09.01.2014 Aufrufe

Rede Wolfgang Brauer - Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V.

Rede Wolfgang Brauer - Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V.

Rede Wolfgang Brauer - Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Brauer</strong> 28.11.2009<br />

100 Jahre Parkfriedhof <strong>Marzahn</strong> – Eine Festrede<br />

Im 2006 erschienenen „Lexikon Berliner Grabstätten“ findet der Parkfriedhof am<br />

Wiesenburger Weg in <strong>Marzahn</strong> nur kärgliche Erwähnung. Berühmte Persönlichkeiten der<br />

Berliner Geschichte sind hier nicht bestattet, beim Gang auch durch die scheinbar älteren<br />

Teile des Friedhofes stolpert man nicht über die andernorten üblichen, heute meist<br />

efeuumwucherten Familien- und Erbbegräbnisse. Dieser Friedhof macht im ersten Moment<br />

seines Betretens eher den Eindruck einer großzügigen und gepflegten Parkanlage. Dem<br />

aufmerksamen Beobachter fällt allerdings sofort eine relativ hohe Zahl von Gedenkanlagen<br />

auf dem Areal auf. Aufgrund der Bemühungen der Friedhofsverwaltung, dies sei hier bereits<br />

dankbar vermerkt, sind diese auch leicht auffindbar und gut zugänglich.<br />

Es scheint sich hier also um einen Ort zu handeln, der enger mit der „großen“ Berliner<br />

Geschichte verwoben ist, als es im öffentlichen Bewusstsein dieser Stadt deutlich wird. Selbst<br />

vielen Einwohnern unseres Bezirkes ist dies nicht bewusst. Allerdings handelt es sich um die<br />

„Geschichte von unten“. Hier liegen die Menschen, die die Einfälle der sogenannten<br />

„Großen“ immer tragen und ertragen mussten – und so manche brachen unter dieser Last<br />

zusammen und auch von denen soll hier und heute die <strong>Rede</strong> sein. Jeder Mensch hat Anspruch<br />

auf Erinnerung.<br />

Ersparen möchte ich Ihnen einen Exkurs über die Geschichte der europäischen, der deutschen<br />

und auch der speziellen Berlinischen Sepulkralkultur. Wen das interessiert, es gibt ein<br />

ausgezeichnetes Museum dazu in Kassel. Dass Friedhöfe aber immer etwas mit<br />

Ortsgeschichte zu schaffen haben, ist einsichtig. Und für unseren Parkfriedhof ist ein kurzer<br />

Blick auf die Geschichte Lichtenbergs zwingend.<br />

Noch im Jahre der Reichsgründung 1871 hatte die Gemeinde Lichtenberg 3.244 Einwohner,<br />

1897 hatte dann die Industrialisierung voll zugeschlagen. In Lichtenberg wohnten damals<br />

35.170 Einwohner, innerhalb von 10 Jahren verdoppelte sich diese Zahl auf 67.978 im Jahre<br />

der Verleihung des Stadtrechts 1907. Noch nicht dazu gehörte die bis 1912 selbständige<br />

Landgemeinde Boxhagen-Rummelsburg. 1910 hatten beide Kommunen zusammen 133.141<br />

Einwohner.<br />

Damit reichten auch die Friedhofsflächen in Lichtenberg nicht mehr aus. Zumal der Bedarf an<br />

Flächen für sozial schwächere Schichten auf extreme Weise zunahm. Lichtenberg war eine<br />

Arbeiterstadt. Für deren letzten Weg waren auch damals oftmals die Vorläufer der heutigen<br />

Sozialämter zuständig. Zwar wurde bereits 1908 von der Berliner Stadtsynode der<br />

Evangelischen Kirche der Ahrensfelder Ostfriedhof mit 285 ha Gesamtfläche eingeweiht.<br />

Aber der bot für den akuten Bedarf Lichtenbergs keine Lösung: „Man [gemeint ist die<br />

Evangelische Kirche] will der Stadt nur die Armenleichen überlassen, vergisst aber, dass die<br />

Stadt gesetzlich verpflichtet ist, auch Dissidenten und Nichtchristen Begräbnisstellen zu<br />

überlassen, denen bekanntlich auf Kirchengemeindenfriedhöfen grundsätzlich<br />

Begräbnisstellen versagt werden“, beschrieb die „Vossische Zeitung“ 1912 diesen Konflikt.<br />

Jedenfalls kaufte Lichtenberg 1908 der <strong>Marzahn</strong>er Bauernschaft 22 ha Land für stolze<br />

296.000 Mark ab und richtete davon zunächst 7,4 ha als Friedhof ein. Der wurde am 29.<br />

November 1909 eingeweiht. Wir haben also morgen das 100jährige Jubiläum zu begehen –<br />

das Wort „feiern“ will mir aber in diesem Zusammenhang nur schwer über die Zunge. Auch<br />

wenn das Gebäude, in dem wir uns hier befinden, den Namen „Feierhalle“ trägt und im


2<br />

Zusammenhang mit den Begriffen Trauer und Bestattung im Deutschen landläufig mit dem<br />

Wort „Feier“ zusammengesetzte Substantive gebildet werden. Unsere Feierhalle ist übrigens<br />

seit 1910 ein Provisorium – als solches wurde sie damals gebaut und sie steht heute fast noch<br />

im Originalzustand. Der Friedhofsplan von 1909 sah ein entschieden repräsentativeres<br />

Gebäude an einer ebenfalls nicht zustande gekommenen Querachse der Anlage vor.<br />

Die ersten Toten, die hier zu Grabe getragen wurden, waren Ida Biedermann und Ludwig<br />

Janonczyk. Letzterer war ein 45jähriger Arbeiter aus Friedrichshain, die Arbeiterin Ida<br />

Biedermann war erst 16 Jahre alt und wohnte in Lichtenberg. Woran starb ein<br />

Arbeitermädchen in jenen Jahren? Tuberkulose, ein Unfall oder war es die „Engelmacherin“,<br />

wie man damals beschönigend sagte? Ab 1916 kam dann noch der Hunger dazu und der sollte<br />

bis nach 1945 immer wieder seine Ernte in die Scheuer am Wiesenburger Weg einfahren.<br />

Hans-Jürgen Mende, der Verfasser des schon zitierten Lexikons, verweist übrigens als<br />

besonders sehenswertes Grab auf das von Käthe Schröder. Kätchen Schröder starb mit 13<br />

Jahren am 3.12.1916. Das war der berüchtigte Kohlrübenwinter.<br />

Angelegt war der Friedhof als Friedhof für „Ortsarme“, wie das damals hieß und das blieb er<br />

auch lange Zeit. Bis über das Jahr 1945 hinaus wurden hier fast alle mittellos Verstorbenen<br />

aus den zentralen, nordöstlichen und östlichen Verwaltungsbezirken Berlins zur Ruhe<br />

gebettet. Zeitweise fanden keine Bestattungen statt, die die Angehörigen selbst bezahlten.<br />

Noch 1934 konstatiert der „Lichtenberger Anzeiger und Tageblatt“, dass die Tatsache, „dass<br />

… zur Zeit fast nur noch verstorbene Wohlfahrtspfleglinge in <strong>Marzahn</strong> beigesetzt werden, …<br />

dem Friedhof sein besonderes Gepräge gegeben [habe].“<br />

Dem entsprach auch die miserable Verkehrsanbindung. Nur zum Vergleich: Für den ebenfalls<br />

1909 eröffneten Stahnsdorfer Südwestfriedhof gab es einen unmittelbar zu diesem führenden<br />

Eisenbahnanschluss mit auch aus heutiger Sicht akzeptablen Taktfrequenzen. Der <strong>Marzahn</strong>er<br />

Friedhof lag zwar unmittelbar am 1898 eingerichteten Haltpunkt der Wriezener Bahn, aber<br />

noch in der bereits zitierten Ausgabe des „Lichtenberger Anzeigers …“ werden als große<br />

Erschwernisse die allenfalls einstündige Folge der Züge und der hohe Fahrpreis, der „für<br />

Hinterbliebene schwer erschwinglich“ sei, beklagt. Erst ab 1938 gab es für die Wriezener<br />

Bahn einen Vororttarif. Wie gesagt, hier lagen die Ärmsten der Armen. Die Hinterbliebenen<br />

hätten natürlich ab August 1928 mit der Buslinie 37 nach <strong>Marzahn</strong> fahren können. Aber die<br />

ging von Friedrichsfelde über Biesdorf und endete in <strong>Marzahn</strong> an der Kirche. Von da ab<br />

musste man laufen. 20 Minuten, wenn man einigermaßen zu Fuß war.<br />

Das alles hat sich inzwischen geändert. Seit 1976 fährt die S-Bahn elektrisch bis hierher und<br />

mit dichterem Takt, aber der Zugang für ältere und behinderte Menschen, die nicht mit dem<br />

Auto kommen können, ist nach wie vor ein Problem. Gut, dass es da einen<br />

Hoffnungsschimmer am Planungshorizont gibt.<br />

Aber zurück zur Geschichte. Auch auf unserem Friedhof hat wenige Jahre nach seiner<br />

Eröffnung der Erste Weltkrieg seine bis heute sichtbaren Spuren hinterlassen. 1916 wurde ein<br />

Ehrenhain für Gefallene angelegt. 141 Soldaten sind hier beigesetzt. Die Gefallenenmale des<br />

Ersten „Großen Krieges der weißen Männer“, wie Arnold Zweig ihn nannte – auf Zweig wird<br />

noch zurückzukommen sein – sind immer wieder umstritten. Ich finde es gut, dass auch diese<br />

Anlage einen würdigen Pflegezustand aufweist. Merkwürdig berührt war ich allerdings, als<br />

1998 der ursprünglich am 1951 geschaffenen Ehrenmal für die umgekommenen<br />

Zwangsarbeiter angebrachte Eichenlaubkranz Erwin Kobberts in diese Anlage einbezogen<br />

wurde. Dass diese Gedenkstätte – gewidmet den „Opfern der Vereinten Nationen“, so die


3<br />

seinerzeitige Inschrift auf dem Gedenkobelisk - sich Anfang der 1990er Jahre in einem<br />

unwürdigen Zustand äußersten Verfalls befand, gehört mit zu den denkmalpflegerischen<br />

Sünden der DDR.<br />

Aus dem Ersten Weltkrieg wurde der deutsche Bürgerkrieg. Im März 1919 wüteten Noskes<br />

Freikorpsverbände im als rot verschrienen Lichtenberg. Am 12. März erschossen sie an der<br />

Mauer des alten Friedhofs an der Lichtenberger Möllendorffstraße elf Arbeiter, Matrosen und<br />

Soldaten, die sich mit anderen gegen etwa 30 000 Mann Freikorpssöldner unter dem<br />

Kommando des Freiherrn von Lüttwitz zur Wehr setzten. Dieser Lüttwitz ist derselbe, der ein<br />

Jahr später mit einem gewissen <strong>Wolfgang</strong> Kapp gegen die junge Republik putschen sollte.<br />

Zwei an der Lichtenberger Friedhofsmauer erschossene Angehörige der Volksmarinedivision,<br />

die Brüder Fritz und Albert Gast sind auf dem Parkfriedhof begraben. Ich finde es besonders<br />

berührend, dass es sich um ein scheinbar „normales“ Grab handelt und nicht um die zu DDR-<br />

Zeiten übliche pompöse Gedenkmauer.<br />

Deutliche Spuren hinterließ auf diesem Friedhof das Terrorsystem des deutschen Faschismus.<br />

Hier lagen die ersten von Nazihenkern per Gerichtsurteil Ermordeten. August Lütgens, Karl<br />

Wolff, Walter Möller und Bruno Tesch wurden als angebliche Mordschützen des „Altonaer<br />

Blutsonntags“ – eine am 17. Juni 1932 von SA-Truppen in einem kommunistisch<br />

dominiertem Wohngebiet Altonas provozierte wilde Schießerei zwischen SA, Kommunisten<br />

und Polizei bei der 18 Menschen umkamen – am 1. August 1933 mit dem Handbeil<br />

umgebracht. Arnold Zweig griff diese Geschehnisse in seinem Roman „Das Beil von<br />

Wandsbek“ auf. Diese vier gehören zu den 46 „Opfern des Faschismus“, die seit den 1950er<br />

Jahren mit einem Gedenkstein geehrt werden.<br />

Man kann sich über den Begriff „Opfer“ streiten. Opfer werden dargebracht, der Begriff hat<br />

etwas Religiöses an sich. Wie auch immer. Es waren jedenfalls deutlich mehr als jene 46 auf<br />

dem OdF-Gedenkstein: Die Totenbücher des Friedhofes verzeichnen als letzten<br />

Aufenthaltsort von 100 Menschen, die hier begraben wurden in der Zeit von 1933 bis 1945<br />

das Polizeipräsidium Alexanderstraße 15. Mit großer Wahrscheinlichkeit starben diese<br />

Menschen wohl während der „Verhöre“, durch Selbstmord oder wurden in ihren Zellen<br />

einfach totgeschlagen.<br />

So wie der ebenfalls hier bestattete Anton Schmaus, der sich während der Köpenicker<br />

Blutwoche im Juni 1933 der vertierten SA mit der Pistole widersetzte und im Januar 1934 auf<br />

viehische Weise umgebracht wurde.<br />

In der DDR lernte fast jeder Schüler Erich Weinerts Ballade „John Schehr und Genossen“<br />

auswendig. Am 1. März 1934 ermordet, wurden John Schehr und Rudolf Schwarz in <strong>Marzahn</strong><br />

beigesetzt. Hier wurden auch die von den Nazis umgebrachten Mitglieder der jüdischkommunistischen<br />

Widerstandsgruppe um Herbert Baum bestattet.<br />

Diese alle gehörten zu den eher „prominenten Opfern“, deren Namen zumindest in die<br />

Geschichtsbücher eingegangen sind.<br />

Zu den Opfern des Faschismus gehören aber auch die gut 400 Kinder aus dem Waisenhaus<br />

Alte Jacobstraße 33/35, meist unter drei Jahre alt, die man wahrscheinlich schlicht verhungern<br />

ließ.<br />

Zu den Opfern des Faschismus muss man mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen großen<br />

Teil der hier bestatteten 1.400 Toten aus dem Arbeitshaus Rummelsburg und dem


4<br />

Obdachlosenasyl Fröbelstraße 15 zählen. Die meisten waren über 65 Jahre, beide<br />

Einrichtungen wiesen aber eine ungewöhnlich hohe Sterblichkeitsrate auf. Die Heftigkeit und<br />

Brutalität mit der die Nazis Wohnungslose und sogenannte „Asoziale“ verfolgten, ist erst in<br />

jüngster Zeit in ihrer tatsächlichen Dimension erkannt worden. Von Juni 1938 bis zu den<br />

Novemberpogromen 1938 bildeten „Asoziale“ die größte Häftlingsgruppe in Sachsenhausen.<br />

Auch für das Arbeitshaus Rummelsburg sind Verstrickungen in das „Euthanasie-Programm“<br />

nachgewiesen.<br />

Zu den Opfern des Faschismus gehören auch die hier beigesetzten 90 Menschen, die zu den<br />

1.200 Sinti und Roma gehörten, die 1936 überhaupt nicht freiwillig das „Zigeunerlager<br />

<strong>Marzahn</strong>“ am Rande dieses Friedhofes bezogen. Auch hier waren Kinder die ersten Opfer: Im<br />

September 1936 starb der erst eine Woche alte Hans Rosenberg. Über die Zustände in diesem<br />

Lager berichtet Otto Rosenberg, der spätere Vorsitzende des Landesverbandes der Sinti und<br />

Roma, sehr eindringlich in seinem Buch „Das Brennglas“.<br />

In der ab morgen im <strong>Marzahn</strong>-<strong>Hellersdorf</strong>er Heimatmuseum zu sehenden Ausstellung über<br />

die <strong>Marzahn</strong>er Friedhöfe sind einige dieser Schicksale nachlesbar. Da wird u.a. auf das<br />

Schicksal des Ehepaares Alma und Heinrich Steinbach hingewiesen: Alma starb 1943 in<br />

Auschwitz, Heinrich überlebte Krieg und Verfolgung. Erst nach seinem Ableben 1952<br />

wurden sie hier in dieser von beiden wohl gehassten Erde wieder vereint.<br />

An dieser Stelle möchte ich an die Beharrlichkeit des <strong>Marzahn</strong>er evangelischen Pfarrers<br />

Bruno Schottstädt und des Schriftstellers Reimar Gilsenbach erinnern, denen es zu danken ist,<br />

dass auf diesem Friedhof der erste Gedenkstein in Deutschland überhaupt, der an die<br />

Verfolgung der Sinti und Roma erinnert, im Jahre 1986 durch den Magistrat der Hauptstadt<br />

der DDR errichtet worden ist. Inzwischen wurde daraus ein dreiteiliges Gedenkensemble und<br />

die dort regelmäßig stattfindenden Gedenkveranstaltungen – eine Tradition, die auch Otto<br />

Rosenberg zu verdanken ist - gehören zu den wichtigen Terminen des Berliner<br />

Gedenkkalenders, jenseits des üblichen politischen Rituals, wenn mir diese Bemerkung<br />

gestattet ist. Bruno Schottstädt, er starb am 25.04.2000, liegt auch auf unserem Friedhof<br />

begraben. Auch Reimar Gilsenbach ist seit 2001 nicht mehr unter uns. Im selben Jahr verstarb<br />

auch Otto Rosenberg.<br />

Ich empfinde es als unser aller Pflicht, die nicht zu vergessen, die die ansonsten dem<br />

Vergessen anheim Fallenden eben diesem Vergessen entrissen haben. Reimar Gilsenbach,<br />

Bruno Schottstädt und Otto Rosenberg gehören dazu, aber auch Boleslaw Zajaczkowski aus<br />

Lodz.<br />

Ihm ist es zu danken, dass wir über 20 von den ca. 1.400 Zwangsarbeitern – 690 stammten<br />

übrigens aus der UdSSR - und Kriegsgefangenen, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden, etwas<br />

Genaueres wissen. Herr Zajaczkowski gehörte zu den rund 400.000 nach Berlin verschleppten<br />

Menschen, die in unserer Stadt die Kriegswirtschaft am Laufen halten mussten. Teils mussten<br />

diese in Barackenlagern hausen, teils waren sie in Wohnhäusern untergebracht wie jene 20<br />

polnischen Mädchen und jungen Frauen, die bei der AEG in der Brunnenstraße schuften<br />

mussten und jetzt hier liegen. Ihnen wurde es am 4.9.1943 verwehrt, bei einem<br />

Bombenangriff den Luftschutzbunker aufzusuchen. Sie starben im Haus Grenzstraße 16 im<br />

Wedding.<br />

Boleslaw Zajaczkowski versprach seinerzeit einer Überlebenden dieses Bombenangriffes, das<br />

Gedächtnis an ihre Leidensgefährtinnen wachzuhalten. Am 4.9.2004 konnte der von ihm<br />

angeregte Gedenkstein eingeweiht werden. Glauben Sie mir, wenn Sie versuchen, jungen


5<br />

Menschen die Dimension „1400 gestorbene Zwangsarbeiter“ deutlich zu machen, so werden<br />

Sie Probleme haben. Stehen Sie aber am Grab des 14jährigen Mädchens aus Lodz und<br />

erzählen das Wenige, das wir von ihrer Geschichte wissen, dann werden Sie Tränen sehen.<br />

Ich bin sehr froh, das Boleslaw Zajaczkowski so unendliche Geduld und Beharrlichkeit zeigte<br />

und das Glück hatte, in Berlin, auch hier in <strong>Marzahn</strong>-<strong>Hellersdorf</strong>, Menschen zu finden, die<br />

sein Anliegen zu dem ihren machten. Im vergangenen Jahr starb auch Herr Zajaczkowski.<br />

Die Beerdigungsbücher geben übrigens noch einige Hinweise auf noch aufzuklärende<br />

Schicksale aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Vieles wissen wir einfach noch nicht und<br />

manches wird sicher auch nicht endgültig aufzuklären sein und über so manchen Begriff der<br />

Sprache der Historiker und der Juristen wird noch zu streiten sein: Ist jemand, der wegen<br />

Fälschung von Lebensmittelkarten umgebracht wurde nun ein Krimineller – die<br />

Verhältnismäßigkeit des „Strafmaßes“ sei einmal völlig dahingestellt – oder nicht doch ein<br />

Opfer des Terror-Systems der Kriegswirtschaft? Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie<br />

keinen Zugang zu „bewirtschafteten“ Nahrungsmitteln hätten – die Kinder hungern lassen<br />

oder die Karte fälschen?<br />

Nach den schweren Nachkriegsjahren zog in den 1950er Jahren Normalität am Wiesenburger<br />

Weg ein: Der Friedhof unterschied sich nur noch durch seine Lage von den anderen der Stadt,<br />

mit dem Bau der Großsiedlung wurde er sozusagen der Hauptfriedhof der jüngsten Großstadt<br />

der DDR, mithin nur wenig in Anspruch genommen. Allerdings gab es langfristige<br />

Planungen, die wie alle Demographie davon ausgingen, dass alles endlich sei: Mitte der<br />

1970er Jahre gab es Planungen für einen repräsentativen Krematoriumsbau, die – der heutige<br />

Berliner Senat dürfte angesichts der wirtschaftlichen Situation der bestehenden Berliner<br />

Krematorien für diese DDR-mangelwirtschaftsbedingte Entscheidung dankbar sein – Mitte<br />

der 80er Jahre jedoch aufgegeben wurden.<br />

Eine signifikante Veränderung gab es allerdings noch in den 1950er Jahren: Am 7.8.1958<br />

erfolgte die Einweihung des sowjetischen Ehrenfriedhofes. An der Pergola am westlichen<br />

Flügel der Anlage wurden die sterblichen Überreste von 80 Soldaten und 19 Offizieren, die<br />

vorher im Schlosspark Biesdorf lagen, bestattet. Es handelt sich um Gefallene der Kämpfe am<br />

damaligen Berliner Stadtrand vom April 1945. Umbettungen von Gefallenen erfolgten<br />

übrigens noch bis in die 1990er Jahre. Bis 1963 wurden in dieser Anlage auch Angehörige der<br />

sowjetischen Garnison bestattet: 49 Offiziere, 115 Soldaten, 29 Zivilisten und 41 Kinder.<br />

Heute dient der Friedhof ausschließlich zivilen Zwecken. Ich habe den Eindruck, dass die<br />

Intensität, mit der er von den <strong>Marzahn</strong>erinnen und <strong>Marzahn</strong>ern Beachtung findet<br />

zugenommen hat. Ich habe den Eindruck, dass auch – wie erst am vergangenen Sonntag zu<br />

sehen war – die Intensität, mit der viele Menschen ihrer Toten gedenken wieder zugenommen<br />

hat. In nur scheinbarem Widerspruch dazu stehen sicherlich die veränderten<br />

Bestattungsgewohnheiten. Ich meine damit nicht die zunehmende Abkehr von der<br />

Körperbestattung und die Hinwendung zur Urnenbestattung. Letzteres führte zu, wie ich finde<br />

finanzpolitisch zwar nachvollziehbaren, aus humanitärer Sicht aber mit äußerster Skepsis zu<br />

betrachtenden Rechenübungen in der sogenannten Friedhofsbedarfsplanung des Landes<br />

Berlin. Friedhöfe sind eben nicht nur Gebührenanstalten.<br />

Um noch einmal auf die Geschichte zurückzukommen: Da hat sich merkwürdigerweise etwas<br />

umgekehrt. Die behördlichen Bestattungen (die früheren Armenbegräbnisse) sind amtsseitig<br />

gehalten, möglichst kostensparend vorgenommen zu werden. Deren Orte sind anders als 1909<br />

in vielen Fällen heute die kirchlichen Friedhöfe. Die sind preisgünstiger. Auch in Berlin.


6<br />

Ich meinte aber den Schritt hin zu Urnenbestattungen auf der sogenannten „grünen Wiese“<br />

ohne jede Kennzeichnung der Grabstelle. Die auf den <strong>Marzahn</strong>er Friedhöfen, auch auf<br />

unserem Parkfriedhof gefundene Alternative der Urnengemeinschaftsanlagen mit Grabplatten<br />

oder gar mit Stelen sind sicher auch nicht jedermanns Sache. Aber sie bieten doch eine<br />

Gewähr dafür, dass Menschen, mit denen wir ein Stück des Weges gemeinsam auf Erden<br />

wandelten, nicht völlig der Vergessenheit anheim fallen. Insofern ist das ein guter<br />

Kompromiss, wie ich meine. Jeder Mensch hat Erinnerung verdient und jeder braucht wohl<br />

einen Ort der individuellen Trauer.<br />

Dafür ist der <strong>Marzahn</strong>er Parkfriedhof ein guter Ort und ich froh darüber, dass so viele<br />

Menschen dafür Sorge tragen, das er es auch in der Zukunft sein kann.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!