Günter F. Müller, Friedhelm Nachreiner - Rainer Hampp Verlag
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<strong>Günter</strong> F. <strong>Müller</strong>, <strong>Friedhelm</strong> <strong>Nachreiner</strong><br />
Zur Anwendung der multi-attributiven Nutzentechnik<br />
bei der Personalauswahl*<br />
Deskriptoren: Betriebspsychologie, Beurteilung, Beurteilungsverfahren,<br />
Bewerbung, Entscheidung,Nutzen, Personalauswahl<br />
In diesem Artikel wird ein Verfahren beschrieben, das dazu beitragen<br />
kann, Entscheidungen bei der Personalauswahl psychologisch anzuleiten und<br />
damit auch bislang vernachlässigte Probleme, wie die der Vorauswahl von<br />
Stellenbewerbern effektiver zu lösen. Es handelt sich um die multiattributive<br />
Nutzentechnologie von W. Edwards. Sie wird dargestellt, in<br />
ihrer Anwendung beispielhaft verdeutlicht und bezüglich ihrer Stärken,<br />
Schwächen und praktischen Implikationen diskutiert.<br />
1. Problem<br />
Bei der Auswahl von Stellenbewerberinnen und Stellenbewerbern tritt oft<br />
das Problem auf, wie mit "üblichen" Bewerbungsunterlagen umgegangen<br />
werden soll. Das Ziel hierbei ist relativ klar definiert, fordert es doch<br />
mehr oder weniger unmißverständlich eine möglichst optimale Auswertung<br />
eingereichter Unterlagen, um die Geeignetsten für die Endauswahl<br />
identifizieren zu können. Die prognostische Validität von Zeugnissen,<br />
Referenzen, Zertifikaten oder persönlichen Angaben ist bekannterweise<br />
jedoch gering (vgl. Blum & Naylor, 1968; Tiffin & McCormick, 1977;<br />
Eckardt & Schuler, im Druck), und so bleibt zumeist offen, ob überhaupt<br />
und wenn ja wie dieses Ziel zu erreichen sei. Diesem Problem gesellt sich<br />
oft ein zweites hinzu, wenn sehr viele Bewerbungen eingehen und<br />
bearbeitet werden müssen. Zur Forderung, fundierte Entscheidungen zu<br />
treffen, gibt es nun noch die Forderung, das Verfahren der Vorauswahl zu<br />
ökonomisieren. Klassische betriebspsychologische Methoden bieten für<br />
beide Probleme keine probaten Lösungen an, da sie fast ausschließlich<br />
Entscheidungshilfen geben, um die Endauswahl von Stellenbewerber(inne)n<br />
zu verbessern (vgl. Guion, 1976; Marschner, 1981). Im folgenden wird<br />
daher ein Verfahren beschrieben, das es gestattet, Bewerbungsunterlagen<br />
anforderungsrelevant und aufwandsökonomisch auszuwerten und inhaltlich<br />
begründete und faire (Vor)Auswahlentscheidungen zu treffen. Das Verfahren<br />
rekurriert auf die "multi-attributive Nutzentechnik" des Psychologen Ward<br />
Edwards (vgl. Edwards, 1977, 1980, 1986; Edwards & Guttentag, 1977;<br />
Edwards & Newman, 1982; Winterfeld & Edwards, 1986) bzw. setzt diese zur<br />
Bearbeitung von Auswahlproblemen ein. Aufgrund der oben genannten<br />
Defizite bleibt die Anwendung des Verfahrens auf Fragen der Vorauswahl<br />
beschränkt. Anwendungen auf andere Auswahlprobleme (Endauswahl,<br />
Plazierung, Beförderung) sind möglich, werden in diesem Artikel jedoch<br />
nicht thematisiert.<br />
______<br />
* Für Expertisen danken wir Dieter Bonitz, Karin Eilers, Kerstin Hänecke<br />
und Ina Hedden, einem anonymen Gutachter danken wir für wertvolle<br />
Hinweise und Anregungen.<br />
Im folgenden wird das Verfahren zunächst allgemein beschrieben, sodann<br />
wird der hier ins Auge gefaßte Anwendungskontext näher behandelt und auch<br />
anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht. Eine Diskussion von<br />
Stärken, Schwächen und praktischen Perspektiven des Verfahrens schließen<br />
die Ausführungen ab.<br />
2. Allgemeines Verfahren
Entscheidungsanalysen, die mit der multi-attributiven Nutzentechnik<br />
durchgeführt werden, umfassen nach Edwards (1986, S. 325) "eine Menge von<br />
Prozeduren, die im wesentlichen klinischer Natur, und von denen viele in<br />
gewissem Ausmaße mathematischen Inhalts sind. Alle beruhen jedoch auf<br />
menschlichen Urteilen verschiedener Art. Die Entscheidungsanalyse kann<br />
für Individuen oder Gruppen hilfreich sein, die mit einer Situation<br />
konfrontiert sind, in welcher auf gewisse Weise gehandelt werden muß, die<br />
angemessene Handlung aber entweder unklar oder widersprüchlich oder<br />
beides zugleich ist."<br />
Zur Analyse und Lösung von Entscheidungsproblemen wurden eine Reihe<br />
weitgehend standardisierter Verfahrensschritte und Regeln entwickelt.<br />
Nach Edwards & Guttentag (1977) sind beim ersten Einsatz der Technik<br />
insgesamt zehn Verfahrensschritte abzuarbeiten. Beim wiederholten Einsatz<br />
können die Schritte 1-7 entfallen, sofern die zur Entscheidung<br />
anstehenden Probleme gleichartig sind. Sehr viel Arbeit ist zunächst<br />
erforderlich, um das Entscheidungsproblem qualitativ und quantitativ<br />
aufzuschlüsseln und die relevanten Ziele einer Problemlösung zu<br />
bestimmen. Ist erst einmal festgeschrieben, welche Merkmale und<br />
Konsequenzen eine optimale Problemlösung haben soll, läßt sich der so<br />
definierte Referenzzustand immer wieder heranziehen, um weitere<br />
Entscheidungsalternativen zu bewerten und fundierte Entschlüsse zu<br />
fassen.<br />
Schritt 1: Identifizierung von Personen, die problemkompetent sind und<br />
Interesse daran haben, möglichst gute (für eine Gruppe/Organisation<br />
und/oder für sich selbst nützliche) Entscheidungen zu treffen. Es werden<br />
Maßnahmen eingeleitet, um einen entsprechenden Personenkreis zur<br />
Mitarbeit zu bewegen. Entscheidungsanalyse ist großenteils inhaltliche<br />
Ziel- und Problemanalyse, für die das Fachwissen kompetenter Experten<br />
benötigt wird.<br />
Schritt 2: Suche nach möglichst vielen Merkmalen und wünschenswerten<br />
Konsequenzen des Entscheidungsproblems.<br />
Schritt 3: Suche nach möglichst vielen Wegen, sich der Lösung des<br />
Problems im Sinne wünschenswerter Konsequenzen zu nähern. Eine<br />
Vergegenwärtigung konkreter Entscheidungsalternativen bewahrt in der<br />
Regel davor, sich auf esoterische Problemaspekte einzulassen oder<br />
unrealistischen Wunschvorstellungen nachzugehen.<br />
Schritt 4: Inhaltliche Verdichtung des Entscheidungsproblems auf zentrale<br />
Merkmale und hierarchische Ordnung dieser Merkmale. Wichtig für diesen<br />
Schritt ist es, daß alle weiterhin in der Entscheidungsanalyse<br />
verbleibenden Merkmale durch Expertenkonsens validiert sind. Die Experten<br />
müssen sich einig werden, wo sie Grenzen zwischen "notwendig" und<br />
"entbehrlich" ziehen und nach welchen Nutzenaspekten sie Merkmale<br />
wahlweise der einen oder anderen Kategorie zuordnen wollen. Es ist hier<br />
vor allem wichtig, daß die Ausschlußkriterien akzeptiert sind, z.B.<br />
Redundanz und Substituierbarkeit von Merkmalen, Dissens bezüglich ihrer<br />
Problemrelevanz o.ä.. Genauere Aufschlüsselungen der Kategorie<br />
verbleibender Merkmale, im Sinne ihrer Zentralität ("Mußkriterien") oder<br />
Idealität ("Wunschkriterien") etwa, bleiben den nächsten<br />
Verfahrensschritten vorbehalten.<br />
Schritt 5: Rangordnen der (verbleibenden) Merkmale entsprechend ihrer<br />
vermuteten Bedeutung für eine möglichst optimale Lösung des<br />
Entscheidungsproblems.<br />
Schritt 6: Gewichtung der Merkmale. Obwohl das Rangordnen bereits eine<br />
quantitative Merkmalsgewichtung impliziert, wird in diesem Schritt<br />
versucht, Gewichtungsfaktoren auf höherem Meßniveau zu erhalten. Die<br />
Experten werden hier zumeist instruiert, bestimmte Skalierungsregeln zu<br />
beachten und ihre Bedeutungsurteile danach auszurichten.
Schritt 7: Normieren der Merkmalsgewichte durch Anwendung der<br />
Wahrscheinlichkeitsrechnung.<br />
Schritt 8: Merkmalsspezifische Beurteilung aller vorliegenden und in<br />
Frage kommenden Entscheidungsalternativen durch objektive und/oder<br />
subjektive Messung ihres erwarteten Nutzens für eine optimale Lösung des<br />
Entscheidungsproblems.<br />
Schritt 9: Berechnung des gewichteten (Gesamt)Nutzens aller in Frage<br />
kommenden Entscheidungsalternativen.<br />
Schritt 10: Auswahl derjenigen Entscheidungsalternative(n), welche<br />
den(die) größten Gesamtnutzenwert(e) besitz(en). Um sich eine Option für<br />
die Suche nach besseren Entscheidungsalternativen offen zu halten, können<br />
(hier oder am Ende von Schritt 7) Gesamtnutzen definiert werden, die<br />
Entscheidungsalternativen mindestens aufweisen sollten, um zur<br />
Problemlösung beizutragen. Der effektive Entschluß hinge dann vom<br />
Ergebnis eines entsprechenden Vergleichs zwischen definierten und<br />
erhaltenen Gesamtnutzenwerten ab.<br />
Das Verfahren läßt sich gegebenenfalls noch um Sensitivitätsanalysen und<br />
Kosten-Nutzen-Berechnungen erweitern (vgl. Edwards & Newman, 1982). Beide<br />
Zusatzschritte werden jedoch nur bei bestimmten Voraussetzungen empfohlen<br />
(z.B., wenn das Risiko von Fehlentscheidungen besonders groß ist).<br />
Sensitivitätsanalysen prüfen, wie sich andere Merkmalsgewichte auf den<br />
erwarteten Gesamtnutzen von Entscheidungsalternativen auswirken. Variiert<br />
werden vor allem solche Zahlenwerte, die kontrovers diskutiert wurden<br />
oder aus divergierenden Rangordnungen hervorgegangen sind. Wiederholte<br />
Nutzenberechnungen erhellen sodann sehr schnell, ob und wenn ja bei<br />
welchen Abweichungen Konsequenzen für die Auswahl von<br />
Entscheidungsalternativen zu erwarten sind. Reagiert das<br />
Entscheidungskriterium empfindlich, kann es angezeigt sein, erneut (ab<br />
Schritt 2 oder 4) in die Entscheidungsanalyse einzusteigen. Kosten-<br />
Nutzen-Berechnungen sind angebracht, wenn Entschlüsse nicht nur vom<br />
Gesamtnutzen potentieller Entscheidungsalternativen, sondern auch von zu<br />
erwartetenden oder bereits bekannten Kosten abhängig gemacht werden<br />
sollen (Preise, Amortisierung, Wertverlust). Eine Berechnung<br />
kostenbereinigter Gesamtnutzenwerte kann dabei ebenfalls das<br />
Entscheidungskriterium verändern.<br />
3. Spezielle Verfahrensanwendung<br />
Wird das Entscheidungsverfahren für Selektionsprobleme angewandt, müssen<br />
diese zunächst qualitativ untersucht werden. In den Verfahrensschritten<br />
1-4 ist zu klären, wer Träger und Subjekt von Auswahlentscheidungen sein<br />
soll, welche Merkmale bei den jeweils zu besetzenden Positionen und den<br />
in Frage kommenden Bewerber(inne)n als entscheidungsrelevant anzusehen<br />
sind und welcher Zielzustand bei der anliegenden Personalauswahl als<br />
wünschenswert erscheint. Sind fachkundige Experten identifiziert (z.B.<br />
Mitarbeitervertreter, Führungskräfte, Personalsachverständige) und zur<br />
Mitarbeit bereit, so haben diese zunächst folgende Aufgaben zu<br />
bewältigen: Unter Anleitung eines entscheidungsanalytisch kompetenten<br />
Moderators beginnen sie mit freier Einfallsproduktion zum fraglichen<br />
Entscheidungsproblem und seinen möglichen Lösungen. Unter anderem muß<br />
hier deutlich werden, welche Besonderheiten die (Wieder) Besetzung einer<br />
Position mit sich bringt, welche Tätigkeits- und Personenmerkmale eine<br />
optimale Stellenbesetzung indizieren ("critical incidents" im Sinne von<br />
Flanagan, 1954), welcher Bewerberkreis mit welcher Art von Ausschreibung<br />
angesprochen werden soll und welche Informationen aus<br />
Bewerbungsunterlagen entscheidungsrelevant sein können. Mit deutlicher<br />
Akzentsetzung auf "brainstorming" und Ideen-Generierung resultiert so ein<br />
umfassender, problemspezifischer Merkmalskatalog, das Rohmaterial der<br />
Entscheidungsanalyse. Es folgen nun Gruppendiskussionen, um die effektive
Relevanz generierter Entscheidungsmerkmalen eingehender zu beleuchten,<br />
Meinungsverschiedenheiten abzuklären und Bedeutungskonsens zu erzielen.<br />
Die Diskussionen machen zumeist deutlich, wie argumentativ abgesichert<br />
und überzeugend die Selektionsrelevanz einzelner Merkmale begründet<br />
erscheint und welche Merkmalsausprägungen für notwendig gehalten werden,<br />
um Optimallösungen des Auswahlproblems zu erreichen. Indem<br />
Merkmalspräferenzen offen gelegt und der Kritik anderer Experten ausgesetzt<br />
werden, reduziert sich der ursprüngliche Merkmalskatalog zumeist<br />
erheblich. Die verbleibenden, übereinstimmend als bedeutsam erkannten<br />
Merkmale werden sodann geordnet, nach Ähnlichkeit gruppiert und ihrem<br />
Allgemeinheitsgrad entsprechend hierarchisch zusammengefaßt. Es ergibt<br />
sich daraus in der Regel ein bestimmter Merkmalsbaum, der den gewünschten<br />
Zielzustand ("beste Eignungsvoraussetzungen für die Endauswahl") durch<br />
eine begrenzte Anzahl von Dimensions- und Einzelmerkmalen definiert und<br />
aufschlüsselt. Die Basismerkmale sollten dabei stets operationalisierbar<br />
sein bzw. durch empirische Indikatoren gemessen werden können. Der<br />
Merkmalsbaum enthält die Essenz inhaltlicher Komponenten des<br />
Entscheidungsproblems; er legt damit auch die zentralen Merkmale fest,<br />
nach denen einzelne Bewerber(innen) später zu bewerten und auszuwählen<br />
sind.<br />
Im weiteren (Verfahrensschritte 5-7) erfolgt das Gewichten und Normieren<br />
der Merkmale, wofür Edwards & Newman (1982) verschiedene Skalierungs- und<br />
Rechenprozeduren vorschlagen. Eine gewisse Vorziehenswürdigkeit läßt<br />
folgende Prozedur erkennen: Nach dem Rangordnen klassifizierter Merkmale<br />
erhalten die Experten ein sogenanntes Ankergewicht von 10 Punkten, das<br />
dem jeweils unwichtigsten Merkmal einer Klasse zuzuteilen ist. Alle<br />
wichtigeren Merkmale müssen dann entsprechend ihrer vermuteten Bedeutung<br />
höher gewichtet werden, z.B. mit 20 Punkten für doppelt so wichtig, mit<br />
25 für 2,5 Mal so wichtig oder 50 mit 5 Mal so wichtig, usw.. Auf diese<br />
Weise gelingt es, die relative Bedeutung ähnlicher Merkmale auf<br />
Verhältnisskalen abzubilden. Eine Normierung der Skalenwerte ermöglicht<br />
überdies den Vergleich mit anderen Merkmalsklassen. Werden die<br />
Gewichtspunkte auf eine gemeinsame Skala zwischen 0 und 1 transformiert,<br />
können sie, wie Edwards & Guttentag (1977) darlegen, als<br />
Wahrscheinlichkeitsurteile interpretiert werden. Um normierte Gewichte<br />
der (operationalisierbaren) Basismerkmale zu erhalten, muß der gesamte<br />
Merkmalsbaum von oben nach unten durchmultipliziert werden. Auf diese<br />
Weise resultieren Werte, die alle vertikal und horizontal verzweigten<br />
Bedeutungsrelationen des Merkmalsbaums zusammenfassen und in normierten<br />
Zahlenverhältnissen zum Ausdruck bringen (s.u. Beispielsfall und Abb. 1).<br />
In den nächsten Schritten (8-10) werden vorliegende Bewerbungsunterlagen<br />
im Rahmen der erarbeiteten Entscheidungsgrundlage durchgesehen und<br />
bezüglich nutzenrelevanter Merkmalsausprägungen bewertet. Einzelne<br />
Merkmalsmessungen werden sodann mit den vorher ermittelten<br />
Gewichtsfaktoren multipliziert und zu Gesamtnutzenwerten addiert. Um den<br />
relativen "Ort" (location) von Merkmalsausprägungen einzelner Bewerber(innen)<br />
zu bestimmen, kann ein Rating-Verfahren verwendet werden, das<br />
mit Skalen zwischen 0 und 100 operiert. "0" definiert dabei<br />
Merkmalsausprägungen, die den geringsten zu erwartenden Nutzen<br />
indizieren, "100" definiert Ausprägungen mit dem größten zu erwarteten<br />
Nutzen. Die Qualität von Informationen aus Bewerbungsunterlagen bringt es<br />
mit sich (s. 1. Problem), daß nicht alle Angaben für Merkmalsmessungen<br />
geeignet erscheinen. Auf der sicheren Seite befindet man sich jedoch,<br />
wenn primär tätigkeitsbiographische Daten ausgewertet werden (vgl. Owens,<br />
1976). Entsprechende Daten liegen zwar selten in standardisierter Form<br />
vor, es können verschiedene Quellen jedoch (Lebenslauf, Ausbildungs- und<br />
Beschäftigungsnachweise, in Zeugnissen enthaltene<br />
Tätigkeitsbeschreibungen) zumindest qualitativ ausgewertet werden, um die
notwendigen Informationen zu erhalten. Bei tätigkeitsbezogenen<br />
Basismerkmalen ist auch die Gefahr gering, Angaben und Unterlagen<br />
"deuten" und interpretieren zu müssen. Selbst wenn Merkmalsausprägungen<br />
lediglich dichotom zu messen sind (100=Merkmal vorhanden, 0=Merkmal nicht<br />
vorhanden), wird das Auswahlkriterium nicht unbrauchbar. Der Grund ist<br />
die Berechnungsweise der Gesamtnutzenwerte; sie erfolgt nach der Formel<br />
in der Ni den erwarteten Auswahlnutzen einer Personi symbolisiert, k die<br />
Anzahl entscheidungsrelevanter (Basis)Merkmale, g die normierten<br />
Merkmalsgewichte und n die einzelnen Merkmalsausprägungen der Personi. Da<br />
die jeweiligen Merkmalsausprägungen mit unterschiedlichen<br />
Gewichtsfaktoren multipliziert werden, streuen Gesamturteile selbst dann<br />
zufriedenstellend, wenn sehr globale "scope"-Messungen vorgenommen<br />
werden. Entschieden wird schließlich danach, wie die Rangreihe der Ni-<br />
Werte ausfällt. Der engere Bewerber(innen)kreis setzt sich aus den<br />
Personen zusammen, die einer optimalen Ausprägungskombination der<br />
Merkmale (Ni =100) am nächsten kommen.<br />
4. Beispielsfall<br />
Der hier wiedergegebene Fall thematisiert eines von mehreren Problemen,<br />
das im Umfeld der (Wieder)Besetzung einer universitären<br />
Sekretariatsposition entschieden werden mußte. Als Entscheidungsgrundlage<br />
wurde der in Abbildung 1 dargestellte Merkmalsbaum erarbeitet.
Abb. 1: Merkmalsbaum und Gewichtungen<br />
Wie ersichtlich, wurden acht selektionsrelevante Basismerkmale generiert,<br />
die unter drei allgemeinere Anforderungsmerkmale subsumierbar waren,<br />
welche ihrerseits eine optimale Problemlösung definierten. Die Gewichte<br />
der Entscheidungsmerkmale wurden nach ihrer erwarteten Bedeutung für ein<br />
gutes Funktionieren des Sekretariats bestimmt. Das in diesen Prozeß<br />
involvierte Expertenteam bestand aus vier Mitgliedern einer universitären<br />
Lehr- und Forschungseinheit. Über die Rangordnungen der Gewichte konnte<br />
weitestgehend Konsens erzielt werden. Die abgegebene<br />
Verhältnisschätzungen wurden daraufhin gemittelt und erhaltene<br />
Mittelwerte normiert. Die multiplikativ errechneten Gewichte der<br />
Basismerkmale reflektierten die zeitlichen Arbeitsanteile im Sekretariat<br />
relativ genau. Sie definierten damit einen Referenzzustand, der den<br />
Auswahlnutzen primär am üblichen Tätigkeitsanfall festmachte bzw. die<br />
Bedeutung einzelner Anforderungsaspekte nach der Häufigkeit ihrer<br />
Ausführung bemaß.<br />
Beurteilt wurden sodann 30 Bewerber(inne)n, die auf ein<br />
universitätsintern und -extern bekanntgegebenes Stellenangebot reagiert<br />
hatten. Da die Stelle mit einem Standardtext für Sekretariats-<br />
/Verwaltungspositionen ausgeschrieben worden war, enthielten eingesandte<br />
Bewerbungsunterlagen hinreichend umfassende Angaben über Lehr- und Ausbildungsinhalte,<br />
bisherige Arbeitsverhältnisse, Fort- und<br />
Weiterbildungsaktivitäten, Tätigkeitsschwerpunkte und Berufserfolge. Die<br />
Durchsicht der Unterlagen erfolgte strikt merkmalsbezogen. Da der<br />
Bewerber(innen)kreis und mit ihm das vorliegende Material<br />
tätigkeitsbiographisch sehr heterogen ausgefallen war, mußte auf<br />
abgestufte Merkmalsmessungen verzichtet werden. Im Prinzip sind<br />
differenziertere Beurteilungen des zu erwartenden Merkmalsnutzens jedoch<br />
auch in diesem Anwendungskontext möglich. Hierfür müßten Ausbildungsgänge<br />
und Tätigkeitsbiographien möglicher Bewerber(innen) danach untersucht und<br />
skaliert werden, wie nah sie optimalen Merkmalsausprägungen zu kommen<br />
versprechen. Der erforderliche Aufwand dürfte aber erst dann lohnen, wenn<br />
mit relativ tätigkeitshomogenen und ähnlich (gut) qualifizierten<br />
Bewerber(inne)n zu rechnen ist (für einen Anwendungskontext mit solchen<br />
Vorausetzungen vgl. <strong>Müller</strong> & <strong>Nachreiner</strong>, 1986), oder wenn weiterreichende<br />
Entscheidungsperspektiven ins Auge gefaßt werden (wie z.B., auch das<br />
Problem der Endauswahl zu lösen). Beide Bedingungen waren im vorliegenden<br />
Fall nicht erfüllt, so daß der Auswahlnutzen lediglich daran gemessen<br />
wurde, ob die Basismerkmale den Unterlagen zufolge als vorhanden (Nutzen<br />
= 100) oder nicht vorhanden (Nutzen = 0) gelten konnten. Bei den meisten<br />
Merkmalen war dies - mitbegünstigt durch die Heterogenität der
Tätigkeitsbiographien - sehr zuverlässig feststellbar (etwa bei "im Team<br />
arbeiten", "Vorgänge ablegen" oder "wissenschaftliche Texte schreiben").<br />
In zweifelhaften Fällen wurde ein Merkmal als vorhanden eingestuft.<br />
Tabelle 1 zeigt die Auswertungsergebnisse einer kleinen Anzahl von<br />
Bewerber(inne)n.<br />
Tab. 1: Beurteilungen ausgewählter Bewerber(innen)<br />
Wenn Merkmalsausprägungen mit 100 bzw. 0 gemessen werden, treten<br />
Einzelnutzen als prozentuierte Gewichtszahlen in Erscheinung.<br />
Vielversprechende Bewerber(innen) ließen beim überwiegenden Teil<br />
selektionsrelevanter Merkmalen einschlägige Tätigkeitstransfers erwarten<br />
(Person D). Niedrigere Punktsummen indizieren, daß Personen in der Breite<br />
gewünschter Tätigkeitsmerkmale oder im Hinblick auf stark gewichtete<br />
Tätigkeitsmerkmale Defizite aufwiesen. Hier konnten auch Bewerber(innen)<br />
verwandter Berufsfelder sehr gut danach beurteilt werden, wie ihr<br />
jeweiliger Auswahlnutzen zu veranschlagen wäre. Person E z.B. besaß das<br />
Tätigkeitsprofil einer typischen Pool-Schreibkraft, Person C das einer<br />
Sekretariatskraft in nicht-wissenschaftlichen Organisationen. Person B<br />
verichtete primär Verwaltungtätigkeiten, Person A Hilfstätigkeiten im<br />
Büro.<br />
Je nachdem, wie stark die Gesamtnutzenwerte streuen und wieviele Personen<br />
üblicherweise für die Endauswahl vorgesehen werden, sind mehr oder<br />
weniger liberale Entscheidungskriterien möglich. Im vorliegenden Fall<br />
wurde ein Kriterium von Ni > 70 festgesetzt, wodurch acht von 30 Personen<br />
in die Endauswahl kamen und zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurden.<br />
5. Diskussion des Verfahrens<br />
5.1 Stärken<br />
Eine wesentliche Stärke des Verfahrens ist es zweifellos, daß<br />
inhaltskompetente Personen angeleitet werden, Entscheidungsprobleme zu<br />
strukturieren, bis hin zu operationalisierbaren Konsequenzen zu<br />
durchdenken und auf zentrale Merkmale und Merkmalsdimensionen zu<br />
verdichten. Die einzelnen Verfahrensschritte bringen es mit sich, daß<br />
Auswahlprobleme ernst genommen und sorgfältig untersucht werden. Im<br />
beschriebenen Beispielsfall resultierte daraus u.a. eine reflektiertere<br />
Vergegenwärtigung von Tätigkeiten im Sekretariat und eine starke<br />
Anforderungsbezogenheit der Selektionsmerkmale. Hier deuten sich auch<br />
Möglichkeiten an, die Entscheidungstechnik mit anderen diagnostischen
Verfahren, z.B. standardisierten Arbeits- oder Anforderungsanalysen<br />
(Frieling, 1975) zu kombinieren.<br />
Da für Einzelnutzenmessungen operationale Kriterien aufgestellt werden<br />
müssen, können Bewerbungsunterlagen relativ zeitökonomisch gesichtet und<br />
objektiv ausgewertet werden. Computereinsatz vermag hier ein übriges zu<br />
tun, um die Verfahrenseffizienz zu steigern. Sind normierte<br />
Merkmalsgewichte erst einmal gespeichert, lassen sich<br />
Einzelnutzenmessungen sofort zu Gesamtnutzenwerten verrechnen. Ist<br />
zusätzlich das Entscheidungskriterium eingespeichert, kann der Rechner<br />
auch weitere Arbeiten abnehmen wie z.B., den Kreis einzuladender<br />
Bewerber(innen) zusammenzustellen.<br />
Vorteilhaft ist zudem, daß das Verfahren eine weitgehend faire Behandlung<br />
von Bewerbungen sicherstellt. Es erschwert ungerichtete und willkürliche<br />
Auswertungen von Unterlagen und minimiert Einflüsse von Wahrnehmungs- und<br />
Beurteilungsfehlern. Dies befreit die Prozedur nicht von dem ihr<br />
inhärenten Aussonderungscharakter, es ist jedoch gewährleistet, daß<br />
Entscheidungen für oder gegen eine Aufnahme in die Endauswahl<br />
objektivierbar und inhaltlich begründet sind. Individuelle Nutzenprofile<br />
können sogar dazu verwendet werden, den abgelehnten Bewerber(inne)n in<br />
ökonomisch vertretbarer Weise ein für sie auch informatives<br />
Entscheidungsfeedback zukommen zu lassen.<br />
5.2 Schwächen<br />
Eine Schwäche der multi-attributiven Nutzentechnik ist es, daß sie mit<br />
Expertenwissen arbeitet, dessen Vorhersagegültigkeit selbst jedoch<br />
empirisch nicht kontrolliert. Edwards (1986) selbst betrachtet dies als<br />
Defizit und als Aufgabe für weitere Verfahrensentwicklungen. Die Qualität<br />
der Entscheidungsanalyse hängt demnach von Problem(an)sichten eines<br />
begrenzten Kreises von Fachleuten ab, deren Wissen nicht gleichzeitig<br />
auch vor "groupthink" (Janis, 1972) oder Interessen- und Kompetenzstreitigkeiten<br />
schützt. Hinzu kommt mitunter, daß die Handhabung der<br />
Gewichtigungsprozedur Schwierigkeiten bereitet. Wie Edwards (1986)<br />
ebenfalls anmerkt, gelingt es Experten nicht immer, meß- und<br />
wahrscheinlichkeitstheoretische Implikationen des Verfahrens zu<br />
durchschauen. Verhältnisschätzungen sind daher nicht selten inkonsistent<br />
und intransitiv, überdies schleichen sich Repräsentations-, Gebrauchsoder<br />
Konservatismusfehler ein (vgl. Kahneman et al., 1982). Hier können<br />
gerade psychologische Moderatoren Hilfestellung leisten, indem sie z.B.<br />
Grundprinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung verdeutlichen,<br />
inkonsistente Merkmalsbeurteilungen erkennen und erneut zur Diskussion<br />
stellen oder auf kognitive "Fallen" und typische Vorhersagefehler<br />
hinweisen.<br />
Eine weitere Schwäche des Verfahrens birgt die u.U. inadäquate Messung<br />
von Merkmalsausprägungen. Probleme können sowohl bei der<br />
Operationalisierung als auch bei der Nutzenbeurteilung auftreten.<br />
Schwierigkeiten werfen vor allem latente Merkmale auf, im gegebenen<br />
Zusammenhang etwa Leistungsbereitschaft, kommunikative Kompetenz oder<br />
Anstelligkeit, für die übliche Bewerbungsunterlagen nur unvalide Indikatoren<br />
enthalten. Schwierigkeiten ergeben sich zudem, wenn zweifelhaft<br />
ist, ob Merkmalsmessungen ohne weiteres miteinander verglichen und<br />
aggregiert werden können. Verwenden Beurteiler unterschiedliche Nutzen-<br />
"Theorien", müssen Gesamturteile nicht automatisch das Gleiche<br />
ausdrücken.<br />
Neuralgische Punkte der multi-attributiven Nutzentechnik sind seit<br />
geraumer Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen (vgl.
Stillwell et al., 1981; Griffin & Edwards, 1983; Beach & Barnes, 1983).<br />
Erkenntnisse hieraus dürften Entscheidungsanalytiker zunehmend in die<br />
Lage versetzen, ihre Moderatorfunktion zu effektivieren und den optimalen<br />
Einsatz des Verfahrens sicherzustellen (vgl. Winterfeld & Edwards, 1986).<br />
6. Fazit<br />
Zum Stellenwert seines Verfahrens innerhalb der Angewandten Psychologie<br />
merkt Edwards (1986) an, daß Entscheidungsanalytiker derzeit stärker<br />
nachgefragt seien als etwa Psychometriker. Er verweist darauf, daß sein<br />
Verfahren anerkannt und weitverbreitet sei sowie zufriedenstellende<br />
Resultate liefere. Wenn die multi-attributive Nutzentechnik, wie hier<br />
geschehen, auf Probleme der Personalauswahl angewandt wird, erscheint die<br />
Anmerkung von Edwards natürlich besonders brisant. Können (formale)<br />
Entscheidungsanalysen psychodiagnostische Untersuchungen im Betrieb<br />
ersetzen oder sogar überflüssig machen? Diese Frage ist zu verneinen.<br />
Eine prognostisch valide Analyse und Messung von Entscheidungsmerkmalen<br />
ist ohne Zweifel nur dann möglich, wenn deren Konsequenzen und<br />
Ausprägungszustände relativ zuverlässig erkannt und objektiviert werden<br />
können. Zahlreiche der etwa von Edwards (1980) zitierten Anwendungsbeispiele<br />
sind ökonomisch-technischer Natur, was dem stark<br />
rational(istisch)en Moment der hinter dem Verfahren stehenden<br />
Entscheidungstheorie entgegenkommt (vgl. Edwards, 1954). Da<br />
Expertenwissen bei technischen Problemen zumeist einen hohen<br />
Vorhersagewert besitzt und ökonomische Bewertungskriterien auf<br />
anerkannten Nutzenvorstellungen beruhen, überrascht der Erfolg des<br />
Verfahrens wenig. Ähnlich günstige Bedingungen sind bei psychologischen<br />
Problemen jedoch eher selten anzutreffen. Um Art und Bedeutung<br />
problemrelevanter Merkmale ausfindig zu machen, sind psychodiagnostische<br />
Untersuchungen sehr oft unentbehrlich, und auch der Nutzen<br />
dispositioneller Merkmale kann in vielen Fällen erst dann festgestellt<br />
werden, wenn testpsychologische Informationen vorliegen.<br />
Entscheidungsanalyse macht den Psychometriker also nicht überflüssig; für<br />
Probleme der Endauswahl ist sie ohne sein Mitwirken sogar ausgesprochen<br />
fehleranfällig (vgl. Cronbach & Gleser, 1965).<br />
Unabhängig von inhaltlichen und formalen Besonderheiten hat das<br />
beschriebene Entscheidungsverfahren jedoch den Vorteil, daß es einen Satz<br />
von Regeln vorgibt, nach denen mehrdeutige Problemanforderungen geklärt,<br />
Problemperspektiven transparent gemacht und Lösungsalternativen bewertet<br />
werden können. Es hilft also auch dabei, Auswahlprobleme kognitiv besser<br />
zu strukturieren und unterschiedliche Problem(an)-sichten konstruktiver<br />
miteinander zu verbinden. Die multi-attributive Nutzentechnik ist somit<br />
ein brauchbares Instrument, Auswahlstrategien zu verbessern und<br />
Fehlentscheidungen bei der Stellenbesetzung zu vermeiden.<br />
7. Literatur<br />
Beach, L.R. & Barnes, S.V.: Approximate measurement in a multiattributive<br />
utility context. Organizational Behavior and Human Performance, 1983, 32,<br />
417-424.<br />
Blum, M. & Naylor, J.C.: Industrial Psychology. New York: Harper, 1968.<br />
Cronbach, L.J. & Gleser, G.C.: Psychological Tests and Personnel<br />
Decisions. Urbana,Ill.: University of Illinois Press, 1965.<br />
Eckardt, H.-H. & Schuler, H.: Berufseigungsdiagnostik. In: Jäger, R.<br />
(Hrsg.): Psychologische Diagnostik. München: Psychologie <strong>Verlag</strong>s Union,<br />
1988 im Druck.<br />
Edwards, W.: The theory of decision making. Psychological Bulletin, 1954,<br />
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