oberforst- und<br />

Bergrat, 1810 wurde er kantonaler<br />

Oberforstinspektor.<br />

Gleichzeitig versuchte er sich<br />

als Unternehmer, gründete zus<strong>am</strong>men<br />

mit zwei Lohgerbern<br />

eine Gerberei und einen Handel<br />

mit Leder. In dieser Sparte vermochte<br />

er sich aber nicht zu behaupten.<br />

Sein schon bald beträchtliches<br />

Vermögen erwarb er sich durch das<br />

Schreiben, wobei ihm die Geschäftstüchtigkeit<br />

seines Verlegers Heinrich<br />

Remigius Sauerländer sehr zustatten<br />

k<strong>am</strong>. Während 20 Jahren sass Zschokke<br />

im Grossen Rat des Kantons Aargau.<br />

Daneben blieb er immer ein ungeheuer<br />

produktiver Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber<br />

und effektvoller Vortragsredner.<br />

Differenziertes Zeitbild<br />

Zschokke selbst hat in verschiedenen<br />

autobiografischen Schriften über sein<br />

Leben Auskunft gegeben. Abgesehen<br />

davon, dass diese Schriften heute kaum<br />

noch bekannt sind, vermögen sie dem<br />

Bedürfnis nach einem umfassenden und<br />

kritischen Lebensbild in keiner Weise<br />

zu genügen.<br />

Erst mit der von der Heinrich-<br />

Zschokke-Gesellschaft initiierten wissenschaftlichen<br />

Arbeit von Werner Ort<br />

bekommen wir eine solide, interessante,<br />

stellenweise vielleicht etwas allzu weit<br />

ausholende Biografie in die Hand. In<br />

fruchtbarer Art hat der Biograf Geschichtsforschung<br />

und Literaturforschung<br />

miteinander verknüpft und ein<br />

differenziertes Lebens- und Zeitbild geschaffen.<br />

Die Stofffülle hat er klug gegliedert<br />

und nie lässt er ob all der Erlebnisse<br />

und Taten Zschokkes den historischen<br />

Kontext vergessen. Mit diesem<br />

Werk ist ein grosser Schritt zum besseren<br />

Verständnis der Geschichte der<br />

Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

getan. ●<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 23


Sachbuch<br />

Zeitgeschichte Der Historiker Gerhard Ritter schildert Hans-Dietrich Genschers Rolle beim Weg zur<br />

deutschen Einheit<br />

Kleinarbeit im langen Schatten<br />

Helmut Kohls<br />

Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich<br />

Genscher, das Auswärtige Amt und die<br />

Deutsche Vereinigung. C. H. Beck,<br />

München 2013. 263 Seiten, Fr. 36.90,<br />

E-Book 26.90.<br />

Von Gerd Kolbe<br />

Wer wie Gerhard A. Ritter 23 Jahre nach<br />

der Wiedervereinigung ein Buch über<br />

dieses wohl spannendste Kapitel deutscher<br />

Geschichte <strong>am</strong> Ende eines ereignisreichen<br />

Jahrhunderts schreibt, muss<br />

sich, mag er auch ein bedeutender Historiker<br />

und eine Art Doyen seiner Zunft<br />

sein, unwillkürlich die Frage stellen lassen,<br />

was es denn noch wirklich <strong>Neue</strong>s zu<br />

analysieren und zu referieren gibt. Literatur<br />

über diese Zeit existiert bereits in<br />

Hülle und Fülle. Doch sie st<strong>am</strong>mt zu<br />

grossen Teilen von den unmittelbar Beteiligten<br />

selbst. Ritters Verdienst besteht<br />

allemal darin, eine überschaubare<br />

Zus<strong>am</strong>menfassung der Ereignisse zu liefern,<br />

Zus<strong>am</strong>menhänge zu erläutern und<br />

Blicke in lange Zeit verschlossene Archive<br />

zu gestatten.<br />

24 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013<br />

Erste ges<strong>am</strong>tdeutsche<br />

Bundestagssitzung<br />

<strong>am</strong> 4. Oktober 1990<br />

mit Hans-Dietrich<br />

Genscher, Helmut<br />

Kohl und Gregor Gysi.<br />

WOLFGANG KUMM / KEYSTONE<br />

Totgeschwiegene Begegnung<br />

Auf diese Weise wird deutlich, dass<br />

selbst der <strong>am</strong>erikanische Aussenminister<br />

J<strong>am</strong>es Baker anfangs geneigt war,<br />

dem zweiten deutschen Staat, der DDR,<br />

eine Chance zu geben. Nach einem Besuch<br />

in Potsd<strong>am</strong> berichtete er Präsident<br />

Bush senior, dass er von dem «Willen<br />

zur Reform und zum friedlichen Wandel»<br />

der letzten SED-geführten Regierung<br />

beeindruckt sei. Auch in Washington<br />

wollte man sich zunächst Zeit lassen<br />

mit der Vereinigung. Doch früher als in<br />

anderen westlichen Hauptstädten dämmerte<br />

im State Departement die Erkenntnis,<br />

dass die deutsche Einigung<br />

aufgrund ihrer Eigendyn<strong>am</strong>ik «vermutlich<br />

schneller» verlaufen werde als die<br />

europäische. Für die USA war fortan nur<br />

noch wichtig, dass Deutschland in der<br />

Nato bleibt. Margaret Thatcher und<br />

François Mitterrand waren sich in ihrer<br />

Ablehnung hingegen einig. Der Franzose<br />

gab allerdings im Gespräch mit der<br />

Premierministerin zu bedenken, dass<br />

man wenig Karten in der Hand habe, um<br />

die Deutschen zu stoppen.<br />

Als Mitterrand kurz vor Weihnachten<br />

1989 zum Verdruss seines Freundes Helmut<br />

Kohl zum ersten und zugleich letzten<br />

Staatsbesuch in die DDR aufbrach –<br />

die Berliner Mauer war immerhin seit<br />

anderthalb Monaten Geschichte –, legte<br />

er grossen Wert auf eine Begegnung mit<br />

Gregor Gysi, der d<strong>am</strong>als gerade Vorsitzender<br />

der in PDS umbenannten SED<br />

geworden war und heute noch das Zugpferd<br />

der Partei «Die Linke» ist. Mitterrand<br />

erklärte sein Interesse, «die Bande<br />

und Bindungen» mit der DDR «enger zu<br />

gestalten». Gysi war bemüht, Mitterrand<br />

davon zu überzeugen, dass eine klare<br />

Mehrheit der Bevölkerung Ostdeutschlands<br />

gegen eine Wiedervereinigung sei,<br />

weil sie die DDR zum «Armenhaus» der<br />

Bundesrepublik machen würde. So kann<br />

man sich irren.<br />

Das eigentlich Überraschende an der<br />

Begegnung mit Gysi ist, das sie in französischen<br />

Archiven totgeschwiegen<br />

wird. Mitterrand hatte nicht einmal seinen<br />

Aussenminister Roland Dumas informiert.<br />

Zum Glück für die Nachwelt<br />

fand sich im Nachlass des Ostberliner<br />

Aussenministeriums ein Vermerk, der<br />

das Gespräch zwischen «Genosse Dr.<br />

Gysi und dem Präsidenten der Französischen<br />

Republik» festhielt. Es war dies<br />

noch einmal eine grosse Zeit der Geheimdiplomatie.<br />

Auch deshalb überraschte<br />

Helmut Kohl Ende November<br />

1989 nicht nur die vier Siegermächte des<br />

Zweiten Weltkriegs, sondern den eigenen<br />

Aussenminister mit einem im Küchenkabinett<br />

des Bundeskanzlers verfassten<br />

Zehn-Punkte-Progr<strong>am</strong>m, das<br />

über «konföderative Strukturen» einen<br />

Weg zur Deutschen Einheit aufzeichnete.<br />

Genscher blieb, um keine Zweifel zu<br />

wecken, gar keine andere Wahl, als Kohl<br />

trotz Vorbehalten vor dem Bundestag<br />

spontan zur Seite zu stehen. Ritter sieht<br />

in Kohls Vorgehen einen Versuchsballon,<br />

der bei aller Kritik im Ausland «den<br />

Menschen im Osten Deutschlands eine<br />

klare Zielvorgabe» gab und in der DDR<br />

wesentlich zum Ruf nach der Deutschen<br />

Einheit beigetragen habe.<br />

Kein störungsfreies Tandem<br />

Genschers Wirken stand im entscheidenden<br />

Zeitraum vom Mauerfall bis zur<br />

Wiedervereinigung ganz im Schatten<br />

der Aktivitäten Kohls, dem es bei seiner<br />

legendären Reise nach Moskau und in<br />

den Kaukasus gelang, Staatspräsident<br />

Gorbatschow die Vereinigung und den<br />

Verbleib Deutschlands in der Nato abzuringen.<br />

Dabei war schon bei einem<br />

Treffen der beiden Aussenminister<br />

einen Monat vorher klar geworden, dass<br />

Moskau zu Kompromissen bereit war.<br />

Doch Fortschritte konnten den vor den<br />

Türen wartenden Journalisten nur vage<br />

angedeutet werden. Der Vorgang war<br />

schliesslich Chefsache.<br />

Unverkennbar verfolgt Ritters Buch<br />

den Zweck einer Ehrenrettung. Kohls<br />

Bild als «Kanzler der Deutschen Einheit»,<br />

resümiert Ritter, müsse ergänzt<br />

werden durch die Verdeutlichung der<br />

mitentscheidenden Rolle Genschers<br />

und des Auswärtigen Amtes. Der Autor<br />

spricht von einem «nicht immer störungsfrei<br />

funktionierenden Tandem».<br />

Man könnte auch sagen: Kohl und sein<br />

Stab waren für die grossen Linien, die<br />

Diplomaten und ihr Chef für die Kleinarbeit<br />

wie die Verhandlungen mit den<br />

vier Mächten und Polen zuständig.<br />

Was schliesslich wäre das Buch eines<br />

Historikers wert, gäbe es nicht auch<br />

Antworten auf aktuelle Fragen. Ist etwa<br />

beim Maastricht-Vertrag über die Währungsunion<br />

seinerzeit geschludert worden?<br />

Ritter ist rigoros. Die These, Kohl<br />

habe mit der Zustimmung zur Europäischen<br />

Währungsunion einen Preis für<br />

Frankreichs Zustimmung zur Deutschen<br />

Einheit gezahlt, sei falsch. Die Weichen<br />

zur Währungsunion seien schon früher<br />

gestellt worden. Gerhard A. Ritter – und<br />

er steht d<strong>am</strong>it nicht allein – bedauert jedoch,<br />

dass es d<strong>am</strong>als in der Eile nicht<br />

zur Festlegung auf eine gemeins<strong>am</strong>e Fiskalpolitik<br />

k<strong>am</strong>. ●


Astrophysik Das Buch seiner ersten Frau Jane erzählt das Martyrium von Stephen Hawking: ein<br />

wacher Geist in einem gelähmten Körper<br />

Popstar der Physik<br />

Jane Hawking: Die Liebe hat elf<br />

Dimensionen. Mein Leben mit Stephen<br />

Hawking. Piper, München 2013.<br />

448 Seiten, Fr. 35.90.<br />

Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen<br />

Hawking im 3-Minuten-Takt. Spektrum,<br />

Heidelberg 2013. 160 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Von André Behr<br />

In der Wissenschaft gibt es Preise aller<br />

Art, aber keine Ranglisten. Sie würden<br />

keinen Sinn ergeben, denn selbst so abstrakte<br />

Disziplinen wie Mathematik und<br />

Theoretische Physik waren immer mehr<br />

Mannschafts- als Einzelsport. Die PR-<br />

Maschinerie jedoch will Helden. Das<br />

führt zu Kaskaden von Superlativen. Ein<br />

Paradebeispiel für diesen Mechanismus<br />

ist der englische Physiker Stephen<br />

Hawking, den man gerne auf gleiche<br />

Höhe wie Albert Einstein stellt.<br />

Hawking, 1942 in Oxford geboren, war<br />

21 und ein hoffnungsvoller Student, als<br />

ihm die Ärzte eröffneten, dass er an ALS<br />

leidet, einer degenerativen Erkrankung<br />

des motorischen Nervensystems. Mit<br />

der Diagnose wurde ihm eine Lebenserwartung<br />

von wenigen Jahren vorausgesagt.<br />

Im Januar wurde er 71. Für seine<br />

innovativen Arbeiten zu Schwarzen Löchern<br />

und Quantenaspekten des frühen<br />

Universums hat er zahlreiche Auszeichnungen<br />

erhalten, zuletzt im März den<br />

«Fund<strong>am</strong>ental Physics Price», der vom<br />

russischen Investor Juri Milner in Eigenregie<br />

vergeben wird.<br />

Die Thematik von Hawkings Forschungen<br />

ist einer der Gründe für seine<br />

Popularität, denn Gedanken über den<br />

Kosmos sprechen uns naturgemäss an.<br />

Stephen Hawking<br />

leidet an einer<br />

Nervenkrankheit,<br />

die ihm nur wenige<br />

Lebensjahre<br />

bescheren sollte – im<br />

Januar wurde er 71.<br />

Als Schwarze Löcher, die Hawking studierte,<br />

bezeichnet man Gebiete des Universums,<br />

in denen die Gravitation so<br />

stark ist, dass kein Lichtsignal entweichen<br />

kann. Etabliert wurde der Begriff<br />

durch John Archibald Wheeler Ende der<br />

sechziger Jahre. Hawking hatte 1975<br />

postuliert, dass diese Objekte dennoch<br />

Strahlung abgeben und d<strong>am</strong>it viele weitere<br />

Untersuchungen angestossen.<br />

Da es in Hawkings wichtigsten Forschungen<br />

bis Mitte der achtziger Jahre<br />

um die möglichen Grenzen der Allgemeinen<br />

Relativitätstheorie geht, reihen<br />

ihn seine Kollegen durchaus in die<br />

oberste Klasse der Physiker nach Einstein<br />

ein. Zum zweiten Popstar nach<br />

Einstein wurde er freilich aufgrund seines<br />

Martyriums als wacher Geist in<br />

einem gelähmten Körper. Diese Hilflosigkeit<br />

ist für alle schwer auszuhalten.<br />

GUILLERMO GRANJA / KEYSTONE<br />

Das schilderte bewegend Hawkings<br />

erste Ehefrau Jane Wilde 1999 in ihrer<br />

Autobiografie «Music to move the<br />

stars», die ihn als Teenager kennen<br />

und später lieben lernte, mit ihm eine<br />

Tochter und zwei Söhne hat, und über<br />

25 Jahre bis zur Trennung 1990 alle Phasen<br />

seines beruflichen Erfolgs und persönlichen<br />

Leids durchstand.<br />

Das sehr freimütige Buch brachte der<br />

promovierten Romanistin Solidaritätsbekundungen<br />

anderer Frauen, aber auch<br />

einiges an harscher Kritik ein. In der<br />

stark überarbeiteten Version von 2007,<br />

die nun auf Deutsch vorliegt, spürt man<br />

angenehm die Distanz zu jener Krise, als<br />

Hawking einer seiner Helferinnen nahe<br />

k<strong>am</strong> und dann heiratete. Inzwischen ist<br />

er auch von dieser Frau geschieden und<br />

wieder in gutem Kontakt mit Jane. Ihr<br />

neues Buch ersetzt keine kritische Biografie<br />

von Leben und Werk Stephen<br />

Hawkings, zeigt aber eindrücklich, dass<br />

es zwischen Lobhudelei und Bashing<br />

Wesentlicheres gibt.<br />

Hawking selbst wurde als Autor weltberühmt<br />

mit seinem Bestseller «Eine<br />

kurze Geschichte der Zeit», von dem<br />

seit 1988 über 10 Millionen Stück verkauft<br />

worden sind. Im Schlepptau dieses<br />

Erfolgs erscheinen immer wieder Bücher<br />

mit dem gelähmten Mann auf dem<br />

Cover, der vorwiegend durch Wimpernschläge<br />

kommuniziert. Das jüngste von<br />

Paul Parsons und Gail Dixon will ihn<br />

uns «im 3-Minuten-Takt» näherbringen.<br />

Es tappt an einigen Stellen unschön in<br />

die Superlativfalle, etwa wenn Hawking<br />

als «ausserordentlich begabt» und<br />

Roger Penrose, von dem Hawking sehr<br />

viel lernte, nur als «talentierter Mathematiker»<br />

bezeichnet wird. ●<br />

Autobiografie Frank Stronachs kleiner Bruder erzählt seine Lebens- und F<strong>am</strong>iliengeschichte<br />

2000-mal auf die Hundwiler Höhe<br />

Hans Adelmann: Einfacher leben. Warum<br />

Frank Stronachs kleiner Bruder 2072-mal<br />

den gleichen Berg bestieg. Edition a,<br />

Wien 2013. 95 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Von David Strohm<br />

Zwei Brüder, die unterschiedliche Wege<br />

gingen und sich doch nie aus den Augen<br />

verloren, zwei Charaktere mit gegensätzlichen<br />

Vorstellungen vom Leben:<br />

Der eine ist ein erfolgreicher Unternehmer<br />

geworden, ehrgeizig, rastlos, fleissig.<br />

Der andere wurde ein bescheidener<br />

Arbeiter. Er findet sein Glück im Kleinen,<br />

<strong>am</strong> Liebsten geht er zu Fuss hinaus<br />

in die Natur.<br />

Hans Adelmann hat sich mit «Einfacher<br />

leben» den eigenen Werdegang<br />

von der Seele geschrieben und d<strong>am</strong>it<br />

eine persönlich gehaltene Begründung<br />

geliefert für die ideellen und materiellen<br />

Differenzen, die ihn von seinem sieben<br />

Jahre älteren Halbbruder Frank Stronach<br />

trennen. Der österreichisch-kanadische<br />

Milliardär, Gründer des Autoteile-Konzerns<br />

Magna und Spiritus Rector<br />

des populistischen, euroskeptischen<br />

«Te<strong>am</strong>s Stronach für Österreich», teilt<br />

mit dem Autor Kindheit und Jugend in<br />

der ländlichen Steiermark. Ihr gemeins<strong>am</strong>er<br />

Vater war ein überzeugter Kommunist.<br />

Die beiden machen – nacheinander<br />

– eine Lehre zum Werkzeugmacher.<br />

Dann zieht es Frank in die weite<br />

Welt, er geht nach Kanada und legt dort<br />

den Grundstein zu seiner Karriere und<br />

seinem Vermögen.<br />

1958 holt er seinen kleinen Bruder<br />

nach, Adelmann wird Stronachs erster<br />

Angestellter. Doch ihre Wege trennen<br />

sich bald wieder. Hans kann und will die<br />

hohen Ansprüche von Frank nicht erfüllen.<br />

Er zieht mit seiner Frau Eva in die<br />

Ostschweiz, findet Arbeit als Monteur<br />

und Abwart. Zwei Töchter machen das<br />

F<strong>am</strong>ilienidyll komplett. In seiner freien<br />

Zeit zieht es Hans Adelmann hinaus,<br />

immer und immer wieder erwandert er<br />

die Hundwiler Höhe. Im Laufe der Jahre<br />

steht er mehr als 2000-mal auf dem Aussichtsberg<br />

im Appenzeller Hinterland.<br />

«Kein Aufstieg war wie der andere»,<br />

schreibt er über seinen geliebten Rückzugsort.<br />

In einer einfachen Hütte sinniert<br />

er über seine Vergangenheit und<br />

den eigenen Weg. Die Welt seines Bruders<br />

ist ihm fremd geworden. Und doch<br />

mag er sich von ihr nicht lösen.<br />

95 Seiten dünn ist das Bändchen mit<br />

der Lebensgeschichte eines Mannes, der<br />

sich für das bescheidene Glück entschieden<br />

hat. Leicht liest es sich, es gibt<br />

keine Schnörkel und Schlaufen. Ein einfaches<br />

Buch über ein einfaches Leben. ●<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 25


Sachbuch<br />

Zoologie Vom Küken zum K<strong>am</strong>pfhahn: Die Welt des Huhns ist faszinierend, wie uns ein bibliophiles<br />

Buch über das Federvieh lehrt<br />

Und jeden Tag ein Ei<br />

Joseph Barber (Hrsg.): Das Huhn.<br />

Geschichte, Biologie, Rassen. Haupt,<br />

Bern 2013. 224 Seiten, Fr. 38.90.<br />

Von Geneviève Lüscher<br />

Wussten Sie, dass das Huhn vom Dinosaurier<br />

abst<strong>am</strong>mt? Dass die kleinsten<br />

Hühner nur 500 Gr<strong>am</strong>m wiegen, während<br />

es K<strong>am</strong>pfhähne auf über fünf Kilo<br />

bringen? Dass es keinen Hahn braucht,<br />

d<strong>am</strong>it die Henne Eier legt? Dass Hühner<br />

mit dem einen Auge den Himmel nach<br />

Feinden und mit dem anderen den<br />

Boden nach Körnern absuchen können?<br />

Das nennt man monokulares Sehen; der<br />

Mensch kann nur binokular sehen, also<br />

denselben Gegenstand mit beiden<br />

Augen gleichzeitig; das Huhn ist ihm –<br />

wenigstens diesbezüglich – überlegen.<br />

Das und vieles andere lernt man im<br />

schön gestalteten Buch aus dem Haupt-<br />

Verlag. Es st<strong>am</strong>mt aus der Feder von<br />

Spezialisten, denen es vorzüglich gelungen<br />

ist, ihr Wissen für ein breites Publikum<br />

aufzubereiten. Die Hühner wachsen<br />

einem jedenfalls ans Herz.<br />

Das Urhuhn st<strong>am</strong>mt aus dem ostasiatischen<br />

Dschungel. Seine Domestikation<br />

begann vor rund 10 000 Jahren.<br />

Nach Europa gelangte das Haushuhn<br />

aber erst kurz vor der Zeitenwende, viel<br />

später als die anderen Haustiere. Bis in<br />

die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten<br />

Hühner in kleinen Gruppen auf dem<br />

Bauernhof, gehalten wurden sie in erster<br />

Linie wegen der täglich «anfallenden»<br />

Eier. Wenn die Legeleistung merklich<br />

nachliess, k<strong>am</strong>en sie in den Topf.<br />

Erst mit der wenig tiergerechten industriellen<br />

Haltung wurde das Huhn entweder<br />

zum Eier- oder zum Fleischlieferanten<br />

degradiert.<br />

Hühner sind «angenehme Hausgenossen».<br />

Sie erkennen ihre Halterin und<br />

reagieren auf sie. Ihr ausgeprägtes Hierarchieverhalten<br />

in der Gruppe unterliegt<br />

strengen Regeln, die faszinierend<br />

zu beobachten sind. Obwohl mit Flügeln<br />

ausgestattet, gehört das Fliegen nicht zu<br />

ihren Lieblingsbeschäftigungen; nur<br />

leichtere Arten können kleine Strecken<br />

im Flug überwinden. Dafür erreichen<br />

laufende Hühner Spitzengeschwindigkeiten<br />

von 14 Stundenkilometern.<br />

Im letzten Buchkapitel werden einige<br />

der über 1000 Hühnerrassen vorgestellt.<br />

Sie unterscheiden sich nicht nur vom<br />

Aussehen her, sondern auch vom Charakter.<br />

Ein paar sind zutraulich, andere<br />

aggressiv. Es gibt ausdauernde Brüterinnen,<br />

aber auch Hennen, die ihre Eier<br />

vernachlässigen. Viele Arten st<strong>am</strong>men<br />

aus England. Aus der Schweiz hingegen<br />

kommt die «Appenzeller Spitzhaube»:<br />

Das Zierhuhn mit guten Legeeigenschaften<br />

gehört – wen wundert’s – zu<br />

den kleinen Geflügelrassen. ●<br />

Das <strong>am</strong>erikanische Buch Hobelspäne und Scherben: Geschichte zum Anfassen<br />

Ein Kompass und ein Tagebuch, Hobelspäne<br />

eines Galgens und ein Groschenroman<br />

über den Goldrausch in Alaska,<br />

dazu eine Toiletten-Scherbe von Hitlers<br />

Berghof <strong>am</strong> Obersalzberg. In einer<br />

Schublade mögen diese Relikte ein<br />

merkwürdiges S<strong>am</strong>melsurium abgeben.<br />

Zwischen Buchdeckeln wird daraus<br />

eine spannende «<strong>am</strong>erikanische Geschichte<br />

zum Anfassen». Dafür ist dem<br />

Historiker und Juristen Meredith Mason<br />

Brown zu danken, dem die genannten<br />

Gegenstände und über ein Dutzend<br />

weitere als Grundlage für Touching<br />

America’s History. From the Pequot<br />

Wars through World War Two (Indiana<br />

University Press, 271 Seiten) dienen.<br />

Brown hat 2008 nach einer erfolgreichen<br />

Karriere bei einer grossen New<br />

Yorker Kanzlei mit «Frontiersman»<br />

eine vielbeachtete Daniel-Boone-Biografie<br />

vorgelegt. Nicht zufällig tritt der<br />

legendäre Pionier auch in «Touching<br />

America’s History» auf. Für ihn steht<br />

der Kompass, den Browns Vorfahre<br />

Colonel Willi<strong>am</strong> Preston (1729–1783) als<br />

Landvermesser in Virginia und Kentucky<br />

benutzt hat. Er hat dabei mit Boone<br />

zus<strong>am</strong>mengearbeitet. Doch im Gegensatz<br />

zu diesem konnte der Oberst ausgedehnte<br />

Ländereien erwerben, die<br />

seinen Nachkommen eine prominente<br />

Position nicht nur in Kentucky sicherten.<br />

Bald mit weiteren Sippen wie den<br />

Browns und den Masons verschwägert,<br />

blieben die Vorfahren des Autors als<br />

Offiziere und Politiker prominente<br />

Akteure auf der Bühne der <strong>am</strong>erikanischen<br />

Geschichte.<br />

Der Vater des Autors,<br />

Presseoffizier John<br />

Mason Brown, 1945 in<br />

der Normandie.<br />

Autor Meredith<br />

Mason Brown (unten).<br />

Gegenstände aus ihrem Nachlass dienen<br />

Brown als Einstieg in dieser Historie.<br />

D<strong>am</strong>it gibt er gerade europäischen<br />

Lesern auch Aufschluss über ein Milieu:<br />

die F<strong>am</strong>ilien, die Amerika aufgebaut und<br />

zu seiner Weltmachtposition geführt<br />

haben. Der Leser notiert, wie Pioniere<br />

ihre Söhne auf Universitäten wie Yale<br />

schicken und diese Eliten keine Schranken<br />

zwischen Wirtschaft, Militär und<br />

Politik kannten. Auch literarisches<br />

Talent taucht früh, etwa in den Tagebüchern<br />

von John Mason Brown (1837–<br />

1890), auf. Diesen lockte Abenteuerlust<br />

in den d<strong>am</strong>als noch wilden Westen, ehe<br />

er als Offizier im Bürgerkrieg für den<br />

Norden ins Feld zog. Unter seinen Gegnern<br />

waren Verwandte wie der Sklavenbesitzer<br />

und General Willi<strong>am</strong> Preston<br />

(1816–1887), der nach der Niederlage des<br />

Südens vorübergehend in Kanada Zuflucht<br />

fand. Die Hobelspäne st<strong>am</strong>men<br />

derweil von dem Galgen, an dem der<br />

Abolitionist John Brown kurz vor<br />

Kriegsbeginn 1859 gehängt wurde; mit<br />

ihm ist der Autor indes nicht verwandt.<br />

Als Literat tat sich dagegen John Mason<br />

Brown (1900–1969) hervor, der Vater<br />

des Autors. Dieser brachte als Presseoffizier<br />

im Stab von Dwight D. Eisenhower<br />

den Goldrausch-Roman in die<br />

Heimat zurück, mit dem sich «Ike» <strong>am</strong><br />

Vorabend der Invasion in der Normandie<br />

das Warten auf besseres Wetter<br />

verkürzt hatte. Ein Freund des Vaters<br />

vertraute dem Autor später das Souvenir<br />

vom Berghof an.<br />

Eine Ausnahme unter diesen nachgelassenen<br />

Relikten bilden zwei indianische<br />

Steinäxte aus dem Südosten<br />

Connecticuts, die Brown jüngst in seinem<br />

Wohnort Stonington erworben<br />

hat. Hier setzt seine chronologisch geordnete<br />

und mit Karten und Abbildungen<br />

leicht zugängliche Schilderung des<br />

Massakers von 1637 an, das Briten und<br />

indianische Verbündete unter dem<br />

St<strong>am</strong>m der Pequots angerichtet haben.<br />

D<strong>am</strong>it setzt Brown ein Leitmotiv: In<br />

einem kurzen Nachwort lässt er keinen<br />

Zweifel daran, dass kriegerische Gewalt<br />

wesentlich zum Wachstum der USA<br />

beigetragen hat. Aber daneben will er<br />

Forscherdrang, Landhunger, intellektuelle<br />

Neugierde, Einfallsreichtum,<br />

Beharrlichkeit und «Mut im Überfluss»<br />

ihren Rang nicht streitig machen.<br />

Wenn das Buch einen Mangel hat, dann<br />

die marginale Rolle, die Frauen darin<br />

spielen. Aber dies stört den prominenten<br />

Historiker Joseph J. Ellis nicht, der<br />

Brown für diesen innovativen Beitrag<br />

zum Verständnis Amerikas lobt.<br />

Von Andreas Mink ●<br />

26 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 28. April 2013


Agenda<br />

Druckwerkstatt Rixdorfer Wort- und Bilderbögen<br />

Agenda Mai 2013<br />

Basel<br />

Freitag, 3. Mai, 18.30 Uhr<br />

Claude Lachat: Muttertag zum Ersten.<br />

Buchvernissage, Lesung und Apéro, musikalisch<br />

umrahmt. Alterszentrum Zum<br />

L<strong>am</strong>m, Rebgasse 16, Tel. 061 690 21 11.<br />

Montag, 6. Mai, 20 Uhr<br />

Dani von Wattenwyl: Pfauenstolz. Buchvernissage<br />

mit Lesung. Thalia Bücher,<br />

Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55.<br />

Mittwoch, 22. Mai, 19 Uhr<br />

Thomas Hettche: Totenberg. Lesung ,<br />

Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3,<br />

Tel. 061 261 29 50.<br />

Bern<br />

Dienstag, 7. Mai, 20 Uhr<br />

Patrice Nganang: Mont Plaisant – Der<br />

Schatten des Sultans. Lesung und<br />

Gespräch, Fr. 15.–. ONO Bühne, Kr<strong>am</strong>gasse<br />

6. Info: www.onobern.ch.<br />

Die «Rixdorfer» zählen zu den interessantesten und<br />

langlebigsten deutschen Künstlergruppen der letzten<br />

Jahrzehnte. Anfang der 1960er Jahre trafen sich die<br />

d<strong>am</strong>als noch jungen Männer erstmals in einem<br />

Hinterhof der Berliner Oranienstrasse; bis heute ist<br />

das Ensemble aktiv. Es arbeitete mittels ausgedienter<br />

Blei- und Holzlettern und verband Wort und Bild in<br />

bibliophilen Bilderbogen, Kalendern und Flugblättern.<br />

Uwe Bremer, Albert Schindehütte, Johannes Vennek<strong>am</strong>p<br />

und Arno Waldschmidt zählten zum Kern der<br />

Bestseller April 2013<br />

Belletristik<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.<br />

Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.<br />

Nora Roberts: Die letzte Zeugin.<br />

Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 28.40.<br />

Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff.<br />

Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret.<br />

dtv. 656 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Paulo Coelho: Die Schriften von Accra.<br />

Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Franz Hohler: Der Geisterfahrer.<br />

Luchterhand. 576 Seiten, Fr. 28.50.<br />

Arne Dahl: Zorn.<br />

Piper. 496 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Dora Heldt: Herzlichen Glückwunsch, Sie<br />

haben gewonnen. dtv. 352 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Timur Vermes: Er ist wieder da.<br />

Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche<br />

Reise. Salis. 276 Seiten, Fr. 34.80.<br />

Sachbuch<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16.4.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch.<br />

stilbildenden Gruppe. Ihr Übervater war der grosse<br />

Berliner Malerpoet Günter Bruno Fuchs, der sich aber<br />

um 1970 zurückzog. Christian Döring hat als Herausgeber<br />

den «Rixdorfern» nun einen liebevoll gestalteten<br />

Bildband gewidmet. Grossformatige Abbildungen<br />

der Handpressen-Drucke werden ergänzt durch<br />

zahlreiche Fotos und Dokumente. Manfred Papst<br />

Die Druckwerkstatt der Dichter. Rixdorfer Wort- und<br />

Bilderbögen. Die Andere Bibliothek, Sonderband,<br />

Berlin 2013. 447 Seiten, Fr. 139.–.<br />

7<br />

Duden.<br />

8<br />

9<br />

Sheryl<br />

10<br />

Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.<br />

Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt.<br />

Droemer/Knaur. 188 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.<br />

Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.<br />

Petra Bock: Mindfuck – Warum wir uns sabotieren.<br />

Droemer/Knaur. 250 Seiten, Fr. 30.90.<br />

Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende <strong>am</strong><br />

meisten bereuen. Arkana. 351 Seiten, Fr. 28.40.<br />

Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt<br />

ihr nie. Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90.<br />

Die deutsche Rechtschreibung. 25.<br />

Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90.<br />

Florian Illies: 1913 – der Sommer des Jahr -<br />

hunderts. Fischer. 319 Seiten, Fr. 28.90.<br />

Sandberg: Lean In.<br />

Econ. 312 Seiten, Fr. 27.90.<br />

Frank Baumann: Single in 365 Tagen.<br />

Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 34.90.<br />

Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr<br />

Susanne Schanda:<br />

Literatur der Rebellion.<br />

Buchpräsentation.<br />

Käfigturm, Marktgasse 67,<br />

Tel. 031 322 75 00.<br />

Solothurn<br />

Freitag, 10., bis <strong>Sonntag</strong>, 12. Mai<br />

35. Solothurner Literaturtage.<br />

Progr<strong>am</strong>m unter: www.literatur.ch .<br />

Zürich<br />

Donnerstag, 2. Mai, 20 Uhr<br />

Sibylle Baumann liest Geschichten über<br />

Bäume und Träume. Mit der Harfenistin<br />

Rahel Schweizer. Palmenhaus, Alter<br />

Botanischer Garten, Pelikanstrasse 40.<br />

Info: 079 339 01 20.<br />

Dienstag, 7. Mai, 19.30 Uhr<br />

Ute Kröger: Nirgends Sünde, nirgends<br />

Laster. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.<br />

Literaturhaus, Limmatquai 62,<br />

Tel. 044 254 50 00.<br />

Dienstag, 14. Mai, 20 Uhr<br />

Alain de Botton: Religion für Atheisten.<br />

Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal,<br />

Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.<br />

Mittwoch, 15. Mai, 20.30 Uhr<br />

Doris Knecht: Besser. Lesung, Fr. 15.–.<br />

Orell Füssli Buchhandlung <strong>am</strong> Bellevue,<br />

Theaterstrasse 8 , Tel. 0848 849 848.<br />

Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr<br />

Wilfried Meichtry:<br />

Mani Matter. Lesung mit<br />

Liedern, Fr. 25.–. Lieder:<br />

Jacob Stickelberger.<br />

Kaufleuten (s. oben) .<br />

Bücher <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> Nr. 5<br />

erscheint <strong>am</strong> 26.5.2013<br />

Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher <strong>am</strong><br />

<strong>Sonntag</strong>» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60<br />

oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind ± solange<br />

Vorrat ± beim Kundendienst der <strong>NZZ</strong>, Falkenstrasse 11,<br />

8001 Zürich, erhältlich.<br />

CHRISTIAN HELMLE<br />

NATHALIE BENELLI<br />

28. April 2013 ❘ <strong>NZZ</strong> <strong>am</strong> <strong>Sonntag</strong> ❘ 27


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10CAsNsjY0MDAx1TW0NDY3MgIAYoydFg8AAAA=<br />

D<strong>am</strong>it Ihre Neugierde gestillt<br />

wird: Wir unterstützen<br />

gute Literatur.<br />

Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring<br />

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