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Phraseologie - Filozofska fakulteta - Univerza v Mariboru

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<strong>Univerza</strong> v <strong>Mariboru</strong><br />

<strong>Filozofska</strong> <strong>fakulteta</strong><br />

Oddelek za germanistiko<br />

<strong>Phraseologie</strong><br />

Kompendium für germanistische Studien<br />

Vida Jesenšek<br />

Maribor, 2013


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Inhalt<br />

Inhalt........................................................................................................................................... 1<br />

Vorwort ...................................................................................................................................... 4<br />

1 Theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong> ............................................................................ 9<br />

1.1 Begriff und Hauptmerkmale ............................................................................................. 9<br />

1.1.1 Polylexikalität .......................................................................................................... 10<br />

1.1.2 Stabilität .................................................................................................................. 11<br />

1.1.3 Idiomatizität ............................................................................................................ 15<br />

1.1.4 Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit ................................................................ 19<br />

1.2 Phrasem und <strong>Phraseologie</strong> ............................................................................................. 20<br />

2 Strukturen, Typen, Klassen .................................................................................................... 24<br />

2.1 Basisklassifikation nach Burger (2010) ........................................................................... 25<br />

2.2 Nominative Phraseme: morphologisch-syntaktische Klassifikation ......................... 26<br />

2.2.1 Substantivische Phraseme ...................................................................................... 27<br />

2.2.2 Verbale Phraseme ................................................................................................... 29<br />

2.2.3 Adjektivische Phraseme .......................................................................................... 30<br />

2.2.4 Adverbiale Phraseme .............................................................................................. 31<br />

2.3 Besondere Strukturtypen nominativer Phraseme ......................................................... 31<br />

2.3.1 Paarformeln ............................................................................................................. 32<br />

2.3.2 Komparative Phraseme ........................................................................................... 35<br />

2.3.3 Phraseologische Teilsätze ....................................................................................... 38<br />

3 Sprichwörter .......................................................................................................................... 40<br />

3.1 Begriff und Hauptmerkmale ........................................................................................... 40<br />

1


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3.2 Hauptmerkmale .............................................................................................................. 41<br />

3.2.1 Polylexikalität und Satzwertigkeit ........................................................................... 42<br />

3.2.2 Stabilität .................................................................................................................. 43<br />

3.2.3 Idiomatizität ............................................................................................................ 43<br />

3.3 Formen ........................................................................................................................... 44<br />

3.4 Funktionen...................................................................................................................... 49<br />

3.5 Inhalt und Herkunft ........................................................................................................ 51<br />

3.6 Sprichwortsammlungen ................................................................................................. 54<br />

3.7 Sondergruppen ............................................................................................................... 57<br />

3.7.1 Bauernregeln und Wettersprichwörter .................................................................. 57<br />

3.7.2 Rechtssprichwörter ................................................................................................. 60<br />

3.7.3 Medizinische Sprichwörter...................................................................................... 60<br />

3.7.4 Wellerismen ............................................................................................................ 63<br />

3.8 Sprichwortähnliche feste Strukturen ............................................................................. 64<br />

3.8.1 Sentenz .................................................................................................................... 64<br />

3.8.2 Geflügeltes Wort ..................................................................................................... 64<br />

3.8.3 Aphorismus.............................................................................................................. 65<br />

3.8.4 Maxime .................................................................................................................... 66<br />

3.8.5 Epigramm ................................................................................................................ 66<br />

4 <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen .......................................................................................... 68<br />

4.1 <strong>Phraseologie</strong> als Lern- und Lehrgegenstand .................................................................. 68<br />

4.2 Argumente für die Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Fremdsprachenlernen ............ 71<br />

4.3 Konsequenzen für das Fremdsprachenlernen ............................................................... 79<br />

4.3.1 Methodisch-didaktische Konsequenzen ................................................................. 80<br />

4.3.2 Praktische Konsequenzen ....................................................................................... 82<br />

2


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Teil A: Glossar ....................................................................................................................... 85<br />

Teil B: Wörterbuchverzeichnis ............................................................................................. 92<br />

Teil C: Literaturverzeichnis ................................................................................................... 95<br />

3


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Jede Sprache ist Bildersprache (Wilhelm Busch)<br />

Vorwort<br />

Das vorliegende Kompendium stellt eine Einführung in grundlegende theoretische und<br />

ausgewählte praktische Aspekte der <strong>Phraseologie</strong> dar. <strong>Phraseologie</strong> als eigenständige<br />

sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin ist die Lehre (griech. phrasis 'Rede', logos<br />

'Lehre') von Phrasemen, also von festen Wortverbindungen verschiedenster Art, die auf eine<br />

besondere, in der Regel sehr bildhafte Art und Weise Begriffe versprachlichen und als<br />

vorgefertigte Redeteile beim Sprechen oder Schreiben nicht immer aufs neue produziert<br />

sondern wiederholt, reproduziert werden, vgl.<br />

küss die Hand, Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in<br />

den Mund leben, eine Hand wäscht die andere; Wasser auf jmds. Mühle sein, ein stilles<br />

Wasser, stille Wasser sind tief usw.<br />

Dass man die alltägliche Rede nicht nur und nicht immer aus einzelnen Wörtern frei<br />

gestaltet, ist weit bekannt. Gerade komplexe und vorgefertigte lexikalische Bestandteile der<br />

Rede – in vielen Fällen sind es Phraseme – helfen dem Menschen seit eher, sich bei der<br />

Ausformung der sprachlichen Kommunikation der »Fertigbauweise« zu bedienen und somit<br />

seinen kommunikativen Aufwand zu verringern. Die phraseologische Redeweise ist allen<br />

bekannten natürlichen Sprachen eigen; die alte Tradition entwickelt sich ständig weiter und<br />

lässt neue Phraseme entstehen. Laut der letzten Ausgabe des repräsentativen deutschen<br />

phraseologischen Wörterbuchs aus der Duden-Reihe mit dem Titel Duden Redewendungen.<br />

Wörterbuch der deutschen Idiomatik (2013) sind etwa folgende Phraseme in der deutschen<br />

Sprache neu:<br />

in trockenen Tüchern sein 'gesichert, erfolgreich abgeschlossen, erreicht sein'; die Kuh vom Eis<br />

bringen/kriegen 'ein schwieriges Problem lösen'; (die) unterste Schublade 'niedrigstes Niveau,<br />

billig, gemein'; den Ball flach halten 'sich zurückhalten; unnötiges Risiko, unnötige Aufregung<br />

4


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

o.Ä. vermeiden'; lass/lasst stecken! 'Ausdruck des Widerspruchs, der<br />

Ablehnung/Zurückweisung'.<br />

Man sieht, dass es sich um ein recht interessantes, besonderes und vielfältiges sprachliches<br />

Phänomen handelt. Das Wesen eines „echten“ Phrasems macht seine charakteristische<br />

semantische Natur aus, denn es gilt, dass „Wortverbindungen, deren Bedeutung nicht dem<br />

entspricht, was den allgemeinen Regeln der Sprache gemäß erwartet würde, /…/ im engen<br />

Sinne phraseologisch /sind/“ (vgl. Palm 1997, 106). Der phraseologische Bestand einer<br />

natürlichen Sprache ist jedoch immer sehr verschiedenartig, sodass man auch von der<br />

<strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinne sprechen muss, um ihn in seiner Ganzheitlichkeit erfassen<br />

zu können.<br />

Dieser evidente und unverkennbare phraseologische Reichtum weckt in den letzten<br />

Jahrzehnten auch das Interesse der sprachwissenschaftlichen Forschung. Zunächst als<br />

Teildisziplin der Lexikologie (Lehre von Wörtern und Wortschatz) entwickelte sich die<br />

<strong>Phraseologie</strong> gegenwärtig zu einer eigenständigen linguistischen Disziplin mit gründlich<br />

ausgearbeiteter theoretischer Basis, mit vielfältigen Forschungsmethoden und mit einer<br />

enormen und ständig anwachsenden Zahl von Fachpublikationen.<br />

Die Anfänge der germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung gehen auf die 70er Jahre des 20. Jh.<br />

zurück und gründen hauptsächlich auf den früheren russischen phraseologischen Arbeiten<br />

(eine kurze historische Übersicht über die Entwicklung der deutschen <strong>Phraseologie</strong>forschung<br />

gibt Donalies 2009). Gegenwärtig wird der phraseologische Bestand der deutschen Sprache<br />

aus mehreren verschiedenen linguistischen Perspektiven betrachtet:<br />

- aus der Sicht der Systemlinguistik werden der Gegenstand der phraseologischen<br />

Forschung definiert und die phraseologische von anderen Betrachtungsebenen<br />

abgegrenzt; es werden formale Strukturen analysiert und klassifiziert; es wird<br />

untersucht, wie diese die weitgehend ganzheitliche und in der Regel sehr komplexe<br />

phraseologische Bedeutung konstituieren; bei der Erforschung der phraseologischen<br />

Bedeutung wird in letzter Zeit großer Wert auf kulturell-historische und symbolischsemantische<br />

Aspekte gelegt;<br />

5


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

- aus der funktionalen Perspektive wird dargelegt, wie Phraseme in Texten<br />

vorkommen und welche Funktionen sich am konkreten Phrasemgebrauch<br />

interpretieren lassen;<br />

- aus der kommunikativ-pragmatischen Sicht sucht man nach Antworten auf die<br />

grundlegende pragmatische Fragestellung (Was tue ich, wenn ich ein Phrasem<br />

gebrauche) und man bemüht sich, das reiche pragmatische Potenzial der Phraseme<br />

zu erläutern und zu systematisieren;<br />

- unter der lexikographischen Perspektive setzt man sich damit auseinander, wie<br />

Phraseme in verschiedenartigen Wörterbüchern sowie in neuartigen elektronischen<br />

Sprachressourcen fachgerecht und benutzerfreundlich erfasst sind bzw. erfasst<br />

werden sollten;<br />

- die kontrastive Untersuchungsperspektive ist mit der Suche nach Ähnlichkeiten und<br />

Unterschieden in der <strong>Phraseologie</strong> mehrerer Sprachen beschäftigt; vor allem<br />

Fragestellungen zu zwischensprachlichen Äquivalenzbeziehungen stoßen auf reges<br />

Forschungsinteresse, zumal die Äquivalenz in mehreren praktischen Bereichen eine<br />

entscheidende Rolle spielt: in der Übersetzung, in der Erarbeitung zweisprachiger<br />

Wörterbücher und im Sprachenlernen;<br />

- unter der sprachdidaktischen Perspektive wird die <strong>Phraseologie</strong> vor dem Hintergrund<br />

des mutter- und fremdsprachlichen Spracherwerbs bzw. des Sprachenlernens<br />

diskutiert; es interessieren psycholinguistische Aspekte des Phrasem-Erwerbs und<br />

praktische sprachdidaktische Fragen zur Vermittlung der <strong>Phraseologie</strong> in<br />

Sprachlernprozessen.<br />

Der Inhalt des vorliegenden Kompendiums berücksichtigt einige ausgewählte Perspektiven<br />

der aktuellen germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung. Bei der Konzipierung und Erarbeitung<br />

6


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

wurde von der grundlegenden germanistischen Referenz- und Forschungsliteratur<br />

ausgegangen, die im Literaturverzeichnis angegeben und für das weiterführende Studium<br />

der deutschen <strong>Phraseologie</strong> empfohlen wird. Stellenweise (vor allem im kontrastiven und<br />

sprachdidaktischen Bereich) wurde die allgemeine Diskussion durch Ergebnisse eigener<br />

Forschung ergänzt. Hierbei nehmen die zentrale Position drei Forschungsprojekte ein, die ich<br />

in letzter Zeit geleitet habe: das internationale EU-geförderte Projekt EPHRAS, im dessen<br />

Rahmen eine mehrsprachige phraseologische Datenbank und umfangreiche<br />

phraseodidaktische Materialien entstanden sind, das weiterführende parömiologische<br />

Projekt SprichWort, dessen Hauptziel die linguistische Erforschung und sprachdidaktische<br />

Aufbereitung der Sprichwörter mehrerer Sprachen (darunter Deutsch und Slowenisch) auf<br />

korpusempirischer Basis gewesen ist und nicht zuletzt das kontrastive Projekt zur<br />

<strong>Phraseologie</strong> des Deutschen und Slowenischen, welches durch die Slowenische<br />

Forschungsagentur (ARRS) mitfinanziert wird und bisher bedeutende Kenntnisse zur<br />

deutsch-slowenischen kontrastiven <strong>Phraseologie</strong> hervorbringen konnte.<br />

Mit diesem Nachschlagewerk zur deutschen <strong>Phraseologie</strong> werden mehrere Ziele verfolgt:<br />

1. eine Basisübersicht über das Wesen der deutschen <strong>Phraseologie</strong> und den aktuellen<br />

Stand der germanistischen <strong>Phraseologie</strong>forschung zu geben;<br />

2. durch eine typologische Darstellung des äußerst heterogenen phraseologischen<br />

Bestands des Deutschen eine systematische Einprägung bei fremdsprachigen<br />

Sprechern zu ermöglichen und somit die Erkennbarkeit bisher womöglich<br />

unbekannter Phraseme zu erhöhen;<br />

3. darzulegen, wie die <strong>Phraseologie</strong> in textuellen Zusammenhängen üblicherweise<br />

funktioniert und folgerichtig auf typische und somit vorhersehbare<br />

Verwendungsweisen aufmerksam zu machen;<br />

4. aus der kontrastiven (deutsch-slowenischen) Perspektive auf zwischensprachliche<br />

Äquivalenzbeziehungen hinzuweisen und gleichzeitig einige Übersetzungsfragen<br />

anzusprechen;<br />

7


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

5. die Wichtigkeit der Einbeziehung der <strong>Phraseologie</strong> in das Sprachenlernen darzulegen<br />

und aktuelle Leistungen der phraseodidaktischen Forschung zu unterbreiten.<br />

Das Kompendium umfasst vier in sich gegliederte Kapitel, in denen einzelne Themenbereiche<br />

theoretisch erläutert und praktisch illustriert werden. Im Anhang findet sich ein kurzes<br />

Glossar mit den wichtigsten Fachtermini, die im Kompendium vorkommen; mit dem Zeichen<br />

wird im laufenden Text auf die Aufnahme des jeweiligen Fachausdrucks in das Glossar<br />

verwiesen. Im Anhang befinden sich schließlich ein Wörterbuchverzeichnis mit den Angaben<br />

zu den Wörterbüchern, die im Kompendium besprochen werden und ein<br />

Literaturverzeichnis, in dem die grundlegende und aktuelle Fachliteratur zur deutschen<br />

<strong>Phraseologie</strong> und Parömiologie verzeichnet ist.<br />

Das Kompendium ist durch seine inhaltliche Struktur und vielfältige und umfangreiche<br />

Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen mit konkreten Beispielen aus der<br />

<strong>Phraseologie</strong> des Deutschen in erster Linie für Studierende verschiedener germanistischer<br />

Studiengänge gedacht. Gut geeignet ist er aber auch für angehende und praktizierende DaF-<br />

Lehrer und -lehrerinnen, insbesondere für jene, die im Rahmen des absolvierten<br />

Germanistik-Studiums wenig oder gar nichts von der <strong>Phraseologie</strong> gehört haben. Schließlich<br />

sollte er für alle, die die phraseologische Redeweise interessant finden und sich mit dem<br />

Reichtum der deutschen <strong>Phraseologie</strong> näher auseinandersetzen wollen, von Interesse sein.<br />

Maribor und Mannheim, im Januar 2013<br />

Vida Jesenšek<br />

8


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

1 Theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong><br />

INHALT UND ZIELE<br />

In diesem Kapitel wird eine erste Einsicht in theoretische Grundlagen der <strong>Phraseologie</strong><br />

gegeben. Es wird dargelegt, was phraseologische Einheiten einer Sprache sind und welche<br />

typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil ist nicht gänzlich einzelsprachspezifisch<br />

orientiert, obgleich mit zahlreichen Beispielen aus der deutschen Sprache belegt; manche<br />

Erläuterungen gelten z.B. auch für die <strong>Phraseologie</strong> der slowenischen Sprache.<br />

Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Phraseme sind,<br />

welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen<br />

sprachlichen Phänomenen unterscheiden, wie vielfältig sie sein können und wie sie sie<br />

fachgerecht benennen sollen.<br />

1.1 Begriff und Hauptmerkmale<br />

Im Allgemeinen verstehen wir unter phraseologischen Einheiten einer Sprache, die wir<br />

Phraseme nennen (Phrasem), mehrteilige und feste Wortverbindungen, deren jeweilige<br />

Wort-Kombination den Sprechenden einer Sprache genau in dieser oder eventuell noch in<br />

einer varianten Form bekannt ist. Dazu kommt, dass die Gesamtbedeutung solcher<br />

Wortverbindungen mit der Summe von Bedeutungen einzelner Bestandteile in der Regel<br />

nicht gleichgesetzt werden kann. Vergleichen wir folgende zwei Aussagen:<br />

(1) Kalter Kaffee gefällt mir nicht.<br />

(2) Was er über Japan erzählt, ist doch alles kalter Kaffee. Erstens kann man das in jedem<br />

Fremdenführer nachlesen und zweitens interessiert das gar nicht, denn auf das Wesentliche<br />

kommt er gar nicht zu sprechen.<br />

Während in der Aussage (1) ein Getränk beurteilt wird, können wir die Aussage (2)<br />

keinesfalls mit dem beliebten Getränk in Verbindung setzen. Was in (2) mit kaltem Kaffee<br />

benannt wird, lässt sich an dem zugehörigen Text gut nachvollziehen, nämlich 'etw. ist<br />

altbekannt, abgestanden, sogar dumm und deshalb völlig uninteressant'. Man sieht, dass<br />

9


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Phraseme in ihrer Bedeutungsdimension ganzheitlich funktionieren und Begriffliches<br />

benennen – in dieser Hinsicht kann man sie mit einzelnen Wörtern vergleichen und als<br />

Bestandteile des Wortschatzes auffassen. Phraseme sind somit ganzheitliche Einheiten des<br />

Wortschatzes, des Lexikons; sie sind Lexeme (Lexem).<br />

Da Phraseme keinesfalls einfache sondern komplexe und manchmal komplizierte<br />

Konstruktionen sind, ist es auch nicht einfach, sie zu definieren und somit klar und deutlich<br />

von andersartigen und/oder ähnlichen mehrteiligen sprachlichen Phänomenen auf der<br />

Wortschatzebene abzugrenzen. In der umfangreichen Fachliteratur zur <strong>Phraseologie</strong><br />

(<strong>Phraseologie</strong>) findet man zahlreiche Definitionen, in denen bei der Begriffsbestimmung<br />

mit je unterschiedlichem Gewicht morphologische, syntaktische und semantische Phrasem-<br />

Eigenschaften eine Rolle spielen. Man ist sich jedoch einig, dass die Mehrheit der sonst sehr<br />

heterogenen Phraseme einige gemeinsame Merkmale aufweisen. Im Folgenden werden<br />

diese in ihren Wesenszügen dargelegt und anhand konkreter deutscher Phraseme illustriert.<br />

1.1.1 Polylexikalität<br />

Das Merkmal der Polylexikalität, auch Mehrgliedrigkeit (Polylexikalität) meint die<br />

Tatsache, dass Phraseme aus mehreren (poly, griech. polus 'viele, viel') Wörtern (griech. lexis<br />

'Wort') bestehen; sie sind somit polylexikal (mehrgliedrig). Wie viele Wörter eine<br />

phraseologische Struktur ausmachen – gerade dazu gibt es aber verschiedene Meinungen.<br />

Schwierigkeiten bereiten vor allem uneinheitliche Bestimmungen dessen, was ein Wort<br />

überhaupt ist; in der Linguistik wird der Begriff des Wortes nämlich sehr unterschiedlich<br />

aufgefasst und interpretiert. Wir vereinfachen hierbei die Diskussion und übernehmen die<br />

gegenwärtig übliche und verbreitete Auffassung der phraseologischen Polylexikalität.<br />

Danach setzt man Grenzen einer phraseologischen Einheit des Wortschatzes durch eine<br />

minimale und eine maximale Phrasem-Struktur ab:<br />

- Phraseme mit Minimalstruktur sind Verbindungen von zwei Wörtern, von denen<br />

mindestens ein Wort autosemantisch sein muss, vgl.<br />

- blinder Passagier; frei Haus; auf Anhieb, im Nu<br />

10


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

- Phraseme mit Maximalstruktur sind Verbindungen von Wörtern, die eine<br />

Satzstruktur darstellen; man nennt sie auch satzwertige Phraseme bzw.<br />

Satzphraseme, vgl.<br />

Übung macht den Meister; Wer rastet, der rostet; Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder,<br />

große Sorgen; Ohne Fleiß kein Preis; Verflixt und zugenäht!.<br />

Die meisten deutschen Phraseme befinden sich auf einer Skala zwischen der Minimal- und<br />

Maximalstruktur; man nennt sie auch satzgliedwertige Phraseme, da sie im Satz die<br />

Satzglied-Funktion übernehmen (sie treten als Subjekt, Objekt, Prädikat, Attribut, adverbiale<br />

Bestimmung auf), vgl.<br />

Mutter Grün; Nummer Eins; das Auge des Gesetzes; das älteste Gewerbe der Welt; Liebe auf<br />

den ersten Blick<br />

sich auf die Beine machen; die Flinte ins Korn werfen; nicht von der Luft leben können; sich<br />

benehmen wie ein Elephant im Porzellanladen<br />

fix und fertig; klipp und klar.<br />

Einzelne Elemente (Wörter) eines Phrasems nennt man Komponenten (Komponente).<br />

1.1.2 Stabilität<br />

Eine weitere begriffsbestimmende Phrasem-Eigenschaft ist das Merkmal der Stabilität, auch<br />

Festigkeit (Stabilität). Damit wird gesagt, dass Phraseme in ihrer formalen Struktur und<br />

folgerichtig in ihrer Bedeutung fest, stabil sind. Laut Burger (2010, 16ff.) sollte man die<br />

phraseologische Stabilität auf drei Ebenen betrachten; auf der psycholinguistischen,<br />

strukturellen und pragmatischen Ebene.<br />

Die psycholinguistische Stabilität<br />

meint, dass Phraseme im mentalen Lexikon ganzheitlich gespeichert sind und als solche nach<br />

Bedarf abgerufen und beim Sprechen oder Schreiben reproduziert werden können. Ihr<br />

kognitiver Status wird vor allem innerhalb der Sprachdidaktik besprochen, um damit die<br />

11


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Sprachenlernen zu begründen. (Näheres zum kognitiven<br />

Status der <strong>Phraseologie</strong> finden sie in Kap. 4).<br />

Die strukturelle Stabilität<br />

betrifft die phraseologische Form bzw. die Phrasem-Struktur. Es wird dadurch gesagt, dass<br />

die jeweilige Kombination von Wörtern genau in dieser (und möglicherweise noch in einer<br />

varianten) Form bei den Sprechern einer Sprache bekannt ist.<br />

Das Merkmal der strukturellen Stabilität ist aber nicht absolut zu verstehen. Man kann<br />

nämlich relativ wenige Phraseme finden, deren Struktur völlig unveränderbar wäre; vielmehr<br />

sind sie bis zu einem gewissen Grad variabel.<br />

Eine absolute Festigkeit beobachtet man bei Phrasemen mit unikalen Komponenten, also bei<br />

Phrasemen mit veralteten bzw. seltenen Lexemen, die phrasemextern als freie Wörter in der<br />

Regel nicht vorkommen, vgl. gang, gäbe, klipp, Nu, rümpfen, Laufpass, Schnippchen in<br />

folgenden Beispielen:<br />

gang und gäbe, klipp und klar, im Nu, die Nase rümpfen, jm. den Laufpass geben, jm. ein<br />

Schnippchen schlagen.<br />

Einen hohen Festigkeitsgrad beobachtet man ebenso bei Phrasemen, deren Formen<br />

morphologische und/oder syntaktische Irregularitäten nachweisen; sie weichen also von der<br />

üblichen grammatischen Regelung aus, was ihre Festigkeit verstärkt. Das gilt für erstarrte<br />

bzw. archaische grammatische Konstruktionen wie z.B. Gebrauch des unflektierten<br />

attributiven Adjektivs, des Genitivobjekts, des adverbialen und vorangestellten Genitivs, der<br />

anomale Gebrauch des Artikels, vgl.<br />

etw. frei Haus liefern, sich bei jm. liebkind machen, Gut Ding will Weile haben (unflektiertes<br />

Adjektiv)<br />

guter Hoffnung sein, schweren Herzens, letzten Endes, jn. eines Besseren belehren, in (des)<br />

Teufels Küche kommen (vorangestellter Genitiv)<br />

vor Ort, auf Draht sein (anomaler Artikel).<br />

12


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

In vielen Fällen sind bestimmte morphologische und syntaktische Umgestaltungen<br />

(Transformationen) der Phrasem-Strukturen beschränkt. So kann z.B. die Pluralbildung,<br />

Relativsatzbildung, Passivierung, Konversion oder Pronominalisierung einzelner<br />

Komponenten nicht möglich sein, vgl.<br />

*kalte Kaffees (Plural zu kalter Kaffee)<br />

*der Korb, den er mir gegeben hat (Relativsatz zu jm. den Korb geben)<br />

*Die Flinte wurde ins Korn geworfen; *der Wurf der Flinte ins Korn; *Sie wurde ins Korn<br />

geworfen (Passiv, Konversion und Pronominalisierung einer Phrasem-Komponente zu die<br />

Flinte ins Korn werfen) (zit. nach Donalies 2009).<br />

Wie bereits angedeutet, soll man die strukturelle Festigkeit bei der Mehrzahl der Phraseme<br />

nicht absolut verstehen. Beobachtet man nämlich ihr textuelles Vorkommen, so sieht man,<br />

dass relativ wenige völlig stabil sind (so vor allem solche mit unikalen Komponenten bzw.<br />

erstarrt-archaischen grammatischen Strukturen, wie wir oben gesehen haben). Vielmehr gilt,<br />

dass die Mehrheit der Phraseme zu einem bestimmten Grad veränderlich ist. So muss man<br />

die Stabilität als eine graduell ausgeprägte Eigenschaft betrachten und für die meisten<br />

Phraseme Folgendes feststellen:<br />

- sie sind erweiterungsfähig, vgl.<br />

einen großen Bock schießen (zu einen Bock schießen), den roten Faden verlieren (zu den<br />

Faden verlieren), klar auf der Hand liegen (zu auf der Hand liegen)<br />

- Phrasem-Komponenten sind gegebenenfalls grammatisch variabel (Numerus,<br />

bestimmter/unbestimmter Artikel, variable Negation), vgl.<br />

etw. in jmds. Hand/Hände legen, das/sein Herz auf der Zunge tragen, jm. keinen/nicht den<br />

Bissen Brot gönnen<br />

- Phrasem-Komponenten sind (semantisch zwar eingeschränkt) austauschbar, vgl.<br />

die Ruhe/Stille vor dem Sturm, jm. eine/ein paar herunterhauen; ein Gesicht wie<br />

drei/sieben/zehn/vierzehn Tage Regenwetter machen<br />

13


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

- Phrasem-Strukturen sind weitgehend syntaktisch abwandelbar; das gilt verstärkt für<br />

satzwertige Phraseme wie etwa Sprichwörter, die sich der jeweiligen textuellen<br />

Umgebung leicht anpassen, vgl.<br />

Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang<br />

Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat<br />

sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen<br />

kann" (SprichWort, 2010).<br />

Die <strong>Phraseologie</strong>forschung spricht hierbei von Varianten (Variante) und Modifikationen<br />

(Modifikation) (Burger 2010, 24ff.). Varianten sind usuelle, d.h. wiederholte, häufig<br />

vorkommende Phrasem-Abwandlungen, vgl.<br />

klar auf der Hand liegen vs. auf der Hand liegen<br />

die Maske fallen lassen vs. die Maske von sich werfen.<br />

Modifikationen sind dagegen gelegentliche, einmalige, nur auf einen konkreten Text<br />

gebundene Umgestaltungen der phraseologischen Ausgangsformen, vgl.<br />

WC-Ente verdient Ihr Vertrauen. Ente gut, alles gut (Werbungsslogan; zum Sprichwort Ende<br />

gut, alles gut).<br />

Varianten und Modifikationen sind insbesondere als gezielt gesetzte stilistische Mittel in<br />

meinungsbeeinflussenden Textsorten wie Werbung, journalistischer Kommentar, Glosse,<br />

Schlagzeile gut geeignet; sie werden als Ausdruck des kreativ-spielerischen Umgangs mit der<br />

Sprache interpretiert.<br />

Die pragmatische Stabilität<br />

bezieht sich auf typische kommunikative Situationen, in denen Phraseme verwendet werden<br />

und zugleich auf typische pragmatische Funktionen, die dadurch realisiert werden. Laut<br />

Burger (2010, 28ff.) unterscheiden wir hierbei zwei Phrasem-Klassen:<br />

14


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Phraseme, die in ganz bestimmten Situationstypen auftreten: dazu zählen vor allem<br />

kommunikative/pragmatische Phraseme (Routineformeln) wie Grußformeln,<br />

Abschiedsformeln, Glüchwunschformeln, Beileidsformeln u.Ä., vgl.<br />

Guten Tag, Auf Wiedersehen, Herzlichen Glückwunsch.<br />

Die pragmatische Stabilität ist somit vor allem situations- und funktionsbezogene<br />

Eigenschaft bestimmter Phraseme; so kann man voraussehen, dass Guten Tag und Auf<br />

Wiedersehen immer dann verwendet werden, wenn ein Beginn bzw. ein Abschluss der<br />

Kommunikation mit anderen markiert werden soll.<br />

Zur zweiten Klasse werden Phraseme gezählt, deren Funktion darin besteht, dass sie die<br />

Kommunikation steuern; vorrangig verwendet man sie in gesprochener Sprache, vgl.<br />

Nicht wahr?, ich meine/denke…, siehst/verstehst du?; nach meiner Meinung, ich meine.<br />

Man spricht hierbei generell darüber, dass bestimmte Typen von Phrasemen<br />

gesprächssteuernde Funktionen haben.<br />

1.1.3 Idiomatizität<br />

Das Merkmal der Idiomatizität (Idiomatizität) gilt traditionell als Hauptkriterium zur<br />

Unterscheidung zwischen phraseologischen und freien Wortverbindungen. Während sich die<br />

Ersteren durch eine phraseologische, idiomatische (auch figurative, metaphorische,<br />

übertragene) Bedeutung ausweisen würden, hätten die Letzteren eine wörtliche (auch<br />

literale, direkte, konkrete, freie) Bedeutung, vgl.<br />

ein schiefes Gesicht machen 'missvergnügt schauen' (phraseologische Wortverbindung)<br />

ein schönes Gesicht haben (freie Wortverbindung).<br />

Die Eigenschaft der Idiomatizität (griech. idioma ‚Eigentümlichkeit, Irregularität‘) meint also<br />

die Tatsache, dass bei der Mehrzahl der Phraseme ihre phraseologische Bedeutung aus der<br />

Summe der Bedeutungen einzelner Bestandteile (Komponenten) nicht erschließbar ist. Es<br />

15


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

handelt sich also um die Umdeutung, semantische Transformation aller oder einzelner<br />

Komponenten der jeweiligen Phrasem-Struktur, vgl.<br />

nur Bahnhof verstehen 'nicht richtig, überhaupt nichts verstehen' (eine umgedeutete<br />

Komponente)<br />

keine Rose ohne Dornen 'auch bei der schönsten Sache gibt es Nachteile' (alle Komponenten<br />

sind umgedeutet).<br />

Erst die feste Verbindung der Komponenten ergibt eine neue, ganzheitliche phraseologische<br />

Bedeutung. Man sieht, dass ein irreguläres Verhältnis zwischen der Bedeutung einzelner<br />

Komponenten und der ganzheitlichen Phrasem-Bedeutung besteht. Die reguläre,<br />

phrasemexterne Bedeutung des Wortes Bahnhof und die ganzheitliche Bedeutung des<br />

Phrasems nur Bahnhof verstehen stehen in einer unvereinbaren Beziehung zueinander.<br />

Bei vielen Phrasemen ist jedoch die semantische Verknüpfung einzelner Komponenten<br />

sowohl regulär als auch irregulär; vgl. folgende Beispiele, bei denen sowohl eine wörtliche<br />

als auch eine phraseologische Lesart möglich ist:<br />

jm. den Zahn ziehen: 'durch Ziehen entfernen' vs. 'jdn. eine Illusion nehmen, jn. ernüchtern'<br />

goldener Käfig: 'Käfig aus Gold'<br />

Komforts'<br />

vs. 'Unfreiheit, Gebundenheit trotz großen Wohlstands,<br />

auf dem Sand sitzen: 'auf der feinkörnigen, lockeren Substanz sitzen'<br />

weiterkönnen'<br />

vs. 'nicht mehr<br />

etw. an die Wand malen: 'etw. (Bild, Skizze) an die Wand malen' vs. 'etw. als Bedrohung<br />

voraussagen od. behaupten'.<br />

Die <strong>Phraseologie</strong>- und Semantikforschung sprechen hierbei über die semantische Ambiguität<br />

(Ambiguität). Sehr oft wird diese Eigenschaft bei gelegentlichen (okkasionellen) kreativspielerischen<br />

textuellen Gebrauchsweisen der <strong>Phraseologie</strong> ausgenutzt, vgl.<br />

Beim Zahnarzt: Nun mach’ den Mund schön weit auf und beiße die Zähne zusammen!<br />

Der Ober zum Bier trinkenden Gast: Warum schließen Sie denn beim Trinken immer die<br />

Augen? Der Arzt hat gesagt, ich soll nicht zu tief ins Glas gucken.<br />

16


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Betrachtet man den phraseologischen Bestand einer Sprache vor dem Hintergrund der<br />

semantischen Umdeutung, so stellt man fest, dass diese entweder alle oder nur einige bzw.<br />

keine Phrasem-Komponenten betrifft. So wird zwischen vollidiomatischen, teilidiomatischen<br />

und nichtidiomatischen Phrasemen unterschieden.<br />

Vollidiomatische Phraseme<br />

sind Phraseme, bei denen alle Komponenten umgedeutet sind und die keine wörtliche Lesart<br />

zulassen. Die phraseologische Bedeutung lässt keinen direkten Zugang zu den<br />

phrasemexternen Bedeutungen einzelner Komponenten und eine eventuelle wörtliche<br />

Interpretation führt zu absurden Bedeutungsinterpretationen, vgl.<br />

mit allen Wassern gewaschen sein 'sehr gerissen sein, alle Tricks kennen'<br />

jm. zu Kopf steigen 1. 'benommen, leicht betrunken sein', 2. 'jn. eingebildet, überheblich<br />

machen'<br />

aus der Haut fahren 'wütend, werden'.<br />

Derartige Phraseme werden als unmotiviert, intrasparent, opak bezeichnet; die wörtliche<br />

Bedeutung einzelner Komponenten erlaubt keinerlei Rückschlüsse auf die jeweilige<br />

phraseologische Bedeutung.<br />

Teilidiomatische Phraseme<br />

sind Phraseme, bei denen einige Komponenten umgedeutet sind und andere noch wörtliche<br />

Lesart zulassen, vgl.<br />

eine Fahrt ins Blaue 'Ausflugsfahrt ohne ein festgelegtes Ziel'<br />

faul wie die Sünde 'sehr faul'<br />

etw. auf die lange Bank schieben 'etw. aufschieben, hinauszögern'.<br />

17


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Derartige Phraseme werden als teilmotiviert bezeichnet; die behaltene wörtliche Bedeutung<br />

einzelner Komponenten erlaubt Rückschlüsse auf die jeweilige phraseologische Bedeutung.<br />

Nichtidiomatische Phraseme<br />

sind Phraseme, bei denen wir keine Umdeutung einzelner Komponenten feststellen können,<br />

vgl.<br />

gesammelte Werke 'Gesamtheit dessen, was jemand in schöpferischer Arbeit hervorgebracht<br />

hat'<br />

öffentliche Meinung 'im Bewusstsein der Allgemeinheit vorherrschende Auffassungen<br />

hinsichtlich bestimmter (politischer) Sachverhalte'<br />

gesunder Menschenverstand 'der normale, klare Verstand eines Menschen'.<br />

Solche feste und mehrgliedrige Wortverbindungen, die wohl auch mit fehlender<br />

Idiomatizität als Wortschatzeinheiten aufgefasst werden können, werden erst in der<br />

neueren Forschung zur <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn gezählt und oft unter der Bezeichnung<br />

Kollokation behandelt (Kollokation). Dadurch wird zugleich klar, dass das Merkmal der<br />

Idiomatizität nicht mehr als unentbehrliches Merkmal der <strong>Phraseologie</strong> verstanden wird. So<br />

legen wir mit Donalies (2009, 22) fest, dass Phraseme idiomatisch sein können, jedoch nicht<br />

unbedingt idiomatisch sein müssen.<br />

Die Annahme von Idiomatizität als grundlegender Eigenschaft der <strong>Phraseologie</strong> ist in<br />

mehrerer Hinsicht fraglich. Nennen wir nur die wichtigsten Problemstellungen:<br />

- durch die Linguistik (und Philosophie) werden recht verschiedene Auffassungen<br />

vertreten, was eine wörtliche bzw. nichtwörtliche (idiomatische, übertragene,<br />

metaphorische) Bedeutung sei<br />

- die Idiomatizität ist nicht nur auf die phraseologische Redeweise beschränkt, denn<br />

vielmehr gelten Metaphern als allgemeinsprachliche Phänomene (Donalies 2009,<br />

22ff.)<br />

18


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

- man kennt bisher keine zuverlässigen Methoden zur Bestimmung der<br />

Unmotiviertheit bzw. Undurchsichtigkeit.<br />

Auch wenn wir bei der traditionellen Idiomatizitätsvorstellung bleiben, müssen wir<br />

festhalten, dass das Merkmal der Idiomatizität eine graduell ausgeprägte Eigenschaft der<br />

Phraseme darstellt. Der jeweilige Idiomatizitätsgrad hängt damit zusammen, inwiefern<br />

einzelne Phrasem-Komponenten noch eine wörtliche Lesart zulassen bzw. inwieweit<br />

einzelne Phrasem-Komponenten umgedeutet sind.<br />

1.1.4 Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit<br />

Werden Phraseme als ganzheitliche Lexikon-Einheiten aufgefasst, so gilt es, dass sie<br />

statusmäßig mit Einwortlexemen vergleichbar sind, sie sind also Lexeme. Das bedeutet<br />

weiterhin, dass man sie im Sprachgebrauch nicht immer wieder neu produziert, sondern<br />

dass man sie als vorher bestimmte feste Wortverbindungen reproduziert, wiederholt. Das<br />

Merkmal der Lexikalisiertheit (Lekalisiertheit) meint also die Tatsache, dass Phraseme als<br />

relativ feste syntaktisch-semantische Einheiten im Lexikon einer Sprache ganzheitlich<br />

gespeichert sind und dass die Mehrheit der Sprecher dieser Sprache sie als solche erkennt<br />

(Palm 1994, 36). Das Merkmal der Reproduzierbarkeit (Reproduzierbarkeit) ergibt sich<br />

folgerichtig aus mehreren bisher besprochenen Phrasem-Eigenschaften: reproduziert<br />

werden feste Wortverbindungen mit Lexem-Status. Das bedeutet weiterhin, dass Phraseme<br />

in vergleichbarer Weise wie Einzellexeme in frühen Spracherwerbsphasen erworben und im<br />

Sprachgebrauch verwendet werden. (Zum Phrasem-Erwerb lesen sie ausführlicher in Kap. 4).<br />

Die hier besprochene Eigenschaft der Lexikalisiertheit soll allerdings nicht mit der<br />

lexikographischen Kodifiziertheit eines Phrasems gleichgesetzt werden. Die lexikographische<br />

Kodifiziertheit meint nämlich die Erfassung in einem lexikographischen Nachschlagewerk,<br />

etwa in einem Wörterbuch. Es stimmt zwar, dass Phraseme in den allgemeinen und<br />

speziellen Wörterbüchern vielfach dokumentiert, d.h. lexikographisch kodifiziert sind,<br />

allerdings besagt die Lexikalisiertheit eine gesellschaftlich akzeptierte Festigung im<br />

19


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Wortschatz einer Sprache, die nicht automatisch auch die Erfassung im Wörterbuch mit<br />

einbezieht.<br />

1.2 Phrasem und <strong>Phraseologie</strong><br />

Nachdem wir die wichtigsten phraseologischen Eigenschaften (Polylexikalität, Stabilität,<br />

Idiomatizität, Lexikalisiertheit und Reproduzierbarkeit) kurz erläutert und illustriert haben,<br />

können wir Phraseme wie folgt definieren:<br />

Phraseme sind relativ stabile (feste) Wortverbindungen. Ihr Umfang bewegt sich zwischen<br />

der phraseologischen Minimalstruktur (Verbindung von zwei Wörtern) und einer<br />

phraseologischen Maximalstruktur (satzwertige Wortverbindungen). Sie sind<br />

vorgegebene, vorgeprägte Wortschatzeinheiten mit Lexemstatus und konventionalisierter<br />

ganzheitlicher Bedeutung. Diese kann in der Regel nicht mit der Summe von Bedeutungen<br />

einzelner Bestandteile gleichgesetzt werden. In textueller Umgebung treten sie als<br />

syntaktisch-semantische Einheiten auf.<br />

Somit zählen folgende Beispiele zum phraseologischen Bestand der deutschen Sprache:<br />

Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,<br />

Wasser auf jmds. Mühle sein<br />

ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf den ersten Blick<br />

gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht<br />

eine Hand wäscht die andere, stille Wasser sind tief<br />

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold<br />

Guten Tag, küss die Hand, da haben wir den Salat.<br />

Man sieht, dass sie sich sowohl formal-strukturell als auch semantisch-pragmatisch<br />

voneinander unterscheiden. In der Tat fasst man unter <strong>Phraseologie</strong> recht verschiedene<br />

Phänomene zusammen. Gegenwärtig beobachtet man sogar eine weitere Ausbreitung des<br />

20


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

phraseologischen Gegenstandsbereichs, da aus der Sicht des konstruktivistischen<br />

Sprachverständnisses die Formelhaftigkeit in der Rede eine immer größere Rolle spielt.<br />

Um die stark heterogenen phraseologischen Bestände einzelner Sprachen systematisch und<br />

realitätsgerecht zu erfassen, wird in der Forschung zwischen einer engen und einer weiten<br />

Auffassung von <strong>Phraseologie</strong> unterschieden (u.a. Burger 2010, 14f.).<br />

<strong>Phraseologie</strong> im engeren Sinn<br />

umfasst satzgliedwerige Phraseme, die die Eigenschaft der Polylexikalität, Stabilität und<br />

Idiomatizität aufweisen; mitunter werden sie mit dem Fachausdruck Idiom benannt. Von<br />

den oben aufgezählten Beispielen gehören zu dieser Gruppe folgende:<br />

Hand in Hand arbeiten, alle/beide Hände voll zu tun haben, von der Hand in den Mund leben,<br />

Wasser auf jmds. Mühle sein; ein stilles Wasser, blinder Passagier, kalte Dusche, Liebe auf<br />

den ersten Blick; gang und gäbe, fix und fertig, hie und da, Tag und Nacht.<br />

<strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn<br />

umfasst darüber hinaus auch pragmatische Phraseme (Routineformeln), Kollokationen,<br />

satzwertige vorgeprägte Konstruktionen (Sprichwörter, Antisprichwörter, geflügelte Worte,<br />

Slogans, sog. Mikrotexte u.ä.), vgl.<br />

pass mal auf, wie schon gesagt wurde; guten Tag, küss die Hand; da haben wir den Salat,<br />

verflixt noch mal!; eine Hand wäscht die andere, stille Wasser sind tief, Reden ist Silber,<br />

Schweigen ist Gold; zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Artzt oder Apotheker<br />

u.a.<br />

Die formale und somit auch semantisch-pragmatische Vielfältigkeit führt zur Unterscheidung<br />

von nicht wenigen phraseologischen Teilklassen. Auf diese wird in Kap. 2 und 3 eingegangen.<br />

1.3 Terminologie<br />

Im vorherigen Kap. wurde festgestellt, dass die <strong>Phraseologie</strong> einen äußerst heterogenen<br />

lexikalischen Bereich darstellt. Dementsprechend heterogen ist auch die Terminologie, die<br />

21


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

auf verschiedenartige Forschungsansätze und Betrachtungsperspektiven zurückgeht. Die<br />

meisten Termini, die in der germanistischen phraseologischen Forschung mit<br />

unterschiedlicher Gewichtung in Gebrauch sind, haben einen griechisch-lateinischen<br />

Ursprung:<br />

- griech.-lat. phrasis 'rednerischer Ausdruck':<br />

Phrasem, Phraseologismus, Phraseolexem, Phrase, Phraseotextem, phraseologische<br />

Einheit<br />

- griech. idioma 'Eigentümlichkeit, eigentümlicher Ausdruck':<br />

Idiom, idiomatische Wendung/Redewendung, idiomatische Phrase, idiomatische<br />

Lexemkette u.a.<br />

Darüber hinaus sind in der deutssprachigen phraseologietheoretischen Literatur noch viele<br />

weitere Ausdrücke zu finden, mit denen man versucht, charakteristische phraseologische<br />

Eigenschaften hervorzuheben:<br />

- Polylexikalität: Phrasem, Phraseologismus, Satzlexem<br />

- Stabilität: feste Wortgruppe/Verbindung, festes Syntagma, fixiertes Wortgefüge,<br />

festgeprägter Satz<br />

- Idiomatizität: Idiom, idiomatische Wendung/Redewendung, idiomatische Phrase,<br />

idiomatische Lexemkette<br />

- ganzheitliche Semantik: Phraseolexem, Wortgruppenlexem, phraseologische Einheit.<br />

Inzwischen hat sich in der germanistischen Forschung der Terminus Phrasem durchgesetzt<br />

(analog zu Phonem, Morphem, Lexem), der als generischer Oberbegriff für den stark<br />

heterogenen Bestand phraseologischer Einheiten steht, die zum Forschungsgegenstand<br />

<strong>Phraseologie</strong> angehören. Der Ausdruck <strong>Phraseologie</strong> (<strong>Phraseologie</strong>) hat zwei<br />

Bedeutungen: er bezeichnet die Forschungsdisziplin (in Übereinstimmung mit Morphologie,<br />

Lexikologie u.a.) und benennt zugleich den Gegenstand dieser Disziplin.<br />

22


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Aus der frühen phraseologischen und volkskundlichen Forschung sind die Termini<br />

Redewendung, Redensart, sprichwörtliche Redensart bekannt. Obgleich sie nach wie vor in<br />

Gebrauch sind (Duden 2013), werden sie hier nicht verwendet.<br />

In Konkurrenz zu Phrasem bzw. <strong>Phraseologie</strong> stehen die Ausdrücke Idiom und Idiomatik. Das<br />

Wort Idiom (Idiom) ist zwar mehrdeutig; ursprünglich wurde es im Sinne von 'Dialekt,<br />

Mundart, Idiolekt' verwendet. Neuerdings kommt es auch in der <strong>Phraseologie</strong>forschung vor,<br />

jedoch ist er in der germanistischen deutschsprachigen Forschung viel seltener zu finden als<br />

im angelsächsischen Raum, wo er überwiegt (idiom).<br />

Nicht zuletzt ist im Rahmen der Terminologiedarlegung zu betonen, dass die vielen<br />

terminologischen Ausdrücke mit phras- nicht mit der pejorativen Bedeutung des Lexems<br />

Phrase als 'nichtssagende, inhaltsleere Redensart' zu vergleichen oder sogar gleichzusetzen<br />

sind.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Zu den hier besprochenen Grundfragen der phraseologischen Sprach- und<br />

Forschungsbereichs können sie in mehreren grundlegenden Referenzwerken nachlesen, vgl.<br />

u.a. Burger/Buhofer/Sialm (1982), Palm (1997), Fleischer (1997), Donalies (2009) Burger<br />

(2010). – Eine ausführliche und vertiefte Übersicht über das gesamte phraseologische<br />

Forschungsfeld ist Burger et al. (2007).<br />

23


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

2 Strukturen, Typen, Klassen<br />

INHALT UND ZIELE<br />

Dieser Kapitel setzt sich mit Prinzipien und Kriterien der Phrasem-Klassifikation auseinander.<br />

Dargelegt und mit zahlreichen Beispielen illustriert werden die wichtigsten Klassen und<br />

Sonderstrukturen, die man am Bestand der deutschen Phraseme beobachten kann.<br />

Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die wichtigsten Klassen der<br />

deutschen Phraseme kennen. Dadurch werden sie auch bisher unbekannte Phraseme in den<br />

deutschsprachigen Texten besser identifizieren und interpretieren können.<br />

In Kap. 1 wurde betont, dass Phraseme ein sehr vielfältiges, heterogenes Bild zeigen und so<br />

ist es auch nicht einfach, sie systematisch zu erfassen. Mehrere verschiedene Kriterien und<br />

Prinzipien sind aus der bisherigen <strong>Phraseologie</strong>forschung bekannt, auf deren Basis<br />

phraseologische Klassen und Teilklassen festgelegt worden sind. Für die Zwecke dieses<br />

Kompendiums wird nachfolgend der Klassifikationsvorschlag von Burger (2010, 33ff.) in<br />

seinen wesentlichen Zügen übernommen und durch morphologisch-syntaktische<br />

Klassifikationskriterien ergänzt. Die Letzteren werden in Burger (2010) lediglich am Rande<br />

angesprochen und mit Recht auch problematisiert. Es zeigt sich nämlich, dass der vielfältige<br />

Bestand der deutschen <strong>Phraseologie</strong> sich nur mit der Festlegung ihrer morphologisch<br />

bedingten syntaktischen Eigenschaften nicht befriedigend erschließen lässt. Für das hier<br />

verfolgte Ziel, eine Basisübersicht über die formale Strukturiertheit der deutschen<br />

<strong>Phraseologie</strong> zu geben, werden sie jedoch als brauchbar angesehen.<br />

Bei den bisherigen Klassifikationsversuchen werden syntaktische, semantische und<br />

pragmatische Klassifikationskriterien miteinander kombiniert, allerdings mit<br />

unterschiedlicher Gewichtung, sodass dementsprechend auch einzelne Klassen und<br />

Subklassen sich voneinander zum Teil unterscheiden. Man sieht, dass die phraseologische<br />

Ebene der Sprache im Vergleich mit der Wortbildung und Morphologie ein weniger<br />

ausgeprägtes System von Strukturtypen und Bildungselementen aufweist. Das führt<br />

24


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

stellenweise zu mehrfachen bzw. unterschiedlichen Klassen-Zuordnungen und<br />

Übergangsbereichen, da eine klare Abgrenzung einzelner Phrasemtypen zum Teil nicht<br />

möglich ist.<br />

2.1 Basisklassifikation nach Burger (2010)<br />

Betrachtet man Phraseme als sprachliche Zeichen, d.h. als formale, inhaltliche und<br />

funktionale Wortschatzeinheiten (Zeichen-Kriterium), so ergibt sich daraus eine erste<br />

klassifikatorische Unterscheidung:<br />

Referentielle Phraseme<br />

beziehen sich auf Objekte, Vorgänge, Sachverhalte, Begriffe der wirklichen und/oder der<br />

fiktiven Welt, vgl.<br />

grüne Minna, mit offenen Karten spielen, Mogenstund(e) hat Gold im Mund(e).<br />

Strukturelle Phraseme<br />

stellen grammatische Relationen her, vgl.<br />

in Bezug auf, sowohl als auch, entweder oder.<br />

Kommunikative Phraseme (pragmatische Phraseme, Routineformeln)<br />

helfen bei der Herstellung, dem Vollzug, der Beendigung kommunikativer Handlungen. Ihre<br />

Funktion ist zugleich ihre Bedeutung, sie gliedern den Text, steuern die Kommunikation u.Ä.,<br />

vgl.<br />

guten Morgen, ich denke, meiner Meinung nach, nicht wahr? hör mal, ich würde sagen,<br />

verflixt und zugenäht.<br />

25


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Referentielle Phraseme unterscheiden sich weiterhin in der allgemeinen Semantik<br />

(semantisches Kriterium). Sie sind entweder nominative Phraseme und bezeichnen Objekte<br />

bzw. Vorgänge (grüne Minna, mit offenen Karten spielen) oder propositionale Phraseme, die<br />

als satzwertige Aussagen über Objekte bzw. Vorgänge vorkommen (Mogenstund(e) hat Gold<br />

im Mund(e)).<br />

Beobachtet man die Klasse der nominativen Phraseme zusätzlich unter den syntaktischen<br />

Kriterien, so werden sie weiterhin zweigeteilt: sie sind entweder satzgliedwertig oder<br />

satzwertig/textwertig. Die Ersteren übernehmen im Satz die Funktion eines Satzgliedes oder<br />

Teilsatzgliedes, die Letzteren sind Sätze bzw. Texte.<br />

Unter Einbeziehung der semantischen Kriterien, die auf das Merkmal der Idiomatizität<br />

ausgerichtet sind, unterscheidet man zwischen voll-, teil- und nichtidiomatischen<br />

nominativen und propositionalen Phrasemen (vgl. hierzu Erläuterungen zum Merkmal der<br />

Idiomatizität in Kap. 1). Bei den nicht- bzw. schwachidiomatischen satzgliedwertigen<br />

Phrasemen handelt es sich in vielen Fällen um Kollokationen, phraseologische Fachtermini<br />

und onymische Wortverbindungen.<br />

2.2 Nominative Phraseme: morphologisch-syntaktische Klassifikation<br />

Die morphologisch-syntaktische Klassifikation ist eine weit verbreitete (obgleich auch<br />

kritisierte, vgl. Burger 2010) Art der Klassifikation, wonach Phraseme in Bezug auf ihre<br />

potentiellen syntaktischen Funktionen unterschieden und gruppiert werden. Entscheidend<br />

für die Gruppenzuordnung sind die jeweilige Kern-Komponente des Phrasems und<br />

entsprechende syntaktische Funktionen sowie morphologische Paradigmen (Deklination,<br />

Konjugation).<br />

26


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

In Bezug auf die Wortart der Komponenten, potentielle syntaktische Funktionen und<br />

morphologisches Paradigma unterscheidet man zwischen substantivischen, verbalen,<br />

adjektivischen und adverbialen Phrasemen. Nachfolgend werden einzelne Klassen kurz<br />

dargelegt und mit Beispielen veranschaulicht.<br />

2.2.1 Substantivische Phraseme<br />

Die substantivischen Phraseme kommen im Satz als Subjekt, Objekt oder substantivisches<br />

Attribut vor; man nennt sie auch Nominal- bzw. Substantivphraseme. Der semantischsyntaktische<br />

Kern ist immer ein Substantiv, welches mit verschiedenen Attributen die<br />

phraseologische Wortverbindung bildet. Folgende syntaktische Strukturen deutscher<br />

substantivischer Phraseme kann man beobachten:<br />

- vorangestelltes adjektivisches Attribut + Substantiv (ein sehr produktives Modell),<br />

vgl.<br />

grüne Minna 'Transportwagen der Polizei'; blauer Brief 1. 'Kündigungsschreiben', 2.<br />

'Mahnbrief'; verbotene Früchte 'verlockende, aber verbotene Genüsse'; ein frommer Wunsch<br />

'eine ehrenwerte, aber falsche Vorstellung, eine Illusion'; ein offenes Geheimnis 'etw., was<br />

zwar allgemein bekannt ist, offiziell aber noch geheim gehalten wird'; die letzte Stunde<br />

'Todesstunde'; der kleine Mann 1. 'Durchschnittsmensch', 2. 'Penis'; der große/dicke Onkel<br />

'der große Zeh'; eine Frucht der Liebe 'ein uneheliches Kind'<br />

- Substantiv + nachgestelltes adjektivisches Attribut (im heutigen Deutsch sehr selten,<br />

dazu grammatisch irregulär (unflektiertes Adjektiv), zum Teil veraltet), vgl.<br />

Forelle blau, Kaffee verkehrt, Röslein rot<br />

- Substantiv + Genitivattribut (nachgestellt), vgl.<br />

das Auge des Gesetzes 'die Polizei'; das Ei des Kolumbus 'eine überraschend einfache Lösung';<br />

der Stein des Anstoßes 'die Ursache eines Ärgernisses'; die Spitze des Eisberges 'der offen<br />

liegende, kleinere Teil einer misslichen, üblen Sache, die in Wirklichkeit weit größere Ausmaße<br />

hat'; der Duft der großen, weiten Welt 'das Flair der Weltoffenheit, Freiheit, Unabhängigkeit'<br />

- Substantiv + Genitivattribut (vorangestellt, sehr selten), vgl.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

des Pudels Kern 'die eigentliche verborgene Ursache'<br />

- Substantiv + präpositionales Attribut, vgl.<br />

Hans in Glück 'ein Glückspilz'; Halbgötter in Weiß 'Ärzte'; ein Fels in der Brandung 'jm., der<br />

unerschütterlich, unbeirrt ist'; eine Fahrt ins Blaue 'Ausflugsfahrt, bei der das Ziel nicht vorher<br />

festgelegt wurde'; das Tüpfelchen auf dem i 'die letzte, alles abrundende Kleinigkeit'<br />

- Substantiv + Substantiv, vgl.<br />

ein Häufchen Elend/Unglück 'ein sehr unglückliches, in trostlosem Zustand befindliches<br />

Wesen'; ein Funken Hoffnung 'ein/sehr wenig Hoffnung'.<br />

Einige substantivische Phraseme kennen alternative gleichbedeutende substantivische<br />

Komposita; so existieren parallele Benennungen mit der Struktur einer Wortgruppe bzw.<br />

eines komplexen Wortes, vgl.<br />

schwache Stelle / Schwachstelle; schwarzer Markt / Schwarzmarkt; frisches Gemüse /<br />

Frischgemüse; frische Luft / Frischluft,<br />

jedoch ist das eher selten der Fall. So kann man eine derartige durch die Wortbildung<br />

gegebene Möglichkeit bei folgenden Beispielen nicht beobachten, vgl.<br />

Sozialversicherung ≠ soziale Versicherung; Leichtathletik ≠ leichte Athletik; Blindpassagier ≠<br />

blinder Passagier.<br />

Substantivische Phraseme zeichnen sich durch unterschiedliche Grade der Idiomatizität aus:<br />

sie sind vollidiomatisch (der Stein des Anstoßes, das Auge des Gesetzes), teilidiomatisch (eine<br />

Fahrt ins Blaue) oder nichtidiomatisch. Unter den nicht- bzw. schwachidiomatischen<br />

substantivischen Phrasemen finden sich viele Fachtermini, vgl.<br />

spitzer Winkel, arithmetisches Mittel, semiotisches Dreieck, kritischer Rationalismus;<br />

helles/dunkles Bier, grüne Bohnen, rote Rübe etc.<br />

und ebenso onymische Phraseme, also Phraseme, die als Eigennamen fungieren, vgl.<br />

Schwarzes Meer, Bayrischer Wald, Pannonisches Becken.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Dazu kommen noch Kollokationen (belegtes Brötchen, gesammelte Werke, blaues Meer).<br />

2.2.2 Verbale Phraseme<br />

Die verbalen Phraseme kommen im Satz als Prädikat vor. Sie sind zahlenmäßig stark<br />

vertreten und in ihrer formalen Struktur vielfältig. Sie stellen den Kern des phraseologischen<br />

Bestandes aus; nach einigen Zählungen sollten etwa 75 % aller satzgliedwertiger deutscher<br />

Phraseme verbale Phraseme sein (Földes/Kühnert 1990, 16). Der syntaktische Kern ist immer<br />

ein Verb, welches durch Substantiv-/Adjektiv-/Adverbial-/Verbalgruppe erweitert werden<br />

kann. Folgende Strukturmodelle verbaler deutscher Phraseme sind bekannt:<br />

- Substantiv/Substantivgruppe + Verb<br />

die/seine Karten aufdecken 'seine wahren Absichten, Pläne erkennen lassen'; sein blaues<br />

Wunder erleben 'eine große, unangenehme Überraschung erleben'; reinen Tisch machen 'eine<br />

Angelegenheit bereinigen, in Ordnung bringen'; tauben Ohren predigen 'mit seinen<br />

Ermahnungen nichts erreichen'; eine lange Leitung haben 'schwer begreifen';<br />

den Boden unter den Füßen verlieren 'die Existenzgrundlage, den Halt verlieren'; die Katze im<br />

Sack kaufen ‘etw. ungeprüft übernehmen, kaufen'; den Nagel auf den Kopf treffen ‘den<br />

Kernpunkt einer Sache in einer Äußerung treffend erfassen'; ein Haar in der Suppe/in etw.<br />

finden 'an einer sonst guten Sache etwas entdecken, was einem nicht passt, was zu kritisieren<br />

ist';<br />

jm. die Leviten lesen 'jn. wegen eines tadelnswerten Verhaltens gehörig zurechtweisen';<br />

jmdm. einen Bären aufbinden 'jm. etwas Unwahres so erzählen, dass er es glaubt'; jn. unter<br />

die Arme greifen 'jn. in einer Notlage helfen'; etw. aus dem Ärmel schütteln 'etw. mit<br />

Leichtigkeit schaffen, besorgen';<br />

auf seine Kosten kommen ' in seinen Erwartungen zufriedengestellt werden'; von Pontius zu<br />

Pilatus gehen/laufen ‘in einer Angelegenheit viele Wege machen, von einer Stelle zur anderen<br />

gehen'; vom Regen in die Traufe kommen 'aus einer unangenehmen Lage in eine noch<br />

unangenehmere geraten'<br />

- Adjektiv/Adjektiv-/Adverbialgruppe + Verb<br />

langsam schalten ‘schwer begreifen’; zu kurz kommen 'zu wenig berücksichtigt werden,<br />

benachteiligt werden'; fest im Sattel sitzen 'eine sichere, ungefährdete Position inne haben'<br />

- Verb/Verbalgruppe + Verb<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

baden gehen 'keinen Erfolg mit etw. haben, mit etw. scheitern'; kein Wässerchen trüben<br />

können 'harmlos sein'; die Engel im Himmel singen hören 'von Schmerzen fast umkommen,<br />

starke Schmerzen empfinden'; etw. nicht wahrhaben wollen 'etw. nicht zugestehen, bemerken<br />

wollen'<br />

2.2.3 Adjektivische Phraseme<br />

Die adjektivischen Phraseme sind Phraseme, deren syntaktischer Kern immer ein Adjektiv ist.<br />

Im Deutschen sind sie relativ schwach vertreten; es überwiegen Strukturen mit dem Part. II<br />

bzw. komparative Phraseme und Paarformeln (die Letzteren werden unter Phraseologischen<br />

Sonderstrukturen (Abschnitt 2.3) gesondert besprochen), vgl.<br />

frisch/neu gebacken 'in einer Situation neu'; kurz angebunden 'unfreundlich und abweisend';<br />

schwer/langsam von Begriff 'schwer/langsam auffassen'; dünn/dick gesät 'selten/häufig<br />

vorkommend'; gut/schlecht/knapp bei Kasse 'reichlich/wenig Geld haben';<br />

hungrig wie ein Wolf 'sehr großen Hunger haben'; klar wie Kloßbrühe/dicke Tinte/dicke Suppe<br />

'sich von selbst verstehen, völlig klar sein';<br />

schlicht und einfach 'ganz einfach, ohne Umstände (gesagt)'; ganz und gar 'völlig'.<br />

Beobachtet man ihr Satzvorkommen, so stellt man schnell fest, dass sie in der Verwendung<br />

eingeschränkt sind. Sehr selten kommen sie in der syntaktischen Funktion eines Attributes<br />

vor, vgl.<br />

gut gepolstert 'wohlbeleibt, mit viel Geld': ich kenne eine gut gepolsterte Dame;<br />

viel öfter werden sie nämlich nur prädikativ bzw. adverbial verwendet, vgl.<br />

diese Dame ist gut gepolstert.<br />

Diese syntaktische Gebrauchsrestriktion erschwert die klassifikatorische Unterscheidung<br />

zwischen adjektivischen und adverbialen Phrasemen (was aber auch aus der Morphologie<br />

des Adjektivs bzw. Adverbs bekannt ist).<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

2.2.4 Adverbiale Phraseme<br />

Die adverbialen Phraseme sind Phraseme mit der syntaktischen Funktion eines Adverbs; im<br />

Satz treten sie somit als adverbiale Bestimmungen auf. Ihre formalen Strukturen sind<br />

vielfältig, es überwiegen präpositionale Konstruktionen, vgl.<br />

- Präposition + Substantiv<br />

auf Anhieb 'sofort, gleich zu Beginn'; auf Zeit 'befristet'; ohne/von Belang 'von großer/kleiner<br />

Bedeutung; zu Hause 'daheim'; im Handumdrehen 'überraschend schnell, schon im nächsten<br />

Augenblick'; in der Tat 'tatsächlich'; um ein Haar 'fast, beinahe';<br />

- Präposition + attributiv erweitertes Substantiv<br />

mit der linken Hand 'ohne Anstrengung, völlig mühelos'; unter freiem Himmel 'im Freien’; auf<br />

jeden Fall 'unbedingt, ob so oder so'; unter vier Augen '(in Bezug auf ein Gespräch) zu zweit,<br />

im Vertrauen, ohne Zeugen';<br />

- Präposition + Substantiv + Präposition<br />

von Hause aus 1. 'von der Familie her', 2. 'von Natur aus'; von klein auf 'von Kindheit an'; von<br />

Kopf bis Fuß 1. von oben bis unten', 2. 'völlig'<br />

- Präposition + Adverb/Adjektiv<br />

für gewöhnlich 'üblicherweise'; in bar 'in Form von Geldscheinen oder Münzen' ; im Voraus<br />

'schon vorher'.<br />

2.3 Besondere Strukturtypen nominativer Phraseme<br />

Im Folgen werden zwei Strukturtypen nominativer Phraseme dargelegt, die sich durch<br />

syntaktisch-strukturelle und semantisch-pragmatische Besonderheiten auszeichnen; es sind<br />

phraseologische Paarformeln, komparative Phraseme und phraseologische Teilsätze.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

2.3.1 Paarformeln<br />

Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften<br />

Paarformeln (auch Zwillingsformeln, phraseologische Wortpaare) haben eine<br />

charakteristische, leicht erkennbare musterhafte formale Struktur. Sie bestehen aus zwei<br />

(seltener aus drei oder vier) Komponenten, die entweder identische Lexeme oder Lexeme<br />

der gleichen Wortart sind. Miteinander verbunden werden diese in der Regel durch<br />

Konjunktionen (und, aber, oder) bzw. Präpositionen (weder – noch, von – zu, von – auf) oder<br />

durch deren Kombination (in der geschriebenen Sprache vereinzelt auch durch die<br />

orthographischen Zeichen – Kommata bzw. Bindestrich), vgl.<br />

frank und frei 'geradeheraus, offen'; Lug und Trug 'Betrug, Täuschung'; klein, aber fein 'klein,<br />

aber sehr gut'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; weder Fisch noch Fleisch<br />

'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein'; von Zeit zu Zeit<br />

'manchmal'; von heute auf morgen 'sehr schnell, innerhalb kurzer Zeit', 2. 'ganz überraschend,<br />

ohne dass man darauf vorbereitet ist'; auf Schritt und Tritt 1. 'überall', 2. 'ständig';<br />

wennschon, dennschon/wennschon – dennschon 'wenn etwas schon getan wird, dann soll es<br />

auch richtig, gründlich getan werden'.<br />

Darüber hinaus kennt das Deutsche auch einige Drillingsformeln bzw. Vierlingsformeln, d.h.<br />

phraseologische Strukturen mit drei bzw. vier wortartidentischen Komponenten, vgl.<br />

heimlich, still und leise 'völlig unbemerkt'; frisch, fromm, fröhlich, frei 'sorglos, unbekümmert'.<br />

Phraseologische Wortpaare, die im Deutschen vielfach belegt sind, findet man im<br />

substantivischen, verbalen, adjektivischen und adverbialen Bereich, vgl.<br />

- substantivische Wortpaare<br />

das Hab und Gut 'alles, was man besitzt'; js. Tun und Lassen/Treiben/Trachten 'alles, was jmd.<br />

tut'; das Für und Wider 'das, was dafür und das, was dagegen spricht'; Groß und Klein<br />

'jedermann, alle'<br />

- verbale Wortpaare<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

hegen und pflegen 1. 'mit liebevoller Fürsorge umgeben', 2. 'sich in besonderer Weise<br />

bemühen, etw. aufrechtzuerhalten'; es/etw. drehen und wenden 'etw. von jedem nur<br />

denkbaren Blickpunkt aus betrachten'; bitten und betteln 'inständig bitten'<br />

- adjektivische bzw. adverbiale Wortpaare<br />

null und nichtig '(rechtlich) ungültig'; kurz und bündig 'ohne Umschweife, mit wenigen<br />

treffenden Worten'; weit und breit 'in der ganzen Umgebung'; hin und wieder 'manchmal';<br />

schwarz auf weiß 'gedruckt, schriftlich'; mit Ach und Krach 'mit Mühe und Not, gerade noch,<br />

unter großen Schwierigkeiten'; mit Sack und Pack 'mit allem, was man besitzt'; bei Nacht und<br />

Nebel 'heimlich (bei Nacht)'; seit eh und je 'solange man denken kann, sich erinnern kann';<br />

weder Fisch noch Fleisch 'nicht zu bestimmen, nicht einzuordnen sein; nichts Eindeutiges sein';<br />

von Zeit zu Zeit 'manchmal'; früher oder später 'zwangsläufig irgendwann einmal'; mehr oder<br />

minder/weniger 'fast ohne Ausnahme'; von heute auf morgen 1. 'sehr schnell, innerhalb<br />

kurzer Zeit', 2. ganz überraschend, ohne dass man darauf vorbereitet ist'.<br />

Ebenso möglich ist, dass Wortpaare als Bestandteile anderer, etwa verbaler Phraseme<br />

vorkommen. In solchen Fällen ist eine klare morphologisch-syntaktische Festlegung wegen<br />

der nur fakultativen verbalen Komponente erschwert, weswegen mit zweifachen<br />

Zuordnungen zu rechnen ist, vgl.<br />

von Mund zu Mund gehen 'durch Weitererzählen verbreitet werden'; jm. etw. hoch und heilig<br />

versprechen/beteuern (o. Ä.) 'jm. etw. mit allem Nachdruck versprechen/beteuern (o. Ä.)';<br />

etw. unter Dach und Fach bringen 'etw. glücklich zum Abschluss bringen'; in Saus und Braus<br />

leben 'ein üppiges, verschwenderisches Leben führen'.<br />

Der Gebrauch von adjektivischen Wortpaaren ist syntaktisch beschränkt; sie werden meist<br />

nur adverbial bzw. prädikativ verwendet, vgl.<br />

Er ist fix und fertig vs. *Ich kenne diesen fix und fertigen Studenten nicht.<br />

Die Einschränkung gilt noch insbesondere für substantivische Wortpaare, die in der Regel<br />

nur als Präpositionalgruppen attributiv zum Verb verwendet werden, vgl.<br />

so auch<br />

Er hat auf Leben und Tod gekämpft 'bis zum Äußersten, bis zur Vernichtung';<br />

zwischen Tür und Angel 'eilig, nur flüchtig zusammentreffend'; mit Ach und Krach 'mit Mühe,<br />

gerade noch'; mit Haut und Haar(en) 'gänzlich, völlig' (ist/geschieht etw.); in Hülle und Fülle<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

'sehr viel, im Überfluss' (ist etw. vorhanden); unter Dach und Fach 'glücklich, erfolgreich<br />

abgeschlossen' (ist etw.).<br />

Semantisch-pragmatische Eigenschaften<br />

Die Paarformeln weisen einige typische semantisch-pragmatische Eigenschaften auf:<br />

- zwei (oder mehrere) Komponenten der gleichen Wortart sind zueinander oft (quasi)<br />

synonym oder semantisch eng verwandt; meist werden sie mit der gleichordnenden<br />

Konjunktion und verbunden, vgl.<br />

Lug und Trug, null und nichtig, mit Ach und Krach, seit eh und je<br />

- die Paar-Komponenten stehen gegebenenfalls aber auch in einem antonymen<br />

Verhältnis zueinander, vgl.<br />

Freund und Feind 'jedermann'; das Wohl und Wehe 'das Wohlergehen, Schicksal'<br />

- schließlich nimmt Donalies (2009, 70f.) Verbindungen von assoziativ ähnlichen<br />

Begriffen an, vgl.<br />

Tod und Teufel 'Fluch'; Land und Leute 'das Land, die Region und ihre Bewohner, ihre Sitten<br />

und Gebräuche'.<br />

Eine weitere Eigenschaft vieler Wortpaare sind rhythmische Reimstrukturen. Hierbei werden<br />

im Wesentlichen folgende unterschieden:<br />

- Wortpaare mit Stabreim (Gleichheit der Anfangslaute), vgl.<br />

mit Mann und Maus 1. 'ohne dass jemand gerettet wird', 2. 'mit allen verfügbaren Kräften';<br />

Geld und Gut 'alles, was man besitzt'; in Samt und Seide 'in auffallend kostbarer Kleidung'<br />

- Wortpaare mit Endreim (Gleichklang am Wortende), vgl.<br />

Lug und Trug ' Betrug, Täuschung'; außer Rand und Band 1. 'übermütig, ausgelassen', 2.<br />

'außer Kontrolle'<br />

- Wortpaare mit Stab- und Endreim zugleich, vgl.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Freund und Feind 'jedermann'<br />

- Wortpaare mit Assonanz (vokalischer Halbreim), vgl.<br />

kurz und gut 'zusammenfassend gesagt'.<br />

Auffällige Kombinationen von oft gereimten Komponenten der phraseologischen Wortpaare<br />

und Drillings- bzw. Vierlingsformeln lassen die Annahme der Expressivität und verstärkten<br />

Bildhaftigkeit zu, aufgrund deren wir solche Phraseme als stilistisch markiert empfinden. Vor<br />

allem eine intensivierende Funktion ist in vielen Fällen nachvollziehbar.<br />

2.3.2 Komparative Phraseme<br />

Komparative Phraseme (auch phraseologische Vergleiche) sind Phraseme, die, wie der<br />

Name sagt, einen Vergleich versprachlichen, vgl.<br />

lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; zittern wie Espenlaub '(vor Kälte, Angst) sehr<br />

zittern'; sich (wohl)fühlen wie ein Fisch im Wasser/wie die Made im Speck 'sich sehr<br />

wohlfühlen'; laufen wie geschmiert 'reibungslos funktionieren, sehr gut verlaufen'; es ist, um<br />

auf die Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.<br />

Gebildet werden sie nach einem sehr produktiven Muster, denn nicht nur in deutscher<br />

Sprache sind solche Phraseme zahlreich. Zugrunde liegt ein leicht nachvollziehbares logischsemantisches<br />

Konzept: es sind Ausdrücke, »bei /denen/ etwas mit etwas aus einem anderen<br />

(gegenständlichen) Bereich im Hinblick auf ein beiden Gemeinsames in Beziehung gesetzt<br />

und dadurch eindringlich veranschaulicht wird« (Földes 2007, 426).<br />

Komparative Phraseme gehören meist zur Klasse der teilidiomatischen verbalen Phraseme,<br />

man findet sie aber auch im adjektivischen, adverbialen und substantivischen Bereich.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Syntaktisch-strukturelle Eigenschaften<br />

Die typische syntaktische Struktur komparativer Phraseme besteht in der Regel aus drei<br />

Elementen: aus Vergleichsobjekt (das, was verglichen wird; comparandum), aus tertium<br />

comparationis (gemeinsames Merkmal des comparandum und comparatum) und aus<br />

Vergleichsmaß (comparatum). Als Verbindugselement kommt eine Vergleichspartikel vor<br />

(im Deutschen überwiegend wie, jedoch auch als, als ob). Die wichtigsten Strukturmodelle<br />

der deutschen komparativen Phraseme sind:<br />

- Verb/Adjektiv/Adverb + wie + (erweitertes) Substantiv<br />

(aussehen) wie eine gebadete Maus 'völlig durchnässt'; (dastehen) wie ein begossener Pudel<br />

'nach einer Zurechtweisung o. Ä. nichts mehr zu sagen wissen';<br />

frech/stolz wie Oskar 'sehr frech und unbekümmert, sehr stolz'; alt wie Methusalem 'sehr alt';<br />

dumm wie Bohnenstroh/wie die Nacht 'sehr dumm'; gesund wie ein Fisch im Wasser 'völlig<br />

gesund'<br />

- Verb + wie + (erweitertes) Partizip<br />

lügen wie gedruckt 'hemmungslos lügen'; aussehen wie geleckt 1. 'sehr sauber aussehen' , 2.<br />

'sehr sorgfältig gekleidet sein'; antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne<br />

Zögern antworten'; aufspringen wie von der Tarantel gestochen 'plötzlich und überaus heftig<br />

aufspringen'<br />

- Verb/Adjektiv/Adverb + wie + Satz<br />

reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist 'freiheraus, ungeniert reden'<br />

- Substantiv + wie + Vergleich<br />

ein Mensch wie du und ich 'ein ganz normaler, durchschnittlicher Mensch'; Zustände wie im<br />

alten Rom 'unmögliche, unhaltbare Zustände'<br />

- Verb/Adjektiv/Adverb + verschiedene Strukturen<br />

dümmer (sein), als die Polizei erlaubt 'sehr dumm (sein)'; so still (sein), dass man eine<br />

Stecknadel (zu Boden/zu Erde) fallen hören kann/könnte 'absolut still (sein)'; es ist, um auf die<br />

Bäume zu klettern 'es ist nicht mehr auszuhalten, es ist zu verzweifeln'.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Im verbalen Bereich ist im Deutschen eine variable Reihenfolge im Prinzip möglich, vgl.<br />

dastehen wie ein begossener Pudel bzw. wie ein begossener Pudel dastehen,<br />

im Sprachgebrauch überwiegt jedoch die Nachstellung des Vergleichsobjektes, also<br />

dastehen wie ein begossener Pudel.<br />

Die meist gebrauchten Verben bei deutschen komparativen Phrasemen sind (aus)sehen,<br />

(da)sitzen, (da)stehen, schlafen, gehen, reden – man sieht, dass sie alle sich auf<br />

grundlegende menschliche Aktivitäten beziehen; samt dem kognitiv immanenten Bedürfnis<br />

des Menschen, die Welt um sich herum durch Vergleich zu ordnen und systematisieren mag<br />

das ein wesentlicher Grund für die Vielzahl und Vielfältigkeit solcher Phraseme in vielen<br />

Sprachen sein (vgl. Földes 2007, 426f.).<br />

Semantisch-pragmatische Eigenschaften<br />

Die wichtigste semantisch-pragmatische Eigenschaft und somit Funktion komparativer<br />

Phraseme besteht darin, etwas (eine Handlung, einen Zustand, körperliche und psychische<br />

Eigenschaften u. Ä.) mit Hilfe eines Vergleichsmaßstabes darzustellen, vgl.<br />

singen wie eine Nachtigall 'sehr schön, meisterhaft singen' (Handlung)<br />

frieren wie ein junger Hund 'sehr frieren' (Zustand)<br />

aussehen wie aus dem Ei gepellt 'sehr sorgfältig gekleidet sein' (körperliche Eigenschaft)<br />

sich wie neugeboren fühlen 'sich prächtig erholt fühlen' (psychische Eigenschaft).<br />

Der Vergleich erfolgt in der Regel anhand konventionaler Vorstellungen über die typischen<br />

Eigenschaften von Tieren, Pflanzen, Gegenständen, Umständen u. Ä. Die vergleichende<br />

Darstellung kann intensivierende, expressive, spezifizierende, differenzierende Züge tragen,<br />

vgl.<br />

(stark u.Ä.) wie ein Bär 'in auffallend hohem Maß, sehr' (intensivierend)<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

dümmer als die Polizei erlaubt 'sehr dumm' (intensivierend-expressiv)<br />

antworten wie aus der Pistole geschossen 'prompt, ohne Zögern' (spezifizierenddifferenzierend);<br />

sie kann aber auch kulturspezifisch markiert sein. So kommt es vor, dass zwischen einem<br />

Vergleichsobjekt und einem Vergleichsmaß unterschiedliche Gemeinsamkeiten (tertia<br />

comparationis) festgelegt werden, vgl. Phraseme mit der Vergleichsgröße Fisch (zit. nach<br />

Burger 2010, 47):<br />

stumm wie ein Fisch, kalt wie ein Fisch, sich wohlfühlen wie ein Fisch im Wasser.<br />

Bei komparativen Phrasemen beobachten wir oft eine starke Variabilität der<br />

Vergleichsgrößen, was kulturell bedingt sein kann, vgl.<br />

von etw. so viel verstehen wie der Hahn vom Eierlegen/wie die Kuh vom Radfahren/wie die<br />

Kuh vom Sonntag/wie die Kuh vom Schachspielen 'gar nichts von etw. verstehen'.<br />

Vereinzelt sind komparative Phraseme auch polysem, meist in einer antonymen Hinsicht,<br />

vgl.<br />

passen wie die Faust aufs Auge 1. 'überhaupt nicht passen', 2. 'sehr gut, ganz genau passen'.<br />

Die gegensätzlichen Bedeutungen können zweierlei interpretiert werden: entweder hat man<br />

es »mit der ambivalenten Natur der menschlichen Psyche und der Denkweise zu tun, /…/ ein<br />

und dasselbe Verhalten /.../ sowohl positiv als auch negativ zu deuten« oder es geht um<br />

sprachgeschichtliche Gründe, wonach Folgendes gilt: »wenn eine der Bedeutungen später<br />

hinzugekommen ist, kann sich durch häufigen ironischen Gebrauch der ersten,<br />

ursprünglichen Bedeutung, die neue, gegenteilige herausbilden«(Földes 2007, 428).<br />

2.3.3 Phraseologische Teilsätze<br />

Phraseologische Teilsätze (phraseologischer Teilsatz) sind Phraseme mit<br />

Nebensatzstruktur, die durch ein bestimmtes Verb (welches die obligatorische<br />

Phrasemkomponente ist) in komplexere Satzstrukturen eingeordnet werden, vgl.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

wissen, wo Barthel den Most holt 'alle Kniffe kennen'<br />

wissen/sagen (o.Ä.), wo jm./jn. der Schuh drückt 'js. Sorgen, Nöte kennen'<br />

nicht (mehr) wissen, wo einem der Kopf steht 'durch Arbeit, Sorgen o.Ä. überlastet sein'<br />

wissen/sehen/fragen/jm. zeigen (o.Ä.), wie der Hase läuft 'wissen, jm. zeigen, wie etw.<br />

gemacht wird, damit es die gewünschte Wirkung, den gewünschten Erfolg erzielt'.<br />

Diese relativ kleine Gruppe der phraseologischen Sonderstrukturen weist einen hohen Grad<br />

der grammatischen Variabilität auf; der Nebensatz wechselt leicht seinen grammatischen<br />

Status, vgl. die Aussage<br />

So also läuft der Hase!,<br />

die durchaus denkbar ist.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Zu den hier besprochenen Fragen zur Klassifikation der vielfältigen phraseologischen<br />

Konstruktionen finden sie weitere Informationen in den grundlegenden Referenzwerken zur<br />

<strong>Phraseologie</strong>, u.a. Palm (1997), Földes (2007), Donalies (2009) und Burger (2010).<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3 Sprichwörter<br />

INHALT UND ZIELE<br />

Das Thema dieses Kapitels sind Sprichwörter. Es wird dargelegt, was Sprichwörter sind und<br />

welche typischen Eigenschaften sie haben. Dieser Teil des Kompendiums ist nicht gänzlich<br />

auf einzelne Sprachen, hier auf die deutsche Sprache, ausgerichtet, obgleich mit zahlreichen<br />

deutschsprachigen Beispielen belegt; manche Erläuterungen gelten nämlich für Sprichwörter<br />

allgemein und so z.B. auch für slowenische Sprichwörter.<br />

Nach einer aufmerksamen Lektüre dieses Kapitels werden sie wissen, was Sprichwörter sind,<br />

welche typischen Eigenschaften sie haben, wie sie sich von andersartigen aber ähnlichen<br />

satzwertigen Phrasemen unterscheiden und wie sie typischerweise im gegenwärtigen<br />

Sprachgebrauch vorkommen.<br />

3.1 Begriff und Hauptmerkmale<br />

In Abschnitt 2.1 haben wir gesehen, dass Sprichwörter zur Klasse der propositionalen<br />

nominativen Phraseme gezählt werden; sie sind satzwertige Aussagen über Objekte,<br />

Vorgänge, Begriffe u. Ä. Aus kulturhistorischer Sicht werden sie folgendermaßen definiert:<br />

»Sprichwörter sind allgemein bekannte, festgeprägte Sätze, die eine Lebensregel oder<br />

Weisheit in prägnanter, kurzer Form ausdrücken« (Röhrich/Mieder 1977).<br />

Sprichwörter vermitteln also historisch- und erfahrungsbedingte »Weisheiten«; sie sind im<br />

Allgemeinen lehrhafte bzw. generalisierende Aussagen über traditionelle und<br />

gesellschaftlich anerkannte Ansichten, Meinungen, Urteile, Vorurteile, Regeln, Warnungen,<br />

Ratschläge, Verbote u. Ä.<br />

Der Name Sprichwort (Sprichwort) ist im deutschsprachigen Raum in der Bedeutung<br />

'vielgesprochenes Wort' seit dem 13. Jh. geläufig. Vor allem in der Volkskunde (Ethnologie)<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

sind Sprichwörter seit langem ein beliebtes Forschungsthema; in der letzten Zeit werden sie<br />

aber auch aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive intensiv untersucht Die<br />

Sprachwissenschaft zählt Sprichwörter zum phraseologischen Bestand einer Sprache und<br />

somit zur <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn (vgl. hierzu den Abschnitt 1.1). Die<br />

Sprachwissenschaft untersucht formalstrukturelle, semantische und pragmatische<br />

Eigenschaften von Sprichwörtern, geklärt werden Fragen zu ihrer lexikographischen<br />

Erfassung (Phraseographie) und ebenso Fragen zu ihrer Vermittlung in Prozessen des<br />

Sprachenlernens und -lehrens (Phraseodidaktik).<br />

So soll die Feststellung nicht überrraschen, dass eine einheitliche Definition dessen, was<br />

Sprichwörter sind, nicht vorliegt (und auch nicht vorliegen kann). Die jeweilige Definition ist<br />

nämlich immer von Forschungsansätzen abhängig; diese gehen von verschiedenartigen (und<br />

nicht immer gleichen) Sprichwortmerkmalen aus und je nach der Forschungsperspektive<br />

variiert auch die jeweilige Definition. Das obige Zitat von Röhrich/Mieder stellt somit eine<br />

kulturhistorische Sprichwortdefinition dar, während die Sprachwissenschft Sprichwörter als<br />

satzwertige, idiomatische und sprechaktunspezifische Mehrworteinheiten versteht (Ďurčo<br />

2005, 32). Donalies (2009) benennt sie mit dem Ausdruck Satzphrasem, Burger (2010)<br />

dagegen auch mit dem Ausdruck propositionale Mehrworteinheit. Im Folgenden werden die<br />

Hauptmerkmale der Sprichwörter in ihren Wesenszügen erläutert.<br />

3.2 Hauptmerkmale<br />

Im allgemeinen Verständnis weist ein Sprichwort folgende linguistischen Hauptmerkmale<br />

auf:<br />

- Polylexikalität und Satzwertigkeit<br />

- Stabilität<br />

- Idiomatizität.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Dazu kommen die Unbekanntheit der Quelle und die allgemeine Bekanntheit innnerhalb<br />

einer Sprachgemeinschaft. So kann man für das Sprichwort Die Zeit heilt alle Wunden<br />

('irgendwann vergeht jeder Schmerz, ist jede Enttäuschung überwunden') sagen, dass es sich<br />

um einen festgeprägten, kurzen und prägnanten Satz unbekannter Herkunft handelt, der auf<br />

eine bildhaft-metaphorische Art eine verallgemeinerte »Weisheit« vermittelt und unter den<br />

muttersprachlichen Sprechern des Deutschen als allgemein bekannt gehalten werden kann.<br />

Wir kennen jedoch auch andersartige festgeprägte Satzkonstruktionen, die dem Sprichwort<br />

zwar ähnlich, mit ihm aber nicht einfach gleichzusetzen sind, weil sie teilweise verschiedene<br />

Charakteristika aufweisen. Diese sprichwortähnlichen Konstruktionen sind unter Anderem<br />

Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Von den Sprichwörtern<br />

unterscheiden sie sich hauptsächlich durch die Bekanntheit der Quelle. Wenn diese aber<br />

durch die Häufigkeit des Vorkommens verblasst und bei den Sprechern sogar nicht mehr<br />

bekannt ist, so treten sie leicht zu den Sprichwörtern über. Die wesentlichen Eigenschaften<br />

von Sentenzen, geflügelten Worten, Aphorismen, Maximen und Epigrammen werden in<br />

Abschnitt 3.8 kurz skizziert.<br />

Legen wir nun die Hauptmerkmale eines Sprichwortes unter Perspektive der linguistischen<br />

<strong>Phraseologie</strong>forschung fest.<br />

3.2.1 Polylexikalität und Satzwertigkeit<br />

Das Merkmal der Polylexikalität und Satzwertigkeit meint, dass Sprichwörter aus mehreren<br />

Wörtern (Lexemen) bestehende satzwertige Konstruktionen sind. Sie sind satzwertige<br />

Mehrworteinheiten des Lexikons einer Sprache, sie gelten als in sich geschlossene Sätze, die<br />

»durch kein lexikalisches Element an den Kontext angeschlossen werden müssen« (Burger<br />

2010, 106). Man meint dazu auch, dass sie als selbständige Mikrotexte aufgefasst werden<br />

können. Das heißt, dass sie im Gedächtnis als syntaktische und semantische Einheiten<br />

gespeichert werden, bei Bedarf (beim Sprechen und/oder Schreiben) ganzheitlich abgerufen<br />

werden und dazu auch außerhalb eines konkreten Textes/Kontextes verstanden werden<br />

können. (Näheres zur Form der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 1.1.3).<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3.2.2 Stabilität<br />

Das Merkmal der Stabilität (Festigkeit) bezieht sich grundsätzlich auf die angenommen feste,<br />

unveränderbare Form und Bedeutung eines Sprichworts. Mit dieser Eigenschaft eng<br />

verbunden ist die sprichworteigene Modellhaftigkeit. Die linguistisch ausgerichtete<br />

(germanistische) Parömiologie konnte nämlich feststellen, dass Sprichwörter weitgehend<br />

nach syntaktischen Mustern und inhaltlichen Benennungsmodellen gebildet werden, was die<br />

Stabilität entschärft und zu Varianten und Modifikationen führt. (Näheres zur<br />

Modellhaftigkeit und Variabilität der deutschen Sprichwörter finden sie in Abschnitt 3.3).<br />

3.2.3 Idiomatizität<br />

Sprichwörter sind idiomatische satzwertige Mehrworteinheiten. Das Merkmal der<br />

Idiomatizität betrifft »den Grad der (Nicht-)-Ableitbarkeit der idiomatischen Bedeutung aus<br />

der Bedeutung einzelner Bestandteile« (Ďurčo 2005, 17). (Näheres zur Idiomatizität als<br />

Grundmerkmal der <strong>Phraseologie</strong> finden sie in Abschnitt 1.1.3).<br />

Die Bedeutung des Sprichworts lässt sich also nicht von der Bedeutung einzelner<br />

Bestandteile ableiten bzw. einzelne oder sogar alle Sprichwort-Komponenten verletzen die<br />

übliche und erwartbare Wortkombinatorik. Die Idiomatizität ist eine graduell ausgeprägte<br />

Eigenschaft, aufgrund deren wir über voll- bzw. teilidiomatische Sprichwörter reden können,<br />

vgl.<br />

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm (vollidiomatisch)<br />

Ende gut, alles gut (teilidiomatisch).<br />

Sprichwörter werden somit als generalisierende Satzmetaphern verstanden. Wendet man<br />

sie auf konkrete Situationen, so dienen sie dazu, diese zu erleuchten, zu erklären, zu<br />

illustrieren, zu argumentieren, zu rechtfertigen u. Ä. Man spricht hierbei über folgende<br />

Sprichwort-Charakteristika:<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

- Polysituativität (ein und dasselbe Sprichwort ist in Bezug auf verschiedene<br />

Situationen anwendbar)<br />

- Polyfunktionalität (ein und dasselbe Sprichwort kann mehrere verschiedene<br />

Funktionen ausüben)<br />

- Polysemantizität (ein und dasselbe Sprichwort weist eine Art semantische<br />

Unbestimmtheit auf)<br />

- Polythematizität (ein und dasselbe Sprichwort kann auf sehr verschiedene Umstände<br />

bezogen werden).<br />

3.3 Formen<br />

Wie oben gesagt, gehören Sprichwörter zur Gruppe der satzwertigen Phraseme. Der<br />

syntaktischen Form nach sind (deutsche) Sprichwörter:<br />

- syntaktisch vollständige Sätze, Satzreihen bzw. Satzgefüge; sie enhalten ein finites<br />

Verb und valenzbedingte Ergänzungen, sie sind einfache Sätze bzw. koordinative/<br />

subordinative Satzverbindungen, vgl.<br />

Aller Anfang ist schwer (einfacher Satz)<br />

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold (Satzreihe)<br />

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte (Satzgefüge)<br />

- syntaktisch unvollständige Sätze (elliptische Sätze bzw. Satzverbindungen); sie<br />

enthalten kein finites Verb, vgl.<br />

Aus dem Augen, aus dem Sinn<br />

Wie du mir, so ich dir<br />

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Den überwiegenden Teil des deutschen Sprichwortbestandes machen Sprichwörter mit der<br />

einfachen Aussagesatzstruktur aus. Sprichwörter in Form von Fragesätzen bzw.<br />

Ausrufesätzen mit imperativischer Verform sind eher selten, vgl.<br />

Eile mit Weile<br />

Lege nicht alle Eier in einen Korb<br />

Woher nehmen und nicht stehlen?<br />

Häufig sind Satzstrukturen mit Modalverben (sollen, dürfen, müssen), diese kommen oft in<br />

Kombination mit dem Indefinitpronomen man vor, vgl.<br />

Man lernt nie aus<br />

Man soll den Tag nicht vor dem Tag loben<br />

Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist.<br />

Sprichwörter sind hinsichtlich ihrer idiomatischen Inhalte generalisierende, eine Art<br />

generische Sätze. Diese semantische Eigenschaft ist auch grammatisch erkennbar, unter<br />

Anderem an dem so genannten gnomischen Präsens (Lüger 1999), welches zum Ausdruck<br />

des Allgemeingültigen und des Stereotypen verwendet wird. So ist das Sprichwort Hunde,<br />

die bellen, beißen nicht interpretierbar als 'alle Hunde, die bellen, beißen nicht'.<br />

In den Texten werden Sprichwörter nicht selten durch deutlich erkennbare Stilfiguren<br />

markiert. So kennen wir<br />

- Sprichwörter mit Binnenreim, vgl.<br />

Eile mit Weile; Borgen macht Sorgen<br />

- Sprichwörter mit Endreim, vgl.<br />

Ohne Fleiß kein Preis; Mit Geduld und Spucke fängt man jede Mucke<br />

- Sprichwörter mit Stabreim (Alliteration), vgl.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Gleich und gleich gesellt sich gern<br />

- Parallelismus, vgl.<br />

Kommt Zeit, kommt Rat; Aussen hui, innen pfui.<br />

Eine weitere bedeutende Eigenschaft der Sprichwötrer ist ihre Modellhaftigkeit. Sie folgen<br />

nämlich weitgehend syntaktischen Modellstrukturen und inhaltlichen Benennungsmodellen.<br />

So konnten für das Deutsche mehrere strukturelle und inhaltliche Modelle ermittelt werden<br />

(Röhrich/Mieder 1977, 61f.). Sie reichen von den einfachen bis zu den komplexen<br />

Satzkonstruktionen, auf deren Grundlage Reihen von formal vergleichbaren sprichwörtlichen<br />

Strukturen gebildet werden, vgl.<br />

- A ist A<br />

Geschäft ist Geschäft; Sicher ist sicher<br />

- A ist B<br />

Zeit ist Geld; Träume sind Schäume<br />

- ohne A kein B<br />

Ohne Fleiß kein Preis; Kein Haus ohne Maus<br />

- lieber/besser A als B<br />

Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach; Besser spät als nie<br />

- wie A so B<br />

Wie der Vater, so der Sohn<br />

- wie man A, so man B<br />

Wie man sich bettet, so liegt man; Wie man plant, so fährt man) usw.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Auch inhaltlich ist bei vielen Sprichwörtern Modell- bzw. Musterhaftigkeit erkennbar. Es geht<br />

um abstrakte Benennungsmodelle, um die so genannten All-Sätze, auf denen konkrete<br />

Sprichwörter basieren, vgl.<br />

- man soll eine Sache tun, solange es nicht zu spät dazu ist<br />

Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist; Forme aus dem Lehm, solange es feucht<br />

ist<br />

- wie die Aktion, so die Reaktion<br />

Wie man sich bettet, so liegt man<br />

- wie der Erzeuger, so das Erzeugte<br />

Wie der Vater, so der Sohn usw.<br />

Das Merkmal der musterhaften Modellhaftigkeit drängt nahezu zur Bildung von Varianten<br />

und Modifikationen. Die Variabilität (Variabilität) ist somit eine weitere bedeutende<br />

Eigenschaft von Sprichwörtern; variable Sprichwortformen sind Sprichwortvarianten<br />

(Variante). Man unterschidet dabei zwischen quantitativer und quantitativer Variabilität.<br />

Quantitative Varianten sind etwa gekürzte bzw. erweiterte Sprichwortstrukturen; die<br />

Variabilität besteht also im Umfang der Sprichwortkomponenten, vgl.<br />

Alles hat ein Ende/Alles hat einmal ein Ende vs. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.<br />

Qualitative Varianten sind dagegen grammatisch bzw. lexikalisch bedingte Änderungen der<br />

sprichwörtlichen Ausgangsform. So sind einzelne Sprichwortkomponenten austauschbar, vgl.<br />

Stille Wasser sind tief/ Stille Wasser gründen tief<br />

oder einzelne Sprichwortkomponenten variieren in morphologischer Hinsicht, vgl.<br />

Ausnahmen bestätigen die Regel/Die Ausnahme bestätigt die Regel.<br />

47


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Bei manchen Sprichwörtern beobachtet man zum Teil offene Modellstrukturen, die als<br />

Muster gelten und dem Kontext entsprechend gefüllt werden können. So lässt die usuelle,<br />

„kanonische“ Sprichwortform Das Geld regiert die Welt zwei zum Teil offene<br />

Modellstrukturen zu: X regiert die Welt und Das Geld regiert X. Vgl. die Verwendung im<br />

Text:<br />

König Fußball regiert die Welt, und Deutschland erlebt wieder ein Sommermärchen. Die<br />

Euphorie, die die Nation vor allem nach dem Einzug der deutschen Nationalmannschaft ins<br />

Halbfinale ergriffen hat, ist bis in den Deutschen Bundestag spürbar. (SprichWort 2010)<br />

Das Setting selbst ist natürlich nicht partikular deutsch, sondern universal. Das Geld regiert<br />

die Politik - das gab und gibt es überall und immer. (SprichWort 2010)<br />

Gelegentliche bzw. einmalige Sprichwortvarianten werden<br />

Sprichwortmodifikationen<br />

genannt (Modifikation). Es handelt sich um gelegentliche, einmalige, innovative<br />

Abwandlungen bestehender Sprichwörter, die in einem konkreten Text besondere<br />

stilistische Wirkungen haben und in den meisten Fällen einem spielerisch-kreativen Umgang<br />

mit der Sprache dienen, vgl.<br />

Stetter Tropfen höhlt die Leber; Reden ist Schweigen, Silber ist Gold; Viele Köche verderben<br />

die Köchin; Erst die Freizeit, dann das Vergnügen.<br />

Die stilistisch-pragmatische Wirkung kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn das<br />

grundlegende Sprichwort vom Leser bzw. Hörer erkannt wird, also<br />

Stetter Tropfen höhlt den Stein; Reden ist Silber, Schweigen ist Gold; Viele Köche verderben<br />

den Brei; Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.<br />

Die sprichworteigene Variabilität wird darüber hinaus durch ihr grammatisch bedingtes<br />

syntaktisches Umwandlungspotential beeinflusst. Das bedeutet, dass Sprichwörter noch<br />

längst nicht nur als völlig feste, unveränderbare satzwertige Zitate in den Texten<br />

vorkommen; sie verfügen nämlich über die Fähigkeit, sich syntaktisch-syntagmatisch an die<br />

jeweilige texutuelle Umgebung anzupassen und kommen somit grammatisch entsprechend<br />

eingebettet vor.<br />

48


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Die syntaktische Umwandlungsfähigkeit (Transformation) ist vielfältig; verstärkt zeigt sie sich<br />

als Konversionsfähigkeit (Übergänge zu nichtsatzwertigen Phrasemen und umgekehrt), vgl.<br />

Die Niederlage in Salzburg? Abgehakt! Aber nicht vergessen. Das Hagebau Team Tirol<br />

träumte vor dem heutigen dritten Kampf gegen Salzburg von süßer Rache. (SprichWort 2010)<br />

oder als syntaktisch-syntagmatische Transformation, etwa als Passiv- od.<br />

Imperativumwandlung bzw. häufige Verwendung mit Modalverb oder als Relativsatz, vgl.<br />

Nach 22 Jahren Vorstandsarbeit, davon 16 Jahre im Amt des Vorsitzenden, hat Wolfgang<br />

Müller nicht mehr für den Posten des Vorsitzenden der Bibliser Feuerwehr kandidiert. "Es hat<br />

sich in den letzten Jahren gezeigt, dass man nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen<br />

kann", [...] Die Belastung seines Amtes als Kreisbrandinspektor stelle erhöhte Anforderungen<br />

an ihn, sodass er sich außerstande sehe, so für den Verein zu arbeiten, "wie ich es eigentlich<br />

möchte." (SprichWort 2010)<br />

Die Möglichkeit des variablen Umgangs mit den Sprichwortformen wird bei den Sprechern<br />

oft wahrgenommen; insbesondere gilt das für textuelle Kontexte bzw. Textsorten, in denen<br />

das Variabilitätspotential zu den jeweils aktuellen textuellen Funktionen und<br />

Sprecherintentionen gewinnbringend beiträgt, unter Anderem in Werbungstexten,<br />

Schlagzeilen und Titeln. Dies mag daran liegen, dass Sprichwörter zu indirekten, verhüllten<br />

Aussagen tendieren (Röhrich/Mieder, 1977), was den Spielraum für einen kreativspielerischen<br />

Umgang öffnet, vgl.<br />

»Ein Zwilling kommt selten allein«. Die romantische Familienkomödie mit Witz und Tempo!<br />

Eine Neuverfilmung von Erich Kästners Kinderbuchklassiker »Das doppelte Lottchen«.<br />

(SprichWort 2010)<br />

3.4 Funktionen<br />

Wie wir oben gesehen haben, besteht eine wesentliche Funktion von Sprichwörtern darin,<br />

dass sie verschiedene Inhalte generalisierend darstellen können. An ihrem textuellen<br />

Gebrauch kann man jedoch auch weitere Funktionen beobachten. Sie haben eine soziale<br />

Funktion (Benennung nach Grzybek) indem sie »als Formulierungen von Überzeugungen,<br />

Werten und Normen gelten, die in einer bestimmten Kultur und Zeit soziale Geltung<br />

49


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

beanspruchen« (Burger 2010, 107). Zugleich werden sie in konkreten kommunikativen<br />

Situationen als Ausdruck von Sprachhandlungen wie Warnung, Überredung, Argument,<br />

Bestätigung, Trost, Mahnung, Rechtfertigung, Beruhigung, Zusammenfassung verwendet<br />

(Röhrich/Mieder 1977). In solchen Fällen sprechen wir über kontextuelle (pragmatische)<br />

Funktionen von Sprichwörtern. Beide Funktionsarten sollen wir in einem wechselseiten<br />

Verhältnis verstehen, denn »dass ein Sprichwort z.B. als Stütze in einer Argumentation<br />

verwendet werden kann (= kontextuelle Funktion), ist nur möglich, wenn es vom Sprecher<br />

und vom Hörer als Formulierung einer generellen Regel (= soziale Funktion) aufgefasst wird«<br />

(Burger 2010, 108).<br />

Nachfolgende Beispiele sollen die pragmatischen Sprichwort-Funktionen im Text illustrieren.<br />

Sprichwort als Ausdruck von sozialen Werten und Normen, vgl.<br />

Ich bin schon lange alleinerziehend und frage mich, ob ich vielleicht in manchen Dingen zu<br />

streng war. Erst die Arbeit und dann das Vergnügen, so bin ich erzogen worden. (SprichWort<br />

2010)<br />

Lügen haben kurze Beine... so haben es die meisten schon in der Kindheit gelernt. Es lohnt<br />

sich nicht zu lügen, mit Lügen schadet man sich und andern. (SprichWort 2010)<br />

Sprichwort als Ausdruck von Sprachhandlungen, vgl.<br />

Warnung, Rat<br />

"Sie sollten nicht mit zu viel Ehrgeiz an die Sache herangehen", riet Jung den etwa 100<br />

Zuhörern zu Beginn. Eile mit Weile sei vielmehr das Motto. Bevor der Anfänger oder<br />

Wiedereinsteiger überhaupt mit dem Sport beginne, sei erst einmal ein Gesundheitscheck<br />

fällig. (SprichWort 2010)<br />

Argument<br />

50


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Beruhigung<br />

Grundsätzlich gilt das Rauchverbot in allen Gastronomiebetrieben und öffentlichen Räumen,<br />

aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel: In niedersächsischen Spielhallen zum<br />

Beispiel darf geraucht werden. (SprichWort 2010)<br />

Gestern, zurück in Berlin, schwieg Stoiber dann lieber zum Richtlinien-Thema. Was Merkels<br />

Helfer in ihrer Theorie bestätigt, mit der sie sich beruhigen: Hunde, die bellen, beißen nicht.<br />

Die Angriffe aus München werden in Berlin mit einem „psychologischen Problem” erklärt.<br />

(SprichWort 2010)<br />

Sprichwort als Mittel zur Textorganisation, vgl.<br />

durch die Sprichwortposition gegebene themeneinleitende Funktion (oft auch<br />

orthographisch markiert durch den Doppelpunkt)<br />

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: So hielten es jüngst die Mitglieder des [...] Ortsvereins<br />

Remagen. Sie schlossen an ihre Jahreshauptversammlung [...] einen gemütlichen Nachmittag<br />

mit musikalischer Begleitung an. (SprichWort 2010)<br />

durch die Sprichwortposition gegebene themenabschließende bzw. –zusammenfasende<br />

Funktion (oft auch orthographisch markiert durch den Doppelpunkt)<br />

[...] dem Klub droht der Zerfall. Die Spieler haben sich aufgegeben, obwohl noch neun Spiele<br />

zu absolvieren sind. Bonhof will sich damit nicht abfinden und forderte sie auf, Zeichen zu<br />

setzen. [...] Goalie Robert Enke und Stürmer Markus Feldhoff haben schon ihren Abschied<br />

verkündet, die Fans dankten es ihnen mit dem Spruchband: "Die Ratten verlassen das<br />

sinkende Schiff "(SprichWort 2010)<br />

3.5 Inhalt und Herkunft<br />

Man kann aus guten Gründen annehmen, dass Sprichwörter aufgrund der menschlichen<br />

Bedürfnisse, das Leben im Einklang mit der Natur und in Kooperation mit den Mitmenschen<br />

zu gestalten, entstanden sind. Die praktischen Lebenserfahrungen und allgemeine<br />

Erkenntnisse wurden in Form von kurzen und prägnanten Äußerungen, als so genannte<br />

51


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Lebensweisheiten und Lebensregeln zunächst mündlich, danach auch schriftlich verbreitet<br />

und überliefert.<br />

Man ist sich einig, dass die Herkunft von Sprichwörtern sehr oft nicht exakt zu ermitteln ist.<br />

Betrachtet man sie jedoch entweder einzelsprachlich oder sprachenübergreifend, so können<br />

drei Herkunftsquellen angenommen werden:<br />

Sprichwörter sind als so genannte Volksweisheiten interpretierbar. Jemand<br />

(möglicherweise eine bekannte und angesehene Persönlichkeit) müsste zunächst eine<br />

Aussage machen, die von den anderen akzeptiert, übernommen und weiter verwendet<br />

wurde; dadurch wurden derartige Aussagen mit der Zeit zu den allgemein verbreiteten<br />

»sprichwörtlichen Weisheiten«, vgl.<br />

Übung macht den Meister<br />

Sprichwörter entstammen den schriftlichen Werken. Viele gehen auf die Antike, die Bibel<br />

oder auf das mittelalterliche Schrifttum zurück. Ursprünglich sind sie also Zitate aus<br />

nachweisbaren literarischen, weltlichen und/oder religiösen Texten, also aus der Bibel, aus<br />

Fabeln, Märchen, Sagen und dergleichen, die durch die häufige Wiederholung ebenso zu<br />

allgemein verbreiteten Aussagen wurden, vgl.<br />

Die Axt im Haus erspart den Zimmermann (F. Schiller)<br />

Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein (Bibel)<br />

Sprichwörter sind Entlehnungen aus anderen Sprachen. Durch die (mitunter<br />

wortwörtliche) Übersetzung setzten sie sich in den vielen Zielsprachen durch, vgl.<br />

Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter (Entlehnung aus dem Türkischen).<br />

Aus volkskundlicher Sicht werden Sprichwörter sehr oft als Besonderheit und<br />

Eigentümlichkeit einzelner Sprachen interpretiert (sie seien somit idiosynkratisch). Das mag<br />

aber eher für eine kleinere Anzahl der Sprichwörter zustimmen. Vielmehr gilt, dass etliche<br />

Sprichwörter zwischensprachlich übereinstimmen, dass also ein Sprichwort nicht nur auf<br />

52


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

eine Sprache bzw. eine Sprachgemeinschaft beschränkt, sondern in mehreren Sprachen<br />

vorhanden ist. So stimmen recht viele Sprichwörter formal und inhaltlich zwischensprachlich<br />

überein; in der sprachvergleichenden (kontrastiven) <strong>Phraseologie</strong>forschung spricht man<br />

hierbei vom Begriff der Konvergenz bzw. Äquivalenz. Die Konvergenz (Konvergenz) meint<br />

die Identität oder Ähnlichkeit der formalen Sprichwortstruktur, die in Kombination mit der<br />

inhaltlichen Übereinstimmung eine vollständige Äquvalenz (Volläquivalenz) oder eine<br />

teilweise bzw. partielle Äquivalenz (Teiläquivalenz) ausmacht (Äquivalenz). So sind zwei<br />

Sprichwörter in zwei miteinander verglichenen Sprachen dann volläquivalent, wenn eine<br />

gemeinsame denotative Bedeutung und eine vollständige formal-strukturelle und inhaltlichmetaphorische<br />

Entsprechung vorliegen. Solche Sprichwörter entstammen meist den<br />

gemeinsamen nachweisbaren Quellen (Literatur, Bibiel u.ä.) und werden als sprichwörtliche<br />

Internationalismen bezeichnet, vgl.<br />

Aller Anfang ist schwer (slow. Vsak začetek je težak)<br />

Ende gut, alles gut (slow. Konec dober, vse dobro)<br />

Alle Wege führen nach Rom (slow. Vse poti vodijo v Rim)<br />

Besser spät als nie (slow. Bolje pozno kot nikoli)<br />

Allerdings verfügen Sprichwörter meist um eine derartig komplexe Bedeutung, dass<br />

zwischensprachliche Volläquivalenz selten vorliegt. Viel häufiger kann man im<br />

zwischensprachlichen Vergleich eine Teiläquivalenz beobachten. Diese ist dann vorhanden,<br />

wenn zwischen Sprachen Unterschiede in der Struktur, im Komponentenbestand oder in der<br />

bildhaft-metaphorischen Grundlage der Sprichwörter vorliegen, während die denotative<br />

Sprichwortbedeutung identisch ist, vgl.<br />

Nachts sind alle Katzen grau (slow. Ponoči so vse krave črne) (Unterschiede im<br />

Komponentenbestand und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />

Ohne Fleiß kein Preis (slow. Brez dela ni jela) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der<br />

syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />

Man lernt nie aus (slow. Človek se uči, dokler živi) (Unterschiede im Komponentenbestand, in der<br />

syntaktischen Struktur und in der bildhaft-metaphischen Grundlage)<br />

53


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Die zwischensprachlichen Äquivalenzbeziehungen sind besonders anhand der mehrsprachig<br />

angelegten Sprichwortsammlungen und parömiologischen Wörterbücher gut<br />

nachvollziehbar. Schließlich konnte sie auch in der neuesten umfangreichen Studie zur<br />

globalen Verbreitung vieler Idiome (und darunter auch Sprichwörter) in Piirainen (2012)<br />

bestätigt werden.<br />

Die zwischensprachliche Konvergenz basiert zunächst auf gemeinsamen Quellen, denn<br />

gerade Sprichwörter, die in der antiken oder klassischen Literatur, in der Mythologie und in<br />

der Bibel ihren Ursprung haben, sind zwischensprachlich hochgradig konvergent. Positive<br />

Auswirkungen auf die Übereinstimmung haben hierbei rege Sprachkontakte und/oder die<br />

Übersetzung, was zu Entlehnungsprozessen führt. So kennt z.B. das Sprichwort Die Würfel<br />

sind gefallen konvergente Sprichwortformen in zahlreichen europäischen und anderen<br />

Sprachen (Piirainen 2012, 132ff.).<br />

Es gibt jedoch auch hochkonvergente Sprichwörter, deren Metaphorik biologisch und/oder<br />

erfahrungsbedingt ist, vgl. etwa die deutschen Sprichwörter Hunde, die bellen, beißen nicht<br />

und Wer sucht, der findet mit konvergenten slowenischen, slowakischen, tschechischen und<br />

ungarischen Äquivalenten (SprichWort, 2010).<br />

3.6 Sprichwortsammlungen<br />

Beobachtet man die fachliche Auseinandersetzung mit den Sprichwörtern aus historischer<br />

Perspektive, so kann man auf zahlreiche Sprichwortsammlungen hinweisen, die in<br />

volkskundlicher Tradition entstanden sind und die gegenwärtig in vielfältiger<br />

methodologischer Ausprägung und recht unterschiedlichem Umfang für viele Sprachen<br />

vorliegen. Das Sprichwortsammeln hat Jahrtausende lange Tradition, und die<br />

Sprichwortsammlungen sollte man als tradierte Quellen für die (diachrone)<br />

Sprichworterforschung betrachten. Ob bzw. inwiefern sie auch bei der Erarbeitung<br />

moderner synchroner Wörterbücher anwendbar sind, ist allerdings fraglich, zumal sie<br />

54


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

prinzipiell historisches Sprichwortgut und historische Sprachzustände vermitteln. (Eine<br />

knappe Übersicht über die bedeutendsten slowenischen Sprichwortsammlungen findet sich<br />

in Jesenšek 2007).<br />

Die bedeutendsten Sammlungen der deutschen Sprichwörter werden nachfolgend kurz<br />

besprochen. Viele davon sind teilweise oder vollständig digitalisiert und im Internet frei<br />

zugänglich. Die jeweiligen Adressen sind im Literaturverzeichnis angegeben.<br />

Seit der angenommen ersten europäischen Sprichwortsammlung aus dem Jahr 1023 von<br />

Egbert von Lüttich (Fecunda ratis (Das vollbeladene Schiff)), die lateinische und biblische<br />

Sprichwörter enthält, verzeichnet man in Europa eine intensive Beschäftigung mit der<br />

lexikographieähnlichen Dokumentierung der Sprichwörter. Die ältesten dokumentierten<br />

sprichwortähnlichen Texte seien die auf sumerischen Tafeln in Keilschrift verfasste Texte aus<br />

dem 2. Jahrtausend v. u. Z. Historisch sehr bedeutend für die Sprichworterforschung vieler<br />

Sprachen sind allerdings Sprichwortsammlungen aus antiker Zeit, zumal zahlreiche<br />

allgemeineuropäische Sprichwörter auf diese kulturell bahnbrechende Epoche zurück gehen.<br />

Im Mittelalter dienten Sprichwortsammlungen vor allem dem Lateinunterricht und der<br />

moralischen Erziehung. Besonders beliebt waren sie auch im 16. und 17. Jahrhundert in der<br />

damals vorherrschenden lehrhaften Literatur. Während dieser Epoche mehrmals erschienen<br />

ist die vielgelesene Sammlung der antiken Sprichwörter, zusammengestellt von Erasmus von<br />

Rotterdam (Adagia, 1500, 1508, 1533). Er hat einzelne Sprichwörter mit didaktischmoralischen<br />

Kommentaren und Erläuterungen versehen, was dazu beigetragen hat, dass die<br />

Erasmus-Werke als eine der wichtigsten kulturgeschichtlichen Quellen jener Zeit angesehen<br />

werden. Ebenso im 16. Jahrhundert erschien die Sprichwortsammlung von Johann Agricola<br />

(1543); sie ist die erste deutsche Sprichwortsammlung. Im darauffolgenden 17. Jahrhundert<br />

erreichte die Erarbeitung von Sprichwortsamlungen einen (auch für die heutige Zeit)<br />

beträchtlichen Umfang: Die Teutschen Weissheit von Friedrich Petri (1605) umfasste sogar<br />

mehr als 20.000 deutsche Sprichwörter.<br />

55


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Die Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts war den Sprichwörtern weniger zugeneigt;<br />

Originalität und Individualität als Schreibstil wurden nämlich viel höher geschätzt als etwa<br />

Wiederholung tradierter Sprüche. In den Texten der deutschen Klassiker (Goethe, Schiller,<br />

Lessing u.a.) fanden Sprichwörter aber trotzdem eine hohe Beachtung, dies vorrangig als<br />

bewährte und wirksame Stilmittel. Für Sprichwortsammlungen dieser Epoche sind<br />

Kommentare und Bedeutungserläuterungen typisch, so z.B. Deutsches Sprichwörterbuch von<br />

Joachim Christian Blum (1780–1782).<br />

Im 19. Jahrhundert beobachtet man erneut ein stärkeres Interesse an den Sprichwörtern. Es<br />

seien hier einige Werke erwähnt, die als Meilensteine für die weitere (volkskundliche und<br />

lexikographische) Beschäftigung mit den Sprichwörtern verstanden werden können: Johann<br />

Michael Sailer's Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter<br />

(1810) – eine Sammlung ausführlich analysierter und semantisch kommentierter<br />

Sprichwörter; die Literatur der Sprichwörter von Christian Conrad Nopitsch (1822) – ein<br />

Verzeichnis der bis zu jener Zeit veröffentlichten Arbeiten zum Phänomen Sprichwort; das<br />

monumentale Werk von Karl Friedrich Wilhelm Wander – das fünfbändige Deutsche<br />

Sprichwörterlexikon (1867–1880) umfasst mehr als 250.000 Sprichwörter, die stellenweise<br />

mit Kommentaren, Anmerkungen sowie Angaben von Varianten, Quellen und<br />

anderssprachigen Äquivalenten versehen sind; und schließlich die populärste deutsche<br />

Sprichwortsammlung von Karl Simrock mit dem Titel Die deutschen Sprichwörter (1846).<br />

Im 20. Jahrhundert erschienen mehrere sprach- und kulturgeschichtlich erklärende<br />

Sammlungen des deutschen Sprichwortsgutes, darunter die Deutsche Sprichwörterkunde<br />

von Friedrich Seiler (1922). Zu den bekanntesten vergleichbaren volkskundlich orientierten<br />

Sammlungen des 20. Jahrhunderts zählt jedoch das illustrierte und mehrmals neu aufgelegte<br />

Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich (2000; erste Ausgabe 1973).<br />

Einhergehend mit dem wachsenden sprachwissenschaftlichen Interesse an den<br />

Sprichwörtern ist die umfangreiche Dokumentation der modifizierten Sprichwörter zu<br />

nennen, der von Wolfgang Mieder, einem unermüdlichen Sprichwortforscher<br />

herausgegeben wurde: das zweibändige Wörterbuch dem Titel Antisprichwörter (1982–<br />

56


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

1985) verzeichnet die im gegenwärtigen Sprachgebrauch vorzufindenden Modifikationen<br />

traditioneller deutscher Sprichwörter. Neben den genannten allgemeinen<br />

Sprischwortsammlungen erreichten große Beliebtheit schließlich auch besondere Typen von<br />

Sprichwörterbüchern: Spezialsammlungen zu Wetterregeln, Rechtssprichwörtern,<br />

medizinischen Sprichwörtern, Wellerismen u.a.m. Es ist somit in der Geschichte der<br />

volkstümlich und historisch konzipierter Erarbeitung und Herausgabe von<br />

Sprichwortsammlungen eine kontinuierliche Tradition zu beobachten.<br />

Traditionell werden Sprichwörter aber auch in allgemeinen Sprachwörterbüchern und<br />

speziellen phraseologischen Lexika verzeichnet. Duden – Redewendungen. Wörterbuch der<br />

deutschen Idiomatik (letzte Ausg. 2013) ist das für das Deutsche repräsentative<br />

phraseologische Wörterbuch, das auch eine Auswahl an Sprichwörtern enthält, sonst<br />

werden Sprichwörter aber in recht verschiedener quantitativ-qualitativer Ausprägung in alle<br />

größeren allgemeinen ein- und mehrsprachigen Wörtern mit Deutsch integriert (und<br />

dasselbe gilt auch für das Slowenische).<br />

3.7 Sondergruppen<br />

Wegen ihrer inhaltlichen und formalstrukturellen Besonderheiten kann man von einigen<br />

Sondergruppen der Sprichwörter sprechen: Bauernregeln bzw. Wettersprichwörter,<br />

Rechtssprichwörter, medizinische Sprichwörter und Wellerismen. Im Folgenden werden sie in<br />

Kürze dargelegt.<br />

3.7.1 Bauernregeln und Wettersprichwörter<br />

Bauernregeln und Wettersprichwörter haben die reichen landwirtschaftlichen Erfahrungen<br />

und Praktiken, die Zucht der Tiere sowie die klimatischen Beobachtungen der Menschen<br />

zum Inhalt, vgl.<br />

Wenn die Schwalben nieder fliegen und die Tauben baden, so bedeutet's Regen.<br />

57


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Beide Sprichwort-Sondergruppen sind in inhaltlichen Zusammenhängen zu betrachten,<br />

zumal das Wetter die landschaftliche Tätigkeit ja maßgebend beeinflusst. In den alten Zeiten<br />

waren sie für das ländliche Leben unentbehrliche Richtlinien für das alltägliche Leben und<br />

Handeln, während heute sie oft als archaisch empfunden werden.<br />

Im deutschsprachigen Raum haben sie eine sehr lange Tradition. Der erste Hinweis findet<br />

sich bei A. Magnus (13. Jh.), die älteste gedruckte Sammlung von Bauernregeln in deutscher<br />

Sprache stammt aus dem Jahr 1505 (Wetterbüchlein); seither ist auch der Begriff<br />

Bauernregel im Umgang.<br />

Es werden mehrere Typen von Bauernregeln und Wettersprichwörtern unterschieden<br />

(Malberg 1999):<br />

Kalendergebundene Klimaregeln<br />

gründen auf der regionalen Wetterbeobachtung und Interpretation monatlicher<br />

Mittelwerte, vgl.<br />

Werden die Tage länger, wird der Winter strenger; Der Februar hat seine Mücken, baut von<br />

Eis oft ¸feste Brücken; Der Mai in der Mitte, hat für den Winter stets noch eine Hütte; Im Juni,<br />

Bauer, bete, dass der Hagel nicht alles zetrtrete.<br />

Oft sind sie an die christlichen Namensfeiertage gebunden, vgl.<br />

Christnacht hell und klar, deutet auf ein gutes Jahr; Am Tage von St. Valentin (14. Februar)<br />

gehen Eis und Schnee dahin; Der Matthias (24. Februar) bricht's Eis, findet er keins, dann<br />

macht er eins.<br />

Wetterregeln betreffen Aussagen zum weiteren Wetterablauf, die auf der Beobachtung<br />

des momentanen Wetterzustandes beruhen, vgl.<br />

Ziehen die Wolken dem Wind entgegen, gibt's am anderen Tage Regen; Steigt Nebel empor,<br />

steht Regen bevor; Dunkle Wolken verkünden Regen; Geht die Sonne feurig auf, folgen Wind<br />

und Regen drauf.<br />

58


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Witterungsregeln gehen von einem Wetterzustand aus und versuchen, das Wetter der<br />

bevorstehenden Wochen oder längerer Perioden vorherzusagen. In der Regel gelten<br />

kirchliche Feiertage als Orientierung:<br />

Ist der Januar hell und weiß, wird der Sommer sicher heiß; Nasser April – trockener Juni;<br />

Regnet's an St. Peters-Tag (29. Juni), drohen 30 Regentag'; Geht Barbara (4. Dezember) im<br />

Grünen, kommt's Christkind im Schnee.<br />

Tier- und Pflanzenregeln versuchen die weitere Wetterentwicklung aus dem Verhalten<br />

von Tieren und Pflanzen zu schließen, vgl.<br />

Ziehen die wilden Gäns' und Enten fort, ist der Winter bald am Ort; Späte Rosen im Garten,<br />

der Winter läßt warten; Fällt das Laub sehr bald, wird der Herbst nicht alt.<br />

Ernteregeln beschreiben die Auswirkung der Wetterbedingungen auf die Ernte und sind<br />

oft jahreszeitbezogen, vgl.<br />

Im Märzen kalt und Sonnenschein, wird's eine gute Ernte sein; Juli schön und klar, gibt ein<br />

gutes Bauernjahr; Regen Ende Oktober verkündet ein gutes Jahr; Dezember mild mit viel<br />

Regen, ist für die Saat kein großer Segen.<br />

Mondregeln sind Aussagen vom Einfluß der Mondphasen auf das Wetter, auf Pflanzen<br />

und Tiere, auf das Verhalten von Menschen, auf die Gestaltung des Alltags, vgl.<br />

Bei Mondwechsel ändert sich auch das Wetter; Im wachsenden Mond sind Rosmarin und<br />

Majoran zu säen; Alles was wachsen soll, ist im zunehmenden Mond zu beschneiden, was<br />

nicht wachsen soll, im abnehmenden Mond; Die Schafe soll man im Vollmond scheren.<br />

In der modernen Zeit haben die Wettersprichwörter an der Bedeutung stark verloren und<br />

werden mitunter sogar mit humorvoll-ironischer Wirkung modifiziert, vgl.<br />

Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.<br />

59


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3.7.2 Rechtssprichwörter<br />

Es geht um eine Sondergruppe von Sprichwörtern, deren Inhalt die Rechtsregelung oder<br />

soziale Ordnung thematisiert. Somit sind sie notwendigerweise historisch-kulturell bedingt,<br />

vgl.<br />

Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul; Gleich gefangen, gleich gehangen.<br />

Wenn man die historischen Hintergründe nicht mehr kennt, kann das für das gegenwärtige<br />

Verständnis störend sein. Sie haben eine lange Tradition; im europäischen Mittelalter<br />

stellten sie Autorität gegenüber der Richter dar, zumal diese oft rechtliche Laien gewesen<br />

sind und ihre Urteile folgerichtig auf solchen Sprichwörtern gründeten.<br />

3.7.3 Medizinische Sprichwörter<br />

Medizinische Sprichwörter (auch Heilsprichwörter, Gesundheitssprichwörter,<br />

sprichwörtliche/populäre/volkstümliche Gesundheitsregeln, volksmedizinische Ratschläge)<br />

sind kurz gefasste Ratschläge zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit. Es handelt sich<br />

also um eine inhaltlich auf die Gesundheitsfragen beschränkte Sondergruppe von<br />

Sprichwörtern, von denen sehr viele auf die hipokratische und verschiedene mittelalterliche<br />

medizinische Lehren zurückgehen.<br />

Die bisher umfangreichste Sammlung der deutschen medizinischen Sprichwörter ist Seidl's<br />

enzyklopädisches Werk Medizinische Sprichwörter (Seidl 2010). In den fast 5000<br />

»volkstümlichen Gesundheitsregeln« sind jeweils eine Vorschrift, ein Verbot, ein Rat, eine<br />

Empfehlung zu Fragen der Ernährung, der Psychologie und Physiologie, der Prävention und<br />

Hygiene, der Medizin und Mediziner enthalten. Ihre tradierte Überlieferung kann man als<br />

eine logische Folgerung der hohen Wertschätzung der Gesundheit verstehen, die nach den<br />

Meinungsumfragen bei den meisten Menschen noch immer an erster Stelle steht.<br />

Manche medizinische Sprichwörter sind heute fachlich überholt, mache gründen sogar auf<br />

falschen physiologischen Vorstellungen. Man kann aber allein daher nicht behaupten, dass<br />

60


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

sie generell überholt wären. Sehr viele sind nämlich noch immer gültig, wie etwa das<br />

folgende Sprichwort:<br />

Vor dem Schlafen, nach dem Essen Zähneputzen nicht vergessen.<br />

Bei einem kleineren Anteil kann man allerdings auch von Irtümlichkeit oder einer extrem<br />

irrationalen Haltung sprechen, vgl.<br />

Wer viel schimmlig Brot isst, der wird alt; Wenn's Kind zahnt, soll die Mutter den Unterrock<br />

verkaufen, um ihm Wein zu geben; Kinder soll man nicht Engel nennen, sonst sterben sie.<br />

Betrachtet man diese Sprichwort-Gruppe genauer, so kann man auch hier einige typische<br />

Struktur-Merkmale beobachten, u.a. gibt es Reihen von Realisierungen typischer<br />

syntaktischer Muster (dazu auch in Abschnitt 3.3):<br />

wer x, (der) y<br />

x ist y<br />

Wer alt werden will, muss früh damit anfangen; Wer zeitig alt wird, der lebt lange<br />

Joghurt ist gesund; Geklagtes Leid ist halbes Leid<br />

x macht/machen y<br />

Kartoffeln machen dick; Brot macht die Wangen rot<br />

x heilt /vertreibt y<br />

Die Zeit heilt alle Wunden; Liebe vertreibt Leid<br />

x ist gut für/gegen/wider y<br />

Alkohol ist gut fürs Herz; Eberwurzel ist für alles gut<br />

x hilft gegen/vor/für y<br />

Buttermilch hilft gegen Sonnenbrand.<br />

61


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

An manchen Beispielen ist gut sichtbar, dass auch medizinische Sprichwörter sehr variant<br />

sein können. So sind (ohne wesentliche Inhaltsfolgen) einzelne Komponenten austauschbar<br />

(lexikalische Variabilität) oder sie unterscheiden sich in der syntaktischen Satzstruktur<br />

(syntaktisch-syntagmatische Variabilität). Sehr oft hat eine derartige Varianz pragmatische<br />

Folgen: so interpretiert man eine Variante als Ratschlag und Empehlung (Ein Apfel am Tag,<br />

und du brauchst keinen Arzt), eine andere eher als Vorschrift bzw. Aufforderung (Iss täglich<br />

einen Apfel und du bleibst gesund). Das bekannte Sprichwort zur Nützlichkeit und<br />

Heilsamkeit des Apfels soll die Neigung zur Sprichwortvariabilität veranschaulichen; Seidl<br />

(2010) verzeichnet hierzu sogar 16 variante Formen, einige davon sind<br />

Der Apfel macht den Doktor und Apotheker arbeitslos; Ein Apfel kurz vor der Nacht, hat<br />

manchen Arzt zum Bettler gemacht; Ein Apfel am Tag, und du brauchst keinen Arzt; Ein Apfel<br />

jeden Tag, spart den Gang zum Arzt; Ein Apfel pro Tag hält den Arzt fern; Ein Apfel pro Tag,<br />

mit dem Doktor keine Plag; Ein Apfel pro Tag hält gesund und munter; Einen Apfel täglich und<br />

keine Krankheit quält dich; Einen Apfel täglich essen und du kannst den Arzt vergessen; Iss<br />

täglich einen Apfel und du bleibst gesund; Wer viele Äpfel isst, braucht keinen Arzt.<br />

Neben den Gruppen von synonymen Sprichwörtern wie die aufgezählten Apfel-Sprichwörter<br />

findet man auch semantisch widersprüchliche, also antonyme Sprichwort-Paare, vgl.<br />

Sport ist Mord, ein wahres Wort!; Treib Sport und du bleibst gesund.<br />

Wie der Sprichwortbestand einer Sprache an sich dynamisch ist, so trifft das auch für<br />

medizinische Sprichwörter zu: einige veralten und kommen außer Gebrauch, andere<br />

kommen wiederum neu in den Umlauf. Die Letzteren gründen einerseits auf bewährten<br />

Struktur-Modellen und andererseits auf immer wieder neuen medizinischen Ansichten, vgl.<br />

Salz erhöht den Blutdruck; Sex ist gesund; Fünf am Tag.<br />

Das letzgenannte Beispiel (Fünf am Tag) illustriert eine typische Enstehungsgeschichte von<br />

Sprichwörtern. War Fünf am Tag bzw. 5 am Tag zunächst die Empfehlung der<br />

Gesundheitsorganisationen (fünf Portionen Obst und Gemüße sollte man pro Tag<br />

einnehmen), so wird sie heute als sprichwortähnliche »Wahrheit« in mehreren Sprachen<br />

62


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

akzeptiert und meist als Werbeslogan verwendet (vgl. engl. 5 A Day - For a better Health;<br />

slow. Pet na dan).<br />

3.7.4 Wellerismen<br />

Der Name Wellersimus entstammt dem Charles Dickens' Roman Pickwick Papers (1837) und<br />

bezieht sich auf den Protagonisten Samuel Weller, der sie oft verwendet. Gemeint sind<br />

modellhafte Erweiterterungen von Sprichwörtern, wodurch eine in der Regel dreiteilige<br />

Struktur entsteht (auch Sagwörter, apologische Sprichwörter, erweiterte Sprichwörter). Den<br />

Anfangsteil stellen bekannte Sprichworter, Zitate oder Sprüche dar, darauf folgt die Angabe<br />

des Sprechers (oft eine bekannte Figur aus Märchen, Fabeln, Sagen oder stereotype<br />

menschlich schwache Person wie der dumme Bauer, die schlampige Frau, der betrügerische<br />

Müller u. ä.) und im Schlussteil wird die Situation genannt, in der der Wellerismus geüßert<br />

wird; häufig geht es um eine ironisch-groteske wörtliche Interpretation des<br />

Ausgangssprichworts, vgl.<br />

Aller Anfang ist schwer, sagte der Dieb und stahl einen Amboß; Alter schützt vor Torheit nicht,<br />

sagte die Greisin und lies sich liften; Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagte der<br />

Ochs, als er gebraten wurde.<br />

Wellerismen haben einen mit den Sprichwörtern nicht völlig vergleichbaren stilistischen<br />

Wert. Dadurch, dass die Ausgangssprichwörter ironisiert und relativiert werden, geht ihre<br />

Lehrhaftigkeit in der Regel verloren. Sie fungieren nur als Grundlage für humorvolle,<br />

ironische, satirische, parodistische oder auch sarkastisch-kritische Bewertung der<br />

menschlichen Psychologie und zwischenmenschlicher Beziehungen und ebenso der jeweils<br />

aktuellen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die nachfolgenden<br />

Wellerismen stammen vom slowenischen Autor Žarko Petan, der u.a. gerade durch<br />

Antisprichwörter bekannt wurde:<br />

Blut ist kein Wasser, hat der Fleischhauer gesagt und den Preis für Blutwürste erhöht; Alles<br />

fließt, sagte der moderne Heraklit, und ein Installateur ist nicht aufzutreuben.<br />

63


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3.8 Sprichwortähnliche feste Strukturen<br />

Wie in Abschnitt 3.2 angedeutet, kennen wir einige sprichwortähnlichen Strukturen, die bei<br />

der hohen Verwendungshäufigkeit leicht zu den Sprichwörtern übergehen. Das sind<br />

Sentenzen, geflügelte Worte, Aphorismen, Maximen und Epigramme. Sehen wir uns ihre<br />

wesentlichen Eigenschaften an.<br />

3.8.1 Sentenz<br />

Sentenzen (aus lat. sententia 'Meinung, Sinn, Ausspruch') sind kurze, prägnant formulierte<br />

Sätze mit philosophisch-literarischem Hintergrund (Sentenz). Der Author und die Quelle<br />

sind bekannt. Von den Sprichwörtern unterscheiden sie sich auch inhaltlich: während<br />

Sprichwörter sich auf tradierte menschliche Erfahrungen stützen, bringen Sentenzen eine<br />

philosophische Betrachtung der Welt hervor. Eine konkrete Situation oder Erkentnis wird in<br />

einem kurzen Satz zusammengefasst und zur allgemeinen Bedeutung erhoben. So ist der<br />

Satz Axt im Haus erspart den Zimmermann ein Zitat aus Schiller's Werk Wilhelm Tell,<br />

aufgrund der häufigen Verwendung, die eine allgemeine Bekanntheit mit sich bringt, kann er<br />

jedoch auch als Sprichwort aufgefasst werden.<br />

3.8.2 Geflügeltes Wort<br />

Geflügelte Worte (aus gr. epea pteroenta, Buchtitel der Zitatensammlung von Georg<br />

Büchmann 1864) sind literarische Zitate, die allgemein verwendet werden und folglich auch<br />

als allgemein bekannt einszuschätzen sind. Ihre Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) ist<br />

nachweisbar, sie wird aber nicht mehr mitgedacht, vgl.<br />

Nutze den Tag! (Horaz); Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Brecht); Im Westen<br />

nichts Neues (Remarque); Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben (Gorbatschow).<br />

Somit nähern sie sich stark den Sprichwörtern. Die meist bekannte und vielfach<br />

nachgedruckte und erweiterte Sammlung geflügelter Worte ist das Werk Georg Büchmanns<br />

Geflügelte Worte (Erstausgabe 1864, seither immer wieder aufgelegt).<br />

64


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Es ist äußerst schwierig, zwischen Sprichwort, geflügeltem Wort und Sentenz klar zu<br />

unterscheiden. Der Satz Wissen ist Macht wird häufig verwendet, was eine allgemeine<br />

Bekanntheit mit sich bringt. So könnte man ihn bereits als Sprichwort auffassen, obgleich es<br />

sich in der Tat um ein Zitat des englischen Philosophen Francis Bacon (17./18. Jh.) handelt<br />

(en. Knowledge itself is power).<br />

3.8.3 Aphorismus<br />

Aphorismen (aus. gr. aphorismós 'Abgrenzung, Definition, Lehrsatz') sind kurze, unabhängige,<br />

originelle, als eigenständige Texte konzipierte Gedanken. Von einem Sprichwort<br />

unterscheidet sich ein Aphorismus dadurch, dass er nicht allgemein bekannte Weisheiten<br />

ausdrückt, sondern originelle, autorbezogene, oft subjektive und kritische Urteile, Erkentnise<br />

hervorbringt. Aphorismen bestehen aus einem Satz oder, was seltener vorkommt, auch aus<br />

mehreren Sätzen. In der Literaturwissenschaft werden sie als eigenständige Gattung mit<br />

satirischen, (selbst)ironischen Zügen und typischen Stilmitteln angesehen (Paradoxie, Ironie,<br />

Doppeldeutigkeit, Manipulation der phrasologischen und sprichwörtlichen Aussagen). Oft<br />

thematisieren sie gesellschaftliche und/oder individuelle Moral und Ethik in politischen,<br />

wirtschaftlichen und psychologischen Zusammenhängen.<br />

Der erste bekannte Aphoristiker war Hippokrates, bekannt durch seine medizinischen<br />

Lehrsätze. Im deutschen Sprachraum sind u.a. folgende Autoren als Aphoristiker bekannt<br />

geworden: Georg Christoph Lichtenberg, Marie von Ebner-Eschenbach, Arthur Schnitzler,<br />

Johann Wolfgang von Goethe, Theodor W. Adorno, Elias Canetti, Karl Kraus, Franz Kafka,<br />

Friedrich Nietzsche, Robert Musil. Ein bekannter slowenischer Aphoristiker ist Žarko Petan,<br />

dessen ausgewählte Aphorismen auch in deutscher Fassung vorliegen. Ein Paar seine sollen<br />

das Wesen dieser Gattung illustrieren:<br />

Wissen ist Macht, Nichtwissen Übermacht; Reden ist Silber, Schweigen ist Karriere;<br />

Das Schiff sinkt, die Ratten übernehmen das Kommando.<br />

65


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

3.8.4 Maxime<br />

Maximen (lat. maxima 'höchste Regel, oberster Grundsatz, oberste Aussage') werden als<br />

Lebensregeln verstanden, die von subjektiven, individuellen Grundsätzen moralischen<br />

Handelns ausgehen. Der Unterschied zum Sprichwort besteht hauptsächlich in ihrer<br />

fehlenden Geläufigkeit. Besonders stark entwickelt war die Maxime im französischen<br />

Sprachraum zur Zeit der Moralistik als philosophische Gattung (La Rochefoucauld, 17. Jh.)<br />

und im deutschsprachigen Raum beim Philosophen Immanuel Kant (kategorischer Imperativ<br />

als grundlegendes Prinzip der Ethik, 18. Jh.). Zu den bekanntesten deutschen<br />

Maximensammlungen zählt das Werk Goethes Maximen und Reflektionen (1833), dem<br />

folgende Beispiele entstammen:<br />

Wer streiten will, muss sich hüten, bei dieser Gelegenheit Sachen zu sagen, die ihm niemand<br />

streitig macht; Gar selten tun wir uns selbst genug, desto tröstender ist es, andern genug<br />

getan zu haben; Zuerst belehre man sich selbst, dann wird man Belehrung von andern<br />

empfangen.<br />

3.8.5 Epigramm<br />

Epigramme (gr. epigramma 'Inschrift, Aufschrift') gehören primär zu den literarischen<br />

Gattungen. Sie haben eine typische formale Struktur (meist Distichon, ein Verspaar,<br />

bestehend aus einem Heksameter und einem Pentameter) und sind betitelt. Wesentliche<br />

inhaltliche Teile des Epigramms sind Erwartung und Aufschluss, wobei die Erwartung durch<br />

einen scheinbaren und rätselhaften Widerspruch genannt wird und der Aufschluss durch<br />

eine überraschende Deutung des Sinnes zum Ausdruck kommt. Inhaltlich sind sie mit<br />

Aphorismen vergleichbar, nur haben sie eine Gedichtform. Epigramme entahlten oft<br />

modifizierte Sprichwörter, sie erreichen aber meist keine hohe Gebrauchshäufigkeit, sodass<br />

der Übergang zum Sprichwort eher selten vorkommt. Im deutschsprachigen Raum sind sie<br />

u.a. bei Heinrich von Kleist, Johann Wolfgang von Goethe, Friederich Schiller, Franz<br />

Grillparzer, Erich Kästner zu verfolgen.<br />

Das nachfolgende Epigramm von Erich Kästner soll das Gesagte illustrieren:<br />

66


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Auch eine Auskunft<br />

Ein Mann, von dem ich wissen wollte<br />

warum die Menschen einander betrügen,<br />

sprach:<br />

"Wenn ich die Wahrheit sagen sollte,<br />

müßt ich lügen." (E. Kästner)<br />

Weiterführende Literatur (Auswahl)<br />

Eine bibliographische Übersicht über die Forschung im Bereich der Parömiologie (und<br />

<strong>Phraseologie</strong>) gibt Mieder (2009); die Literaturliste enthält mehr als 10 000 Einträge mit<br />

erklärenden Stichwort-Annotationen. Verzeichnet werden Forschungspublikationen,<br />

erschienen bis 2007. – In Röhrich/Mieder (1977) werden die wichtigsten Sprichwort-<br />

Aspekte angesprochen (Definition, Herkunft, Form, Funktionen) und grundlegende<br />

Sprichwortsammlungen dargestellt. – Mieder (1995) ergibt einen Einblick in die traditionelle<br />

und innovativ-kreative Verwendung von Sprichwörtern und Zitaten, wie diese sich in den<br />

Medien, in der schönen Literatur und in der Werbung zeigt. Für slowenische Leser ist die<br />

Studie zu den sprichwörtlichen Aphorismen von Žarko Petan von besoderem Interesse. –<br />

Anhand der deutschen und slowakischen Sprichwörter bespricht Durčo (2005) die gängigen<br />

Methoden der Sprichwortanalysen sowie einige Aspekte der kontrastiven<br />

Sprichwortforschung. – Lee (2005) ist eine vergleichende Studie zu deutschen und<br />

chinesischen Sprichwörtern; interessant wegen dem Vergleich zweier sprachtypologisch und<br />

kulturell extrem unterschiedlicher Sprachen und Kulturen. – Umurova (2005) gibt einen<br />

Einblick in den gegenwärtigen Sprichwortgebrauch in modernen Medien.<br />

67


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

4 <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen<br />

INHALT UND ZIELE<br />

Das Thema dieses Kapitels sind Fragestellungen, bezogen auf die Stellung der <strong>Phraseologie</strong><br />

im (fremd)sprachlichen Sprachenlernen und Sprachenunterricht. Verschiedene linguistische,<br />

kognitive und sprachdidaktische Stellungen dazu werden dargelegt und Argumente für die<br />

Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in Sprachlernprozesse erläutert. Anschließend<br />

werden Vorschläge zur künftigen Planung und Durchführung des fremdsprachlichen<br />

Unterrichts mit Blick auf die <strong>Phraseologie</strong> unterbreitet<br />

Wenn sie das Kapitel gründlich durcharbeiten, so werden sie die <strong>Phraseologie</strong> als<br />

sprachdidaktisches Thema kennen lernen, die wichtigsten Argumente für ihren Einsatz als<br />

Lehr- und Lerngegenstand und notwendige sprachdidaktische Folgen interpretieren können.<br />

Im folgenden Kapitel werden Fragen zur Einbeziehung der phraseologischen Inhalte in das<br />

Sprachenlernen, in erster Linie in das Lernen und Lehren von Fremdsprachen, besprochen.<br />

Im Vordergrund stehen prinzipielle allgemeine Überlegungen zu methodisch-didaktischen<br />

Fragestellungen zum Thema <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen.<br />

4.1 <strong>Phraseologie</strong> als Lern- und Lehrgegenstand<br />

Fakt ist, dass Phraseme zum lexikalischen Inventar einer jeden natürlichen Sprache gehören,<br />

dass sie etablierte Elemente des Sprachsystems (Langue) sind und dass sie folglich den<br />

Sprachgebrauch (Parole) ausschlaggebend mit konstituieren. Das gilt sowohl für die<br />

<strong>Phraseologie</strong> im engeren Verständnis (satzgliedwertige idiomatische Wortverbildungen) als<br />

auch für die <strong>Phraseologie</strong> im weiteren Sinn (satzwertige Phraseme wir z.B. Sprichwörter,<br />

Zitate u.dgl.). Das gesamte Spektrum der <strong>Phraseologie</strong> ist in der gegenwärtigen<br />

Kommunikation aktuell, lebendig und produktiv. Umfangreiche Textkorpora, die uns für eine<br />

analytische Beobachtung des schriftlichen (und neuerdings auch mündlichen)<br />

Sprachgebrauchs in vielen Sprachen zur Verfügung stehen, zeugen deutlich davon, wie<br />

lebendig Phraseme sind und wie vielfältig sie in verschiedenen Bereichen der<br />

68


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Kommunikation vorkommen können. Ihr gegenwärtiger Gebrauch ist keineswegs nur auf die<br />

schöngeistige Literatur und gehobene kommunikative Situationen beschränkt, was hie und<br />

da noch immer zu hören ist; als durchaus aktuelle, potente und flexible Sprachmittel<br />

bestätigen sie sich gleicherweise in Textsorten und Domänen der modernen<br />

massenmedialen und digitalisierten Kommunikation. Sie bleiben somit feste Bestandteile des<br />

aktuellen Sprachgebrauchs, was die Annahme erlaubt, dass Sprecher sie als wirksame<br />

Sprachmittel empfinden und mehr oder weniger gezielt und absichtlich verwenden.<br />

Es wäre somit zu erwarten, dass der phraseologischen Redeweise eine besondere<br />

didaktische Aufmerksamkeit geschenkt wird, dies sowohl beim muttersprachlichen als auch<br />

beim fremdsprachlichen Sprachenunterricht bzw. Sprachenlernen. Dem ist allerdings meist<br />

nicht so (Jesenšek 2008, Hallsteinsdóttir 2011, Kacjan 2012, Kacjan/Kralj 2011,<br />

Jazbec/Enčeva 2012). Bereits ein paar kleinere Analysen geläufiger Lehrwerke zum Deutsch<br />

als Fremdsprache zeigen nämlich, dass die <strong>Phraseologie</strong> in quantitativer Hinsicht gering und<br />

in qualitativer Hinsicht weniger systematisch behandelt wird (Jesenšek 2000, Jazbec/Enčeva<br />

2012). Zudem vertritt die fremdsprachliche Didaktik zur Ermittlung von <strong>Phraseologie</strong> nach<br />

wie vor verschiedene, mitunter sogar konträre und extrem polarisierte Meinungen<br />

(Hallsteinsdóttir 2001 und 2011). Einige meinen, die <strong>Phraseologie</strong> sollte im<br />

fremdsprachlichen Unterricht nicht unbedingt ein Thema sein, da sie auch sonst etwas ist,<br />

ohne dessen man in der Alltagskommunikation auskommen kann. Sie sei demnach ein<br />

Ornament, ein Luxus, die Würze einer Sprache, aber verzichtbar. Darüber hinaus sei sie<br />

einzelsprachspezifisch, die Eigenart einer jeden einzelnen Sprache, und somit auch nur<br />

schwer oder sogar unübersetzbar und zwischensprachlich nicht vergleichbar. Wenn<br />

überhaupt, sollten sich Fremdsprachenlerner mit der <strong>Phraseologie</strong> erst in späteren<br />

Lernphasen befassen. Eine gegensätzliche Meinung dazu ist, dass das Erlernen von<br />

<strong>Phraseologie</strong> »eine grundlegende Voraussetzung der Sprachbeherrschung ist«<br />

(Hallsteinsdóttir 2001, 3), und je mehr man von der fremdsprachlichen <strong>Phraseologie</strong> kennt,<br />

desto besser man ist in der Beherrschung der fremden Sprache (Hessky 1997).<br />

69


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Es ist wahrscheinlich weniger angebracht, derartige Oppositionen in einer so extremen<br />

Weise zu vertreten, da sie einander ausschließen und keine weiteren Positionen erlauben.<br />

Ein mittlerer Weg wäre dabei vielleicht besser. Mittlerer Weg heißt allerdings nicht einfach,<br />

eine Zwischenposition zu vertreten, also weder hier noch dort zu sein. Auf die <strong>Phraseologie</strong><br />

bezogen bedeutet ein mittlerer Weg vor allem Flexibilität und Dynamik. Das ist deshalb<br />

notwendig, weil sowohl der Status von <strong>Phraseologie</strong> im sprachlichen System als auch der<br />

Gebrauch von Phrasemen in der alltäglichen Kommunikation von mehreren und vielfältigen<br />

Faktoren abhängig sind. Einerseits spielen einzelsprachspezifische Faktoren eine wichtige<br />

Rolle; die gelten innerhalb einer Sprache und bestimmen die phraseologische Typologie mit.<br />

Andererseits sind Faktoren von Bedeutung, die außerhalb des Sprachsystems begründet<br />

sind; es sind das kontextuelle, soziale und pragmatische Umstände, die die Verwendung von<br />

<strong>Phraseologie</strong> in verschiedenartigen Sprech- und Schreibsituationen beeinflussen.<br />

Aus dieser Perspektive können allerdings keine generell und allgemein gültigen Rezepturen<br />

für die Behandlung der <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen festgelegt werden. Es lassen sich<br />

aber auch Positionen nicht vertreten, die sich nur auf eine einzelne Sprache isoliert beziehen<br />

würden – gerade in gegenwärtiger Zeit ist das nicht angebracht, wo Sprachen (und ihre<br />

Sprecher) ständig und massiv mit anderen Sprachen (und Sprechern) konfrontiert sind.<br />

Dementsprechend wird im Folgenden die Auffassung vertreten, dass der <strong>Phraseologie</strong> im<br />

gesamten Sprachenlernen von Anfang an einen festen Platz einzuräumen ist (vgl. ähnliche<br />

Positionen bei Kühn 1992, Hallsteinsdóttir 2001 und 2011, Jesenšek 2008 und 2013). Eine<br />

systematische Förderung der passiven und ebenso auch der aktiven phraseologischen<br />

Kompetenz beim Sprachenlernen ist notwendig, um einigen deklarierten Zielen des<br />

Fremdsprachenlernens gerecht zu werden. Dabei spielt der handlungsorientierte Ansatz im<br />

Fremdsprachenunterricht eine bedeutende Rolle, wonach das Ziel verfolgt wird, »mit<br />

Anderssprachigen verständlich und erfolgreich zu kommunizieren«. Nichtsdestoweniger sind<br />

aber auch kulturelle Ziele des Fremdsprachenlernens wichtig, wonach der Lernende dazu<br />

befähigt wird, »auch in der eigenen Kultur das Andere zu entdecken und mit Fremdem<br />

umzugehen« (Glaboniat et al., 2005). Klar ist, dass sich aus einer solchen Position zum Status<br />

70


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

der <strong>Phraseologie</strong> im Sprachenlernen mehrere Schlussfolgerungen ableiten lassen. Sie<br />

betreffen die gesamte (synchronisierte) Planung des Sprachen-Unterrichts, ebenso<br />

Fremdsprachenlehrerausbildung und genauso Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien,<br />

was im weiteren Text noch angesprochen wird.<br />

4.2 Argumente für die Integration der <strong>Phraseologie</strong> in das Fremdsprachenlernen<br />

Argumente, die für eine intensive und systematische Einbeziehung der <strong>Phraseologie</strong> in das<br />

gesamte Sprachenlernen sprechen, sind mehrere. Die wichtigsten werden hier in ihren<br />

Wesenszügen dargelegt.<br />

Argument 1: Phraseologische Redeweise ist Normalfall der geschriebenen und<br />

gesprochenen Sprache<br />

Phraseologische Redeweise ist ein Normalfall der geschriebenen und gesprochenen Sprache.<br />

Phraseme konstituieren den Sprachgebrauch in verschiedenen Kontexten wesentlich mit.<br />

Dies gilt sprachenübergreifend und ist primär darin begründet, dass die <strong>Phraseologie</strong><br />

weitgehend auf Prozessen der Metaphorisierung beruht. Wie man weiß, waren Metaphern<br />

immer schon eine übliche Art der Versprachlichung umweltlicher Umstände, menschlicher<br />

Eigenschaften und Verhaltensweisen. Es ist deutlich, dass der Mensch die Welt auf der Basis<br />

seiner naiven nicht-wissenschaftlichen Vorstellungen und Erfahrungen wahrnimmt und sie<br />

dann nach Ähnlichkeitsprinzipien ordnet, systematisiert und zu verstehen versucht. Man<br />

nennt dies Konzeptualisierung. Wahrnehmungskonzepte werden versprachlicht und man<br />

kann sie anhand der Bedeutung sprachlicher Einheiten interpretieren.<br />

Illustrieren wird diese Feststellung mit einem einfachen Beispiel:<br />

Der Wal wird von den meisten Menschen bzw. überwiegend als Fisch wahrgenommen,<br />

obgleich die Zoologie nicht derselben Meinung ist – Wale sind nämlich Säugetiere. Die naive,<br />

71


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

nichtwissenschaftliche Fisch-Vorstellung ist jedoch so verbreitet, dass sie bis in die<br />

Bedeutungserläuterungen eines Wörterbuchs greifen: laut Duden online<br />

(allgemeinsprachliches einsprachiges deutsches Wörterbuch) ist der Wal »ein größerer,<br />

plump aussehender Mittelmeerfisch«. Im Hintergrund einer derartigen Semantisierung steht<br />

das Konzept WAL IST FISCH. Und von solchen Aussagen ist nicht weit zu der Schlussfolgerung,<br />

dass etwa das Lexem Hand, slow. roka, welches als Komponente zahlreicher Phraseme in<br />

vielen Sprachen vorkommt, mehrere Konzepte versprachlicht, vgl.<br />

Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss u.a. (Jesenšek 2008).<br />

Psychologisch-kognitiv ausgerichtete Linguistik liefert wichtige Erkenntnisse über Prinzipien<br />

der Semantisierung und Mechanismen der sprachlichen Benennungsprozesse. Man kam zur<br />

Feststellung, dass diese hochgradig universell und sonach übereinzelsprachlich erklärbar<br />

sind. So ist zum Beispiel bekannt, dass in den meisten modernen Sprachen bestimmte<br />

Lexeme phraseologisch aktiver sind als andere. Zu den aktiveren gehören unter anderem<br />

Benennungen der Körperteile wie dt. Hand und slow. roka. Es handelt sich um eine primär<br />

biologisch-anthropologisch begründe Tatsache, denn die Hand ist eine Besonderheit des<br />

Menschen per excellence. Davon abhängig sind mehrere phraseologisch-metaphorische<br />

Bedeutungen des Lexems Hand. Es handelt sich folglich über quasi sprachlich universelle und<br />

nicht einzelsprachspezifische Bedeutungskomponente des Lexems Hand. Die Hand<br />

funktioniert als Werkzeug, Instrument, Waffe, das Lexem Hand symbolisiert Arbeit, Tätigkeit,<br />

Hilfe, aber auch Macht, Einfluss, Autorität, Leitung, Überlegenheit, wie zahlreiche<br />

Verwendungsbeispiele der Phraseme mit der Komponente Hand zeigen.<br />

Die zugrunde liegende Metaphorik ist zunächst biologisch und kognitiv begründet, folglich<br />

sozial verbreitet und somit in der Kultur des Sprechers geankert. Derartige Metaphern sind<br />

primär auf einen Kulturraum und nicht auf eine einzelne Sprache gebunden. Diese<br />

sprachenübergreifende bzw. außersprachliche Eigenschaft kann zwischensprachliche<br />

Beziehungen intensivieren und dadurch Förderung der zwischensprachlichen<br />

phraseologischen Konvergenz zur Folge haben.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Psychologisch-kognitive <strong>Phraseologie</strong>forschung geht von zwei grundlegenden Prämissen aus:<br />

- der Mensch nimmt die Welt auf der Basis seiner naiven nicht-wissenschaftlichen<br />

Erfahrungen wahr und ordnet, kategorisiert, konzeptualisiert sie nach<br />

Ähnlichkeitsprinzipien und<br />

- die Sprache spiegelt im Prinzip die Wahrnehmungskonzepte wider, zugleich trägt sie<br />

aber zu ihrer Gestaltung bei.<br />

Wahrnehmungskonzepte werden versprachlicht und sind somit an der Bedeutung<br />

sprachlicher Einheiten interpretierbar. In phraseologischen Strukturen scheinen semantisch<br />

dominante Phrasemkomponenten die Verbindung zwischen Konzept und seiner<br />

Versprachlichung herzustellen. Analysiert man lexikographische Bedeutungsbeschreibungen<br />

einiger Phraseme mit Hand bzw. roka in ausgewählten Wörterbüchern, so kann man daraus<br />

Folgendes herleiten:<br />

- Arbeit als Lebensunterhalt<br />

von der Hand in den Mund leben, slow. živeti iz rok v usta<br />

von seiner Hände Arbeit leben, slow. živeti od dela svojih rok<br />

- Bezug auf die Arbeit, Tätigkeit im weiteren Sinne<br />

alle/beide Hände voll zu tun haben, slow. imeti polne roke dela<br />

in die Hände spucken, slow. pljuniti v roke<br />

freie Hand haben/freie Hand jmdm. lassen, slow. imetiproste roke/pustiti komu proste roke<br />

jmdm. sind die Hände und Füße gebunden, slow. imeti zvezane roke (in noge)<br />

gebundene Hände haben, slow. imeti zvezane roke<br />

- Instrument, Werkzeug, Verhältnis zur Arbeit<br />

mit beiden Händen zugreifen, slow. zgrabiti z obema rokama<br />

eine glückliche Hand haben, slow. imeti srečno roko<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

eine unglückliche Hand haben, slow. imeti nesrečno roko<br />

jmdm. geht etw. (leicht/gut) von der Hand, slow. kaj gre komu (dobro) od/izpod rok<br />

mit der linken Hand, slow. z levo roko<br />

zwei linke Hände haben, slow. imeti dve levi roki<br />

- Kampf, Gewalt<br />

Hand an jmdn. legen, slow. položiti roko na koga<br />

Hand an sich legen, slow. položiti roko nase<br />

- Hilfe, Zusammenarbeit<br />

Hand in Hand arbeiten, slow. delati z roko v roki<br />

Hand in Hand gehen, slow. iti z roko v roki<br />

jmdm. zur Hand/an die Hand gehen, slow. iti komu na roko/na roke<br />

(jmds.) rechte Hand (sein), slow. (biti) desna roka (koga/čigava)<br />

Eine Hand wäscht die andere, slow. Roka roko umije<br />

seine/die Hand von jmdm. abziehen, slow. odtegniti roko komu<br />

- Sicheinsetzen, Schutz, Haftung<br />

für jmdn./etw. die/seine Hand ins Feuer legen, slow. dati roko v ogenj za koga/kaj<br />

sich für jmdn./etw. die Hand abhacken/abschlagen lassen, slow. dati/pustiti si roko odrezati<br />

za koga/kaj<br />

seine/die Hand über jmdn. halten, slow. držati roko nad kom/čim<br />

- Macht, Einfluss, Leitung, Autorität<br />

jmdn./etw./sich in der Hand haben, slow. imeti v rokah koga/kaj/se<br />

die/seine Hand auf jmdn./etw. haben/halten, slow. imeti/držati roko nad kom/čim<br />

in jmds. Hand/Händen sein, slow. biti v rokah (čigavih/koga)<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

in sicheren/guten/schlechten Händen sein, slow. biti v varnih/dobrih/slabih rokah<br />

die/alle Fäden in der/seiner Hand haben/halten, slow. imeti/držati vse niti v (svojih) rokah<br />

die Zügel in der Hand haben/halten, slow. imeti vajeti v rokah<br />

jmdn./etw. in die Hand/in die/seine Hände bekommen/nehmen, slow. dobiti/vzeti v<br />

(svoje)roke koga/kaj<br />

jmdm. in die Hände fallen/kommen, slow. priti/pasti v roke (čigave/kakšne/komu)<br />

jmdm. jmdn./sich/etw. in die Hand geben, slow. dati v roke (komu koga/sebe/se/kaj)<br />

in jmds. Hand/Hände übergehen, slow. preiti v roke (čigave/koga)<br />

die Hand/Hände nach jmdm./etw. ausstrecken, slow. stegniti/stegovati roke po kom/čem<br />

etw. aus der Hand geben, slow. dati iz rok kaj<br />

jmdm. etw. aus der Hand nehmen, slow. vzeti iz rok komu kaj<br />

von Hand zu Hand gehen, slow. iti/prehajati iz rok v roke<br />

durch jmds. Hand/Hände gehen, slow. iti skozi roke (čigave/koga)<br />

- Entfernung<br />

zur Hand sein, slow. biti pri roki<br />

etw./jmdn. bei der Hand/zur Hand haben, slow. imeti pri roki kaj/koga.<br />

Es tritt deutlich hervor, dass die gemeinsame semantisch dominante Phrasemkomponente<br />

Hand bzw. roka der Versprachlichung folgender Konzepte dient:<br />

Hand ist Arbeit, Hand ist Werkzeug, Hand ist Macht, Hand ist Einfluss, Hand ist Hilfe.<br />

Laut der Theorie der kognitiven Metapher (Lakoff) sind das konzeptuelle Metaphern. Die<br />

Metaphorisierung basiert offensichtlich auf funktionalen und topographischen<br />

Bedeutungsdimensionen der Lexeme Hand und roka. Dabei überwiegen funktional-<br />

75


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

motorische im Sinne 'halten' bzw. 'Halten' und 'arbeiten'/'tätig sein' bzw. 'Arbeit'/'Tätigkeit'.<br />

Wenn die Hand das primäre und elementare Arbeitsgerät sowie die elementare Waffe ist,<br />

dann ist die Annahme plausibel, dass 'Arbeit', 'Tätigkeit', 'Verhältnis zur Arbeit', auch 'Kampf'<br />

als idiomatische Bedeutungsdimensionen des Lexems Hand auf der konzeptuellen<br />

Metaphern HAND IST ARBEIT, HAND IST WERKZEUG, HAND IST MACHT basieren.<br />

Die Phraseologische Redeweise ist also begründet in der Art, wie der Mensch seine Umwelt<br />

und sich selbst wahrnimmt, wie er diese Wahrnehmungen zu verstehen versucht und wie es<br />

sie versprachlicht. Damit wird die <strong>Phraseologie</strong> zu einem nicht mehr wegzudenkenden<br />

Bestandteil der alltäglichen sprachlichen Kommunikation und somit zu einem unabdingbaren<br />

Element des Sprachenlernens.<br />

Argument 2: Phraseologische Redeweise ist seit frühen Erwerbsphasen<br />

Bestandteil des individuellen Lexikons eines jeden Sprechers<br />

Phraseme sind im individuellen Gedächtnis eines Menschen verankert und zwar schon seit<br />

sehr frühen Phasen des muttersprachlichen Spracherwerbs. Nach Ergebnissen der<br />

Spracherwerbsforschung folgt die Entwicklung der muttersprachlichen phraseologischen<br />

Kompetenz der allgemeinen kognitiven Entwicklung, sodass Kinder schon sehr früh, etwa im<br />

Kindergartenalter, <strong>Phraseologie</strong> verstehen und gebrauchen können (Häcki Buhofer 1997).<br />

Phraseme werden somit nicht erst in einer relativ späten Entwicklungsstufe des<br />

Spracherwerbs verstanden und gelernt, was die so genannte Entwicklungsstufen-These<br />

behauptet und auch in der Fremdsprachendidaktik nicht selten vertreten wird. Es konnte<br />

nämlich nachgewiesen werden, dass man sie in der Muttersprache in jeder<br />

Entwicklungsstufe erwirbt. Plausibel ist dementsprechend die Lexikon-These zum<br />

<strong>Phraseologie</strong>-Erwerb (laut Häcki Buhofer 1997), die besagt, dass Phraseme einzeln und<br />

genauso wie Wörter erworben/gelernt werden, nur müssen sie in genügend großen<br />

Kontexten eingebettet vorkommen – was aber sowieso eine natürliche Sprechsituation ist.<br />

Das heißt weiterhin, dass die Kinder sich dabei in der Regel keine expliziten Gedanken<br />

machen über spezielle phraseologische Strukturen und Bedeutungen. Phraseme werden<br />

76


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

weitgehend sofort in ihrem phraseologischen/idiomatischen Sinn verstanden/erworben.<br />

Doppeldeutige Phraseme, das sind solche, die eine wörtliche und eine idiomatische Lesart<br />

zulassen, werden in ihrer phraseologischen Lesart sogar schneller als in ihrer wörtlichen<br />

Bedeutung verstanden.<br />

Die Aneignung von muttersprachlicher <strong>Phraseologie</strong> verläuft parallel mit der Aneignung von<br />

Einzelwörtern und ist nicht an ein bestimmtes Alter bzw. an eine höhere kognitive<br />

Entwicklungsstufe gebunden. Auch aus psychologisch-kognitiven Gründen wäre also<br />

angemessen, die <strong>Phraseologie</strong> didaktisch entsprechend aufzufassen und als<br />

Unterrichtsgegenstand zu etablieren (Hessky 1997; Jesenšek 2008, 2011, 2013). Aus<br />

kognitiver Sicht ist es also nicht gerechtfertigt, Phraseme als Extreme und/oder exotische<br />

Besonderheiten im Wortschatz zu behandeln, aber auch nicht als etwas, was an sich eine<br />

sprachliche Besonderheit und Eigenartigkeit einer jeden einzelnen Sprache wäre, weswegen<br />

man sie beim fremdsprachlichen Unterricht entweder vernachlässigen oder auf spätere<br />

Phasen des Lernens verschieben oder sogar von den Lerninhalten ausklammern könnte oder<br />

sollte.<br />

Argument 3: Phraseologische Redeweise ist eine der universellen Charakteristika<br />

natürlicher Sprachen<br />

Die phraseologische Ausdrucksweise gehört zu den universellen Eigenschaften natürlicher<br />

Sprachen. Phraseologisierungsprozesse gehören weitgehend zu sprachlichen Universalien,<br />

was u.a. zur Folge hat, dass zwischen Sprachen relativ viele Phraseme hochgradig<br />

übereinstimmen. Die formale (und weitgehend auch semantische) zwischensprachliche<br />

Konvergenz gilt oft für Phraseme, die als Komponente eine Körperteilbenennung haben, wo<br />

die Metaphorisierung auf biologischen Gegebenheiten und menschlich universellen<br />

Welterfahrungen basiert und somit nicht als einzelsprachspezifisch gedeutet werden kann.<br />

Ebenso beobachtet man sie bei den Phrasemen, die in einer gemeinsamen (europäischen)<br />

Kultur wurzeln, von der klassischen Literatur ausgehen oder durch Massenmedien verbreitet<br />

werden. Solche Phraseme überschreiten die Grenzen einzelner Sprachen leicht. Somit ist<br />

77


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

nicht generell die Meinung zu teilen, dass die <strong>Phraseologie</strong> zur Eigentümlichkeit und<br />

Spezialität einer jeden einzelnen Sprache gezählt wird.<br />

Argument 4: <strong>Phraseologie</strong> in zwischensprachlichen Beziehungen<br />

Es ist längst anerkannt, dass die Muttersprache im Prinzip immer ein wichtiger Faktor beim<br />

Fremdsprachenlernen ist, auf den man als Lerner greift, bewusst oder unbewusst und auch<br />

nicht nur in den Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens. So kam auch Hallsteinsdóttir<br />

(2001) zum Schluss, dass der bekannten muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> eine<br />

entscheidende Rolle beim Verstehen fremdsprachlicher Phraseme zukommt. Ihre<br />

Untersuchung zum Deutsch als Fremdsprache bestätigt deutlich, dass die phraseologischen<br />

Kenntnisse in der Muttersprache auf fremdsprachliche <strong>Phraseologie</strong> übertragen werden und<br />

dadurch die Grundlage für das Verstehen fremdsprachlicher Phraseme bilden.<br />

In fremdsprachlichen Lernprozessen entsteht somit im Sprachbewusstsein der Lerner ein<br />

System von lexikalischen Korrelationen zwischen Sprachen, die parallel als zwei lexikalische<br />

Systeme nebeneinander vorhanden sind (Ďurčo 2005). Man kann folglich annehmen, dass im<br />

individuellen Wortschatz der Fremdsprachenlerner zunächst Beziehungen im Bereich der<br />

zwischensprachlichen phraseologischen Übereinstimmungen (Konvergenzen) hergestellt<br />

werden, sodass die fremdsprachliche <strong>Phraseologie</strong> von der äquivalenten und<br />

möglicherweise konvergenten muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> gestützt wird. In den<br />

Anfangsphasen des Fremdsprachenlernens sind derartige zwischensprachliche Bezüge noch<br />

besonders wichtig und ausgeprägt. Der Lerner identifiziert und entschlüsselt das<br />

fremdsprachige Phrasem, indem er Analogien zieht und Hilfe sucht beim schon Bekannten,<br />

und das ist in erster Linie seine Muttersprache, möglicherweise aber auch entsprechende<br />

Kenntnisse anderer Fremdsprachen. Vgl. Hallsteinsdóttir (2001, 300): »Die Übertragung der<br />

muttersprachlichen phraseologischen Kompetenz auf Fremdsprachen bedeutet, dass<br />

Fremdsprachler über Strategien verfügen, die ihnen die Konstruktion einer phraseologischen<br />

Bedeutung bei nichtlexikalisierten muttersprachlichen und demzufolge auch bei<br />

unbekannten fremdsprachlichen Phraseologismen ermöglichen.«<br />

78


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Gewinnbringend in Richtung des positiven Transfers (positive Auswirkung auf Lernerfolg)<br />

können hierbei die so genannten absoluten/totalen Äquivalente (Äquivalenz) fungieren.<br />

Dass derartige Übereinstimmungen nicht auszuschließen ist, zeigen Ergebnisse mancher<br />

kontrastiver Arbeiten zur <strong>Phraseologie</strong> europäischer Sprachen (Hessky 1997, Jesenšek 2008,<br />

Piirainen 2012). Natürlich können zwischensprachliche phraseologische Beziehungen auch<br />

negativen Transfer auslösen, also Interferenzstörungen verursachen, jedoch eher bei solchen<br />

Phrasemen, die zwischensprachlich mehrere formale und/oder semantisch-pragmatische<br />

Unterschiede aufweisen, also bei partiellen Äquivalenten. Schließlich ist festzustellen, dass<br />

nur diejenigen Phraseme, die zwischensprachlich gar keine phraseologischen Äquivalente<br />

nachweisen können (die so genannte Null-Äquivalenz), als einzelsprachliche Besonderheit<br />

interpretiert werden können.<br />

Die phraseologische Transfer-Geschichte möge in das Fremdsprachenlernen mehr Gewinn<br />

einbringen, als dies in der Didaktik üblicherweise behauptet wird. Die muttersprachlichen<br />

phraseologischen Kenntnisse sollten deshalb intensiver ausgenutzt werden. Dafür sprechen<br />

zunächst phraseologisch-theoretische Gründe, da <strong>Phraseologie</strong>n verschiedener Sprachen viel<br />

mehr Gemeinsames aufweisen als traditionell behauptet worden ist; ebenso von Bedeutung<br />

sind psychologisch-kognitive Gründe, wonach Phraseme seit sehr frühen Phasen des<br />

muttersprachlichen Spracherwerbs ein regelrechter Bestandteil des Wortschatzes sind,<br />

weswegen sie als Normalfall der Rede gelten müssen. Nicht zuletzt hat die Kontrastierung<br />

der Fremdsprache mit der jeweiligen Muttersprache eine intensivere Beschäftigung mit der<br />

letzteren zur Folge, was an sich als positiv einzuschätzen ist.<br />

4.3 Konsequenzen für das Fremdsprachenlernen<br />

Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ziehen lassen, sind methodisch-didaktischer und<br />

praktischer Art und betreffen das Fremdsprachenlernen in mehrerer Hinsicht. Sie zielen<br />

sowohl auf das individuelle und/oder das institutionelle Fremdsprachenlernen als auch auf<br />

die gesamte Planung des Sprachen-Unterrichts.<br />

79


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

4.3.1 Methodisch-didaktische Konsequenzen<br />

Synchronisierte Planung des (fremdsprachlichen) Sprachenunterrichts im<br />

Bereich <strong>Phraseologie</strong><br />

Es wurde darauf hingewiesen, dass in einigen kommunikativen Bereichen viele hochgradig<br />

konvergente Phraseme vorliegen. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen der<br />

Muttersprache des Lernenden und der jeweiligen Fremdsprache, mit der er sich<br />

auseinandersetzt. Im fremdsprachlichen Unterricht sollte dieser Tatsache stärker als bisher<br />

Rechnung getragen werden, da hochgradig konvergente Strukturen im<br />

Fremdsprachenlernen in der Regel positiven Transfer auslösen. In methodisch-didaktischer<br />

Hinsicht wäre deshalb eine generelle inhaltliche Synchronisierung des gesamten<br />

Sprachenunterrichts gewinnbringend.<br />

Bestehende Kenntnisse der muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> sollten beim<br />

fremdsprachlichen Unterricht sinnvoll und nutzbringend mit dem Phänomen der relativ<br />

hohen phraseologischen Konvergenz zwischen Sprachen verbunden werden. Dabei scheint<br />

in erster Linie die Auswahl der zu behandelnden Phraseme wichtig zu sein. Die Phraseme<br />

sollte man so auswählen, dass man dabei die phraseologische Situation in der jeweiligen<br />

Lerner-Muttersprache mit berücksichtigt. Mehr noch: Hauptsächlich sollte man von der<br />

Muttersprache ausgehen. Das bedeutet, dass diejenigen Phraseme in fremdsprachlichen<br />

Lernprozessen den Vorrang haben, für die es in der Muttersprache konvergente Strukturen<br />

gibt. Die Schwierigkeitsprogression entwickelt sich somit von den so genannten guten<br />

phraseologischen Freunden (Phraseme mit struktureller und inhaltlicher Übereinstimmung)<br />

über eventuelle falsche phraseologische Freunde (Phraseme mit struktureller Deckung,<br />

jedoch mit fehlender semantischer Äquivalenz oder umgekehrt) bis zu den fremdsprachigen<br />

Phrasemen, die in der Lerner-Muttersprache eine strukturell und bildlich völlig<br />

unterschiedliche oder sogar keine phraseologische Systemäquivalenz nachweisen können.<br />

80


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Entwicklung phraseologischer Lehr- und Lernmaterialien<br />

Wird der Faktor Muttersprache als eine wesentliche Größe verstanden, die das<br />

Fremdsprachenlernen linguistisch und psychologisch in allen Lernstufen mitbestimmt, so ist<br />

dem auch didaktisch nachzugehen, und zwar so, dass ausführliche und didaktisch<br />

aufbereitete sprachvergleichende Beschreibungen von <strong>Phraseologie</strong> entwickelt und<br />

erarbeitet werden. Es sind dabei solche vom Nutzen, die ausgewählte Bereiche der<br />

jeweiligen muttersprachlichen <strong>Phraseologie</strong> den entsprechenden fremdsprachlichen<br />

gegenüberstellen und dadurch auf Übereinstimmungen und Unterschiede deutlich<br />

aufmerksam machen. So ist dem Fremdsprachenlernenden ständig die Möglichkeit gegeben,<br />

auf die muttersprachliche <strong>Phraseologie</strong> zuzugreifen. Weiterhin sollten solche<br />

Lernmaterialien didaktisch aufbereitet werden, denn pure Angaben von anderssprachigen<br />

(fremdsprachigen) Äquivalenten genügen im Fremdsprachenlernen weniger oder überhaupt<br />

nicht. Zur Entwicklung einer aktiven phraseologischen Kompetenz benötigt der Lernende<br />

ausführliche Informationen zur Semantik, Grammatik und Pragmatik der ausgewählten<br />

<strong>Phraseologie</strong>.<br />

Hinsichtlich der Kriterien, nach denen man didaktisch relevante <strong>Phraseologie</strong> auswählt, ist<br />

weiterhin sehr wichtig, dass die selektionierten Phraseme im täglichen muttersprachlichen<br />

Sprachgebrauch auch aktuell und geläufig sind. Es hat ja nur wenig Sinn, wenn veraltete und<br />

wenig geläufige Phraseme im Fremdsprachenlernen thematisiert werden. Ebenso beeinflusst<br />

die Geläufigkeit das Verstehen von fremdsprachlichen Phrasemen wesentlich, eben nach<br />

dem Motto: Je öfter man ein Phrasem zu hören oder zu lesen bekommt, desto leichter und<br />

schneller versteht und erlernt man ihn. Darüber hinaus können Phraseme nur dann als<br />

didaktisch relevant gelten, falls sie in didaktisch relevante thematische Felder eingebettet<br />

werden können, womit sie an kommunikativer Brauchbarkeit gewinnen.<br />

Für eine systematischere und effektive Entwicklung der phraseologischen Kompetenz ist<br />

weiterhin notwendig, dass die <strong>Phraseologie</strong> prinzipiell in genügend großen Kontexten, das<br />

heißt in textuellen und somit funktionalen Zusammenhängen behandelt wird. Dies deshalb,<br />

weil Phraseme in der Rede, im Sprachgebrauch ja prinzipiell im Text eingebettet und nicht<br />

81


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

isoliert vorkommen und auch deshalb, weil der entsprechende Kontext beim Verstehen bzw.<br />

bei der Konstruktion der Bedeutung Hilfe leistet (Hallsteinsdóttir 2001). Eine textisolierte<br />

Behandlung von Phrasemen würde dagegen eine künstliche, unnatürliche Situation<br />

herbeiführen, ähnlich einer isolierten Nachschlagehandlung in einer Wörterbuch-Situation.<br />

Und nicht zuletzt kann man sich auf die Wörterbücher und ihre Behandlung der <strong>Phraseologie</strong><br />

nicht immer vollständig verlassen.<br />

4.3.2 Praktische Konsequenzen<br />

Praktische Konsequenzen einer derartigen theoretischen und methodisch-didaktischen<br />

Haltung sind wiederum mehrere und verschiedene:<br />

Konsequenzen in der Fremdsprachenlehrerausbildung<br />

<strong>Phraseologie</strong> als selbständiges Studienfach sollte zum festen Bestandteil der universitären<br />

Ausbildung in Lehramt-Studienprogrammen und zum Inhalt der Fortbildungs- und<br />

Weiterbildungsprogramme für Sprachenlehrer werden. Das ist zurzeit im europäischen<br />

Germanistik-Studium nicht unbedingt und nicht immer der Fall. Dies wäre eine wichtige<br />

Aufgabe der gerade aktuellen universitären Bildungsreform in Europa.<br />

Konsequenzen in der Lehr- und Lernmaterialentwicklung<br />

Entsprechende kontrastiv und didaktisch ausgerichtete Beschreibungen der <strong>Phraseologie</strong>,<br />

die eine Fremdsprache der jeweiligen Muttersprache des Fremdsprachenlerners<br />

gegenüberstellen, sind zu erarbeiten, da erst diese eine fachlich gesicherte Grundlage für<br />

eine optimale Festlegung der phraseologischen Inhalte im Fremdsprachenlernen darstellen.<br />

Darüber hinaus müssten diese eventuelle Besonderheiten in zwischensprachlichen<br />

phraseologischen Beziehungen berücksichtigen, was notwendigerweise zur Folge hat, dass<br />

die fremdsprachendidaktisch relevanten phraseologischen Inhalte nicht universell für alle<br />

Sprachen festgelegt werden können, sondern dass sie regionalisiert werden müssen. Dies ist<br />

82


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

die Aufgabe der Phraseologen, die kontrastiv arbeiten und Lexikographen, die zwei- oder<br />

mehrsprachige Wörterbücher, Datenbanken und/oder andersartige Lernmaterialien<br />

entwickeln.<br />

Konsequenzen in der FS-Planung und Festlegung von Curricula<br />

Eine integrative, fächerübergreifende Koordination der Lerninhalte ist notwendig, die jedoch<br />

nicht bei den Fremdsprachen stehen bleibt, sondern unbedingt auch die jeweilige<br />

Muttersprache mit einbezieht. Dies ist die Aufgabe der Sprachenlehrer und<br />

Sprachendidaktiker, da eigentlich nur diese für curriculare Entwicklung und Festlegung und<br />

somit für die Sprachenpolitik zuständig sein sollten.<br />

Konsequenzen in der täglichen Praxis des Sprachenlernens und<br />

Sprachenunterrichts<br />

Intensive Bezüge zum muttersprachlichen Unterricht sowie zum Unterricht anderer<br />

Fremdsprachen sind herzustellen, da nur dies ist eine lebensnahe und natürliche Situation<br />

ist. In der Realität existieren die Sprachen ja in der Regel nicht voneinander isoliert und<br />

getrennt, dies schon gar nicht in einer globalisierten und internationalisierten Welt von<br />

heute. Nur eine solche Vorgehensweise kann der sprachlichen Pluralität, der angestrebten<br />

Mehrsprachigkeit und der hochgeschätzten Interkulturalität, die in der EU sowohl deklarativ<br />

gefordert als auch tatsächlich gefördert werden, Rechnung getragen werden.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Zu den hier besprochenen Fragen zur Phraseodidaktik finden sie weitere Informationen in<br />

Burger (2010), Hallsteinsdottir 2001 und 2011, Jesenšek 2006, 2008, 2011 und 2013,<br />

Kacjan/Kralj 2011, Kacjan 2012, Jazbec/Enčeva 2012.<br />

83


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

84


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

ANHANG<br />

Teil A: Glossar<br />

Dieses Glossar umfasst die wichtigsten Fachtermini, die im vorliegenden Kompendium<br />

verwendet sind. Sie werden nur kurz definiert; nähere Erläuterungen zu den Begriffen, die<br />

sie benennen, findet man im Kompendium selbst. Sie sind strikt alphabetisch eingeordnet;<br />

Definitionen enthalten Verweise auf die weiteren im Glossar enthaltenen Fachtermini.<br />

Ambiguität<br />

semantische Eigenschaft sprachlicher Zeichen (Wörter, Wortverbindungen, Sätze),<br />

wonach diese auf verschiedene Weise interpretiert werden können, auch<br />

Mehrdeutigkeit<br />

Aphorismus<br />

kurzer, unabhängiger, origineller, als eigenständiger Text konzipierter Gedanke; von<br />

einem Sprichwort unterscheidet er sich dadurch, dass er nicht allgemein bekannte<br />

Weisheiten ausdrückt, sondern originelle, autorbezogene, oft subjektive und kritische<br />

Urteile, Erkenntnisse hervorbringt<br />

Äquivalenz<br />

die (zwischensprachliche) Identität oder Ähnlichkeit der phraseologischen Bedeutung<br />

Bauernregel<br />

Sprichwort, dessen Inhalt die landwirtschaftlichen Erfahrungen und Praktiken der<br />

Menschen sowie die Zucht der Tiere thematisiert<br />

85


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Epigramm<br />

literarische Gattung mit typischer formaler Struktur: meist Distichon, ein Verspaar,<br />

bestehend aus einem Heksameter und einem Pentameter und Titel<br />

Festigkeit<br />

Stabilität<br />

Geflügeltes Wort<br />

literarisches Zitat, das allgemein verwendet wird und folglich als allgemein bekannt<br />

gilt; die Quelle (oft klassische Literatur und Bibel) wird beim Gebrauch nicht mehr<br />

mitgedacht<br />

Idiom<br />

satzgliedwertiges Phrasem mit ausgeprägter Eigenschaft der Idiomatizität<br />

Idiomatik<br />

Idiomatizität<br />

1. Sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin zur Erforschung und Beschreibung<br />

der Idiome; 2. Gesamtbestand der Idiome einer Sprache<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach ihre phraseologische Gesamtbedeutung aus<br />

der Summe der Bedeutungen einzelner Bestandteile ( Komponenten) nicht<br />

erschließbar ist<br />

Kollokation<br />

typisches, häufiges, voraussagbares Auftreten von zwei Wörtern<br />

Konvergenz<br />

86


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

die (zwischensprachliche) Identität oder Ähnlichkeit der formalen Phrasemstruktur<br />

Komparative Phraseme<br />

Phraseme, die einen Vergleich versprachlichen und eine typische dreiteilige<br />

semantisch-syntaktische Struktur einnehmen (Vergleichsobjekt, tertium<br />

comparationis, Vergleichsmaß); Vergleichsobjekt und Vergleichsmaß verbindet<br />

jeweils eine Partikel (wie, als, als ob) miteinander<br />

Komponente<br />

einzelnes Element, Bestandteil (Wort) eines Phrasems<br />

Lexem<br />

Einheit des Wortschatzes, des Lexikons; Lexeme sind Einzelwörter und/oder feste<br />

Wortverbindungen<br />

Lexikalisiertheit<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach diese als feste Wortverbindungen mit<br />

ganzheitlicher Bedeutung zum Bestandteil des Lexikons (Wortschatzes) einer Sprache<br />

werden<br />

Maxime<br />

Lebensregel, die subjektive, individuelle Grundsätze moralischen Handelns ausdrückt<br />

Medizinisches Sprichwort<br />

Sprichwort, dessen Inhalt Ratschläge zum Erhalten oder Erlangen der Gesundheit<br />

thematisiert<br />

Mehrdeutigkeit<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Ambiguität<br />

Mehrgliedrigkeit<br />

Polylexikalität<br />

Modifikation<br />

gelegentliche, einmalige, autorenspezifische Umgestaltung einer phraseologischen<br />

Ausgangsform<br />

Paarformeln<br />

Phraseme, bestehend aus zwei Komponenten, die identische Lexeme sind oder der<br />

gleichen Wortart angehören; verbunden werden sie in der Regel durch<br />

Konjunktionen und Präpositionen; auch Zwillingsformeln<br />

Phrasem<br />

phraseologische Einheit einer Sprache; relativ feste Wortverbindung, deren<br />

Gesamtbedeutung mit der Summe von Bedeutungen einzelner Bestandteile in der<br />

Regel nicht gleichgesetzt werden kann<br />

<strong>Phraseologie</strong><br />

1. Sprachwissenschaftliche Forschungsdisziplin zur Erforschung und Beschreibung<br />

phraseologischer Bestände einzelner Sprachen; 2. der phraseologische Bestand einer<br />

Sprache, die Gesamtheit der Phraseme einer Sprache<br />

Phraseologischer Teilsatz<br />

Phrasem mit einleitendem Verb und Nebensatzstruktur<br />

Parömiologie<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

1. Sprachwissenschaftliche und/oder volkskundliche Forschungsdisziplin zur<br />

Erforschung und Beschreibung der Sprichwörter einzelner Sprachen; 2. der<br />

Sprichwort-Bestand einer Sprache, die Gesamtheit der Sprichwörter einer Sprache<br />

Polylexikalität<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach diese immer aus mehreren Teilen (Wörtern; <br />

Komponenten) bestehen; sie sind immer polylexikal (mehrgliedrig); auch<br />

Mehrgliedrigkeit<br />

Rechtssprichwort<br />

Sprichwort, dessen Inhalt historisch-kulturell bedingte Rechtsregelung oder soziale<br />

Ordnung thematisiert<br />

Reproduzierbarkeit<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach diese als feste Wortverbindungen mit<br />

ganzheitlicher Bedeutung im Sprachgebrauch nicht jedes Mal neu gebildet werden,<br />

sondern als vorgefertigte Einheiten zur Verfügung stehen<br />

Sentenz<br />

kurzer, prägnant formulierter Satz mit philosophisch-literarischem Hintergrund; der<br />

Autor und die Quelle sind bekannt<br />

Sprichwort<br />

allgemein bekannter, festgeprägter Satz, der eine Lebensregel oder Weisheit in<br />

prägnanter, kurzer Form ausdrückt; gehört zur Klasse der propositionalen<br />

nominativen Phraseme<br />

Sprichwortmodifikation<br />

89


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

einmalige bzw. gelegentliche Abwandlung eines usuellen Sprichwortes mit<br />

besonderer stilistischer Wirkung<br />

Sprichwortvariante<br />

häufige Abwandlung eines allgemein bekannten Sprichwortes, die als lexikalisiert<br />

anzusehen ist; vgl. Variante<br />

Stabilität<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach diese in Struktur und Bedeutung (relativ) fest<br />

sind; im mentalen Lexikon werden sie als feste Einheiten gespeichert und in der Rede<br />

als solche reproduziert; auch Festigkeit<br />

Variabilität<br />

Eigenschaft der Phraseme, wonach diese in Struktur veränderlich sind<br />

Variante<br />

usuelle, wiederholte, häufig vorkommende Abwandlungen der phraseologischen<br />

Ausgangsform<br />

Wellerismus<br />

modellhaft erweitertes Sprichwort mit dreiteiliger Struktur und humoristischironisch-satirischer<br />

Wirkung; die Struktur besteht aus dem Anfangsteil (bekanntes<br />

Sprichwort), dem Mittelteil (die Nennung dessen, der das Angangssprichwort äußert)<br />

und dem Schlussteil (die Beschreibung der Situation, in der die gesamte Struktur<br />

geäußert wird)<br />

Wettersprichwort<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Sprichwort, dessen Inhalt die klimatischen Beobachtungen der Menschen<br />

thematisiert<br />

Zwillingsformeln<br />

Paarformeln<br />

91


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Teil B: Wörterbuchverzeichnis<br />

Das Wörterbuchverzeichnis umfasst Angaben zu den Wörterbüchern, die im Kompendium<br />

besprochen werden. Es handelt sich um eine Liste der ausgewählten lexikographischen<br />

Nachschlagewerke, anhand deren man weitere und ausführlichere Kenntnisse zur<br />

<strong>Phraseologie</strong> und Parömiologie des Deutschen erwerben kann. Das Verzeichnis ist<br />

alphabetisch nach dem Autor bzw. ersten Autor geordnet.<br />

Beyer, Horst & Annelies (1985): Sprichwörterlexikon. Sprichwörter und sprichwörtliche<br />

Ausdrücke aus deutschen Sammlungen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München.<br />

Blum, Joachim Christian (1780-1782): Deutsches Sprichwörterbuch.<br />

http://archive.org/details/deutschessprich00blumgoog<br />

Büchmann, Georg (1993): Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 39. Aufl. Frankfurt<br />

am Main, Berlin. (Erstausgabe 1864).<br />

Büchmann, Georg (2007): Der Neue Büchmann – Geflügelte Worte. Der klassische<br />

Zitatenschatz. Berlin. http://www.aronsson.se/buchmann/<br />

DUDEN (2013). Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 4., neu bearbeitete<br />

und aktualisierte Aufl. Berlin, Mannheim, Zürich.<br />

von Lüttich, Ekbert: Fecunda ratis. http://archive.org/details/egbertsvonlttic00ltgoog<br />

Mieder, Wolfgang (1989): Antisprichwörter. 3 Bde. Wiesbaden.<br />

Nopitsch, Christian Conrad: Literatur der Sprichwörter. Ein Handbuch für Literarhistoriker,<br />

Bibliographen und Bibliothekare<br />

http://archive.org/details/literaturderspr00nopigoog (letzter Zugriff)<br />

92


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Petri (Peters), Friedrich (1605; 1983): Der Teuschen Weißheit. Hamburg. Nachdruck hrsg.<br />

von W. Mieder. Bern.<br />

Röhrich, Lutz (1991, 1992): Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 3 Bde.<br />

Freiburg.<br />

Schmidt, Walter (2012): Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand.<br />

Reinbek bei Hamburg.<br />

Schulze, Carl (1860; 1987): Die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache. Göttingen.<br />

Nachdruck hrsg. von W. Mieder. Bern.<br />

Sailer, Johann Michael: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher<br />

Sprichwörter.<br />

http://books.google.si/books/about/Die_weisheit_auf_der_gasse.html?id=7PtHAAAAMAAJ<br />

&redir_esc=y<br />

Seidl, Helmut A. (2010): Medizinische Sprichwörter. Das große Lexikon deutscher<br />

Gesundheitsregeln. Darmstadt.<br />

Seidl, Helmut A. (2012): Den Kopf halt kühl, die Füße warm! Sprichwörtliche<br />

Gesundheitstipps und was dahinter steckt. Darmstadt.<br />

Seiler, Friedrich: Deutsche Sprichwörterkunde.<br />

http://archive.org/details/deutschesprichw00seiluoft<br />

Simrock, Karl (1846; 1988): Die Deutschen Sprichwörter. Nachdruck von W. Mieder.<br />

Stuttgart.<br />

SprichWort (2010). SprichWort-Plattform. Eine Internetplattform für das Sprachenlernen.<br />

http://www.sprichwort-plattform.org/<br />

93


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Wander, Karl Friedrich Wilhelm (1867-1880; 1987): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. 5 Bde.<br />

Augsburg. Nachdruck der Ausgabe 1867.http://www.zeno.org/Wander-1867<br />

94


<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Teil C: Literaturverzeichnis<br />

Im Literaturverzeichnis ist die wichtigste Fachliteratur zur deutschen <strong>Phraseologie</strong> und<br />

Parömiologie angegeben. Es handelt sich um eine Liste der ausgewählten Publikationen, in<br />

denen man zu allen im Kompendium besprochenen Themen weiter lesen kann. Das<br />

Verzeichnis ist alphabetisch nach dem Autor bzw. ersten Autor geordnet.<br />

Burger, Harald (2010): <strong>Phraseologie</strong>. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 4., neu<br />

bearbeitete Aufl. Berlin.<br />

Harald Burger et al. (Hrsg.) (2007): <strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der<br />

zeitgenössischen Forschung. Berlin; New York.<br />

Burger, Harald, Annelies Buhofer, Ambros Sialm (1982): Handbuch der <strong>Phraseologie</strong>. Berlin,<br />

New York.<br />

Coulmas, Florian (1981): Routine im Gespräch. Zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik.<br />

Wiesbaden.<br />

Dobrovol’skij, Dimitrij (1988): <strong>Phraseologie</strong> als Objekt der Universalienlinguistik. Leipzig.<br />

Dobrovol’skij, Dimitrij, Elisabeth Piirainen (2005): Figurative Language. Cross-cultural and<br />

Cross-linguistic Perspectives. Amsterdam etc.<br />

Dobrovol’skij, Dimitrij, Elisabeth Piirainen (2009): Zur Theorie der <strong>Phraseologie</strong>: Kognitive<br />

und kulturelle Aspekte. Tübingen.<br />

Donalies, Elke (2009): Basiswissen. Deutsche <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen, Basel.<br />

Donalies, Elke (2012): <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen.<br />

Ďurčo, Peter (2005): Sprichwörter in der Gegenwartssprache. Trnava.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Fleischer, Wolfgang (1997): <strong>Phraseologie</strong> der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl.<br />

Tübingen.<br />

Földes, Csaba, Helmut Kühnert (1990): Hand- und Übungsbuch zur deutschen <strong>Phraseologie</strong>.<br />

Budapest.<br />

Földes, Csaba (1996): Deutsche <strong>Phraseologie</strong> kontrastiv: Intra- und interlinguale Zugänge.<br />

Heidelberg.<br />

Földes, Csaba (2007): Phraseme mit spezifischer Struktur. In: Burger, Harald et al. (Hrsg.):<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 1. Halbband.<br />

Berlin, New York, 424-435.<br />

Glaboniat, Manuela (Hg.) (2004): Profile deutsch. Lernzielbestimmung, Kann-Beschreibungen<br />

und kommunikative Mittel für die Niveaustufen A1, A2, B1, B2, C1 und C2 des »Gemenisamen<br />

europäischen Referenzrahmens für Sprachen«. Berlin.<br />

Hacki Buhofer, Annelies (1997): Phraseologismen im Spracherwerb. In: Wimmer,<br />

Rainer/Berens, Franz (Hgg.): Wortbildung und <strong>Phraseologie</strong>. Tübingen, S. 209-232.<br />

Hallsteinsdóttir, Erla (2001): Das Verstehen idiomatischer Phraseologismen in der<br />

Fremdsprache Deutsch. Hamburg.<br />

Hallsteinsdóttir, Erla (2011): Aktuelle Forschungsfragen der deutschsprachigen<br />

Phraseodidaktik. In: Linguistik online 47, H. 3, S. 3-31.<br />

Hessky, Regina (1997): Feste Wendungen – ein heißes Eisen? Einige phraseodidaktische<br />

Überlegungen für den DaF. In: Deutsch als Fremdsprache 3, 139-143.<br />

Hyvärinen, Irma (2011): Zu deutschen Höflichkeitsformeln mit bitte und ihren finnischen<br />

Äquivalenten. In: Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.), 147-203.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Hyvärinen, Irma (2011): Zur Abgrenzung und Typologie pragmatischer Phraseologismen –<br />

Forschungsüberblick und offene Fragen. In: Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.), 9-<br />

43.<br />

Hyvärinen, Irma, Annikki Liimatainen (Hrsg.) (2011): Beiträge zur pragmatischen<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Frankfurt am Main.<br />

Jazbec, Saša, Milka Enčeva (2012): Aktuelle Lehrwerke für den DaF-Unterricht unter dem<br />

Aspekt der Phraseodidaktik. In: Porta ling. 17, S. 153-171.<br />

Jesenšek, Vida (2000): Frazeologija In horoskop pri pouku nemškega jezika. In: Vestnik 34, H.<br />

1-2, S. 35-42.<br />

Jesenšek, Vida (2007): Pregovori med preteklostjo in prihodnostjo. In: Jesenšek, Marko (Hg.):<br />

Besedje slovenskega jezika. Maribor, 276-290.<br />

Jesenšek, Vida (2008): Begegnungen zwischen Sprachen und Kulturen. Beiträge zur<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Bielsko-Biała.<br />

Jesenšek, Vida (2010): Sprichwörter im Netz. Eine Internet-Lernplattform für das<br />

Sprachenlernen. In: Mellado Blanco, Carmen/Buján Otero, Patricia/Herrero Kaczmarek<br />

Claudia (Hgg.): La fraseografía del S. XXI. Nuevas propuestas para el español y el alemán.<br />

Berlin, S. 125-148.<br />

Jesenšek, Vida (2012): Sprichwörter aus (kontrastiv-)linguistischer, lexikografischer und<br />

didaktischer Sicht: zum Projekt SprichWort. In: Steyer, Kathrin (Hg.): Sprichwörter<br />

multilingual. Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen<br />

Parömiologie. Tübingen, S. 275-268.<br />

Jesenšek, Vida (2013): Sprichwörter im Sprachenlernen und was sollten Lehrende davon<br />

wissen. (Im Druck).<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Jesenšek, Vida, Melanija Fabčič (Hgg.) (2007): <strong>Phraseologie</strong> kontrastiv und didaktisch. Neue<br />

Ansätze in der Fremdsprachenvermittlung. Maribor.<br />

Kacjan, Brigita (2012): Didaktische Lerntipps für das Sprichwortlernen. Bedeutung,<br />

Funktionen und Umsetzung. In: Steyer, Kathrin (Hg.): Sprichwörter multilingual.<br />

Theoretische, empirische und angewandte Aspekte der modernen Parömiologie. Tübingen,<br />

S. 453-470.<br />

Kralj, Nataša, Brigita Kacjan (2011): <strong>Phraseologie</strong>unterricht in der Zeit der neueren<br />

Lernmedien. In: Linguistik online 47, H. 3. http://www.lInguistikonlIne.de/47_11/kacjanKralj.html.<br />

Koller, Werner (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen,<br />

Sprachspiel. Tübingen.<br />

Koller, Werner (2007): Probleme der Übersetzung von Phrasemen. In: Burger, H. etc. (Hrsg.):<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1. Berlin,<br />

New York, 605-613.<br />

Korhonen, Jarmo (2007): Probleme der kontrastiven <strong>Phraseologie</strong>. In: Burger, H. etc. (Hrsg.):<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1. Berlin,<br />

New York, 574-589.<br />

Kühn, Peter (1992): Phraseodidaktik. Entwicklungen, Probleme und Überlegungen für den<br />

Muttersprachenunterricht und den Unterricht DaF. In Fremdsprachen Lehren und Lernen 21:<br />

169-189.<br />

Kühn, Peter (1996): Redewendungen – nur im Kontext! Kritische Anmerkungen zu<br />

Redewendungen in Lehrwerken. In Fremdsprache Deutsch 15, 2: 10-16.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Kühn, Peter (2007): Phraseme im Muttersprachenunterricht. In Burger, H. etc. (eds.),<br />

<strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 2. Berlin,<br />

New York: Walter de Gruyter, 881-893.<br />

Lee, Jing-Ru (2005): Deutsche und chinesische Sprichwörter. Ein linguistischer konfrontativer<br />

Vergleich. Baltmannsweiler.<br />

Lewandowska, Anna (2008): Sprichwort-Gebrauch heute. Ein interkulturell-kontrastiver<br />

Vergleich von Sprichwörtern anhand polnischer und deutscher Printmedien. Bern etc.<br />

Lüger, Heinz-Helmut (1999): Satzwertige Phraseologismen. Eine pragmalinguistische<br />

Untersuchung. Wien.<br />

Lüger, Heinz-Helmut (2007): Pragmatische Phraseme: Routineformeln. In: Burger, H. etc.<br />

(Hrsg.): <strong>Phraseologie</strong>. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. Bd. 1.<br />

Berlin, New York, 444-459.<br />

Malberg, Horst (1999): Bauernregeln. Aus meteorologischer Sicht. 3. Aufl. Berlin etc.<br />

Mieder, Wolfgang (1985): Sprichwort, Redensart, Zitat. Tradierte Formelsprache in der<br />

Moderne. Bern.<br />

Mieder, Wolfgang (1989): Das Sprichwörterbuch. In: Hausmann, Franz Josef et al. (Hrsg.):<br />

Wörterbücher. Ein internationales Handbuch zur Lexikographie. 1. Teilband. Berlin, New<br />

York, 1033-1044.<br />

Mieder, Wolfgang (1992): Sprichwort – Wahrwort!? Studien zur Geschichte, Bedeutung und<br />

Funktion deutscher Sprichwörter. Frankfurt am Main.<br />

Mieder, Wolfgang (1995): »Alles in bester Unrodnung«. Zu den sprichwörtlichen Aphorismen<br />

von Žarko Petan. In: Mieder, W.: Sprichwörtliches und Geflügeltes. Sprachstudien von Martin<br />

Luther bis Karl Marx. Bochum, 157-174.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

Mieder, Wolfgang (1995a): Sprichwörtliches und Geflügeltes. Sprachstudien von Martin<br />

Luther bis Karl Marx. Bochum.<br />

Mieder, Wolfgang (1999): Sprichwörter, Redensarten – Parömiologie. Heidelberg.<br />

Mieder, Wolfgang (2009): International Bibliography of Paremiology and Phraseology. Vol. I,<br />

II. Berlin, New York.<br />

Palm, Christine (1997): <strong>Phraseologie</strong>. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen.<br />

Piirainen, Elisabeth (2012): Widespread Idioms in Europe and Beyond. Toward a Lexicon of<br />

Common Figurative Units. New York etc.<br />

Pilz, Klaus Dieter (1981): Redensartenforschung. Stuttgart.<br />

Röhrich, Lutz, Mieder, Wolfgang (1977): Sprichwort. Stuttgart.<br />

Sabban, Annette, Jan Wirrer (Hrsg.) (1991): Sprichwörter und Redensarten im<br />

interkulturellen Vergleich. Opladen.<br />

Sava, Doris (2009): Traditionen und Perspektiven phraseologischer Forschung. Sibiu.<br />

Stein, Stephan (1995): Formelhafte Sprache: Untersuchungen zu ihren pragmatischen und<br />

kognitiven Funktionen im gegenwärtigen Deutsch. Frankfurt am Main etc.<br />

Umurova, Gulnas (2005): Was der Volksmund in einem Sprichwort verpackt ...: moderne<br />

Aspekte des Sprichwortgebrauchs anhand von Beispielen aus dem Internet. Frankfurt am<br />

Main etc.<br />

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<strong>Phraseologie</strong>. Kompendium für germanistische Studien<br />

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