Rede Wolfgang Brauer - Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V.
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<strong>Wolfgang</strong> <strong>Brauer</strong> 28.11.2009<br />
100 Jahre Parkfriedhof <strong>Marzahn</strong> – Eine Festrede<br />
Im 2006 erschienenen „Lexikon Berliner Grabstätten“ findet der Parkfriedhof am<br />
Wiesenburger Weg in <strong>Marzahn</strong> nur kärgliche Erwähnung. Berühmte Persönlichkeiten der<br />
Berliner Geschichte sind hier nicht bestattet, beim Gang auch durch die scheinbar älteren<br />
Teile des Friedhofes stolpert man nicht über die andernorten üblichen, heute meist<br />
efeuumwucherten Familien- und Erbbegräbnisse. Dieser Friedhof macht im ersten Moment<br />
seines Betretens eher den Eindruck einer großzügigen und gepflegten Parkanlage. Dem<br />
aufmerksamen Beobachter fällt allerdings sofort eine relativ hohe Zahl von Gedenkanlagen<br />
auf dem Areal auf. Aufgrund der Bemühungen der Friedhofsverwaltung, dies sei hier bereits<br />
dankbar vermerkt, sind diese auch leicht auffindbar und gut zugänglich.<br />
Es scheint sich hier also um einen Ort zu handeln, der enger mit der „großen“ Berliner<br />
Geschichte verwoben ist, als es im öffentlichen Bewusstsein dieser Stadt deutlich wird. Selbst<br />
vielen Einwohnern unseres Bezirkes ist dies nicht bewusst. Allerdings handelt es sich um die<br />
„Geschichte von unten“. Hier liegen die Menschen, die die Einfälle der sogenannten<br />
„Großen“ immer tragen und ertragen mussten – und so manche brachen unter dieser Last<br />
zusammen und auch von denen soll hier und heute die <strong>Rede</strong> sein. Jeder Mensch hat Anspruch<br />
auf Erinnerung.<br />
Ersparen möchte ich Ihnen einen Exkurs über die Geschichte der europäischen, der deutschen<br />
und auch der speziellen Berlinischen Sepulkralkultur. Wen das interessiert, es gibt ein<br />
ausgezeichnetes Museum dazu in Kassel. Dass Friedhöfe aber immer etwas mit<br />
Ortsgeschichte zu schaffen haben, ist einsichtig. Und für unseren Parkfriedhof ist ein kurzer<br />
Blick auf die Geschichte Lichtenbergs zwingend.<br />
Noch im Jahre der Reichsgründung 1871 hatte die Gemeinde Lichtenberg 3.244 Einwohner,<br />
1897 hatte dann die Industrialisierung voll zugeschlagen. In Lichtenberg wohnten damals<br />
35.170 Einwohner, innerhalb von 10 Jahren verdoppelte sich diese Zahl auf 67.978 im Jahre<br />
der Verleihung des Stadtrechts 1907. Noch nicht dazu gehörte die bis 1912 selbständige<br />
Landgemeinde Boxhagen-Rummelsburg. 1910 hatten beide Kommunen zusammen 133.141<br />
Einwohner.<br />
Damit reichten auch die Friedhofsflächen in Lichtenberg nicht mehr aus. Zumal der Bedarf an<br />
Flächen für sozial schwächere Schichten auf extreme Weise zunahm. Lichtenberg war eine<br />
Arbeiterstadt. Für deren letzten Weg waren auch damals oftmals die Vorläufer der heutigen<br />
Sozialämter zuständig. Zwar wurde bereits 1908 von der Berliner Stadtsynode der<br />
Evangelischen Kirche der Ahrensfelder Ostfriedhof mit 285 ha Gesamtfläche eingeweiht.<br />
Aber der bot für den akuten Bedarf Lichtenbergs keine Lösung: „Man [gemeint ist die<br />
Evangelische Kirche] will der Stadt nur die Armenleichen überlassen, vergisst aber, dass die<br />
Stadt gesetzlich verpflichtet ist, auch Dissidenten und Nichtchristen Begräbnisstellen zu<br />
überlassen, denen bekanntlich auf Kirchengemeindenfriedhöfen grundsätzlich<br />
Begräbnisstellen versagt werden“, beschrieb die „Vossische Zeitung“ 1912 diesen Konflikt.<br />
Jedenfalls kaufte Lichtenberg 1908 der <strong>Marzahn</strong>er Bauernschaft 22 ha Land für stolze<br />
296.000 Mark ab und richtete davon zunächst 7,4 ha als Friedhof ein. Der wurde am 29.<br />
November 1909 eingeweiht. Wir haben also morgen das 100jährige Jubiläum zu begehen –<br />
das Wort „feiern“ will mir aber in diesem Zusammenhang nur schwer über die Zunge. Auch<br />
wenn das Gebäude, in dem wir uns hier befinden, den Namen „Feierhalle“ trägt und im
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Zusammenhang mit den Begriffen Trauer und Bestattung im Deutschen landläufig mit dem<br />
Wort „Feier“ zusammengesetzte Substantive gebildet werden. Unsere Feierhalle ist übrigens<br />
seit 1910 ein Provisorium – als solches wurde sie damals gebaut und sie steht heute fast noch<br />
im Originalzustand. Der Friedhofsplan von 1909 sah ein entschieden repräsentativeres<br />
Gebäude an einer ebenfalls nicht zustande gekommenen Querachse der Anlage vor.<br />
Die ersten Toten, die hier zu Grabe getragen wurden, waren Ida Biedermann und Ludwig<br />
Janonczyk. Letzterer war ein 45jähriger Arbeiter aus Friedrichshain, die Arbeiterin Ida<br />
Biedermann war erst 16 Jahre alt und wohnte in Lichtenberg. Woran starb ein<br />
Arbeitermädchen in jenen Jahren? Tuberkulose, ein Unfall oder war es die „Engelmacherin“,<br />
wie man damals beschönigend sagte? Ab 1916 kam dann noch der Hunger dazu und der sollte<br />
bis nach 1945 immer wieder seine Ernte in die Scheuer am Wiesenburger Weg einfahren.<br />
Hans-Jürgen Mende, der Verfasser des schon zitierten Lexikons, verweist übrigens als<br />
besonders sehenswertes Grab auf das von Käthe Schröder. Kätchen Schröder starb mit 13<br />
Jahren am 3.12.1916. Das war der berüchtigte Kohlrübenwinter.<br />
Angelegt war der Friedhof als Friedhof für „Ortsarme“, wie das damals hieß und das blieb er<br />
auch lange Zeit. Bis über das Jahr 1945 hinaus wurden hier fast alle mittellos Verstorbenen<br />
aus den zentralen, nordöstlichen und östlichen Verwaltungsbezirken Berlins zur Ruhe<br />
gebettet. Zeitweise fanden keine Bestattungen statt, die die Angehörigen selbst bezahlten.<br />
Noch 1934 konstatiert der „Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt“, dass die Tatsache, „dass<br />
… zur Zeit fast nur noch verstorbene Wohlfahrtspfleglinge in <strong>Marzahn</strong> beigesetzt werden, …<br />
dem Friedhof sein besonderes Gepräge gegeben [habe].“<br />
Dem entsprach auch die miserable Verkehrsanbindung. Nur zum Vergleich: Für den ebenfalls<br />
1909 eröffneten Stahnsdorfer Südwestfriedhof gab es einen unmittelbar zu diesem führenden<br />
Eisenbahnanschluss mit auch aus heutiger Sicht akzeptablen Taktfrequenzen. Der <strong>Marzahn</strong>er<br />
Friedhof lag zwar unmittelbar am 1898 eingerichteten Haltpunkt der Wriezener Bahn, aber<br />
noch in der bereits zitierten Ausgabe des „Lichtenberger Anzeigers …“ werden als große<br />
Erschwernisse die allenfalls einstündige Folge der Züge und der hohe Fahrpreis, der „für<br />
Hinterbliebene schwer erschwinglich“ sei, beklagt. Erst ab 1938 gab es für die Wriezener<br />
Bahn einen Vororttarif. Wie gesagt, hier lagen die Ärmsten der Armen. Die Hinterbliebenen<br />
hätten natürlich ab August 1928 mit der Buslinie 37 nach <strong>Marzahn</strong> fahren können. Aber die<br />
ging von Friedrichsfelde über Biesdorf und endete in <strong>Marzahn</strong> an der Kirche. Von da ab<br />
musste man laufen. 20 Minuten, wenn man einigermaßen zu Fuß war.<br />
Das alles hat sich inzwischen geändert. Seit 1976 fährt die S-Bahn elektrisch bis hierher und<br />
mit dichterem Takt, aber der Zugang für ältere und behinderte Menschen, die nicht mit dem<br />
Auto kommen können, ist nach wie vor ein Problem. Gut, dass es da einen<br />
Hoffnungsschimmer am Planungshorizont gibt.<br />
Aber zurück zur Geschichte. Auch auf unserem Friedhof hat wenige Jahre nach seiner<br />
Eröffnung der Erste Weltkrieg seine bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen. 1916 wurde ein<br />
Ehrenhain für Gefallene angelegt. 141 Soldaten sind hier beigesetzt. Die Gefallenenmale des<br />
Ersten „Großen Krieges der weißen Männer“, wie Arnold Zweig ihn nannte – auf Zweig wird<br />
noch zurückzukommen sein – sind immer wieder umstritten. Ich finde es gut, dass auch diese<br />
Anlage einen würdigen Pflegezustand aufweist. Merkwürdig berührt war ich allerdings, als<br />
1998 der ursprünglich am 1951 geschaffenen Ehrenmal für die umgekommenen<br />
Zwangsarbeiter angebrachte Eichenlaubkranz Erwin Kobberts in diese Anlage einbezogen<br />
wurde. Dass diese Gedenkstätte – gewidmet den „Opfern der Vereinten Nationen“, so die
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seinerzeitige Inschrift auf dem Gedenkobelisk - sich Anfang der 1990er Jahre in einem<br />
unwürdigen Zustand äußersten Verfalls befand, gehört mit zu den denkmalpflegerischen<br />
Sünden der DDR.<br />
Aus dem Ersten Weltkrieg wurde der deutsche Bürgerkrieg. Im März 1919 wüteten Noskes<br />
Freikorpsverbände im als rot verschrienen Lichtenberg. Am 12. März erschossen sie an der<br />
Mauer des alten Friedhofs an der Lichtenberger Möllendorffstraße elf Arbeiter, Matrosen und<br />
Soldaten, die sich mit anderen gegen etwa 30 000 Mann Freikorpssöldner unter dem<br />
Kommando des Freiherrn von Lüttwitz zur Wehr setzten. Dieser Lüttwitz ist derselbe, der ein<br />
Jahr später mit einem gewissen <strong>Wolfgang</strong> Kapp gegen die junge Republik putschen sollte.<br />
Zwei an der Lichtenberger Friedhofsmauer erschossene Angehörige der Volksmarinedivision,<br />
die Brüder Fritz und Albert Gast sind auf dem Parkfriedhof begraben. Ich finde es besonders<br />
berührend, dass es sich um ein scheinbar „normales“ Grab handelt und nicht um die zu DDR-<br />
Zeiten übliche pompöse Gedenkmauer.<br />
Deutliche Spuren hinterließ auf diesem Friedhof das Terrorsystem des deutschen Faschismus.<br />
Hier lagen die ersten von Nazihenkern per Gerichtsurteil Ermordeten. August Lütgens, Karl<br />
Wolff, Walter Möller und Bruno Tesch wurden als angebliche Mordschützen des „Altonaer<br />
Blutsonntags“ – eine am 17. Juni 1932 von SA-Truppen in einem kommunistisch<br />
dominiertem Wohngebiet Altonas provozierte wilde Schießerei zwischen SA, Kommunisten<br />
und Polizei bei der 18 Menschen umkamen – am 1. August 1933 mit dem Handbeil<br />
umgebracht. Arnold Zweig griff diese Geschehnisse in seinem Roman „Das Beil von<br />
Wandsbek“ auf. Diese vier gehören zu den 46 „Opfern des Faschismus“, die seit den 1950er<br />
Jahren mit einem Gedenkstein geehrt werden.<br />
Man kann sich über den Begriff „Opfer“ streiten. Opfer werden dargebracht, der Begriff hat<br />
etwas Religiöses an sich. Wie auch immer. Es waren jedenfalls deutlich mehr als jene 46 auf<br />
dem OdF-Gedenkstein: Die Totenbücher des Friedhofes verzeichnen als letzten<br />
Aufenthaltsort von 100 Menschen, die hier begraben wurden in der Zeit von 1933 bis 1945<br />
das Polizeipräsidium Alexanderstraße 15. Mit großer Wahrscheinlichkeit starben diese<br />
Menschen wohl während der „Verhöre“, durch Selbstmord oder wurden in ihren Zellen<br />
einfach totgeschlagen.<br />
So wie der ebenfalls hier bestattete Anton Schmaus, der sich während der Köpenicker<br />
Blutwoche im Juni 1933 der vertierten SA mit der Pistole widersetzte und im Januar 1934 auf<br />
viehische Weise umgebracht wurde.<br />
In der DDR lernte fast jeder Schüler Erich Weinerts Ballade „John Schehr und Genossen“<br />
auswendig. Am 1. März 1934 ermordet, wurden John Schehr und Rudolf Schwarz in <strong>Marzahn</strong><br />
beigesetzt. Hier wurden auch die von den Nazis umgebrachten Mitglieder der jüdischkommunistischen<br />
Widerstandsgruppe um Herbert Baum bestattet.<br />
Diese alle gehörten zu den eher „prominenten Opfern“, deren Namen zumindest in die<br />
Geschichtsbücher eingegangen sind.<br />
Zu den Opfern des Faschismus gehören aber auch die gut 400 Kinder aus dem Waisenhaus<br />
Alte Jacobstraße 33/35, meist unter drei Jahre alt, die man wahrscheinlich schlicht verhungern<br />
ließ.<br />
Zu den Opfern des Faschismus muss man mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen großen<br />
Teil der hier bestatteten 1.400 Toten aus dem Arbeitshaus Rummelsburg und dem
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Obdachlosenasyl Fröbelstraße 15 zählen. Die meisten waren über 65 Jahre, beide<br />
Einrichtungen wiesen aber eine ungewöhnlich hohe Sterblichkeitsrate auf. Die Heftigkeit und<br />
Brutalität mit der die Nazis Wohnungslose und sogenannte „Asoziale“ verfolgten, ist erst in<br />
jüngster Zeit in ihrer tatsächlichen Dimension erkannt worden. Von Juni 1938 bis zu den<br />
Novemberpogromen 1938 bildeten „Asoziale“ die größte Häftlingsgruppe in Sachsenhausen.<br />
Auch für das Arbeitshaus Rummelsburg sind Verstrickungen in das „Euthanasie-Programm“<br />
nachgewiesen.<br />
Zu den Opfern des Faschismus gehören auch die hier beigesetzten 90 Menschen, die zu den<br />
1.200 Sinti und Roma gehörten, die 1936 überhaupt nicht freiwillig das „Zigeunerlager<br />
<strong>Marzahn</strong>“ am Rande dieses Friedhofes bezogen. Auch hier waren Kinder die ersten Opfer: Im<br />
September 1936 starb der erst eine Woche alte Hans Rosenberg. Über die Zustände in diesem<br />
Lager berichtet Otto Rosenberg, der spätere Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und<br />
Roma, sehr eindringlich in seinem Buch „Das Brennglas“.<br />
In der ab morgen im <strong>Marzahn</strong>-<strong>Hellersdorf</strong>er Heimatmuseum zu sehenden Ausstellung über<br />
die <strong>Marzahn</strong>er Friedhöfe sind einige dieser Schicksale nachlesbar. Da wird u.a. auf das<br />
Schicksal des Ehepaares Alma und Heinrich Steinbach hingewiesen: Alma starb 1943 in<br />
Auschwitz, Heinrich überlebte Krieg und Verfolgung. Erst nach seinem Ableben 1952<br />
wurden sie hier in dieser von beiden wohl gehassten Erde wieder vereint.<br />
An dieser Stelle möchte ich an die Beharrlichkeit des <strong>Marzahn</strong>er evangelischen Pfarrers<br />
Bruno Schottstädt und des Schriftstellers Reimar Gilsenbach erinnern, denen es zu danken ist,<br />
dass auf diesem Friedhof der erste Gedenkstein in Deutschland überhaupt, der an die<br />
Verfolgung der Sinti und Roma erinnert, im Jahre 1986 durch den Magistrat der Hauptstadt<br />
der DDR errichtet worden ist. Inzwischen wurde daraus ein dreiteiliges Gedenkensemble und<br />
die dort regelmäßig stattfindenden Gedenkveranstaltungen – eine Tradition, die auch Otto<br />
Rosenberg zu verdanken ist - gehören zu den wichtigen Terminen des Berliner<br />
Gedenkkalenders, jenseits des üblichen politischen Rituals, wenn mir diese Bemerkung<br />
gestattet ist. Bruno Schottstädt, er starb am 25.04.2000, liegt auch auf unserem Friedhof<br />
begraben. Auch Reimar Gilsenbach ist seit 2001 nicht mehr unter uns. Im selben Jahr verstarb<br />
auch Otto Rosenberg.<br />
Ich empfinde es als unser aller Pflicht, die nicht zu vergessen, die die ansonsten dem<br />
Vergessen anheim Fallenden eben diesem Vergessen entrissen haben. Reimar Gilsenbach,<br />
Bruno Schottstädt und Otto Rosenberg gehören dazu, aber auch Boleslaw Zajaczkowski aus<br />
Lodz.<br />
Ihm ist es zu danken, dass wir über 20 von den ca. 1.400 Zwangsarbeitern – 690 stammten<br />
übrigens aus der UdSSR - und Kriegsgefangenen, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, etwas<br />
Genaueres wissen. Herr Zajaczkowski gehörte zu den rund 400.000 nach Berlin verschleppten<br />
Menschen, die in unserer Stadt die Kriegswirtschaft am Laufen halten mussten. Teils mussten<br />
diese in Barackenlagern hausen, teils waren sie in Wohnhäusern untergebracht wie jene 20<br />
polnischen Mädchen und jungen Frauen, die bei der AEG in der Brunnenstraße schuften<br />
mussten und jetzt hier liegen. Ihnen wurde es am 4.9.1943 verwehrt, bei einem<br />
Bombenangriff den Luftschutzbunker aufzusuchen. Sie starben im Haus Grenzstraße 16 im<br />
Wedding.<br />
Boleslaw Zajaczkowski versprach seinerzeit einer Überlebenden dieses Bombenangriffes, das<br />
Gedächtnis an ihre Leidensgefährtinnen wachzuhalten. Am 4.9.2004 konnte der von ihm<br />
angeregte Gedenkstein eingeweiht werden. Glauben Sie mir, wenn Sie versuchen, jungen
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Menschen die Dimension „1400 gestorbene Zwangsarbeiter“ deutlich zu machen, so werden<br />
Sie Probleme haben. Stehen Sie aber am Grab des 14jährigen Mädchens aus Lodz und<br />
erzählen das Wenige, das wir von ihrer Geschichte wissen, dann werden Sie Tränen sehen.<br />
Ich bin sehr froh, das Boleslaw Zajaczkowski so unendliche Geduld und Beharrlichkeit zeigte<br />
und das Glück hatte, in Berlin, auch hier in <strong>Marzahn</strong>-<strong>Hellersdorf</strong>, Menschen zu finden, die<br />
sein Anliegen zu dem ihren machten. Im vergangenen Jahr starb auch Herr Zajaczkowski.<br />
Die Beerdigungsbücher geben übrigens noch einige Hinweise auf noch aufzuklärende<br />
Schicksale aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Vieles wissen wir einfach noch nicht und<br />
manches wird sicher auch nicht endgültig aufzuklären sein und über so manchen Begriff der<br />
Sprache der Historiker und der Juristen wird noch zu streiten sein: Ist jemand, der wegen<br />
Fälschung von Lebensmittelkarten umgebracht wurde nun ein Krimineller – die<br />
Verhältnismäßigkeit des „Strafmaßes“ sei einmal völlig dahingestellt – oder nicht doch ein<br />
Opfer des Terror-Systems der Kriegswirtschaft? Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie<br />
keinen Zugang zu „bewirtschafteten“ Nahrungsmitteln hätten – die Kinder hungern lassen<br />
oder die Karte fälschen?<br />
Nach den schweren Nachkriegsjahren zog in den 1950er Jahren Normalität am Wiesenburger<br />
Weg ein: Der Friedhof unterschied sich nur noch durch seine Lage von den anderen der Stadt,<br />
mit dem Bau der Großsiedlung wurde er sozusagen der Hauptfriedhof der jüngsten Großstadt<br />
der DDR, mithin nur wenig in Anspruch genommen. Allerdings gab es langfristige<br />
Planungen, die wie alle Demographie davon ausgingen, dass alles endlich sei: Mitte der<br />
1970er Jahre gab es Planungen für einen repräsentativen Krematoriumsbau, die – der heutige<br />
Berliner Senat dürfte angesichts der wirtschaftlichen Situation der bestehenden Berliner<br />
Krematorien für diese DDR-mangelwirtschaftsbedingte Entscheidung dankbar sein – Mitte<br />
der 80er Jahre jedoch aufgegeben wurden.<br />
Eine signifikante Veränderung gab es allerdings noch in den 1950er Jahren: Am 7.8.1958<br />
erfolgte die Einweihung des sowjetischen Ehrenfriedhofes. An der Pergola am westlichen<br />
Flügel der Anlage wurden die sterblichen Überreste von 80 Soldaten und 19 Offizieren, die<br />
vorher im Schlosspark Biesdorf lagen, bestattet. Es handelt sich um Gefallene der Kämpfe am<br />
damaligen Berliner Stadtrand vom April 1945. Umbettungen von Gefallenen erfolgten<br />
übrigens noch bis in die 1990er Jahre. Bis 1963 wurden in dieser Anlage auch Angehörige der<br />
sowjetischen Garnison bestattet: 49 Offiziere, 115 Soldaten, 29 Zivilisten und 41 Kinder.<br />
Heute dient der Friedhof ausschließlich zivilen Zwecken. Ich habe den Eindruck, dass die<br />
Intensität, mit der er von den <strong>Marzahn</strong>erinnen und <strong>Marzahn</strong>ern Beachtung findet<br />
zugenommen hat. Ich habe den Eindruck, dass auch – wie erst am vergangenen Sonntag zu<br />
sehen war – die Intensität, mit der viele Menschen ihrer Toten gedenken wieder zugenommen<br />
hat. In nur scheinbarem Widerspruch dazu stehen sicherlich die veränderten<br />
Bestattungsgewohnheiten. Ich meine damit nicht die zunehmende Abkehr von der<br />
Körperbestattung und die Hinwendung zur Urnenbestattung. Letzteres führte zu, wie ich finde<br />
finanzpolitisch zwar nachvollziehbaren, aus humanitärer Sicht aber mit äußerster Skepsis zu<br />
betrachtenden Rechenübungen in der sogenannten Friedhofsbedarfsplanung des Landes<br />
Berlin. Friedhöfe sind eben nicht nur Gebührenanstalten.<br />
Um noch einmal auf die Geschichte zurückzukommen: Da hat sich merkwürdigerweise etwas<br />
umgekehrt. Die behördlichen Bestattungen (die früheren Armenbegräbnisse) sind amtsseitig<br />
gehalten, möglichst kostensparend vorgenommen zu werden. Deren Orte sind anders als 1909<br />
in vielen Fällen heute die kirchlichen Friedhöfe. Die sind preisgünstiger. Auch in Berlin.
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Ich meinte aber den Schritt hin zu Urnenbestattungen auf der sogenannten „grünen Wiese“<br />
ohne jede Kennzeichnung der Grabstelle. Die auf den <strong>Marzahn</strong>er Friedhöfen, auch auf<br />
unserem Parkfriedhof gefundene Alternative der Urnengemeinschaftsanlagen mit Grabplatten<br />
oder gar mit Stelen sind sicher auch nicht jedermanns Sache. Aber sie bieten doch eine<br />
Gewähr dafür, dass Menschen, mit denen wir ein Stück des Weges gemeinsam auf Erden<br />
wandelten, nicht völlig der Vergessenheit anheim fallen. Insofern ist das ein guter<br />
Kompromiss, wie ich meine. Jeder Mensch hat Erinnerung verdient und jeder braucht wohl<br />
einen Ort der individuellen Trauer.<br />
Dafür ist der <strong>Marzahn</strong>er Parkfriedhof ein guter Ort und ich froh darüber, dass so viele<br />
Menschen dafür Sorge tragen, das er es auch in der Zukunft sein kann.