VERFÜGBARKEIT UND VERANTWORTUNG Die bislang angeführten Beispiele lehren uns zweierlei: Erstens lassen sich von Oberflächen nicht mehr zwangsläufig Rückschlüsse auf die darunter liegenden Strukturen oder die physikalischen Eigenschaften eines Objekts ziehen. Aus der Ferne betrachtet kann selbst Umweltverschmutzung ästhetisch wirken, schwarze Haut kann in weiße verwandelt werden, hart aussehende Gegenstände erweisen sich als weich, und augenscheinlich solides Mauerwerk ist in Wirklichkeit nur eine wenige Zentimeter dünne Verkleidung. Zweitens haben uns Wissenschaft und Technik in die Lage versetzt, die Erdoberfläche radikal zu verändern und nach unseren Vorstellungen zu gestalten, anstatt umgekehrt unsere Vorstellungen – ähnlich wie es die Zeitgenossen Galileis noch mussten – an scheinbar unverrückbare Realitäten anzupassen. Die Verantwortung, die dies mit sich bringt, ist offensichtlich. Nur ein kritisches Bewusstsein erlaubt uns, wirkliche Innovationen von kosmetischen Veränderungen zu unterscheiden und diese Neuerungen auch sinnvoll einzusetzen. Falsche Mythen und Trugbilder sind in unserer Welt (auch in der Architektur) allgegenwärtig. Schon Hans Christian Andersen erkannte dies, als er ‚Des Kaisers neue Kleider‘ schrieb. Der Schlüsselinhalt dieser Geschichte ist nicht die Tatsache, dass zwei Betrüger verkünden, dem Kaiser die schönsten und feinsten Kleider weben zu können, sondern dass sie behaupten, diese seien nur für denjenigen sichtbar, der hierfür intelligent genug sei. Am Ende spricht ein Kind, dem derlei Eitelkeit gewiss fremd sein muss, die Wahrheit aus: „Aber der Kaiser hat ja gar nichts an!“ Es ist gelegentlich hilfreich, sich mit derselben kindlichen Skepsis eine Reihe simpler Frage zu stellen: Wie viel Energie wollen wir darauf verwenden, unsere (ersten, zweiten und dritten) ‚Häute’ attraktiv und anpassungsfähig zu machen, wenn die gleiche Wirkung womöglich mit viel einfacheren Mitteln zu erreichen ist? Wem nutzen gut gestaltete Autos und Fassaden, wenn die darunter liegende Maschinerie zu viele oder die falschen Ressourcen verbraucht? Und was geschieht mit diesen ‚Häuten‘, wenn sie einmal abgeworfen sind? Enden sie auf Schutthalden oder werden sie einem Recycling- und Wiederverwertungssystem zugeführt, in dem nichts verloren geht? Auf diese Fragen werden wir in unserer hochkomplexen Welt meist keine eindeutigen Antworten bekommen. Die Fragen können uns aber dabei unterstützen, Neues ebenso wie scheinbar Selbstverständliches auf Herz und Nieren zu prüfen. Der amerikanische Architekt James Wines schrieb an der Schwelle zum neuen Jahrtausend: „Das einundzwanzigste Jahrhundert als ökologisches Zeitalter ist eine Zeit des Übergangs. Für das Selbstverständnis einiger Architekten mag dies wie eine Plage erscheinen, die ihre gefestigten Vorstellungen, stilistischen Präferenzen und gewohnheitsmäßigen Arbeitsmethoden ins Wanken bringt. Für andere hat es sich als Gelegenheit zur Entwicklung neuer revolutionärer und ressourcenschonender Technologien erwiesen. Wieder andere, zum Nachdenken fähige Architekten sehen hierin die Chance, ein tieferes Bewusstsein für den Zustand unserer Erde zu erlangen und die Grundprinzipien der Architektur durch Einbindung von Kunst, Philosophie, Technologie und natürlichen Systemen zu überdenken. Diese dritte, vermutlich einflussreichste Gruppe hat aber immer wieder mit immensen Herausforderungen zu kämpfen, die ein ständiges Abwägen und Infragestellen erfordern. Sie vertritt letztendlich vielleicht Konzepte, die dem herkömmlichen Verständnis von Religion, Wirtschaft und Politik zuwiderlaufen und viele Aspekte der Baukunst in Frage stellen, die sich seit dem Aufkommen der industriellen Revolution bewährt haben.” 19 Die Chancen, die dies mit sich bringt, liegen auf der Hand. Doch James Wines erkennt auch die Fallstricke der ‚schönen grünen Welt’: „… die Attribute ‚grün’ und ‚nachhaltig’ werden mittlerweile so übergreifend und allgemein angewandt, dass sie ungeachtet ihrer einstigen Aussagekraft und Legitimität [...] im Sinne der Schriftstellerin Cathy Ho nur noch als ‚green washing’ oder ‚Grünfärberei‘ zu verstehen sind. Offenbar macht sich jeder ein grünes Mantra zu eigen, um sein soziales Bewusstsein und seine politische Korrektheit zu beweisen. […] Das ‚Grünsein’ wurde zum neuen Gütesiegel jedes guten Haushalts – angefangen von Baustoffen bis hin zu Müsli, Toilettenpapier und Kondomverpackungen.“ 20 James Wines’ Aufruf zu neuer Skepsis in der Umweltfrage mag ketzerisch klingen, trifft aber den Kern der Dinge. Nur die fortwährende kritische Beurteilung dessen, was sich unter der ‚Haut’ unserer materiellen Welt abspielt, wird uns in die Lage versetzen, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. 19 James Wines: Green Architecture. Taschen Verlag, 2000 20 James Wines in: [ark] 1-2007, März 2007 30 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05
INTERVIEWS 01 Roberto Casati 02 03 04 Nina Jablonski 05 Gary 06 Schneider Aziz + Cucher 09 10 Kengo Kuma 11 Ulrike 12 Brandi 13 David Maisel A.S. Raghavendra Ellen Lupton Thea Bjerg Dietmar Eberle Steven Scott Michael Bleyenberg 07 08 31