Marc Piollet Siegbert Micheel Kiril Manolov

Dichtung.
Und Wahrheit!
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Der Briefroman Die Leiden des jungen
Werther erschien 1775 und war ein immenser
Erfolg, der den jungen Dichter
Johann Wolfgang Goethe schlagartig
bekannt machte. Inspiriert wurde
Goethe von einer sehr realen Person:
von der jungen Charlotte „Lotte“ Buff
aus Wetzlar, in die der Reichspraktikant
Goethe sich Hals über Kopf
verliebte. Lotte war aber bereits dem
braven Amtsmann Johann Christian
Kestner versprochen. Im Gegensatz
zu Werther erschoss sich der junge
Goethe trotz der Unmöglichkeit dieser
Liebe nicht – glücklicherweise. Er verarbeitete
das Erlebte literarisch und
schrieb prompt Geschichte.
Der Literaturnobelpreisträger Thomas
Mann nimmt den literarischen
Faden auf und spinnt die Geschichte
um Goethe und die „unsterbliche
Geliebte“ weiter: 44 Jahre nach den
tatsächlichen Ereignissen, die zu dem
Werther-Roman führten, besucht
Charlotte Kestner, geborene Buff (die
Witwe des längst verstorbenen Oberhofrats
Kestner und Mutter seiner 12
Kinder) mit ihrer zweitjüngsten Tochter
die Stadt Weimar. Vordergründig,
um eine Verwandte aufzusuchen,
tatsächlich aber, um ihre Jugendliebe
Goethe wiederzusehen.
Doch der 67-jährige Goethe ist
mittlerweile eine große Berühmtheit,
und so ohne weiteres wird niemand
zu ihm vorgelassen. Lotte muss also
warten. Ihr Aufenthalt im kleinen
Weimar bleibt nicht lange geheim,
dafür sorgt schon das Faktotum des
Hotels Elephant, der beflissene und
zitatenfeste Kellner Mager. Ganze
Menschenansammlungen belagern
das Hotel, um einen Blick auf die
Frau zu werfen, um derentwillen der
größte aller deutschen Dichter fast
seinen Kopf, sicher aber sein Herz
verloren hatte.
Während Lotte im Hotel Besucher
empfängt, überbringt Goethes Sohn
August dem Dichter die Nachricht
von Lottes Anwesenheit, und Goethe
reagiert wenig romantisch: „Konnt’
sie sich’s nicht verkneifen, die Alte,
Ensemble (Probenfoto)
und mir’s nicht ersparen?“ Und weil
er für gemeinsames Resümieren
nicht zu haben ist, stellt sich Lotte
ein Gespräch mit dem abwesenden
Herrn von Goethe über Liebe und
Verlust, über das Altern und über
Lebenserfüllung vor. Zu bereuen
und verzeihen gibt es nichts, aber
es erwachsen doch etliche bittersüße
Einsichten aus dem Geflecht
von Vergangenheit, Dichtung und
Gegenwart. Thomas Manns Roman
balanciert auf der Grenze zwischen
fein ziselierten Figurenportäts und
zum Teil saftiger Ironie.
Es inszeniert der mazedonische
Regisseur Slobodan Unkovski, der
als Spezialist für subtile Schauspieler-
Arbeit gilt und in Wiesbaden bereits
die erfolgreichen Inszenierungen
Heuschrecken von Biljana Srbljanović
und Der Stein von Marius von Mayenburg
verantwortete.
Hessisches Staatsthea ter Wiesbaden / Theaterblatt • Juni 2012