DAYLIGHT & ARCHITECTURE - Grado Zero Espace Srl
DAYLIGHT & ARCHITECTURE - Grado Zero Espace Srl
DAYLIGHT & ARCHITECTURE - Grado Zero Espace Srl
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
PURISMUS UND ORNAMENTIK<br />
IN DER MENSCHLICHEN<br />
ZIVILISATION<br />
Gegenüber:<br />
SANAA: Dior Omotesando, Tokio,<br />
2003<br />
Mit dem Dior-Flagshipstore<br />
schufen SANAA eine Ikone des<br />
sinnlichen Minimalismus, mit dem<br />
sich viele Mode- und Kosmetikhersteller<br />
seit den 90er-Jahren<br />
umgeben. Die milchig schimmernde<br />
Fassade besteht aus einer<br />
äußeren, glatten Glashülle und<br />
einer inneren Fassadenschicht<br />
aus Acryl, die wie die Falten eines<br />
Gewandes gewellt wurde.<br />
FOTO: SHINKENCHIKU-SHA<br />
Den meisten Architekten dürfte Adolf Loos’<br />
Verachtung für Verzierungen bekannt sein,<br />
die er in seinem Essay ‚Ornament und Verbrechen‘<br />
von 1908 als Zeichen für Degeneration<br />
und Verderbtheit bewertet. Eines seiner<br />
Lieblingsbeispiele sind die auffälligen Tätowierungen<br />
indigener Völker, die nach Loos’<br />
Ansicht nicht denselben Grad an Moral und<br />
Zivilisation erreicht haben wie der moderne<br />
Mensch. Loos schrieb: „Der moderne Mensch,<br />
der sich tätowiert, ist entweder kriminell<br />
oder entartet.” Ähnliche Attribute gelten<br />
Loos zufolge für jede stark ornamentierte<br />
Architektur. 99 Jahre nach Ornament und<br />
Verbrechen hat sich diese Einstellung ganz<br />
offensichtlich geändert: „Heutzutage sind<br />
Tattoos hip und zieren den Körper etlicher<br />
Promis wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow<br />
und Supermodel Linda Evangelista“, schreibt<br />
Pernilla Holmes 2001 in einem Bericht über<br />
eine Tätowierungsmesse 16 und fährt fort:<br />
„Außerdem sind und bleiben Tattoos provokanter<br />
Ausdruck von Individualität, um sich<br />
von der Masse abzuheben.” Gleiches gilt für<br />
die moderne Architektur, in die das Ornament<br />
mit Macht zurückgekehrt ist. Hierfür<br />
gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen<br />
wurden neue Herstellungsprozesse entwickelt,<br />
die eine wirtschaftliche Produktion<br />
ornamentierter Flächen in Einzelanfertigung<br />
ermöglichen (ein unbedingtes Muss,<br />
wenn Oberflächen ein ‚provokanter Ausdruck<br />
von Individualität’ sein sollen), zum<br />
anderen hat der Trend zum Ornament viel<br />
mit den durchlässig gewordenen Grenzen<br />
zwischen Architektur und anderen Kunstgattungen<br />
zu tun.<br />
Als Alternative zum Ornament setzte<br />
Adolf Loos auf die Ästhetik edler Materialien<br />
wie warmem Holz und Naturstein oder auch<br />
den Glanz von Metall, der im Laufe der Zeit<br />
von einer edlen Patinaschicht überzogen<br />
wird. Eine ähnliche, in vielerlei Hinsicht auch<br />
heute noch aktuelle Bewegung entstand in<br />
den späten 80er-Jahren, als Architekten<br />
begannen, sich von den semantischen Extremen<br />
des Dekonstruktivismus und Postmodernismus<br />
abzuwenden. Im Gegensatz zu<br />
deren Formbesessenheit befasste sich eine<br />
neue, vor allem in der Schweiz beheimatete<br />
Architektengeneration mit Materialien und<br />
deren Beziehung zum Ort eines Gebäudes<br />
und dessen spezifischen Lichtverhältnissen.<br />
Andreas Ruby hat darauf hingewiesen,<br />
dass dieser neue Materialismus, der später<br />
als ‚minimalistisch’ bezeichnet wurde,<br />
fest in der kalvinistischen Tradition der<br />
Schweiz verankert ist: Er diente nicht der<br />
ostentativen Zurschaustellung von Wohlstand,<br />
sondern investierte Arbeit und Geld<br />
in das demonstrative ‚Nicht-Zeigen’ von<br />
Verzierungen und Details. Interessanterweise<br />
prägt eine entschieden puristische,<br />
sinnliche Variante des Minimalismus seit<br />
Mitte der Neunziger das kreative Selbstverständnis<br />
vieler Luxus-Modedesigner<br />
wie Armani und Prada. Für diese Entwicklung<br />
gibt es zwei Gründe: Erstens bauen<br />
die Modehäuser auf Understatement und<br />
bevorzugen eine museumsähnliche Atmosphäre<br />
zur Präsentation ihrer Kreationen;<br />
zweitens legte die Modeindustrie (die schon<br />
damals zu einer ‚Schönheitsindustrie’ mit<br />
Kosmetika und Accessoires mutiert war)<br />
eine wahre Besessenheit mit der Reinheit<br />
ihrer Oberflächen, inklusive der architektonischen,<br />
an den Tag. In seinem Essay Alabasterhaut<br />
von 1993 sinnierte Wiel Arets über<br />
dieses Verhältnis zwischen Purismus und<br />
Realität, wobei er Vergleiche zog zur Dualität<br />
zwischen architektonischen Ideen und<br />
der Realität des gebauten Objekts: „Architektur<br />
könnte als ein Wunsch nach Reinheit<br />
betrachtet werden, als Streben nach<br />
Vollendung. Die Hauptfarbe Weiß markiert<br />
einen Prozess, in dem das Unentscheidbare<br />
respektiert wird; es geht nicht um bedeutungsvoll<br />
oder bedeutungslos. Das Weiß<br />
des frisch gefallenen Schnees im Morgenlicht,<br />
das Weiß einer makellosen Haut, das<br />
Weiß von Papier, auf dem der Entwurf<br />
skizziert wird – Weiß ist überall und kann<br />
als Farbe des Ursprungs und des Anfangs<br />
betrachtet werden. [...] Architektur ist<br />
unbefleckt. Ihre ganze Logik wagt etwas,<br />
das nur von kurzer Dauer ist. Sie erscheint<br />
nur, um wieder zu verschwinden. [...] Sie<br />
beschenkt uns kurze Zeit mit Frische und<br />
Reinheit, aber nur, um diese Eigenschaften<br />
gerade dadurch wieder zu verlieren, indem<br />
sie uns diese anbietet. Architektur ist deshalb<br />
ein Dazwischen, eine Membran, eine<br />
Alabaster-Haut, undurchsichtig und durchsichtig<br />
zugleich, bedeutungsvoll und bedeutungslos,<br />
wirklich und unwirklich. Um sie<br />
selbst zu werden, muss Architektur ihre<br />
Unschuld verlieren; sie muss eine gewaltsame<br />
Verletzung akzeptieren. Sie kann nur<br />
Teil der Wirklichkeit werden, indem sie mit<br />
ihrer Umgebung eine Verbindung eingeht.“<br />
16<br />
http://www.artnet.com/magazine/reviews/<br />
holmes/holmes7-23-01.asp<br />
26 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05