Joachim Freimuth, Otmar Hauck, Tomke Asbahr - Rainer Hampp ...
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Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 5<br />
<strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong> *<br />
Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens.<br />
Dargestellt am Beispiel der Einführung von Gruppenarbeit in<br />
einer Automobilmontage **<br />
Organisatorisches Erfahrungswissen besteht nicht nur aus fachlicher Expertise,<br />
sondern umfasst auch Prozessverständnis sowie das Verstehen von unternehmerischen<br />
Kontexten und Kooperationsbeziehungen. Innerhalb von Teams bilden sich<br />
diese Strukturen schrittweise aus und werden dort repräsentiert. Teams bilden somit<br />
die Grundeinheiten des organisatorischen Gedächtnisses. In dem Maße, wie die<br />
Teams ihre Erfahrungsbasis ausbauen und ihre Kompetenz nutzen, eröffnen sich<br />
auch Voraussetzungen für ein weitergehendes Commitment der Teammitglieder mit<br />
den Zielen der Unternehmensentwicklung. Den Teamkoordinatoren kommt in diesen<br />
Prozessen eine zentrale vermittelnde Rolle zu.<br />
The structure and dynamics of organizational knowledge – empirical results<br />
based on the implementation of teamwork in a car assembly plant<br />
Organizational knowledge consists not only of technical expertise, but also<br />
of the understanding of processes, entrepreneurial contexts and co-operative<br />
connections. These structures are developed successively within teams.<br />
Consequently, teams form the basic units of organizational memory. As teams<br />
develop their knowledge basis and make use of their competencies, the commitment<br />
of team members can be aligned with organisational development aims. Team<br />
co-ordinators embody a central, mediating role in these processes.<br />
____________________________________________________________________<br />
* Dr. <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong> ist Professor an der Hochschule Bremen und Berater für Personalmanagement<br />
und Organisationsentwicklung, Dipl.-Ing. <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong> ist Leiter des Cost Centers<br />
Montage bei der Volkswagen AG in Wolfsburg, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong> ist Diplom-Betriebswirtin<br />
und freie Mitarbeiterin bei Professor <strong>Freimuth</strong>.<br />
** Artikel eingegangen: 17.9.2001<br />
revidierte Fassung akzeptiert nach doppelt-blindem Begutachtungsverfahren: 28.11.2001.
6 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
1. Zielsetzungen und Aufbau der Arbeit<br />
Die im Folgenden dargestellten Erkenntnisse stammen aus der Evaluation eines<br />
Change-Prozesses in einer deutschen Automobilmontage, in dessen Zentrum die Einführung<br />
von Gruppenarbeit stand. Es ist in erster Linie ein Erfahrungsbericht. Unser<br />
Fokus war die Ausweitung und Vertiefung des kollektiven Wissens und Verständnisses<br />
in den Teams. Wir versuchen im Folgenden, für diese Prozesse eine Systematik<br />
vorzulegen. In den anfänglichen Kapiteln erläutern wir zunächst den Projektkontext,<br />
seine Ausgangsbedingungen und die Vorgehensweise unserer Untersuchung. Wir<br />
zeigen dann im 5. Kapitel, welche Wissensstrukturen sich in den Teams herausbilden.<br />
Diese gehen wesentlich über die bloße fachliche Expertise hinaus. Hinzu kommt das<br />
Verständnis für den gesamten Prozess, für den organisatorischen Kontext und für die<br />
Beziehungsdynamik in der Gruppe. Das 6. Kapitel widmet sich der Dynamik der<br />
Wissensentwicklung in den Teams. Diese Wissensbasis entwickelt sich schrittweise,<br />
verbreitert sich und erschließt größere Zusammenhänge. Es wird auch gezeigt, wie<br />
sich die Entstehung des kollektiven Gedächtnisses verstehen lässt, in dem das Wissen<br />
der Teams aufgehoben ist. In jeder Arbeitsgruppe bilden sich gleichsam lokale dynamische<br />
Wissensdatenbanken, repräsentiert in Form von Geschichten und einer spezifischen<br />
Sprache. Allerdings weiß nicht jeder im Team alles und muss auch nicht alles<br />
wissen. Es genügt, wenn man weiß, wer in der Gruppe über jeweils spezifische Erfahrungen<br />
verfügt, um ggfs. darauf zurückzukommen. Der Zugriff erfolgt über die Fähigkeit<br />
zur informellen und manchmal sprachlosen Kommunikation in den Teams.<br />
Das ist ein verändertes Modell der Repräsentation von Organisationswissen, das dem<br />
individuellen Expertentum der klassischen industriellen Organisation entgegengesetzt<br />
ist. Im Zentrum all dieser Wissensprozesse in den Teams stehen die Teamkoordinatoren,<br />
die dort eine katalysatorische Wirkung entfalten, nicht zuletzt, weil die Ausdifferenzierung<br />
ihrer eigenen unklaren und widersprüchlichen Rolle ein Lernmodell für<br />
das Team selber ist (Kap. 7). Sie bilden auch den Ausgangspunkt dafür, dass die<br />
Teammitglieder sich mit dem Nutzen von Teamarbeit auseinander setzen und beginnen,<br />
ihre Einstellungen daraufhin zu verändern (Kap 8). Das ist zunächst ein ganz<br />
nüchterner Prozess des Abwägens, aber auch der Vertrauensbildung. Im 9. Kapitel<br />
widmen wir uns schließlich der Frage, wie zumindest in ersten Ansätzen so etwas wie<br />
Commitment unter den Beschäftigten mit dem Prozess und seinen Zielen erreicht<br />
werden kann. Wir möchten betonen, dass die hier dargestellten, zum Teil sehr weitgehenden<br />
Resultate nur für die am weitesten entwickelten Gruppen gelten. Das hat<br />
für uns aber deutlich gemacht, welche Potenziale in der Gruppenarbeit liegen. In den<br />
meisten Gruppen kämpfen wir nach wie vor mit zahlreichen Widerständen und Problemen.<br />
2. Datengrundlagen<br />
Die empirische Basis für unsere Resultate sind ca. 25 halbstrukturierte Interviews<br />
über einen durchschnittlichen Zeitraum von jeweils 90 Minuten, die wir auf allen<br />
organisatorischen Ebenen mit dem Management, betrieblichen Vorgesetzten,<br />
Teamkoordinatoren, Prozessbegleitern, Technikern und Repräsentanten der Arbeit-
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 7<br />
nehmervertretungen führten. Zugleich hatten wir Gelegenheit, im Rahmen von teilnehmenden<br />
Beobachtungen Qualifikationsmodule für Teamkoordinatoren, Teamkoordinatoren-Runden<br />
und Routine-Meetings des Managements mit Arbeitnehmervertretungen<br />
zu erleben. Analyse und Auswertung umfassten einen Zeitraum von 6 Wochen.<br />
Die Ergebnisse wurden dann in 6 ausführlichen Feedback-Runden allen Interviewpartnern,<br />
im Werksmanagement und den Arbeitnehmerrepräsentanten präsentiert,<br />
dort diskutiert und noch einmal plausibel gemacht. Daraus entstanden eine Reihe<br />
von Vorschlägen für die Weiterführung des Prozesses.<br />
3. Projektkontext<br />
Der gesamte Bereich zählt ca. 6500 Mitarbeiter und umfasst drei Montagelinien,<br />
die jeweils im Dreischichtbetrieb arbeiten. Die Teams haben eine durchschnittliche<br />
Größe von ca. 15-20 Mitarbeitern, sind also sehr groß. 1 Darüber hinaus ist aufgrund<br />
einer Vielzahl von äußeren Faktoren, etwa die Notwendigkeit der Integration von<br />
Mitarbeitern aus anderen Bereichen oder das ‚Ausleihen’ von bewährten Mitarbeitern<br />
bei Engpässen in benachbarten Teams, die Stabilität und Kontinuität der Teamzusammensetzung<br />
nicht immer so, dass sich ungehindert Gruppenprozesse entfalten<br />
können. Da die Teams zudem an getakteten Fließbändern arbeiten, ist der Spielraum<br />
für Kommunikation und Kooperation durch die Taktzeit und die sukzessive Anordnung<br />
der Arbeitsplätze beschränkt. 2 Schließlich musste die Umstellung auf Teamarbeit<br />
bei laufender Fertigung vorgenommen werden. Insgesamt fanden wir damit Voraussetzungen<br />
für einen komplexen Prozess vor, die für alle Beteiligten alles andere<br />
als einfach waren.<br />
Die Teams werden von ca. 300 Teamkoordinatoren geleitet. Sie sind prinzipiell<br />
von der Bandarbeit weitgehend freigestellt, d.h. springen ein, wenn Engpässe entstehen.<br />
Das führt naturgemäß regelmäßig auch zu Konflikten mit ihrer Koordinationsaufgabe,<br />
für die so zuweilen nur sehr eingeschränkt Zeit verbleibt. Die Koordinatoren<br />
werden von der Gruppe für einen Zeitraum vom 6 Monaten gewählt, wobei die Wiederwahlquote<br />
mittlerweile bei ca. 90 % liegt, d.h., diese Rolle hat eine deutliche Stabilität<br />
und Akzeptanz gewonnen. Sie sind dem Team nicht disziplinarisch vorgesetzt,<br />
das ist nach wie vor Teil der Rolle der Meister.<br />
Der Prozess der Einführung von Gruppenarbeit umfasst jetzt einen Zeitraum von<br />
ca. 2 Jahren. Er verlief zeitversetzt an den drei Montagelinien. In dieser Zeit haben alle<br />
Mitarbeiter an einem Seminar teilgenommen, um für sie die Grundlagen von Gruppenarbeit<br />
erlebbar zu machen. Die Teamkoordinatoren durchliefen ein differenziertes,<br />
modularisiertes Qualifikationsprogramm, in denen ihnen im Wesentlichen Schlüsselkompetenzen<br />
wie Moderation, Problemlösung oder Präsentation vermittelt wurden.<br />
1<br />
2<br />
Zum Vergleich: bei Opel in Bochum bestehen die Teams aus durchschnittlich 12 Mitarbeitern<br />
(Hoben 1997, 24).<br />
Das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Formen und Varianten von Gruppenarbeit! (Vgl.<br />
Antoni 2001, 23 f.).
8 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
Sie sind zudem am betrieblichen Informationsfluss im Rahmen von Teamkoordinatoren-Meetings<br />
beteiligt, in denen sie Hintergründe mitbekommen und immer wieder<br />
auch Gelegenheit besteht, die eigene Rolle zu reflektieren. Alle 2 Wochen haben die<br />
Teams unter der Leitung des Koordinators für 30 Minuten Gelegenheit, über sie<br />
betreffende Themen zu sprechen, dann wird das Band angehalten. Das erscheint auf<br />
den ersten Blick sehr wenig, aber es hat sich gezeigt, dass die meisten der entscheidenden<br />
Lernprozesse parallel zum Fertigungsprozess laufen.<br />
Die ca. 300 Teamkoordinatoren in diesem Betrieb sind gleichsam die kritische<br />
Masse in der Schnittstelle zwischen betrieblichen Vorgesetzten und Management einerseits<br />
und der Werker-Ebene andererseits. Sie erreichen die ca. 6000 Mitarbeiter in<br />
der Linie täglich und unmittelbar, behalten die Nähe zu ihnen, aber zugleich auch<br />
Distanz, aus der sie auf das Ganze schauen können. Wesentliche Unterstützung bekommen<br />
die Teams, die Koordinatoren und die Führungskräfte durch die hauseigenen<br />
Prozessbegleiter. Als interne Berater führen sie Qualifikationen und Erfahrungsaustauschkreise<br />
durch, sind in den Teamkoordinatoren-Meetings anwesend und stehen<br />
vor allem immer wieder auch informell bei Problemen und Konflikten als Gesprächspartner,<br />
Vermittler und Coaches zur Verfügung (vgl. hierzu ausführlich Hurtz<br />
et al. 2001).<br />
Insgesamt waren Aufwand und Vorleistungen, die das Unternehmen in diesem<br />
Prozess erbracht hat, für diese produktivitäts- und kostengetriebene Industrie beträchtlich.<br />
Es ist daher von großem Interesse für alle Beteiligten, im Detail zu verstehen,<br />
worin der Nutzen für all diese Anstrengungen liegt. 3<br />
4. Ausgangslage des Prozesses<br />
Der globale Wettbewerb auf dem Automobilmarkt setzt die Unternehmen unter<br />
Produktivitäts-, Qualitäts- und Innovationsdruck. Alle suchen nach Antworten, insbesondere<br />
nach Lösungen für eine moderne Fertigungsorganisation. Dieses Ringen um<br />
Antworten und besonders die vielen – auch fehlgeschlagenen – Experimente muss<br />
man als einen kollektiven Lernprozess der gesamten Industrie begreifen. Es gibt keine<br />
Patentlösungen, jedes Unternehmen ist dabei, sich seinen eigenen Weg zu suchen.<br />
Einige sind dabei auch immer wieder mutig vorangegangen, insbesondere wenn es<br />
3<br />
Wir teilen daher nicht die skeptische Analyse von Kühl (2001), der das ernsthafte Interesse<br />
der Protagonisten solcher Veränderungsprozesse am Erfolg oder Misserfolg als Gesundrechnen<br />
bezeichnet. Wir stimmen allerdings zu, dass solche Vorhaben natürlich auch politisch gegen<br />
Interessen und aus Interessen heraus verkauft werden müssen. Betriebswirtschaftliche<br />
Kalküle sind die Sprachformen, die hier in erster Linie verstanden werden, aber sie sind nicht<br />
nur beliebig. Wir sehen die Versuche mit Gruppenarbeit als Lernen, ebenso die Bestrebungen,<br />
ihre Wirtschaftlichkeit nachzuweisen. Man braucht Mut, solche neuen Wege zu gehen. Dahinter<br />
steckt auch die Überzeugung, dass sich auf diese Weise neue Wege der Standortsicherung<br />
eröffnen können. Für viele Protagonisten ist auch die Demokratisierung von Organisationen<br />
ein lohnenswertes Ziel. Wie man das als ‚normativ aufgeladen‘ abtun kann, ist uns unverständlich.
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 9<br />
um den Ausgleich von Arbeitnehmer- und Unternehmerinteressen ging und haben<br />
dabei auch Zeichen für die gesamte Wirtschaft gesetzt. 4 Allerdings wird das von den<br />
Mitarbeitern nicht ebenso wahrgenommen. Es bleibt daher nichts anderes, als ihnen<br />
die Konfliktlagen immer wieder deutlich zu machen, wenn man sie – gerade auch für<br />
neue oder ungewöhnliche Lösungen – gewinnen möchte. Das war und ist auch im<br />
vorliegenden Projekt, der Einführung von Gruppenarbeit, möglicherweise das Kernproblem.<br />
Die Initiatoren des Vorhabens waren mit einer Reihe von abwartenden,<br />
skeptischen, indifferenten bis hin zu abwehrenden Attitüden und Einstellungen konfrontiert.<br />
Das sind Lernprozesse, die Lernen verhindern, Vermeidungswissen oder defensive<br />
Lernroutinen (vgl. hierzu ausführlich Argyris 1993). Aber sie sind integraler<br />
Teil der Unternehmenskultur und bilden den Bezugsrahmen der Mitarbeiter, in dessen<br />
Licht alle Veränderungsversuche wahrgenommen und bewertet werden. Die wesentlichen<br />
Faktoren, denen wir in diesem Zusammenhang im vorliegenden Projekt<br />
begegneten, lassen sich wie folgt zusammenfassen:<br />
<br />
<br />
Bereits in den 90er Jahren gab es im Unternehmen Versuche mit Gruppenarbeit,<br />
die zum Teil mit großen Aufwand betrieben und dann mehr oder weniger sangund<br />
klanglos wieder abgebrochen wurden. Damit war der Begriff ‚Gruppenarbeit’<br />
schon vorderhand eher negativ besetzt, zumal der Eindruck entstand, dass<br />
diese Vorhaben auch mit Management-Karrieren verbunden waren. ‚Die Fürsten<br />
kommen und gehen, das Volk bleibt’, in diesen Formulierungen kommt die<br />
Skepsis gegenüber solchen Neuerungen treffend zum Ausdruck.<br />
Prägend für die Unternehmenskultur war zudem eine langjährige, sehr hierarchische<br />
Führungskultur mit dominanten betrieblichen Vorgesetzten. ‚Bei Schichtbeginn<br />
mussten wir unser Gehirn beim Pförtner abgeben’, auch das ein Ausspruch,<br />
der sofort verdeutlicht, was gemeint ist. ‚Mehr Demokratie wagen’ im<br />
Rahmen von Gruppenarbeit bedeutet das Gegenteil, aber diese Wende braucht<br />
Zeit und Vertrauen.<br />
Schließlich ist ein Großteil der Mitarbeiter schon sehr lange im Unternehmen,<br />
verfügt über einen stabilen Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelungen und Bezahlung<br />
sind überdurchschnittlich, und der Standort gilt als weniger gefährdet.<br />
Unter diesen Rahmenbedingungen ist kaum eine hohe Veränderungsbereitschaft<br />
zu erwarten gewesen.<br />
Der Umgang mit dieser Art von defensiven Routinen stellt die eigentliche Herausforderung<br />
in jedem Change-Prozess dar. Es besteht ein wechselseitiger Zusammenhang<br />
zwischen den individuellen Dispositionen, die sich in Erfahrungen kristallisieren<br />
und in Verhalten zeigen, und den sichtbaren Effekten, z.B. Absentismus oder<br />
Fehlerraten. Die subjektiven Realitäten werden so zu objektiven Realitäten und um-<br />
4<br />
Beispielsweise: Hartz (1996). Aktuell ist natürlich auch der jetzt gelungene 5000 x 5000-<br />
Abschluss zwischen den Tarifvertragsparteien zu nennen (vgl. dazu und auch darüber hinaus<br />
reichend Hartz 2001).
10 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
gekehrt, so dass eine nahezu undurchdringliche Resistenz entsteht, vergleichbar mit<br />
einer Gummiwand (Abb. 1). Viele Change-Prozesse sind nicht wirklich nachhaltig,<br />
weil sie diese kulturellen Tiefenstrukturen und die Ebene des subjektiven Erlebens<br />
der betroffenen Mitarbeiter nicht erreichen. 5 Das war im vorliegenden Projekt, bei<br />
mehr als 6000 Mitarbeitern und der wenigen Zeit, die angesichts des harten Wettbewerbs<br />
blieb, noch einmal um Einiges schwieriger. Die Gefahr war und ist daher sehr<br />
groß, auf der Ebene von kurzfristigen Effekten stehen zu bleiben und bei den Mitarbeitern<br />
ein Gefühl von Unverständnis oder Zynismus zu hinterlassen.<br />
Abb. 1: Ebenen organisatorischer Transition (aus: Douglas/Wykowski 1999, 44)<br />
Objektive Realität<br />
Verhalten<br />
Sichtbare Effekte<br />
Organisatorisches Wissen<br />
Kultur<br />
Subjektive Realität<br />
Individuelle Dispositionen<br />
5. Strukturen organisatorischen Wissens<br />
Den Kern der Wissensprozesse, die wir untersuchen, stellen die Teams dar. Das<br />
ist ein Ansatz, der im Gegensatz zum Expertenmodell des Wissensmanagements in<br />
der klassischen industriellen Organisation steht. Daher hierzu zunächst einige einleitende<br />
Bemerkungen.<br />
5.1 Vom Expertenmodell zum Team als Nukleus der Wissensentwicklung<br />
In der traditionellen Automobilfertigung waren Fertigungsingenieure, Techniker<br />
und Meister die Repräsentanten der operativen betrieblichen Wissensbasis. Sie bestand<br />
aus partiellen Monopolen, die Kontrolle und Macht ermöglichten. Insbesondere<br />
die Meister beherrschten aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen fast jeden Handgriff,<br />
kannten nahezu alle Werkzeuge oder Maschinen, waren in der Lage, die Kapazitäten<br />
und Möglichkeiten der Anlagen und schließlich die Kompetenzen der ihnen<br />
zugeordneten Mitarbeiter weitgehend einzuschätzen. Der Ehrgeiz der Meister bestand<br />
5<br />
Man muss sich allerdings auch von der Illusion befreien, dass alle Mitarbeiter vollständig erreicht<br />
und überzeugt werden können. Wichtig ist gleichwohl das ständige und überzeugte<br />
Bemühen darum, damit der Prozess glaubwürdig bleibt (Douglas/Wykowski 1999).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 11<br />
darin, jedem einzelnen Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz ‚immer noch etwas vormachen<br />
zu können’, so eine Ausspruch in einem Gespräch. Durch ihre Rolle in der betrieblichen<br />
Hierarchie verfügten sie schließlich auch über Kenntnisse von strategischen<br />
Zusammenhängen, die sie ihren Mitarbeitern gleichfalls voraus hatten. Diese<br />
Wissensmonopole begründeten ihre sehr weitreichende Macht und Autorität in der<br />
Fabrik. ‚Früher war ich das Gesetz in meiner Halle’, dieser Satz eines altgedienten<br />
Meisters drückt die ehemalige Bedeutung dieser Position aus. 6<br />
Im Vergleich mit den Meistern verfügten die Mitarbeiter in der hierarchischarbeitsteiligen<br />
Struktur lediglich über sehr wenig Erfahrungsmöglichkeiten und repräsentierten<br />
daher nur beschränkte Ausschnitte der betrieblichen Wissensbasis. Der<br />
Sinn der tayloristischen Organisation bestand nicht zuletzt darin, diese Ausschnitte zu<br />
verkleinern und sie dadurch optimal beherrschbar und kontrollierbar zu halten. 7 Im<br />
Gegensatz dazu machte die japanische Automobilindustrie Anfang der 90er Jahre mit<br />
einem ganz anderen Konzept des betrieblichen Wissensmanagements auf sich aufmerksam,<br />
in dessen Kern die Gruppenarbeit stand. Das betriebliche Wissen sollte<br />
stärker in den wertschöpfenden Tätigkeiten aufgebaut und auf mehrere Köpfe verteilt<br />
werden. 8<br />
6<br />
7<br />
8<br />
Insgesamt sehen sich die Meister daher eher als Betroffene, nicht als Beteiligte am Change-<br />
Prozess, da sie Handlungskontrolle nach unten abgeben und die Erwartungen des Managements<br />
nach wie vor hoch sind. Darüber hinaus fällt es ihnen schwer, aus sich heraus eine neue<br />
Rolle und Aufgabenfelder zu definieren. Allerdings wächst mittlerweile eine neue Meistergeneration<br />
nach, die etwa durch einschlägige Auswahlseminare und Qualifikationen gegangen<br />
sind. Darüber gibt es in sog. Meisterlernteams gemeinsam mit dem Management regelmäßig<br />
Möglichkeiten, Erfahrungen auszutauschen und die eigene Rolle zu konturieren. All das entbindet<br />
aber nicht von der Notwendigkeit, ein gemeinsam getragenes Leitbild der neuen Meisterrolle<br />
zu entwickeln, um diese wichtige vermittelnde Führungsposition für alle sichtbar zu<br />
stärken (vgl. auch Krings/Luczak 1997, 169 ff.; vgl. für zwei positive Beispiele Reimer/<br />
Hußmann 2001, grundsätzlicher hierzu Floyd/Wooldridge 1996).<br />
Man muss sich noch mal klar machen, dass es in der aufkommenden amerikanischen industriellen<br />
Massenproduktion um die Integration von unqualifizierten europäischen Emigranten<br />
ging, denen jedes Verständnis für industrielle Produktionstechnik und -prozesse abging. Auf<br />
der anderen Seite war das Management nicht fähig, diese latenten Produktivitätspotenziale<br />
nachhaltig zu erschließen. „Management controlled the playing field. But workers controlled<br />
quality, quantity, and costs. ... Key to a good organization was a productivity expert, roughly<br />
analogous to third-party facilitator“ (Weisbord 1987, 50 f.).<br />
„So ist es schließlich das dynamische Arbeitsteam, das sich als Herz der schlanken Fabrik<br />
entpuppt. Der Aufbau solcher effizienten Teams ist nicht einfach. Als erstes müssen die Arbeiter<br />
zahlreiche Fertigkeiten erlernen – tatsächlich alle Jobs ihrer Arbeitsgruppe, so dass die<br />
Arbeitsverteilung geändert werden kann und die Arbeiter für jeden anderen einspringen können.<br />
Dann müssen sie sich weitere zusätzliche Fertigkeiten aneignen: in einfacher Maschinenreparatur,<br />
Qualitätsprüfung, Reinigung und Materialbestellung. Ferner müssen sie zu vorausschauenden<br />
Denken ermuntert werden, so dass sie Lösungen finden können, bevor Probleme<br />
ernst werden.
12 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
Je komplexer die Autos und die ihnen entsprechenden Fertigungsprozesse werden,<br />
um so risikoreicher sind individuelle Wissensmonopole. Ihre Inhaber entwickeln<br />
sich leicht – obwohl hochgradig qualifiziert – zu systematischen Engpässen, die sich<br />
in entscheidenden Momenten und an unzähligen Stellen hemmend auswirken können.<br />
Sie richten sich darüber hinaus allzu leicht in solchen Nischen ein und bilden in einem<br />
System, das eigentlich schnell fließen müsste, Barrieren und Einbahnstraßen.<br />
Wissen und Kompetenz müssen sich heute daher dezentralisieren und verbreitern.<br />
Man erkennt sonst Fehler oder Probleme zu spät, sie verschleppen sich, so dass<br />
außerordentlich hohe Folgekosten entstehen. Teams bieten hingegen Möglichkeiten<br />
für eine verbreiterte und flexiblere operative Wissensbasis. 9 Nach unseren Erkenntnissen<br />
lassen sich zunächst vier verschiedene Aspekte des Wissens unterscheiden, die<br />
von den Gruppen im Verlaufe ihrer Evolution aufgebaut werden und die ihre Arbeitsund<br />
Handlungsfähigkeit ausmachen: 10<br />
Fachliches Wissen – das sind einerseits Kenntnisse über die Produkte, über Stoffe,<br />
Werkzeuge und die Anlagen, andererseits aber auch das spezifische handwerkliche<br />
Können, das die Gruppenmitglieder auszeichnet.<br />
Prozesswissen – darunter verstehen wir die Kenntnis von betrieblichen Zusammenhängen<br />
und Abläufen, die insbesondere die Sinnhaftigkeit der eigenen Aufgabenstellung<br />
im Gesamtprozess verdeutlicht.<br />
<br />
Kontextwissen – das ist das Verständnis für Visionen, Strategien und Ziele des<br />
Unternehmens in seinem spezifischen Wettbewerbsumfeld, aus denen sich etwa<br />
die Bedeutung betrieblicher Entscheidungen erschließt.<br />
Schließlich fassen wir unter Beziehungswissen die Kenntnisse über Personen,<br />
ihre Vorlieben, Eigenheiten und Beziehungen innerhalb und außerhalb der Gruppe<br />
zusammen sowie ebenfalls die spezifischen Verhaltensregelwerke und Normen, die<br />
sich innerhalb und zwischen den Gruppen herausgebildet haben.<br />
Eine optische Darstellung der Strukturen betrieblichen Wissens ist nicht ganz<br />
einfach. Die Form eines Puzzles deutet die Komplexität der organisatorischen Wissensstrukturen<br />
ein wenig an (Abb. 2). Allerdings ist diese Darstellung auch nur eine<br />
unvollkommene Annäherung, weil die einzelnen Facetten sich bedingen, sich verän-<br />
9<br />
10<br />
Unsere Studien von Werken, die versuchen, die schlanke Produktion einzuführen, offenbaren,<br />
dass Arbeiter nur dann ansprechen, wenn ein Geist der gegenseitigen Verpflichtung vorherrscht,<br />
das Gefühl, dass das Management fähige Arbeiter wertschätzt, Anstrengungen unternimmt,<br />
sie zu behalten, und bereit ist, Verantwortung auf das Team zu delegieren“ (Womack/Jones/Roos<br />
1991, 104, Hv. im Text!).<br />
Vgl. das Beispiel für erfolgreiches Wissensmanagement in einer Fabrik (Leonhard-Barton,<br />
1994; 1995, 5 ff.).<br />
Diese Systematik hat einige Parallelen zum Vorschlag von Willke (1998, 314 ff.).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 13<br />
dern und an den Rändern ineinander verschwimmen. Organisatorisches Wissen ist<br />
weder eine Ansammlung diskreter Teile, noch ist es statisch, es ist ein Prozess. 11<br />
Abb. 2: Strukturen organisatorischen Wissens<br />
Prozesswissen<br />
Puffer und<br />
Slacks<br />
Ansprechpartner<br />
in<br />
Nachbarfunktionen<br />
Faustregeln<br />
Fachwissen<br />
Rollen<br />
im Team<br />
Beziehungswissen<br />
Verständnis<br />
der<br />
Gruppenziele<br />
5.2 Fachwissen<br />
Beeinflusst vom Konzept der Kernkompetenzen wird die Basis des organisatorischen<br />
Wissens im Allgemeinen in der spezifischen fachlichen Expertise, dem Wissen<br />
und Können der Mitarbeiter in den Kernbereichen der betrieblichen Wertschöpfung<br />
gesehen. Aus der Sicht der Kunden äußert sich das etwa in den Leistungsmerkmalen,<br />
der Qualität, der Funktionalität und dem Design des Produktes. Das fachliche Wissen<br />
in diesen Zentren der betrieblichen Wertschöpfung besteht aus unterschiedlichen<br />
Formen:<br />
Zunächst natürlich aus dem spezifischen Wissen und Können, das aufgrund der<br />
formalen Ausbildung für die Ausübung der Funktion Voraussetzung ist. Es ge-<br />
Kooperationsnormen<br />
Kontextwissen<br />
11<br />
Vgl. dazu die folgende Beschreibung eines Problemlösungsprozesses: „But neither had a<br />
decisive ‚piece‘ of knowledge. Not was the final solution the property of either one. It was a<br />
collective process that created an indivisible product. Thus we tend to think of knowledge less<br />
like an assembly of discrete parts and more like a watercolor painting. As each new color is<br />
added, it blends with the others to produce the final effect, in which the contributing parts<br />
become indivisible“ (Seely Brown/Duguid 2000, 106).
14 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
hört weitgehend in den Bereich des expliziten Wissens, d.h., es ist dokumentierbar<br />
und zu einem gewissen Grad auch reproduzierbar.<br />
Viel nachhaltiger ist aber das inkorporierte Wissen, das wie selbstverständlich<br />
abgerufen werden kann, weil es mit den agierenden Personen eins geworden ist.<br />
Treffsichere Handgriffe, das Gefühl für Material und Maschinen oder der gezielte<br />
Einsatz von Werkzeugen gehören in diesen Zusammenhang. Es gibt detaillierte<br />
Kenntnisse über die Belastungsfähigkeit und Kapazitäten der technischen Systeme<br />
und Ausstattung. Die Teammitglieder wissen aus Erfahrung, wie weit man<br />
etwa ohne Risiken über Toleranzen gehen oder Materialien belasten kann, ohne<br />
sie zu zerstören. Damit werden wesentliche Handlungsspielräume eröffnet, die<br />
sich etwa einem außenstehenden Planer nicht erschließen.<br />
Zum fachlichen Wissen gehören auch grobe Faustregeln und robuste Wenndann-Aussagen,<br />
die sich für die meisten Fälle bewährt haben. Sie sind nach den<br />
Gesetzmäßigkeiten von fuzzy logic organisiert, d.h., sie sind nicht ganz eindeutig<br />
und haben Randunschärfen.<br />
Das inkorporierte Wissen und Können und das robuste Regelwerk ist die Grundlage<br />
für eine spontane Urteilsfähigkeit und Intuition in Problemsituationen: ‚Man<br />
weiß eigentlich immer gleich, wo man suchen muss, wenn es mal knirscht’.<br />
Die letzten drei Aspekte des fachlichen Wissens sind eher in der Sphäre des impliziten<br />
Wissens anzusiedeln (Polanyi 1985). Es gehört damit zum kollektiven Erfahrungsschatz<br />
der Gruppe, der im Verlaufe ihrer Kooperation angesammelt wird und<br />
nicht ohne Weiteres benannt oder gar kopiert werden kann. Um ein Beispiel zu nennen:<br />
Bei der Installation von neuen Fensterdichtungen stellte sich beispielsweise heraus,<br />
dass sie nur ‚mit etwas Nachhelfen’ problemlos angebracht werden konnten. Um<br />
die nötigen Handgriffe zu lernen, musste erst eine Weile gemeinsam herumprobiert<br />
werden, bis sie richtig saßen. Für die Gruppe wurden diese Handgriffe zum Gemeingut,<br />
worüber man dann nicht mehr reden muss und auf das alle zurückgreifen können.<br />
Fachliche Expertise und Können ist auf diese Weise gleichsam körperlich und sinnlich<br />
mit ihnen verbunden. Sie beherrschen ihr Handwerk aus dem Handgelenk, sehen<br />
etwa mit einem erfahrenen Blick, wo Hand angelegt werden muss, spüren, wenn Material<br />
sich anders als gewohnt anfühlt oder ‚riechen Probleme’, bevor sie manifest<br />
auftreten. Erfahrene Arbeiter erkennen etwa am Klang von Materialien, am Geräusch<br />
von Maschinen oder am Lauf von Motoren, ob sich etwa eine Unregelmäßigkeit ankündigt<br />
oder ein Problem entstehen könnte. Sie verständigen sich dann untereinander<br />
nur mit einem kurzem Blick oder einem Kopfnicken, wissen ob und wie lange man<br />
noch weitermachen kann bzw. welche Maßnahme zu ergreifen ist, um ggfs. Schlimmeres<br />
zu verhindern (vgl. hierzu sehr anschaulich auch Jaeger 1999).<br />
Es ist für einen Außenstehenden völlig unmöglich, all diese kleinen und großen<br />
Geheimnisse zu rekonstruieren oder zu dokumentieren. Man muss Teil dieses Ganzen<br />
sein, es in sich aufnehmen und aufgenommen werden. Dieser Vorgang wird explizit,<br />
wenn – was häufig in den Gruppen passiert – neue Mitglieder hinzukommen. Sie kopieren<br />
zunächst schnell Handgriffe oder Vorgehensstrategien, machen sich den<br />
Rhythmus der Gruppe zu eigen und lernen ihr spezifisches Vokabular. Natürlich un-
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 15<br />
terlaufen Fehler, sie stocken oder sie sind ratlos. Dann sind es Kollegen oder der<br />
Teamkoordinator, der die Situation erkennt und das neue Mitglied nach und nach mit<br />
dem impliziten Wissen der Gruppe vertraut macht.<br />
5.3 Kontextwissen<br />
Dieser Aspekt der organisatorischen Wissensbasis liefert nach unseren Beobachtungen<br />
auf unterschiedlichen Niveaus Bezugsrahmen, vor deren Hintergrund etwa betriebliche<br />
Informationen oder Entscheidungen sich in einem größeren und Verständnis<br />
vermittelnden Zusammenhang erschließen. Aus diesem Verständnis kann nicht<br />
zuletzt auch Akzeptanz entstehen. In dem Maße, in dem der Problemhorizont der<br />
Mitarbeiter schrittweise erweitert wird, verfügen sie über Bezugssysteme, die ihnen<br />
Orientierung und die Zuordnung von Einzelheiten in eine komplexe Matrix erlauben.<br />
12 Information ohne Bezugsfelder ist nicht anschlussfähig, d.h., sie erzeugt bestenfalls<br />
Verwirrung, nicht selten Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Die Bedeutung von<br />
Kontextwissen zeigt sich aus unserer Beobachtung insbesondere bei folgenden Anlässen:<br />
Es ermöglicht ein größeres Verständnis von betrieblichen Entscheidungen, die<br />
so sinnvoller interpretiert und umgesetzt werden können. Entscheidungen, die<br />
nicht ganz mit den eigenen Interessen übereinstimmen, finden darüber hinaus<br />
auch eher Akzeptanz.<br />
Die Interpretation und Einordnung von betrieblichen Informationen, Zahlen oder<br />
Daten wird erleichtert, sie werden in Sinn vermittelnde Zusammenhänge gestellt.<br />
Schließlich erschließen sich durch Kontexte nicht nur betriebliche Zusammenhänge,<br />
sondern auch Ziele und Themen der Organisationsentwicklung, strukturelle<br />
Innovationen oder neue Rollen in veränderten Beziehungsgefügen.<br />
Im Lichte von erweiterten und Sinn stiftenden Bezugsfeldern erschließen sich<br />
nicht nur betriebliche oder organisatorische Zusammenhänge, es können auch auf einer<br />
ganz anderen Grundlage und selbständig eigene Entscheidungen getroffen werden.<br />
Wenn die groben Zielrichtungen und ihre betrieblichen Hintergründe klar und<br />
verständlich sind, können die einzelnen Schritte dorthin selbständig gemacht werden,<br />
ohne sich ständig abzustimmen. Das ist eine elementare Voraussetzung für die Entwicklung<br />
von dezentraler Selbststeuerungskompetenz, auch und gerade dort, wo die<br />
wertschöpfenden Prozesse stattfinden. 13<br />
12<br />
13<br />
„Flooding someone with more information doesn’t necessarily make him a better thinker.<br />
Creating a shared understanding is simply a different task than exchanging information. It’s<br />
the difference between being deeply involved in a conversation and lecturing to a group. The<br />
words are different, the tone is different, the attitude is different, and the tools are different“<br />
(Schrage 1995, 45).<br />
Willke (1998, 332) verwendet dafür den Ausdruck Steuerungswissen: „Es ist ein Reflexionswissen<br />
der Organisation über ihre Identität und ihre Mission (Zielsetzungen). Für die Organisation<br />
beantwortet dieses Wissen die Frage, wozu und wofür sie überhaupt tätig ist.“
16 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
Die Vermittlung von Kontexten ist eine Führungsaufgabe. Gerade in den fragilen<br />
Anfangsphasen eines Veränderungsvorhabens muss diese Aufgabe sehr ernst genommen<br />
werden. 14 In Besprechungen, Meetings und Präsentationen gibt es zahllose<br />
Anlässe und Gelegenheiten, auf die Zusammenhänge und Hintergründe von Entscheidungen<br />
einzugehen und nicht nur beziehungslos Zahlen oder Fakten ‚herunterzubeten’.<br />
Häufig kommt noch hinzu, dass nur Defizite und nicht erreichte Ziele aufgezeigt<br />
werden. Unverständnis, Verunsicherung und der Zwang zur Rechtfertigung<br />
gehen dann eine ungute Allianz ein. Führungskräfte müssen lernen, sich ihrer Wirkung<br />
bewusster zu werden und Schlüsselsituationen zu nutzen, um Lernprozesse auszulösen.<br />
Ein konkretes Beispiel soll das Gesagte etwas verdeutlichen: Ausgangspunkt<br />
war ein Konflikt zwischen einem Teamkoordinator und einigen Gruppenmitgliedern,<br />
den zufällig ein Unterabteilungsleiter mitbekam und auflöste. Er wurde in einem<br />
Teamkoordinatoren-Treffen zum Anlass genommen, um über die Rollen zu reflektieren.<br />
Interessant war dabei, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Führungstraditionen<br />
zu erleben, die auch in der Diskussion wieder aufloderten. Der Unterabteilungsleiter<br />
sah sich sehr in der klassischen hierarchischen Rolle, der Teamkoordinator<br />
wollte das Thema dialogisch und auf Verständnis hoffend lösen. Einer der Prozessbegleiter,<br />
der das Treffen als Coach begleitete, machte auf dieses Spannungsfeld aufmerksam<br />
und nahm es zum Anlass, die ambivalente Rolle der Teamkoordinatoren<br />
grundsätzlich zu diskutieren und sie am erlebten Beispiel zu konkretisieren. Viele andere<br />
anwesende Teamkoordinatoren hatten ähnliche oder vergleichbare Situationen<br />
erlebt und konnten sich in der Diskussion gut wiederfinden. Es ist wichtig, solche<br />
konkreten Anlässe aufzugreifen und als gemeinsames Lernfeld zu nutzen, weil nichthierarchische<br />
Führungsrollen und ihr Zusammenspiel mit anderen Führungsselbstverständnissen<br />
keine Tradition, keine Geschichte und keine Geschichten in der Organisation<br />
haben. Werden aber solche Fallbeispiele aufgegriffen, entsteht nicht nur situativ<br />
etwas mehr Klarheit, wie diese Rollen gesehen und zusammen wirken sollen.<br />
Darüber hinaus bilden sie für künftige Konfliktfelder Referenzen, an denen man sich<br />
dann gemeinsam orientieren und auf die man sich beziehen kann. Kontextwissen umfasst<br />
somit nicht nur das Verständnis von betriebswirtschaftlichen Zielen und Strategien,<br />
sondern auch die Entwicklung einer spezifischen Unternehmenskultur und Füh-<br />
14<br />
Da die durchschnittliche Führungsspanne der Meister sehr groß ist, gab es gerade hier dringenden<br />
Handlungsbedarf. Die Rolle der Teamkoordinatoren und die Selbststeuerungskompetenzen<br />
der Gruppen haben einen Unsicherheitsraum ausgefüllt bzw. sind auf dem Wege dorthin,<br />
zumal die Meister auch mit operativen Themen vollauf beschäftigt sind. Allerdings führt<br />
gerade die Überlastung der Meister und ihre erwähnte Rollenunsicherheit andererseits dazu,<br />
dass sie ihre stützende Rolle – nicht nur bei der Vermittlung von sinnstiftenden Informationen<br />
– nur unvollkommen wahrnehmen können. Eines der wichtigsten künftigen Ziele der Organisationsentwicklung<br />
besteht daher darin, das Führungstandem von Meistern und Koordinatoren<br />
zu einer wirklichen und wirkenden Einheit zu machen. ‚Zusammen sind sie unschlagbar‘,<br />
so formulierte es einer unserer Interviewpartner.
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 17<br />
rungsphilosophie. 15 Es ermöglicht den Mitarbeitern Antworten auf die Frage ‚warum?’.<br />
Es liefert ihnen Begründungszusammenhänge, die letztlich auf die Identität<br />
der Organisation und ihre Entwicklungsziele zurückführen. Dieser Prozess beginnt<br />
langsam mit dem Verstehen von einzelnen Zahlen oder kleineren Entscheidungen und<br />
führt von dort zum Begreifen größerer Zusammenhänge.<br />
5.4 Prozesswissen<br />
Darunter verstehen wir das Wissen über die Einbindung der eigenen Arbeitsverrichtung<br />
und des eigenen Teams in einen zusammenhängenden Gesamtprozess mit<br />
seinen übergeordneten Logiken. 16 Die Gruppe versteht sich nicht als vereinzelte Zelle,<br />
sondern als Geber und Empfänger von Leistungen in einer Kette. Sie ist sich der<br />
Konsequenzen der eigenen Ergebnisse für nachgeordnete Einheiten bewusst und<br />
nimmt damit auch Verantwortung für sie wahr. Daraus entsteht ein tieferer Sinnbezug<br />
für das eigene Tun und zugleich auch die Verpflichtung, sich in diesen übergeordneten<br />
Prozess einzufügen. Das ist die Voraussetzung für eine veränderte Einstellung etwa<br />
zu Fragen der Qualität, der Pünktlichkeit oder dem Umgang mit Ressourcen.<br />
Wichtig ist allerdings, dass die betreffende Gruppe auch Rückmeldungen bekommt,<br />
wenn Sie Probleme in der Kette auslöst und ggfs. für die Folgen auch aufkommen<br />
muss.<br />
Der Unterschied wird deutlich, wenn man sich im Kontrast dazu die klassischen<br />
Fertigungsstrukturen mit ihrer hochgradigen Arbeitsteilung betrachtet. Dort konnte<br />
sich Prozesswissen nicht nennenswert ausbilden, da die angestrebten Lernkurven auf<br />
die mengenmäßige Maximierung von Einzelleistungen ausgerichtet waren. Die dadurch<br />
induzierte Gleichgültigkeit gegenüber den Distanzwirkungen des eigenen Arbeitens<br />
äußerte sich in Qualitätsproblemen, Nacharbeit und Ausschuss. Aus dieser institutionellen<br />
Vergeudung entsteht zur Bewältigung ihrer Folgen durch Nacharbeit<br />
eine sog. ‚zweite Fabrik’. Sie beschäftigt in vielen Industrien eine Vielzahl von Mitarbeitern,<br />
die – und hier wird die Paradoxie zur ökonomischen Perversion deutlich –<br />
ein genuines Interesse am Fortbestand der Vergeudung haben, weil sie trefflich davon<br />
leben. Die quantitativen Dimensionen, über die wir hier reden, sind mehr als beträchtlich.<br />
17<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Ähnliche Diskussionen finden auch in den Erfahrungsaustauschkreisen der Meister, den sog.<br />
Meisterlernteams statt. Diese Bemühungen stehen im Projekt allerdings erst am Anfang.<br />
Willke (1998, 317 ff.) verwendet ebenfalls den Ausdruck Prozesswissen.<br />
„Der erste Fehler, ein schlechtes oder unsachgemäß montiertes Teil, wurde von Arbeitern<br />
weiter unten am Band noch vergrößert. War ein defektes Teil einmal in ein komplettes Fahrzeug<br />
eingebaut, war zur Beseitigung des Fehlers ein enormer Aufwand an Nacharbeit notwendig.<br />
Und weil das Problem erst am Bandende entdeckt wurde, waren viele Fahrzeuge mit<br />
den gleichen Fehlern produziert worden, bevor diese aufgedeckt wurden“ (Womack/Jones/<br />
Roos 1991, 62).
18 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
Zum Prozesswissen gehört auch die Abstimmung und Verflechtung unterschiedlicher<br />
Rhythmen und Geschwindigkeiten zwischen den unterschiedlichen organisatorischen<br />
Akteuren, Teams und Teilfunktionen. Traditionell sequentielle Prozesse integrieren<br />
und vernetzen sich, die individuelle Optimierung muss damit auf die Optimierung<br />
des Ganzen Rücksicht nehmen. Innerhalb der Teams ist daher Sichtkontakt<br />
sehr wichtig, damit sich die Gruppe schnell und informell abstimmen und Rhythmus<br />
oder Geschwindigkeit harmonisieren kann. Taucht etwa ein Fehler auf oder benötigt<br />
ein Mitarbeiter eine kurze Unterbrechung, kann sich das Team auf Zuruf verständigen<br />
und sich flexibel darauf einstellen. Auch bei der Schichtübergabe wird dieser Aspekt<br />
deutlich. Es ist unumgänglich, dass es dort zeitliche Überlappungen gibt, um notwendige<br />
Informationen etwa über besondere Vorkommnisse weiterzugeben und sich abzustimmen.<br />
Das kollektive Verständnis für den Prozess und die in ihm aufgehobene eigene<br />
Rolle im Gefolge von Teamarbeit verändert das Kooperationsverhalten nachhaltig.<br />
Das eigene Denken und Handeln wird im Hinblick auf die Konsequenzen für den gesamten<br />
Fertigungsprozess und sein Ergebnis reflektiert. Es werden unbürokratische<br />
Formen der Interaktion ausgebildet, die notwendige Informationen schnell an die<br />
Stellen bringen, wo sie gebraucht werden und Entscheidungen dort einfordern, wo sie<br />
sinnvoll sind. Teamkoordinatoren wenden sich mittlerweile etwa mit einem technischen<br />
Problem oder einem Vorschlag direkt an Planungsfunktionen, wie Industrial<br />
Engineering, ohne den langwierigen Umweg über den formal zuständigen Meister zu<br />
wählen. Probleme und Vorschläge werden von ihnen direkt in einschlägigen Sitzungen<br />
präsentiert und vertreten. Das damit entstehende Wissen über übergeordnete Zusammenhänge<br />
fließt über die Teamkoordinatoren in die Gruppe zurück.<br />
5.5 Beziehungswissen<br />
Arbeitsgruppen sind natürlich nicht zuletzt soziale Systeme, in denen individuelle<br />
Charaktere zusammen kommen, Rollen entstehen und Beziehungsgefüge ausgebildet<br />
werden. Sie entwickeln Normen und Verhaltensmuster, die auf das Gruppenklima<br />
und die Arbeitsergebnisse nachhaltig Einfluss nehmen. Sie machen das Arbeiten für<br />
alle zu einer kalkulierbaren Größe und sind Ausdruck der emotionalen Intelligenz der<br />
Gruppe. 18 Die wesentlichen Elemente dieser lokalen Arbeitskulturen sind:<br />
Spielregeln und Verhaltenserwartungen, die eine spezifische Form der Kommunikation<br />
ausbilden,<br />
Entwicklung von spezifischen Mustern für den offenen und konstruktiven Umgang<br />
mit Konflikten<br />
und schließlich spezifische Formen der wechselseitige Unterstützung.<br />
18<br />
„We define group emotional intelligence as the ability of a group to generate a shared set of<br />
norms that manage the emotional process in a way that builds trust, group identity, and group<br />
efficacy“ (Druskat/Wolf 2001, 138).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 19<br />
Betrachten wir zunächst die Formen der Kommunikation, insbesondere zur informellen<br />
und zum Teil sprachlosen Kommunikation. Sie drückt sich etwa darin aus,<br />
dass man sich schnell einigt, wer in einer Schicht welche Aufgabe übernimmt. Man<br />
weiß z.B., wer welche Vorlieben hat oder wer vielleicht nicht so belastbar ist. Je mehr<br />
sich dieses interne Beziehungswissen entwickelt, um so weniger muss die Gruppe auf<br />
formale Sitzungen zurückgreifen und kann Probleme gleichsam auf Zuruf lösen. Wir<br />
haben aber auch schon bei der Erläuterung des fachlichen Aspektes der Wissensbasis<br />
auf die informelle Kommunikation etwa beim Auftreten von Störungen hingewiesen.<br />
Eine erfahrene Gruppe erkennt oft in wenigen Sekunden, wo der Handlungsbedarf<br />
liegt, und sie verständigen sich dann nur durch kurze Blicke oder Zurufe, jeder weiß,<br />
was er zu tun hat, und alles geht Hand in Hand. Die Gruppe befindet sich sofort wieder<br />
in einem eingeschwungenen Zustand, so als wäre sie ein Ganzes. Das verbindende<br />
Prinzip ist ihre Fähigkeit zur Kommunikation.<br />
In den Gruppen bildet sich auch eine robuste und z.T. überaus wirksame Feedback-<br />
und Konfliktlösungskultur heraus. Wenn jemand häufig unpünktlich oder nachlässig<br />
ist oder gar auf Kosten des Teams agiert, bleibt das nicht lange unkommentiert.<br />
Es wird anfänglich zunächst vielleicht nur ‚gemeckert oder gemurrt’, es kommt zu<br />
kurzen Bemerkungen oder spitzen Kommentaren. Teamkoordinatoren geraten besonders<br />
hier in die Rolle des Spiegels für nicht akzeptierte Verhaltensweisen. Sie bekommen<br />
entsprechende Stimmungen und Stimmungsveränderungen in der Gruppe<br />
sehr schnell mit. Und jeder entwickelt seinen eigenen Stil, mit solchen Themen umzugehen.<br />
Einige sorgen zum Beispiel sichtbar für Ordnung und Sauberkeit, gehen also<br />
mit entsprechenden Verhalten voran, andere sprechen Dinge direkt an, z.B. ‚Du<br />
würdest doch auch bei Dir zu Hause nicht einfach Abfall unter das Sofa schieben!’.<br />
Es herrscht eine zuweilen raue, aber doch klare und unmissverständliche Sprache.<br />
Manches wird in den Gruppentreffen besprochen, vieles im Zweiergespräch oder zu<br />
dritt oder in einem Telefonat. Zuweilen wird der zuständige Meister, aber auch der<br />
Hallenbetriebsrat oder der zuständige Vertrauensmann hinzugezogen. Niemand darf<br />
sich auf Kosten der Gruppe auf die Dauer Vorteile verschaffen, sonst entstehen Ungleichgewichte,<br />
Unzufriedenheiten und Konflikte. 19<br />
Der flexibilisierte Arbeitseinsatz innerhalb einer Gruppe erzeugt und beruht<br />
schließlich auf einer Kultur des wechselseitigen Unterstützens und Helfens. Gemeint<br />
damit ist die Bereitschaft, bei betrieblichen Engpässen oder persönlichen Restriktio-<br />
19<br />
Das ist ein Aspekt, den Stefan Kühl in seinem kritischen Aufsatz außer Acht lässt. Er argumentiert<br />
dort unter Bezugnahme auf die industriesoziologische Literatur, dass die Werktätigen<br />
in der taylorisierten Fertigung durch die Unbestimmtheit der formalen Vorgaben und Planungen<br />
wesentliche Dispositionsspielräume haben, die ihnen im Gefolge der Leistungskontrolle<br />
in den Teams verloren gehen. Das trifft bis zu einem gewissen Grad und besonders für<br />
qualifizierte Facharbeiter zu. Wir haben andererseits aber den Eindruck gewonnen, dass sich<br />
auch in den Teams ein Gleichgewicht zwischen Anreizen und Beiträgen ausbildet, ohne ständig<br />
an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen. Was aber deutlich weniger passiert ist,<br />
dass sich einzelne auf Kosten des Teams Vorteile verschaffen (vgl. Kühl 2001).
20 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
nen seine Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die Teamkoordinatoren gehen dabei<br />
oft mit gutem Beispiel voran, indem sie bereit sind, bei Ausfällen aller Art immer<br />
wieder auch kurzfristig einzuspringen und Lücken zu vermeiden. Das geht häufig sogar<br />
auf Kosten ihrer Rolle als Teamkoordinator, dann wird die Rolle aber ausgenutzt.<br />
Hilfreiche Beziehungen werden in der Gruppe auch durch die Einarbeitung neuer<br />
Kollegen aufgebaut, die mit dem neuen Arbeits- und Gruppenumfeld erst vertraut<br />
gemacht werden müssen. Auch dort leisten die Teamkoordinatoren einen wichtigen,<br />
fast geräuschlosen Beitrag, da der interne Arbeitsmarkt des Unternehmens außerordentlich<br />
beweglich ist.<br />
Die Kenntnis all dieser Zusammenhänge der Beziehungsdynamik ist besonders<br />
auch für die Teamkoordinatoren wichtig, weil sie mit der Gruppe ihre Rolle gemeinsam<br />
definieren und ihr Vertrauen gewinnen müssen. Diese Rolle ist unklar, weil es<br />
dafür keine Traditionen im Unternehmen gibt. Und sie ist ambivalent, da die Teamkoordinatoren<br />
einerseits formal Gruppenmitglieder sind, andererseits aber zugleich<br />
auch eine hervorgehobene Rolle spielen. Die Mitgliedschaft im Team macht es ihnen<br />
einerseits leichter, die individuelle Eigenheiten und Beziehungen zu verstehen, andererseits<br />
begegnet man ihnen gerade anfänglich mit Misstrauen. Diese Ambivalenz ist<br />
aber auch Anlass für Klärungsbedarf und damit eine fruchtbares Gestaltungsfeld, das<br />
für alle Beteiligten zahlreiche Möglichkeiten zum sozialen Lernen bietet. Der Teamkoordinator<br />
und die Entwicklung seiner Rolle ist somit zugleich ein Lernmodell für<br />
die Gruppe, an der sie sich selber abarbeitet und kristallisiert.<br />
Aus unserer Beobachtung fühlen sich die meisten Teamkoordinatoren zu ihrer<br />
Rolle hingezogen, weil sie über eine ausgeprägte emotionale Intelligenz mit entsprechenden<br />
kommunikativen Fähigkeiten verfügen. Es gelingt ihnen etwa, mehr und<br />
mehr ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie Einzelne angesprochen werden müssen, um<br />
sie für eine bestimmte Arbeitsaufgabe oder für Sonderaktivitäten zu motivieren. Sie<br />
bringen ihre Kollegen z.B. auch dazu, über ihre weitere Qualifizierung nachzudenken<br />
und geben ihnen das Gefühl, an einer sinnvollen Aufgabe mitzuwirken.<br />
Beziehungswissen erstreckt sich schließlich nicht nur auf Zweier- oder Dreierkonstellationen<br />
im Team, sondern auch auf die Kooperation mit benachbarten Teams<br />
oder technischen Funktionen, wie etwa Planung oder Industrial Engineering. In dem<br />
Maße, wie es dem Teamkoordinator gelingt, Qualitäts- oder Technikprobleme anzusprechen<br />
und zu lösen, legen sich dort Skepsis und Vorbehalte. Man lernt sich kennen<br />
und respektieren. Zuweilen reicht dann nur noch ein kurzer Anruf oder ein informelles<br />
Gespräch, und ein Thema kann ohne großen Aufwand erledigt werden. Funktionsübergreifende<br />
Beziehungsnetzwerke dieser Art sind für eine flache und lernende<br />
Organisation existenziell.<br />
Beziehungswissen in Teams und der Aufbau von tragfähigen Beziehungsnetzwerken<br />
in Organisationen bildet soziales Kapital. Es bezeichnet die Summe von Beziehungen,<br />
die Einzelne oder Gruppen innerhalb von Netzwerken haben und die es<br />
ihnen ermöglichen, auf Ressourcen zurückzugreifen, über die sie nicht verfügen. Und<br />
auch umgekehrt ist es die Voraussetzung dafür, Ressourcen bereitwillig zur Verfügung<br />
zu stellen, ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten. Das können materielle
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 21<br />
Ressourcen sein, aber auch Informationen, Wissen, eingesparte Zeit und nicht zuletzt<br />
Anerkennung oder soziale Unterstützung (Lesser/Prusak, 2000). Solche nachhaltigen<br />
Beziehungsnetzwerke in und zwischen Gruppen und ihren Angehörigen beruhen ihrerseits<br />
auf Vertrauen, und sie bilden es. In dem Maße, wie sich Vertrauen entwickelt,<br />
kann auf formale Regelungen, Prozeduren und äußerliche Zwänge verzichtet werden,<br />
weil die Mitglieder aus eigenem Antrieb und auf Grund von gemeinsamen Überzeugungen<br />
sich im Sinne der Normen verhalten. 20<br />
6. Zur Dynamik organisatorischen Wissens<br />
Die skizzierten Wissensstrukturen in den Teams entwickeln sich in einem inkrementalen<br />
Prozess. Systematisiert man ihn anhand der Themen- und Problemstellungen<br />
der Gruppen, dann lassen sich zusammengefasst die folgenden Veränderungen<br />
ausmachen:<br />
Von der Reaktion auf Probleme zur Antizipation, d.h. dem aktiven Aufgreifen<br />
und Bearbeiten von Fragestellungen und dem Einreichen von Verbesserungsvorschlägen,<br />
von Themen im eigenen und unmittelbaren Erfahrungsumfeld zu Themen mit<br />
weit reichenderen Auswirkungen auch in benachbarte Teams oder Funktionen<br />
und schließlich von Sachfragen zu Beziehungsfragen.<br />
Während anfänglich die Gruppe sich eher mit sachorientierten Themen befasst,<br />
vornehmlich auf diese reagiert und zuweilen vom Teamkoordinator sogar geschoben<br />
werden muss, erweitert sich der Horizont nach und nach. Es entsteht ein sichtbar höheres<br />
Reflexionsniveau, ein größeres Verständnis betrieblicher Zusammenhänge und<br />
schließlich auch Bereitschaft, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen. Die<br />
fachliche Wissensbasis der Gruppe weitet sich aus, es entsteht Verständnis für größere<br />
betriebliche Prozesse und unternehmerische Kontexte. Zugleich entwickelt sich innerhalb<br />
der Teams eine stabile lokale Arbeitskultur, die sich auch als Teil größerer<br />
Beziehungsnetzwerke verstehen lernt.<br />
6.1 Die schrittweise Erweiterung der Wissensbasis<br />
Untersucht man unter diesem Gesichtspunkt die Themen im Detail, mit denen<br />
die Gruppen sich im Verlaufe ihrer Evolution beschäftigen, erkennt man diese Phasen.<br />
Anfänglich dominieren ganz eindeutig Themen, die das eigene Interesse und die<br />
eigene unmittelbare Arbeitsumgebung berühren. Der Problemhorizont ist eher eingeschränkt,<br />
wenig initiativ und noch weniger reflexiv. Aber das darf keineswegs unterschätzt<br />
werden, denn in diesen ersten gemeinsamen Bewegungen der Gruppe entsteht<br />
20<br />
„Trust is the expectation that arises within a community of regular, honest, and cooperative<br />
behavior, based on commonly shared norms, on the part of other members of that community.<br />
Those norms can be about deep ‚value questions .... but they also encompass secular norms<br />
like professional standards and codes of behavior“ (Fukuyama 1995, 26).
22 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
gleichsam die kritische Masse für die Hinwendung zu komplexeren Themen, Problemen<br />
und Konflikten, die dann wirklich auf veränderte Grundeinstellungen hindeuten,<br />
auf ein verbreitertes Verständnis und Akzeptanz strategischer und organisatorischer<br />
Entwicklungsziele.<br />
Betrachten wir zunächst die Ergebnisse unserer Beobachtungen:<br />
Zu Beginn der Evolution der Gruppe stehen im Wesentlichen Fragen der Anwesenheits-<br />
und Arbeitszeitplanung sowie der Aufgabenkoordination im Vordergrund. 21<br />
Dazu gehören Schichteinteilung, Zuordnung auf Arbeitsplätze, Einigung über freie<br />
Tage oder Urlaub, etc. Diese Regelungen gehörten ursprünglich zum Aufgabenfeld<br />
der Meister und wurden nun an die Teamkoordinatoren delegiert. Sie sind nicht nur<br />
sachlich-organisatorischer Natur, es sind auch Fragen, die unmittelbar die Interessen<br />
der Mitarbeiter berühren und sie sind konfliktär. Die Personalressourcen sind knapp,<br />
die Arbeitsbelastung ist hoch und Verfügung über Zeit gehört zu den elementaren<br />
Dispositionsspielräumen der Arbeitnehmer, die sie auch verteidigen. Sie haben sich<br />
Freiräume und Dispositionsmöglichkeiten geschaffen, die es ihnen ermöglichen, ihre<br />
Arbeitsleistungen zu kalkulieren und zu kontrollieren. Aber diese Verhältnisse werden<br />
nun neu ausgehandelt, weil ein neuer Akteur ins Spiel gekommen ist, der nicht<br />
nur die Details in den Abläufen kennt, sondern der auch Einfluss hat und ausüben<br />
kann.<br />
In dieser Phase ist die Energie der Gruppe auf sich gerichtet, sie konstituiert sich<br />
dort als organisatorischer und zugleich auch als sozialer Zusammenhang. Für jeden<br />
Einzelnen wird so unmittelbar spürbar, wie sich Gruppenarbeit auswirkt und wie sie<br />
sich anfühlt. Arbeitsleistung und Gegenleistung werden neu und vor allem kollektiv<br />
verhandelt. Bislang war die Disposition darüber ein individueller Prozess, jetzt sind<br />
von den Einzelnen Entscheidungen auch die Kollegen sichtbar betroffen, mit denen<br />
man in der Gruppe kooperiert. Der eigene Beitrag zur Gesamtheit ist transparenter,<br />
ebenso konturiert sich die eigene Rolle im Team. In der Gruppe entstehen so nach<br />
und nach neue Spielregeln der Kooperation, der Koordination und des Zusammenwirkens.<br />
Wenn die elementaren Routinen der Aufgabenkoordination definiert und die Einigungsfähigkeit<br />
der Gruppe unter Beweis gestellt ist, richtet sich die Aufmerksamkeit<br />
nach außen, beschränkt sich aber zunächst auf die unmittelbare Arbeitsumgebung.<br />
Ein wiederkehrendes Thema ist in dieser zweiten Phase ‚Ordnung und Sauberkeit<br />
am Arbeitsplatz’. Das sind vordergründig vergleichsweise wenig herausfordernde<br />
Fragestellungen, und es war für uns zugegebenermaßen anfänglich sehr schwer,<br />
nachzuvollziehen, warum die internen Promotoren den Reifegrad von Gruppen am<br />
optischen Erscheinungsbild der Arbeitsplätze und des Besprechungs- bzw. Pausenraumes<br />
messen. Für sie drückt das äußere Bild aber die innere Befindlichkeit der<br />
21<br />
Diese Abstimmungsprozesse über Anwesenheit und Abstimmung der Aufgaben ist der Kern<br />
von Teamarbeit und steht daher natürlich gerade am Anfang auch im Vordergrund (vgl. auch<br />
Gemünden/Högl 2001).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 23<br />
Gruppe aus, ihre innere Einstellung zur Arbeit und ihrer Umgebung. Man kann hier<br />
aber in der Tat vom Beginn einer sich verändernden Wahrnehmung sprechen, Wahrnehmung<br />
im Sinne von ‚bewusst sehen’ und Wahrnehmung im Sinne von ‚Übernahme<br />
von Verantwortung’. Das Insistieren auf Sauberkeit und Ordnung bildet damit einen<br />
möglichen Ausgangspunkt dafür, auf den gesamten Arbeitsprozess mit ganz anderen<br />
Augen zu schauen. Es liegt dort in der Tat ein Wendepunkt in den Einstellungen,<br />
22 den man nicht unterschätzen darf, denn von nun an befasst sich die Gruppe mit<br />
ihrem eigenen Arbeitsverhalten und mit dem Bild, das sie abgibt und abgeben will.<br />
Natürlich reduzieren übersichtliche Arrangements von Material oder Werkzeug<br />
auch unnötige Such- und Wegezeiten. Herumliegende Teile führen schließlich immer<br />
wieder auch zu unnötigen Betriebsunfällen, die man so vermeiden kann. Die ersten<br />
Verbesserungsvorschläge aus Gruppen beziehen sich oft auf kleinere Dinge wie Papierkörbe,<br />
Ablagen u.ä., und es ist wichtig, dass diese ersten Anzeichen von Engagement<br />
über die eigenen unmittelbaren Interessen hinaus auch aufgegriffen und umgesetzt<br />
werden. Sie haben weniger einen substanziellen, dafür einen um so höheren<br />
symbolischen Wert. Das schrittweise Entwickeln von Vorschlägen entspricht auch<br />
stärker den evolutionären japanischen Vorstellungen von Veränderungsmanagement,<br />
dem Kaizen (Imai 1991). Wenn kleine Nachlässigkeiten nicht akzeptabel sind, dann<br />
ist das Ausdruck dafür, dass auch größere Nachlässigkeiten nicht geduldet werden.<br />
Nach ersten Erfolgserlebnissen weitet sich in der folgenden Stufe der Horizont<br />
der Gruppe aus, und es entstehen auch weitergehende Verbesserungsvorschläge, allerdings<br />
zunächst noch reaktiv. Sie spiegeln Unzufriedenheiten oder Behinderungen<br />
in der täglichen Arbeitsorganisation und den Prozessen wider. Sie können sich auf die<br />
Vermeidung überflüssiger Wege beziehen, die Zusammenfassung von Verrichtungen<br />
oder die Anordnung von Werkzeugen. Oft ist es so, dass dieses Unbehagen im Arbeitsprozess<br />
selber artikuliert wird, aber eher in Form von Unmut, wenig konstruktiv<br />
und handlungsorientiert. Der Prozesskoordinator greift das aber auf, wenn er es mitbekommt.<br />
Er regt dann einen Verbesserungsvorschlag an. Den Betroffenen ist oftmals<br />
nicht klar, dass in ihrem Unbehagen das Potenzial für einen Vorschlag liegt,<br />
oder sie glauben nicht an den Erfolg. Viele Teamkoordinatoren füllen anfänglich sogar<br />
das Formular für die Einreichung eines Vorschlages für ihre Kollegen aus. Sie<br />
spielen so in dieser Übergangsphase eine überaus wichtige Rolle, um der Gruppe Zutrauen<br />
zu ihren Erfahrungen und zu ihrem Wissen zu vermitteln und es aktiv einzubringen<br />
und auszubauen.<br />
22<br />
Die sog. ‚Broken Window Theory‘ begreift solche kleinen symbolischen Dinge, wie etwa<br />
‚zerbrochene Fenster‘ als Signal, das zum Ausgangspunkt für weiteren Vandalismus, Graffiti<br />
oder ernstere Vergehen im großen Maße werden kann. „Soon, more windows will be broken,<br />
and the sense of anarchy will spread from the building on which it faces, sending a signal that<br />
anything goes. In a city, relatively minor problems like graffiti, public disorder, and aggressive<br />
panhandling .... are all the equivalent of broken windows, invitations to more serious<br />
crimes.“ Dieser Zusammenhang gilt auch umgekehrt (Gladwell 2000, 141).
24 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
In den folgenden Phase entwickeln sich in der Gruppe mehr und mehr Verbesserungsvorschläge,<br />
die man als proaktiv bezeichnen kann und einen deutlichen Blick über<br />
den Tellerrand hinaus darstellen. Das sind Ideen, die sich auf konstruktive Details beziehen<br />
können, auf komplexere Fragen der Arbeitsorganisation, auf die Qualität von<br />
Materialien oder Möglichkeiten zur Einsparung und Rationalisierung. Solche Vorschläge<br />
erfordern nicht nur ein größeres Prozess- und Kontextverständnis, sondern vor<br />
allem auch das Vertrauen, dass sie ernst genommen werden und es sich lohnt.<br />
Aus unserer Sicht wird in einer Gruppe das höchste Reflexionsniveau erreicht,<br />
wenn sie sich schließlich selber zum Thema macht. Die Fragen ‚wie gehen wir miteinander<br />
um, welche Spielregeln der Zusammenarbeit sollen für uns gelten oder welche<br />
Rolle hat der Teamkoordinator?’ zielen auf die Beziehungsseite von Teamprozessen,<br />
die gerade in technisch geprägten Arbeitsorganisationen im Allgemeinen nur<br />
sehr zögerlich angesprochen wird. Es geht etwa um Konflikte mit Kollegen, die sich<br />
den Spielregeln entziehen, Fällen von Mobbing im Arbeitsteam oder der Kooperation<br />
mit anderen Funktionsbereichen. Es bleibt vom Teamkoordinator und auch vom<br />
Team nicht unkommentiert, wenn sich ein Kollege eine nicht abgesprochene Auszeit<br />
gönnt oder nicht bereit ist, einen weniger attraktiven Arbeitsplatz einzunehmen. In<br />
den weit entwickelten Gruppen bildet sich so eine sehr robuste Feedback- und Konfliktlösungskultur<br />
heraus, die ohne viel Aufwand und eher unauffällig Beziehungsthemen<br />
zu lösen vermag.<br />
6.2 Kollektives Gedächtnis – Organizational Memory<br />
Jede Gruppe baut so einen spezifischen Fundus an Wissen, Erfahrungen und<br />
Spielregeln auf, der ihnen auch für künftige Problemlösungen oder weiter gehende<br />
Verbesserungsvorschläge zur Verfügung steht. Man bezieht sich auf diese Bestände,<br />
man erinnert sich, bzw. sie werden im Dialog rekonstruiert und dann auf eine vorliegende<br />
Thematik bezogen, um sie zu lösen. Die Gruppe verfügt somit über ein von<br />
Führungskräften, Experten sowie von einzelnen Gruppenmitgliedern unabhängiges<br />
kollektives Gedächtnis, 23 auch wenn Individuen als Mitglieder der Gruppe dieses<br />
Wissen speichern.<br />
Die wichtigste Repräsentationsform dieses kollektiven Wissens in den Teams<br />
sind Fallbeispiele, Geschichten und gemeinsame Erlebnisse, auf die man sich bezieht<br />
und die wieder aktualisiert werden, wenn ähnliche Fragestellungen auftauchen. Das<br />
heißt, wir haben es primär mit narrativen oder metaphorischen Mustern zu tun, es<br />
sind Erinnerungsbilder, Sequenzen und Szenen, die in Erinnerung gerufen, Faustregeln<br />
und robuste Handlungsorientierungen, die angewendet werden. Es sind Repräsentationsformen<br />
von Wissen, die sich daher nicht in Handbücher oder Prozeduren<br />
23<br />
Man kann sich darüber streiten, ob es sich hier lediglich um eine Metapher handelt. Jedenfalls<br />
wird auf diese Weise Wissen in Teams geteilt, behalten und abgerufen. Wissen ist daneben<br />
natürlich auch in anderen Formen repräsentiert, etwa in Strukturen oder Prozessbeschreibungen.<br />
Vgl. für eine übersichtliche und stringente Diskussion Walsh/Ungson (1997).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 25<br />
zwängen und sich schon gar nicht digitalisieren lassen. Die Basis organisatorischen<br />
Wissens ist eher ein Flickenteppich, der sich aus zahlreichen Ereignissen und Begebenheiten<br />
zusammensetzt. Diese gemeinsamen Geschichten über Probleme und Lösungen,<br />
über Erfolge und Misserfolge liefern der Gruppe ihren Bezugsrahmen für ihre<br />
Sicht der Realität und ihrer Rolle darin.<br />
Es entwickelt sich auch eine spezifische Sprache in jeder Gruppe, in der ihre Erinnerungen<br />
an bewältigte Probleme oder Konflikte bewahrt und weitergegeben wird.<br />
Die Sprache besteht aus einer fachlichen Terminologie und insbesondere aus einem<br />
Vokabular, indem Begriffe auch unkonventionell verwendet werden. Sie dient zunächst<br />
dazu, schnell und gemeinsam Probleme zu identifizieren und zu benennen.<br />
Zugleich konstituiert sich über diesen Code auch die Gruppe als Gruppe. 24 Charakteristisch<br />
ist für diesen Aspekt organisatorischen Wissens, dass es sich um eine ‚oral<br />
history‘ handelt, also um kulturelle Formen, die nicht dokumentiert oder formalisiert<br />
sind, sondern durch Sprechen und Handeln weitergegeben werden. Dieses Sprechen<br />
während der und über die Arbeit ist die Basis einerseits für Kontinuität und Traditionalität,<br />
anderseits aber auch für die Erneuerungsfähigkeit und Innovativität. Die lokalen<br />
Sprachwelten sind geschlossen und offen, ermöglichen so Stabilität und Veränderung<br />
(vgl. dazu ausführlich Althans, 2000). Wenn neue Mitarbeiter in die Gruppe<br />
kommen, wird dieser Aspekt sinnfällig. 25 Sie sind zunächst darauf angewiesen, den<br />
spezifischen Code der Gruppe zu erlernen, sie hören zunächst zu und bekommen über<br />
die Geschichten und gemeinsamen Erlebnisse mit, welches Wissen für die Mitwirkung<br />
im Team von Wichtigkeit ist. Andererseits bringen sie auch neue Erfahrungen<br />
in den Diskurs ein.<br />
Die Sprache gibt auch Aufschluss darüber, wie das Team sich und seine Realität<br />
konstruiert. Es wird deutlich, was sie sich zutrauen, ob und wie sie sich als Gruppe<br />
sehen oder wie sie ihre Probleme lösen. Die Sprache kann Resignation oder Tatkraft<br />
ausdrücken, Misstrauen oder Vertrauen, Identifikation oder Individualismus (ausführlich<br />
hierzu Donnellon 1996). Diese in der Sprache aufgehobenen und durch sie reproduzierten<br />
Bilder verändern sich im Verlaufe der Teamentwicklung. Die Beurteilung<br />
von Verbesserungsvorschlägen geht etwa von ‚Bringt ja eh nichts’ über ‚Gut,<br />
kann man ja mal probieren’ bis zu ‚Vielleicht klappt es ja doch’. Es ist auch ein Unterschied,<br />
ob Neulinge in der Gruppe als ‚Frischlinge’ oder ‚Fremdkörper’ bezeichnet<br />
werden. Teamtalk und Teamwork entwickeln sich wechselseitig. Interessant ist gerade<br />
in diesem Zusammenhang die Wirkung des Humors, den jede Gruppe in einer spe-<br />
24<br />
25<br />
„Mastery of both types of jargon, like the ability to understand a language or a joke that excludes<br />
others, creates a strong sense of union among those in the know and a barrier to those<br />
left out“ (Gabriel 2000, 157).<br />
Vgl. dazu die folgende Beschreibung: „A few short minutes and quick sketches after someone<br />
had started to present a problem for which he needed help from the community, everyone understood<br />
the situation and knew what the difficulty was. They were all ready to work – but<br />
not me – I had not even begun to grasp what the situation was or what needed resolving. Such<br />
is the learning efficiency of a community“ (Wenger 2000, 11).
26 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
zifischen Weise ausbildet. Das gemeinsame Lachen hat entlastende und verbindende<br />
Funktionen, etwa wenn man ein Problem oder einen Konflikt gelöst und durchgestanden<br />
hat. Es ist so mit dem gespeicherten Wissen eng verbunden. Im Moment des<br />
rückblickenden gemeinsamen Lachens sind diese Erlebnisse und das gemeinsame<br />
Wissen darüber wieder präsent, und das schafft eine angenehme Atmosphäre bei der<br />
Problemlösung und einen stabilen Zusammenhalt.<br />
Die Gruppen und ihre Mitglieder sind somit gleichsam die kleinste Speichereinheit<br />
des organisatorischen Gedächtnisses. In der Gruppe weiß allerdings nicht jeder<br />
alles, sondern es bilden sich für bestimmte Themen- oder Problemfelder gleichsam<br />
Spezialisten, die dazu eine besondere Beziehung haben oder besonders betroffen sind.<br />
Das ist im Allgemeinen kein bewusster Vorgang, er pendelt sich eher ein, wenn sich<br />
ein Gruppenmitglied für eine bestimmte Wissensdomäne besonders bewährt hat. So<br />
gibt es Spezialisten, die sich sehr gut mit Materialien auskennen, andere mit der Maschinensteuerung<br />
oder EDV, es gibt Experten für die Außenbeziehungen oder für die<br />
privaten Situationen der Gruppenmitglieder. Dieses Wissen kann bei einem und auch<br />
bei mehreren Akteuren angesiedelt sein, so dass durchaus Redundanz entsteht. Diese<br />
Experten werden immer wieder angesprochen oder fühlen sich angesprochen, wenn<br />
neue Wissensmodule hinzukommen oder Probleme entstehen.<br />
Aber im Unterschied zum traditionellen Expertenmodell kann sich die Gruppe<br />
darauf verlassen, dass das Wissen bei Einzelnen stets abrufbar ist, und sie kann im<br />
Bedarfsfall darauf zurückkommen, ohne auf nachhaltige Zugangsbarrieren zu stoßen.<br />
Entscheidend ist, dass man situativ weiß, wer was weiß oder was wissen könnte, bzw.<br />
dass man einen weiß, der weiß, wer was wissen könnte. Man erinnert sich generell<br />
eher an einen ‚Speicherplatz’ als an konkrete Details und verlässt sich daher aufeinander,<br />
um fehlende Facetten zu ergänzen. In der Diskussion wird dieser bedeutende<br />
Aspekt des Wissensmanagements das transaktive Gedächtnis genannt (Lehner 2000,<br />
109 ff.). Es ist nicht lokalisierbar, sondern liegt in den personalen Beziehungen der<br />
Gruppe und wird durch Kommunikation adressiert. Je besser und reibungsloser die<br />
Gruppe also kommuniziert – das geht zuweilen auf Zuruf oder durch Blickkontakt –,<br />
um so kürzer sind gleichsam die Zugriffszeiten auf das kollektive Wissen.<br />
Auch wenn der erste Zugriff auf dieses höchst dynamische Archiv nicht gleich<br />
erfolgreich war, entstehen im Problemlösungsprozess schnell gemeinsame Suchbewegungen<br />
auf die nächst höheren Abstraktionsebenen, die dann – wie in einem vernetzten<br />
Suchbaum – den Weg zur fehlenden Information oder Idee liefern. 26 Der kollektive<br />
Bezugsrahmen, der in den einzelnen Geschichten und Beispielen eingewoben<br />
ist, bildet den Ausgangspunkt für neue Formen, wenn das vorhandene Problemlösungsreservoir<br />
erschöpft ist, improvisiert werden muss oder neue Wege zu finden<br />
sind. Diese Suche nach neuen Formen wird angestoßen, wenn beispielsweise verän-<br />
26<br />
„Stories... convey not only specific information but als general principles. These principles<br />
can then be applied to particular situations, in different times and places“ (Seely<br />
Brown/Duguid, 107).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 27<br />
derte Abläufe probiert, neue Teile eingebaut werden müssen oder ein Qualitätsproblem<br />
entstanden ist, für das es keine schnelle Erklärung gibt. Es entstehen gemeinsame<br />
tastende Denkbewegungen, bis jemand eine zündende Idee hat oder auslöst, die probiert<br />
und dann Schritt für Schritt in das Repertoire der Gruppe inkorporiert wird. 27<br />
Diese Denkbewegungen können unterschiedlich angelegt sein:<br />
Ausgehend vom vorhandenen Erfahrungspool werden Bedingungen verändert,<br />
bestimmte Aspekte werden ausgeschlossen, andere Möglichkeitsbereiche eingekreist.<br />
(‘Wenn es das nicht ist, bleibt eigentlich nur noch ...’)<br />
Eine weitere Möglichkeit sind Analogien, also induktiv von Bekanntem auf Unbekanntes<br />
zu schließen. (‘Auf den ersten Blick erinnert mich das an ...’)<br />
Eine andere Variante sind Bilder oder Metaphern, die ein nicht klassifizierbares<br />
Phänomen in einen plausiblen Kontext stellen sollen. (‘Im Prinzip muss man<br />
sich das als ... vorstellen.’)<br />
<br />
Wenn das Alles nicht weiterhilft, bleibt im Grunde nur noch Trial and Error,<br />
Ausprobieren und Experimentieren, wobei das nie ein blindes Vorgehen, sondern<br />
von Intuition und Ahnungen geleitet ist. 28 Das sind wichtige, aber oftmals<br />
unterschätzte kognitive Strukturen, die das Such- und Problemlösungsverhalten<br />
von Professionellen charakterisieren.<br />
Die Teams bilden so einen dynamischen, dezentralen, redundanten und vernetzten<br />
Wissensspeicher mit einem sich stetig vergrößernden Wissen- und Lernpotenzial,<br />
das sich ständig tausendfach bewährt, in unauffälliger Selbstverständlichkeit, ohne<br />
dass man es von außen groß bemerkt. Die Natur dieses operativen Wissens in der betrieblichen<br />
Wertschöpfung unterscheidet sich von dem Know-how, über das Planungsfunktionen<br />
oder die Führungskräfte verfügen. 29 Dieses ist abstraktes, von sinn-<br />
27<br />
28<br />
29<br />
„Forms are the crucial means by which an organization brings the heterogeneous world into<br />
line with it’s processes“ (Seely Brown/Duguid, 108).<br />
In der Montage gibt es auch sog. Try out-Räume, die dafür gedacht sind, arbeitsplatznah, aber<br />
ungestört von Bandrhythmus etwa neue Abläufe durchzuprobieren. Das ist ein Aspekt, der<br />
noch viel weiter ausgebaut werden müsste: „We believe that a guiding principle for redisigning<br />
work will be virtual learning spaces ... Learning often occurs best through ‚play‘,<br />
through interactions in an transitional medium where it is safe to experiment and reflect ...<br />
This transitional medium must look like the action domain of the learners“ (Kofman/Senge<br />
1995, 36; vgl. dazu auch das Konzept der Learning Labs bei Roth/Kleiner 2000).<br />
Das operative Wissen von Organisationen entsteht in den unmittelbar wertschöpfenden Prozessen.<br />
Es entwickelt und entfaltet sich in den Kernleistungsbereichen, wo dingliche Werte<br />
oder Dienste entstehen, also etwa in der Fertigung. Das Wissen, das in diesen lokalen Gruppen<br />
von Praktikern entsteht, ist unterschiedlich von dem Wissen, was etwa Fertigungsplaner<br />
oder Qualitätsmanager haben. Sie unterstützen oder reflektieren die unmittelbare Wertschöpfung.<br />
Ersteres ist erfahrungsgesättigt, Letzteres ist symbolisch, aufgelöst in Metriken oder<br />
Standardprozeduren, in dem sich die produktiv Tätigen allerdings oftmals nicht wiederfinden:<br />
„These policies, metrics, training programs, and system designs were often at odds with the reality<br />
of their work. ... I found that it is the collective construction of a local practice that, among<br />
other things, makes it possible to meet the demands of the institution“ (Wenger 1998, 46).
28 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
licher und körperlicher Erfahrung entkoppeltes Wissen aus zweiter Hand, bestehend<br />
aus Organigrammen, Flow-Charts, Zahlen, Statistiken oder Portfolios, gewonnen auf<br />
Meetings oder Konferenzen, in Stäben erdacht oder entschieden in fernen Büros. 30<br />
Das Wissen in den Gruppen ist in Geschichten, ihrem Witz und in ihrer Sprache inkorporiert,<br />
es aktualisiert und entwickelt sich im Handeln und Reden. 31<br />
Wir haben daher auch nie erlebt, dass formalisierte Verfahren, vor allem in frühen<br />
Phasen der Problemlösung, systematisch Anwendung finden, so wie sie etwa<br />
in Handbüchern zum TQM u.ä. dargestellt sind. Das ist der Unterschied zwischen<br />
institutionalisierten Archiven und einer oralen Kultur. Diese beruht auf dialogischen<br />
Prozessen, in denen jeder der Anwesenden seine Erfahrungen und Vermutungen<br />
einbringt. Erst wenn sich die Unklarheit und das Dunkel etwas lichten, lässt<br />
sich der komplexe Problemlösungsvorgang vielleicht in eine Struktur einordnen,<br />
etwa ein Ishikawa-Diagramm oder eine A,B,C-Verteilung. Damit wird das Resultat<br />
auch für Außenstehende nachvollziehbar; aber das ist ein anderer Diskurs, in dem<br />
es um Außenrepräsentation oder Legitimation geht. Zwischen dem inkorporierten, in<br />
den Gruppen verkörperten Wissen und den abstrakten Formen seiner Repräsentation<br />
muss man einen grundsätzlichen Unterschied machen. 32<br />
Je mehr den Gruppen die Kontrolle über sich und ihre Ressourcen zurückgegeben<br />
wird, um so mehr werden solche Wissensbasen aufgebaut, um so flexibler und<br />
intelligenter können sie reagieren und um so störungsresistenter sind sie. Das ist die<br />
Voraussetzung dafür, dass Probleme gleich vor Ort gelöst und nicht im System verschoben<br />
werden. Selbstgesteuerte Systeme dieser Art beruhen auf Redundanz, der<br />
bewussten Delegation von Wissen und Kontrolle über Ressourcen, ohne dass voraussehbar<br />
ist, was genau damit geschieht. Aber je mehr Kompetenz, Verständnis und<br />
Vertrauen sich in der Gruppe entwickelt, um so sicherer kann man sein, dass sich diese<br />
Ressourcen und Potenziale sinnvoll und zielbewusst eingesetzt werden.<br />
30<br />
31<br />
32<br />
Das klingt vielleicht etwas ironisch, soll es aber nicht sein. Aus unserer Sicht ist gerade das<br />
Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen organisatorischen Wissens interessant. Es war<br />
immer schon die traditionelle Rolle der mittleren Management-Funktionen, in diesem Spannungsfeld<br />
zwischen den strategischen Zielen und dem, was operational machbar erscheint, zu<br />
dolmetschen und zu vermitteln (vgl. Floyd/Wooldridge 1996).<br />
Zum Zusammenwirken dieser verschiedenen Wissensebenen im Unternehmen vgl. Nonaka/<br />
Tateuchi (1997).<br />
In den Gruppenräumen wird im Rahmen von Visual Management monatlich in Grafiken und<br />
Zahlen anhand der sog. Zielmatrix dargestellt, wo die Gruppe im Vergleich zum Plan im Hinblick<br />
auf Parameter wie Produktivität, Qualität, Unfälle oder Verbesserungsvorschläge steht.<br />
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese abstrakte Welt der Darstellung und Repräsentation<br />
nicht dem Erleben der Gruppe entspricht. Man hat sich daher sehr schnell dazu entschlossen,<br />
diese ‚Zahlenfriedhöfe‘ zu reduzieren und nur noch wenige Schlüsselkennziffern zu veröffentlichen,<br />
um nicht noch zusätzliche Verwirrung zu stiften.
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 29<br />
Dahinter steckt eine intelligente Form von Ökonomie, die einen Unterschied<br />
macht zwischen Vergeudung und Verschwendung. 33 Verschwendung liegt vor, wenn<br />
etwa einem Arbeitssystem Ressourcen zur eigenen Disposition überlassen werden,<br />
die es ihnen erlauben, optional zu denken und flexibel zu reagieren. Das ist notwendig,<br />
je mehr man damit rechnen muss, dass künftige Arbeitssituationen nicht planbar<br />
sind oder in die Hierarchie verlagerte Entscheidungen zu lange dauern. Das ist bei einer<br />
Führungsspanne von vielleicht 30-40 Mitarbeitern pro Meister offenkundig der<br />
Fall. Sieht man diese Variabilität in den operativen Arbeitssystemen nicht vor oder<br />
wird sie sogar unterbunden, kann nur Ignoranz die Folge sein, und das führt zu Vergeudung,<br />
teuren Überstunden für Nacharbeit, verlorenen Werten durch Ausschuss,<br />
verlorenen produktiven Zeiten oder, am Ende, nicht zuletzt zu verärgerten Kunden.<br />
7. Die katalysatorische Rolle der Teamkoordinatoren<br />
Wie gesagt, stieß der Prozess anfänglich auf eine Vielzahl von restriktiven Bedingungen,<br />
und nach wie vor gibt es Probleme und Widerstände. Die Entfaltung der<br />
katalysatorischen Rolle der Teamkoordinatoren war einer der entscheidenden Voraussetzungen<br />
für die ersten nun sichtbaren Erfolge. 34 Ihre formalen Aufgaben sind<br />
zunächst im Wesentlichen die folgenden:<br />
Anwesenheitsplanung und Personaleinsatz,<br />
Aufgreifen und Verfolgen von Problemen im Arbeitsprozess und Initiieren von<br />
Lösungen bzw. Verbesserungsvorschlägen,<br />
Integration neuer Mitarbeiter ins Team,<br />
Pflege und Verfolgung der Zielmatrix für das Team, mit der Produktivitäts-,<br />
Qualitäts-, Sicherheits- und Innovationsziele festgehalten und gesteuert werden,<br />
Einspringen und Aushelfen im Fertigungsprozess bei Engpässen aller Art.<br />
Die Durchsetzung dieser Rolle war in dem sehr mengen- und kostenbewussten<br />
Unternehmen äußerst schwierig. Aber angesichts des Führungsvakuums zwischen<br />
Meister und Linie gab es dazu keine Alternative, zum anderen hätte sich ohne ‚Überschusskapazitäten’<br />
niemals der Change-Prozess zur Teamorganisation und die Verbreiterung<br />
der organisatorischen Wissensbasis durchsetzen lassen. Wenn alle Res-<br />
33<br />
34<br />
„Fabrikleiter wussten, dass das Nichterreichen des Produktionszieles großen Ärger bedeutete<br />
und dass Fehler in der Nacharbeitszone beseitigt werden konnten, ... Daher durfte das Fließband<br />
nur in absoluten Notfällen angehalten werden. Es war vollkommen in Ordnung, Autos<br />
mit einem schlecht montierten Teil bis zum Bandende passieren zu lassen, da dieser Fehler im<br />
Nacharbeitsbereich beseitigt werden konnte. Aber verlorene Zeit und Autos konnten nur in<br />
teuren Überstunden nach Schichtende aufgeholt werden. So wurde die Mentalität ‚beweg das<br />
Blech‘ geboren“ (Womack/Jones/Roos 1991, 61). Zur Strategischen Bedeutung von Überschussressourcen,<br />
Redundanz bzw. Slack vgl. neuerdings ausführlich De Marco (2001, XI).<br />
Er schreibt: „Slack is a prescription for building a capacity to change into the modern enterprise.<br />
It looks into the heart of the efficiency-flexibility quandary: The more efficient you get,<br />
the harder it is to change.“ (Hv. im Text!).<br />
Vgl. dazu die Beschreibung einer ähnlichen Rolle in Projekten <strong>Freimuth</strong> (1999).
30 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
sourcen und alle Aufmerksamkeit auf Output fokussiert ist, bleibt für die Veränderung<br />
des eigenen Tuns kein Raum (De Marco 2001). Dieser ist aber gerade zwischen<br />
Management und Linie existentiell, weil dort letztlich die Vermittlung zwischen Zielen<br />
und Wertschöpfung geleistet wird. 35<br />
Die besonders nachhaltige Rolle der Teamkoordinatoren wurde möglich, weil<br />
sie einerseits Mitglieder des Teams bleiben. Daraus ergibt sich eine intime Kenntnis<br />
etwa von Qualifikationen und Vorlieben der Teammitglieder, aber auch der Arbeitsabläufe<br />
und der technischen Ausstattung. Andererseits haben sie eine herausgehobene<br />
Funktion, die es ihnen gestattet, auf die Gesamtheit zu schauen und Impulse zu geben.<br />
Je nach Gruppenzusammensetzung und -reife sind sie anfänglich dazu gezwungen,<br />
sehr stark einzuwirken, zu drängen, zu werben und aktiv Themen aufzugreifen.<br />
Äußert ein Kollege etwa Unbehagen, fordert er zu einem Verbesserungsvorschlag<br />
auf; bemerkt er herumliegendes Werkzeug, ordnet er es; stellt er fest, dass ein Kollege<br />
einen schlechten Tag hat, setzt er ihn vielleicht anders ein; möchte jemand früher<br />
gehen, handelt er es aus; werden betriebliche Entscheidungen dargestellt, die vielleicht<br />
Unverständnis erzeugen, vermittelt er; sind die Ziele nicht erreicht worden, versucht<br />
er aktiv dafür zu werben, gezielte Anstrengungen zu unternehmen. Wenn es<br />
erste erlebbare Anfangserfolge gibt, wird seine Rolle und Akzeptanz bedeutender,<br />
andererseits wird auch das Verständnis, der Spiel- und Beteiligungsraum der Gruppe<br />
schrittweise größer.<br />
Die Ursachen für die Nachhaltigkeit der Teamkoordinatoren-Rolle sind nach unserer<br />
Einschätzung folgende:<br />
Sie definieren sich nicht durch höhere fachliche Kompetenz; von daher kommen<br />
sie auch nicht so schnell in Versuchung, diese Rolle auszuspielen, sie lassen der<br />
Gruppe Platz für die Entwicklung ihrer Kompetenz.<br />
Sie können sich auch nicht auf hierarchische Macht berufen; sie müssen sich ihre<br />
Position erst erarbeiten und erkämpfen, ihre Akzeptanz ist nicht verordnet,<br />
sondern verdient. Daraus entsteht eine ganz andere Legitimität als für eine verordnete<br />
Machtbasis.<br />
<br />
Schließlich erzeugt gerade die Unbestimmtheit ihrer Rolle einen Sog nach gemeinsamer<br />
Klärung und Ausdifferenzierung, so dass sie nach und nach Konturen<br />
stärker wird.<br />
Die Konstitution der Teamkoordinatorenrolle ist das Spiegelbild der Konstituierung<br />
der Gruppenkompetenz und -kohärenz und umgekehrt. Er gibt dem zunächst gesichtlosen<br />
Team eine Stimme, in dem er seine Stimme in der Gruppe und dann in der<br />
betrieblichen Arena erhebt, zunächst noch zögernd und tastend, dann aber fester und<br />
35<br />
„It is the middle of the organization where reinvention takes place. This is where the dynamic<br />
of today’s organizational functioning is examined, taken apart, analyzed, resynthesized, and<br />
assembled back into new organizational models that allow us to move forward“ (De Marco<br />
2001, 5).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 31<br />
klarer, bis er sich einen Platz erarbeitet hat, von dem er nicht mehr leicht zu verdrängen<br />
ist, so wie auch die Gruppe ihre Identität durch seine vermittelnde Rolle erhält.<br />
Für die Gesamtorganisation ist es wichtig, dass mit den Teamkoordinatoren eine<br />
Führungsrolle entstanden ist, die sich nicht hierarchisch oder fachlich definiert, sondern<br />
vor allem über soziale Kompetenz. Sie musste sich gegen viele Widerstände<br />
durchsetzen und behaupten. Damit stellen sie für die Organisation ein einmaliges<br />
Modell dar, das beweist, dass so etwas möglich ist. Sie legen zudem Zeugnis davon<br />
ab, dass man auch in Vorläufigkeiten und Zwischenstadien leben kann. Das wird von<br />
ihnen durchaus nicht als Verlust von Kontrolle begriffen, sondern individuell als<br />
Möglichkeit für Wachstum und persönliche Entwicklung und organisatorisch als Gestaltungsauftrag.<br />
Diese Bedeutung der Teamkoordinatoren für die Entwicklung der<br />
Wissensbasen in den Teams ergibt sich auch aus der Kontinuität, die sie mittlerweile<br />
in der Organisation repräsentieren. Sie sind der ruhende Pol und der Kristallisationskern<br />
der skizzierten sozialen und kognitiven Prozesse, bei all den stetigen Veränderungen<br />
in den Teams, ihrer Größe und ihren technisch eingeschränkten Möglichkeiten<br />
für den Austausch.<br />
8. Wissensentwicklung in Teams als Austausch- und Vertrauensbildungsprozess<br />
Was bewegt nun aber die Gruppenmitglieder, sich am Veränderungsprozess aktiv<br />
zu beteiligen? Die Frage stellt sich vor allem vor dem Hintergrund der vielen ‚defensiven<br />
Attitüden’, die anfänglich beschrieben wurden. Es war nicht zu erwarten,<br />
dass unter diesen Voraussetzungen schnell Akzeptanz für weit gehende visionäre Zukunftsentwürfe<br />
entsteht. Unserer Erkenntnis nach betrachten Arbeitnehmer solche<br />
Prozesse zunächst sehr nüchtern und wägen einfach ab, was es für sie letztlich erkennbar<br />
bringt. 36 Jeder Mitarbeiter verfügt über eine individuelle Anreiz-/Beitragsbilanz,<br />
die seine Leistungseinstellung und die Bereitschaft für Engagement prägt. Im<br />
Allgemeinen ist man sich darüber nicht im Klaren. Es ist eher ein implizites Abwägen<br />
zwischen Leistungsbeiträgen und wahrgenommenen Vergütungen des Unternehmens<br />
im weitesten Sinne. Diese Grundeinstellungen entstehen und kristallisieren sich über<br />
Jahre hinweg. Aber bei strukturellen Veränderungen kommt diese Bilanz ins Ungleichgewicht<br />
und muss neu ausgehandelt werden.<br />
Und genau dieser Abwägungsprozess zwischen Anreizen und Beiträgen wird<br />
von den Teamkoordinatoren in Szene gesetzt. Einer von ihnen brachte es in einem Interview<br />
wie folgt auf den Punkt: ‚Ich mache den Leuten klar, dass Teamarbeit ein<br />
36<br />
„... people rarely give away valuable posessions (including knowledge) without expecting<br />
something in return. This may be especially true in our current business climate. Even if only<br />
partially mindful of doing so, people make choices on perceived self-interest. ... even social<br />
transactions are generally based on some sort of exchange, ... Just because the object of exchange<br />
is intangible does not mean that the market forces are less strong“ (Davenport/Prusak<br />
1998, 26).
32 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
Topf ist. Man muss was hineingeben, wenn man was herausbekommen will.’ Die Beteiligung<br />
an der Teamarbeit erscheint so gleichsam als ein Tauschhandel, dessen<br />
Struktur gerade am Anfang sehr deutlich wird, wenn etwa Anwesenheit, Personaleinsatz<br />
und Aufgabenkoordination besprochen und geplant werden. Der Teamkoordinator<br />
kann hier durchaus seinen Einfluss und seine Macht geltend machen, aber auch<br />
die Gruppenmitglieder haben ihre Dispositionsspielräume. Wenn etwa die Regel verhandelt<br />
wird, dass jedes Gruppenmitglied einige Minuten vor Bandbeginn anwesend<br />
sein sollte, dann kann als Gegenleistung zum Beispiel möglich sein, etwas früher zu<br />
gehen. Oder wenn jemand bereit ist, etwa für einen schlecht disponierten Kollegen<br />
einzuspringen, entsteht vielleicht das Recht, in einer anderen Schicht einen nicht so<br />
belastenden Arbeitsplatz zu bekommen. Und auch umgekehrt – wer auf Kosten von<br />
Kollegen einfach einige zu Stunden zu spät kommt, verwirkt solche moralischen<br />
Rechte, auf die man sich eine Anwartschaft erwerben muss. Da es gerade im Bereich<br />
der Anwesenheit und der Zeitdisposition um Belange geht, die unmittelbar das eigene<br />
existentielle Interesse der Arbeitnehmer berühren, wird dort der Nutzen von Gruppenarbeit<br />
und die unumgänglichen Opfer für sie sofort spürbar.<br />
Man darf sich diesen Austausch jedoch nicht einfach nur als ein Geschäft ‚Zug<br />
um Zug’ vorstellen. Wer einen kleinen Schritt geht und einen Beitrag bringt, hat sich<br />
damit zunächst gleichsam eine moralische Option erworben, dafür etwas zurückzubekommen,<br />
aber nicht unbedingt sofort. Der Wechsel kann auch später eingelöst werden,<br />
aber wichtig ist, dass in absehbarer Zeit das Gleichgewicht von Anreizen und<br />
Beiträgen wieder hergestellt wird. 37 Unter dem Einfluss der Teamkoordinatoren geraten<br />
so die etablierten individuellen und kollektiven Anreiz-/ Beitragsstrukturen zunächst<br />
unmerklich und dann immer mehr ins Wanken. Erste, wenn auch kleine Vorteile<br />
werden sichtbar. Der Versuch, sich zu entziehen, bleibt nicht ohne Feedback und<br />
auch nicht ohne Konsequenzen. Die Karten werden insgesamt neu gemischt und letztlich<br />
kann sich keiner entziehen, weil die Gruppe ein Interesse daran entwickelt, dass<br />
niemand auf Kosten der Gesamtheit lebt. Von ihr geht auch eine regulierende und<br />
zuweilen durchaus disziplinierende Wirkung aus.<br />
Aber insgesamt muss vor allem der individuelle Nutzen von Teamarbeit erkennbar<br />
sein, damit die Bereitschaft entsteht, sich damit näher zu beschäftigen, sonst hat<br />
sie auf Dauer keine Chance. Dieser entsteht anfänglich durch eine Art von Güterabwägung.<br />
Ein Interview-Partner äußerte etwa zum Thema der Anwesenheit einige Minuten<br />
vor dem Schichtwechsel: ‚Was sind schon 5 Minuten, wenn man es genau betrachtet.<br />
Dann kann ich dafür zum Beispiel mal früher gehen, wenn ich ein familiäres<br />
Problem habe.‘ Dieses Beispiel zeigt, dass anfänglich eher kurzfristige und sehr ma-<br />
37<br />
„Often it becomes necessary in organizational life, however, to make a request that exceeds<br />
routine expectations. Then people expect that one way or another, sooner or later, they will be<br />
compensated fairly for the acts they do above and beyond the obligations of their job. This requires<br />
that some form of ‚currency‘ equivalent be worked out, implicitly at least, to maintain<br />
balance and good feelings between those involved“ (Cohen/ Bradford 1991, 31).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 33<br />
terielle ‚Währungen‘ in den Austauschbeziehungen im Vordergrund stehen. Harte<br />
Münze gilt als Garant für die Glaubwürdigkeit des Prozesses. Tauschvorgänge dieser<br />
Art bilden aber darüber hinaus den Nukleus für eine weitere Ausdehnung des Handels,<br />
der sich dann auf das Einbringen von Verbesserungsvorschlägen oder die Erreichung<br />
der gesetzten Ziele beziehen kann. Die Gegenwerte können monetär sein, vielleicht<br />
erweiterte Dispositionsspielräume oder auch einmal Sonderregelungen in der<br />
Arbeitszeit. Es treten aber zunehmend auch symbolische Gegenwerte auf, interessantere<br />
Arbeit, das Gefühl etwas bewegen zu können und ernst genommen zu werden.<br />
Die Aussicht, einmal ‚Team des Monats‘ für die beste Zielerreichungsquote in der<br />
Montage zu werden und einen Bonus für das Team zu gewinnen, erzeugt in den<br />
Gruppen beispielsweise einen erstaunlichen Ehrgeiz, großen Stolz, es erreicht, und<br />
ebenso großen Ärger, es knapp verfehlt zu haben<br />
9. Wissen, Verständnis und Commitment<br />
Damit wird die perspektivische Frage aufgeworfen, ob das Commitment mit<br />
dem Prozess und seinen Zielen auf dieser instrumentellen Ebene stehen bleibt oder ob<br />
weitergehende Einstellungsveränderungen möglich sind. Commitment ist für uns zunächst<br />
der Abgleichprozess zwischen Zielen, Motiven und Bedürfnissen der Mitarbeiter<br />
und den Zielen und Rahmenbedingungen von Organisationen. Das Commitment<br />
von Mitarbeitern kann unterschiedlich weit gehen, von der bloßen Entscheidung<br />
– auch mangels Alternativen –, zu bleiben, über Job- und Arbeitszufriedenheit (work<br />
bzw. job involvement) bis hin zum symbolischen Commitment, der Identifikation und<br />
aktiven Unterstützung der Unternehmensziele (vgl. ausführlich Moser 1996). Gemeint<br />
ist eine generelle Handlungsbereitschaft, sich zielentsprechend zu verhalten.<br />
Commitment ist Voraussetzung für alle Ressourcen orientierte Führungskonzepte, in<br />
denen von Mitarbeitern einsichtsgestütztes Engagement und verantwortliche Selbststeuerung<br />
verlangt wird (vgl. zusammenfassend Ridder et al. 2001, 110 ff.; Weinert<br />
1998, 134 ff.).<br />
In der Literatur zur lernenden Organisation wird ein weitgehendes commiment<br />
aller beteiligten Akteure, eine gemeinsame Vision, als Bedingung eines erfolgreichen<br />
Change-Prozesses vorgestellt. 38 Insgesamt erscheint uns dieser Ansatz im Vergleich<br />
zu unseren Befunden als etwas sehr heroisch. 39 Arbeitnehmer sind zumindest anfänglich<br />
eher nüchterner, orientieren sich nur zögernd an großen Entwürfen, bleiben abwartend<br />
und skeptisch, vor allem, wenn der Ausgangspunkt eine autoritäre, arbeitstei-<br />
38<br />
39<br />
„... nothing happens without ‚personal transformation‘. And the only safe space to allow for<br />
this transformation is a learning community“ (Kofman/Senge 1995, 16).<br />
„A shared vision, especially one that is intrinsic, uplifts people’s aspirations. Work becomes<br />
part of pursuing a larger purpose embodied in the organizations‘ products or services - ... The<br />
larger purpose can also be embodied in the style, climate, and spirit of organization“ (Senge<br />
1990, 207 f.). Man muss sich bei solchen Formulierungen immer auch vorstellen, dass wir<br />
über Mitarbeiter im Dreischichtbetrieb und mit sehr belastenden Arbeitsbedingungen reden.
34 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
lige und technokratische Kultur war, die wenig Raum für Eigenverantwortung und<br />
Partizipation ließ. Sie orientieren sich zudem eher an ziemlich bodenständigen Lebens-<br />
und Arbeitsperspektiven. Das soll nicht heißen, dass das Commitment von Arbeitnehmern<br />
zu langfristigen Zielen der Organisationsentwicklung auf ein ausschließlich<br />
ökonomisches Interessenkalkül reduziert werden kann (vgl. dazu zusammenfassend<br />
Kreps, 1997). Ohne inneren Einstellungswandel, der Verständnis und Akzeptanz<br />
von Zielen der Unternehmensentwicklung umschließt, kann man sicher nicht von einem<br />
nachhaltigen Veränderungsprozess sprechen. 40<br />
Die Frage ist dann, wie kommt man dahin? Wie entsteht Verständnis und Akzeptanz<br />
für die visionären Ziele eines Change-Vorhabens, wie koppelt es sich an das<br />
vorhandene Arbeitsverständnis, und wie weitet es sich aus zu einer verbreiterten Perspektive<br />
des eigenen Tuns? Aus unseren Beobachtungen ist das ein Prozess, der zu<br />
Anfang eher abwägend und abwartend ist, gekennzeichnet von Kalkülen und Interessenwahrnehmung.<br />
Diese Phase ist jedoch ein notwendiges und wichtiges Durchgangsstadium,<br />
in dem sich die Grundrisse einer Vertrauensbeziehung konstituieren<br />
können, in der sich instrumentelles zum symbolischen Commitment entwickelt (vgl.<br />
Abb. 3). Das ist durchaus vergleichbar mit der Beziehung zwischen langjährigen Geschäftsfreunden.<br />
Wenn man gemeinsam einige Transaktionen zum wechselseitigen<br />
Nutzen realisiert hat, entsteht parallel dazu auch eine Beziehung und Vertrauen, die<br />
mehr und mehr auf formale Regelungen, Kontrakte oder schriftliche Abkommen verzichten<br />
kann. Die Partner müssen sich jedoch zunächst als verlässlich und ehrlich erleben,<br />
bevor sie sich auf größere und weitergehende Vorleistungen oder Risiken einlassen.<br />
Wenn man Commitment definiert als Abgleichprozess zwischen individuellen<br />
und organisatorischen Interessen, Perspektiven und Werten, dann wird an unseren<br />
Befunden deutlich, dass man diesen Vorgang von der Evolution der Wissensbasen<br />
der Gruppe, ihrer erweiterten Perspektiven und Verantwortung, nicht trennen kann.<br />
Der S-förmige Verlauf der Darstellung soll andeuten, dass es sich um einen Wachstumsprozess<br />
handelt, in dem das Gruppenpotenzial mehr und mehr im Sinne der Unternehmensziele<br />
genutzt wird. Im gleichen Maße wird das ‚Gedächtnis’ der Gruppe<br />
mit Erfahrungen und Kompetenz angereichert. Aus eher defensiv eingestellten Indi-<br />
40<br />
„Economists typically argue that the formation of social groups can be explained as the result<br />
of voluntary contract between individuals who have made the rational calculation that cooperation<br />
is in their long-term self interest. By this account, trust is not necessary for cooperation:<br />
enlightened self-interest, together with legal mechanisms like contracts, can compensate<br />
for an absence of trust and allow strangers jointly to create an organization that will work for<br />
a common purpose. Groups can be formed at any time based on self-interest, and group formation<br />
is not culture-dependent.<br />
But while contracts and self-interest are important sources of association, the most effective<br />
organizations are based on communities of shared ethical values. These communities do not<br />
require extensive contract and legal regulation of their relations because prior moral consensus<br />
gives members of the group a basis for mutual trust“ (Fukuyama 1995, 26).
Zeitschrift für Personalforschung, 16. Jg., Heft 1, 2002 35<br />
viduen konstituiert sich eine Gruppe, die zunächst eine instrumentelle Attitüde zur<br />
Gruppenarbeit und ihren Zielen einnimmt. Diese geht langsam, schrittweise und mit<br />
vielen Rückfällen über in symbolisches Commitment. Es ist den entwickelten Teams<br />
nicht gleichgültig, wo sie stehen, es erfüllt sie auch mit Stolz, wenn sie ihre Ziele erreicht<br />
haben und das nach außen auch dokumentiert wird. Symbolisches Commitment<br />
als wechselseitiges Vertrauen und Identifikation mit den organisatorischen Zielen ist<br />
verbunden mit dem tieferen Verständnis der eigenen Arbeit und Rolle sowie dem Erleben<br />
von Einfluss und Kompetenz, das ist unsere These. Dort sind wir im Prozess<br />
noch lange nicht, es werden sicher auch nicht alle Mitarbeiter erreicht und nicht alle<br />
Möglichkeiten ausgeschöpft. Wie weit dieser Prozess geht, werden wir hoffentlich in<br />
einer späteren Evaluation zeigen können.<br />
Abb. 3: Wissen und Commitment als Prozess<br />
+ Potenzial<br />
Performance<br />
Symbolisches<br />
Commitment<br />
-<br />
Defensive<br />
Routinen<br />
Instrumentelles<br />
Commitment<br />
Organizational<br />
Memory<br />
t<br />
10. Ausblick<br />
Es ist aus den Ausführungen auch deutlich geworden, dass in den letzten zwei<br />
Jahren der Schwerpunkt des Prozesses auf der Teamentwicklung und der Rolle der<br />
Teamkoordinatoren lag. Hier ist Einiges bewegt und Potenziale sind entfaltet worden.<br />
Darüber hinaus, und das werden die nächsten Prozessschritte sein, muss es gelingen,<br />
auch die klassischen Führungsrollen, Meister und Abteilungsleiter, stärker und nachhaltiger<br />
einzubeziehen. Wir setzen darauf, dass die Signale, die das Management<br />
dann an die Mitarbeiter gibt, weitere Kohärenz und Glaubwürdigkeit bekommen und<br />
der Prozess an Stabilität und Nachhaltigkeit gewinnt. Parallel dazu wird an einer<br />
Vielzahl von weiteren Konzepten und Systemen gearbeitet, die zum klassischen Re-
36 <strong>Joachim</strong> <strong>Freimuth</strong>, <strong>Otmar</strong> <strong>Hauck</strong>, <strong>Tomke</strong> <strong>Asbahr</strong>: Struktur und Dynamik organisatorischen Erfahrungswissens<br />
pertoire einer lernenden Fabrik gehören, innovative Entgeltkonzepte, Qualitätsmanagement<br />
etc.<br />
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