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Adivasi. Hoffnung und Kampf der indischen - Gossner Mission

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Ma unnikini nilupu kontam<br />

(Das ist unsere Existenz)<br />

Wir, die <strong>Adivasi</strong>s, sind ein Teil <strong>der</strong> Natur.<br />

Wir sind die Stimmen <strong>der</strong> Natur,<br />

<strong>und</strong> wir sind wie die Vögel.<br />

Alle Welt mag uns in dieser Rolle.<br />

Wir sind das Plätschern <strong>der</strong> Bäche <strong>und</strong> Flüsse.<br />

Wir erzeugen tausendfachen lebendigen Klang.<br />

Wir sind die wahren Naturwissenschaftler.<br />

Wir sind in <strong>der</strong> Lage, die Geheimnisse des Universums<br />

zusammenzufügen.<br />

Unsere Mutter, <strong>der</strong> Wald, streift uns mit ihre geheiligten Pflanzenfasern<br />

– <strong>und</strong> wir nehmen Gestalt an <strong>und</strong> tanzen den Tanz <strong>der</strong> Natur.<br />

Jetzt sind die Bande, die unser Leben, die Natur <strong>und</strong> den Wald –<br />

unsere Mutter – zusammengehalten haben, zerrissen.<br />

Unsere Lie<strong>der</strong> <strong>und</strong> Tänze sind nicht mehr wie früher.<br />

Überall herrscht Not:<br />

Wir sind entfremdet von unserer Mutter, dem Wald.<br />

Unser Anrecht auf den natürlichen Reichtum wird<br />

uns streitig gemacht.<br />

Warum nur? Wer hat das verfügt?<br />

Alle, die jetzt über uns bestimmen, kamen einst<br />

<strong>und</strong> lebten Seite an Seite mit uns.<br />

Wir gaben ihnen Früchte <strong>und</strong> essbare Knollen.<br />

Unsere Mütter gaben ihnen Milch.<br />

Unsere Väter gaben ihnen Nahrung.<br />

Damals sahen wir sie als Menschen an,<br />

die ums Überleben kämpften.<br />

Aber bald begannen sie, unseren Frieden zu stören.<br />

Als sie ankamen, kamen sie mit leeren Händen.<br />

Aber jetzt stehen sie im B<strong>und</strong> mit den multinationalen Firmen.<br />

Sie verlangen unsere Schultern,<br />

um darauf ihre Paläste zu setzen.<br />

Wir würden ihnen sogar das geben,<br />

wenn es für ihr Überleben nötig wäre ...<br />

Aber uns ist auch <strong>der</strong> Wert eines solchen Opfers bewusst, <strong>und</strong><br />

deshalb opfern wir nicht unser Leben für ihre Ausschweifung.<br />

Der Nutzwert des Waldes steigt mit jedem Tag, <strong>und</strong> gleichermaßen<br />

steigert sich <strong>der</strong> Druck auf uns <strong>und</strong> unser Leben.<br />

Wenn wir unsere Stimme gegen dieses Unrecht erheben,<br />

ertönen die Schritte <strong>der</strong> Polizeistiefel <strong>und</strong> rüde Beleidigungen,<br />

<strong>und</strong> sie jagen uns Angst ein.<br />

Dennoch: so lange wir leben, bis zu unserem letzten<br />

Atemzug, werden wir versuchen, die zerrissenen<br />

Bindungen wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

So behaupten wir uns in unserem Leben.<br />

Das ist unsere Existenz.<br />

P. Anjayya, * 1974, vom Stamm <strong>der</strong> Koya<br />

im Godavari-Tal, Andhra Pradesh.<br />

Aus: Stimmen <strong>der</strong> <strong>Adivasi</strong>s, hrsg. v. sarini, Bonn 2001<br />

20<br />

unterschiedlichen Ideologien versucht haben,<br />

sich mit <strong>der</strong> jeweiligen Situation auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Die Dalits waren in ihrem<br />

Denken <strong>und</strong> Handeln stärker von einer sozioökonomischen<br />

Ideologie beherrscht, während<br />

ihr politisches Streben auf verfassungsmäßige<br />

Rechte <strong>der</strong> Partizipation im <strong>indischen</strong><br />

Staatswesen begrenzt war. Die Stammesvölker<br />

hingegen haben ein eigenes Heimatland<br />

angestrebt mit eigenen indigenen sozioökonomischen<br />

<strong>und</strong> politischen Ressourcen.<br />

Es gibt gemeinsame Merkmale <strong>der</strong> Dalits<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Stammesvölker. Dalits <strong>und</strong> Stammesvölker<br />

haben im allgemeinen eine sehr niedrige<br />

Einschätzung ihrerselbst <strong>und</strong> ihrer<br />

Gesellschaft. Dieser Min<strong>der</strong>wertigkeitskomplex<br />

ist das Ergebnis von Tausenden von Jahren,<br />

in denen ihnen von den herrschenden<br />

Gruppen immer <strong>und</strong> immer wie<strong>der</strong> gesagt<br />

wurde, dass sie kein Volk seien <strong>und</strong> auch keine<br />

eigene Geschichte hätten. Bis vor kurzem<br />

haben auch die Akademiker diese Sicht geteilt.<br />

Diese entstellte Geschichte <strong>und</strong> Kultur<br />

<strong>der</strong> Dalits <strong>und</strong> Stammesvölker ist von <strong>der</strong><br />

herrschenden Schicht in <strong>der</strong> <strong>indischen</strong> Gesellschaft<br />

als Tatsache akzeptiert worden.<br />

Dieses falsche Verständnis, das den Dalits<br />

<strong>und</strong> Stammesvölkern aufgezwungen wurde,<br />

ist nun <strong>der</strong> Ausgangspunkt für ihre Suche<br />

nach politischer <strong>und</strong> kultureller Gemeinsamkeit.<br />

Dalits <strong>und</strong> Stammesvölker sind die indigenen<br />

Völker Indiens<br />

Eine international akzeptierte Definition<br />

indigener Völker hat folgenden Wortlaut:<br />

»Für die Definition indigener Völker gibt es<br />

vier Elemente: eine schon existierende Bevölkerung,<br />

die ein Gebiet bewohnt, bevor<br />

eine an<strong>der</strong>e Population dort eindringt; nicht<br />

auf Herrschaft angelegt; kulturelle Verschiedenheit<br />

<strong>und</strong> Selbstidentifikation als indigen.«<br />

(S. A. Khan u. H. B. Total, lndigenous Peoples,<br />

London and New Jersey, 1977, S. 6) Indigene<br />

Völker sind zu lange als archaisch <strong>und</strong><br />

rückständig angesehen worden. Langsam<br />

aber sicher hat die Welt jedoch begriffen,<br />

dass die mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche <strong>und</strong><br />

technologische Welt die Weisheit <strong>und</strong> die<br />

kulturellen Quellen <strong>der</strong> indigenen Völker dieser<br />

Welt braucht, auch diejenigen Indiens.<br />

Die oben zitierten Personen ... haben im Blick<br />

auf die indigenen Völker folgendes erklärt:<br />

»Indem wir das Versagen <strong>der</strong> industriellen<br />

Entwicklung im sozialen, humanitären <strong>und</strong><br />

die Umwelt betreffenden Bereich beobachten,<br />

wird immer mehr Menschen deutlich,<br />

dass wir, wenn es nicht schon zu spät ist,<br />

dringend von jenen Gesellschaften einige<br />

praktische Lektionen lernen sollten, die über<br />

Jahrtausende vermocht haben, eine überlebensfähige<br />

Umwelt zu erhalten.« (S. XI) ...<br />

Neues Selbstverständnis<br />

Das neue Selbstverständnis sollte die glorreiche<br />

Vergangenheit <strong>der</strong> Dalits <strong>und</strong> Stammesvölker<br />

mit einschließen. Angesichts <strong>der</strong><br />

geltenden literarischen <strong>und</strong> archäologischen<br />

Beweismittel müssen aus indigener Perspektive<br />

ein neues Verständnis <strong>und</strong> eine Neuinterpretation<br />

<strong>der</strong> alten <strong>indischen</strong> Geschichte<br />

<strong>und</strong> Literatur erarbeitet werden. Dieses<br />

neue Selbstverständnis <strong>der</strong> Dalits <strong>und</strong><br />

Stammesvölker als <strong>der</strong> indigenen Völker Indiens<br />

erfor<strong>der</strong>t gemeinsame Anstrengungen<br />

wie Studienprojekte, Forschung, Interpretation<br />

<strong>der</strong> alten Literatur <strong>und</strong> Geschichte, <strong>und</strong><br />

zwar aus indigener Sicht. Ein solches Unterfangen<br />

wird die Suche nach politischer <strong>und</strong><br />

kultureller Gemeinsamkeit vorantreiben,<br />

denn ohne vereinte Anstrengungen <strong>und</strong> eine<br />

gemeinsame Ideologie steht das Überleben<br />

<strong>der</strong> Dalits <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stammesvölker auf dem<br />

Spiel. Vor ihnen liegt eine Zukunft, in <strong>der</strong><br />

die Vergangenheit den indigenen Völkern<br />

neue Erkenntnisse <strong>und</strong> Ermutigung bringen<br />

wird, unter den Völkern <strong>und</strong> Nationen <strong>der</strong><br />

Welt ihren Weg mit Mut <strong>und</strong> Vertrauen<br />

weiterzugehen.<br />

Diese Ursehnsucht nach politischer <strong>und</strong><br />

kultureller Gemeinsamkeit – nach einer gemeinsamen<br />

Ideologie – ist das Befreiungsmotiv<br />

<strong>der</strong> indigenen Völker. Sie müssen sich<br />

selbst von ihrem Min<strong>der</strong>wertigkeitskomplex<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Unterdrückung <strong>und</strong> Diskriminierung<br />

durch die sie umgebende herrschende<br />

Schicht in Indien befreien. Diese Befreiung<br />

hat soziale, ökonomische, kulturelle <strong>und</strong><br />

politische Dimensionen. In <strong>der</strong> Arbeit an ihrer<br />

eigenen Befreiung sollten sie sich auch<br />

für die Befreiung <strong>der</strong> Unterdrücker <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Ausgebeuteten engagieren. Der Befreiungskampf<br />

<strong>der</strong> Dalits <strong>und</strong> <strong>der</strong> Stammesvölker<br />

beinhaltet die Befreiung <strong>der</strong> Menschheit insgesamt,<br />

damit in Indien <strong>und</strong> in <strong>der</strong> ganzen<br />

Welt eine kastenlose <strong>und</strong> klassenlose Gesellschaft<br />

mit Gerechtigkeit <strong>und</strong> Frieden für alle<br />

Menschen entstehen kann ...<br />

Nirmal Minz, ehemaliger Bischof<br />

<strong>der</strong> Nord-West-<strong>Gossner</strong>-Kirche,<br />

aus: Evangelisches <strong>Mission</strong>swerk in<br />

Deutschland (Hrsg.), Gerechtigkeit für<br />

die Unberührbaren. Beiträge zur <strong>indischen</strong><br />

Dalit-Theologie, Hamburg 2 1997<br />

(Weltmission heute Nr. 15), S. 88-97.

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