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Sprache als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand

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<strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

Sie haben sich für ein Studium der Sprachwissenschaft entschieden, ergo bietet es sich gleich zu<br />

Beginn an, ein wenig gründlicher herauszuarbeiten, wie der Begriff »<strong>Sprache</strong>« eingegrenzt werden<br />

kann derart, dass sich daraus die Untersuchungsgegenstände der Sprachwissenschaft ableiten lassen.<br />

1 <strong>Sprache</strong><br />

Jeder Mensch spricht (mindestens) eine <strong>Sprache</strong>. Unser ganzes Leben ist von <strong>Sprache</strong> durchdrungen –<br />

wenn wir mit Freunden in der Kneipe sitzen, wenn wir ein Buch lesen, wenn wir Radio hören, wenn<br />

wir eine E-Mail schreiben usw. usf.: <strong>Sprache</strong> ist immer dabei.<br />

Interessanterweise aber machen wir uns über diesen Umstand nur selten tiefere Gedanken. <strong>Sprache</strong> ist<br />

so selbstverständlich, die sprachliche Kompetenz so unbewusst, dass wir oft erst anfangen, über dieses<br />

Phänomen nachzudenken, wenn Probleme damit auftreten: z.B. dann, wenn man auf Sprecher einer<br />

anderen <strong>Sprache</strong> trifft (und noch nicht einmal »Bahnhof« versteht), wenn man nach einem Unfall nicht<br />

mehr in der Lage ist, sich zu artikulieren, wenn man versucht, einem Computer das »Sprechen« in<br />

natürlicher <strong>Sprache</strong> beizubringen.<br />

Wenn Sie selber versuchen, eine kurze, präzise Definition des Begriffes »<strong>Sprache</strong>« zu geben, werden<br />

Sie schnell an Ihre Grenzen stoßen: obwohl wir diesen Begriff häufig verwenden, haben wir i.d.R.<br />

nicht mehr <strong>als</strong> eine eher vage, intuitive Vorstellung davon, was damit eigentlich alles abgedeckt wird.<br />

Nehmen wir dafür ein kleines Beispiel. Eine Google-Suche nach »die <strong>Sprache</strong> der...« ergab 2,3<br />

Millionen Treffer, von denen die ersten wie folgt lauten:<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Toten<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Gewalt<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Internet-Generation<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Bäume<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Gehörlosen<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Pferde<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Pharaonen<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Romantiker<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Gefühle<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Dinge<br />

• Die <strong>Sprache</strong> der Haut<br />

Hier wird ein- und derselbe Begriff verwendet, um jeweils ganz unterschiedliche Konzepte auszudrücken:<br />

selbst ohne eine eindeutige Definition des Begriffes »<strong>Sprache</strong>« wird uns wohl klar sein, dass<br />

mit »Die <strong>Sprache</strong> der Toten« etwas anderes gemeint sein müsste, <strong>als</strong> mit »Die <strong>Sprache</strong> der Internet-<br />

Generation«. Wie aber kann man diese Unterschiede dingfest machen? Gibt es etwas, was diese<br />

Verwendungsweisen trotz der Unterschiede gemein haben? Und wie verhält es sich mit diesen<br />

»<strong>Sprache</strong>n« <strong>als</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong> der Linguistik?<br />

1.1 Verschiedene Definitionen des Begriffes »<strong>Sprache</strong>«<br />

Eine beliebte Herangehensweise, um in solchen Fällen Klärung zu schaffen (die sie entsprechend in<br />

zahlreichen Einführungen vorfinden) besteht darin, sich anzusehen, was die Experten auf diesem<br />

Gebiet aussagen: diese müssten ja am ehesten in der Lage sein, das fragliche Konzept zu definieren, ist<br />

es doch Primärgegenstand ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit.<br />

Interessanterweise aber können wir, was »<strong>Sprache</strong>« angeht, feststellen, dass es bei den Sprachwissenschaftlern<br />

keinerlei einheitliche Definition für dieses Konzept gibt. Sehen wir uns dazu exemplarisch<br />

die folgenden Aussagen zweier Klassiker unter den Linguisten an:<br />

[...] I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and<br />

constructed out of a finite set of elements. (Noam Chomsky, 1957)<br />

Language does not exist, it happens. [...] Language is an activity basically of four kinds: speaking,<br />

listening, writing and reading. (M.A.K. Halliday, 1964)<br />

Zunächst können wir feststellen, dass »<strong>Sprache</strong>« hier auf zwei verschiedene Arten verwendet wird:<br />

einmal, bei Chomsky, mit dem Artikel »a«, bei Halliday dagegen ohne. Dieser Unterschied geht mit<br />

einem Bedeutungsunterschied einher: während »a language« sich auf das bezieht, was wir im<br />

Deutschen »Einzelsprache« nennen würden (<strong>als</strong>o Russisch, Tagalog, Mandarin etc.), bezieht sich die<br />

artikellose Verwendung auf <strong>Sprache</strong> »an sich«, ein abstraktes, globales und spezifisch menschliches<br />

Phänomen, das letztendlich allen Einzelsprachen bzw. deren Erwerb zugrundeliegt.<br />

Ganz intuitiv können wir wohl beiden der Definitionen zustimmen, sind uns aber klar darüber, dass sie<br />

jeweils unterschiedliche Aspekte des Phänomens »<strong>Sprache</strong>« beleuchten und sich dabei wiederum einer<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 1


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

Begrifflichkeit bedienen, die ihrerseits geklärt werden muss (was bedeutet z.B. bei Chomsky das<br />

Konzept »sentence«? Was versteht Halliday unter einer »activity«?).<br />

Diese beiden Aussagen zeigen <strong>als</strong>o sehr deutlich, dass es – wie in jeder Wissenschaft – auch in der<br />

Linguistik der Blickwinkel des jeweiligen Wissenschaftlers ist, der den Gegenstand definiert: In<br />

Abhängigkeit davon, welcher Ausschnitt der »realen Welt« betrachtet wird, landen wir letztendlich bei<br />

unterschiedlichen Untersuchungsbereichen.<br />

In der Tat ist es so, dass es in der modernen Linguistik keine einheitliche, standardisierte Definition<br />

des Begriffes »<strong>Sprache</strong>« gibt und eine solche aus den gerade genannten Gründen auch nicht vorrangig<br />

angestrebt wird.<br />

In einem Punkt allerdings sind sich die meisten Sprachwissenschaftler einig, dass nämlich die<br />

Untersuchung von <strong>Sprache</strong> bzw. einer Einzelsprache zwei wesentliche Aspekte umfasst, nämlich<br />

einerseits die Untersuchung der Funktion, die <strong>Sprache</strong> erfüllt, und andererseits der formalen<br />

Eigenschaften, die sie aufweist. Ferner besteht Konsens darüber, dass man im Rahmen<br />

sprach<strong>wissenschaftlicher</strong> Forschung eine Reihe von linguistischen Kerngebieten ausmachen kann, die<br />

im Grunde so etwas wie die Basis jeglicher Untersuchung bilden.<br />

Genau diese Kerngebiete wollen wir in den nächsten Abschnitten herausarbeiten. Wir beziehen uns<br />

dabei auf die Annahme, dass <strong>Sprache</strong> ein semiotisches System ist. Eine derartige Annäherung an den<br />

Gegenstand werden Sie in unzähligen Einführungen in die Sprachwissenschaft finden. Die Konzepte<br />

»semiotisches System« und Begriffe wie »Zeichen« und »Symbol« gehören mithin zum Grundstock<br />

jedes Sprachwissenschaftlers. Interessanterweise, und kaum nachvollziehbar, ist es dabei aber häufig<br />

so, dass diese Begrifflichkeit nur einmal, oft in einleitenden Sitzungen, eingeführt wird und dann, für<br />

den Rest entsprechender Seminare, auf Nimmerwiedersehen verschwindet – fast so, <strong>als</strong> ob die<br />

Veranstalter damit eine Pflicht erfüllen, deren Sinn sie nicht recht nachvollzogen haben. Das ist<br />

insofern bedauerlich, <strong>als</strong> eine etwas gründlichere Auseinandersetzung mit diesen Konzepten das, was<br />

wir weiter oben <strong>als</strong> linguistische Kerngebiete bezeichnet haben, auf ganz elegante und einfache Art<br />

begründet und es sich in allen weiteren Auseinandersetzungen mit dem Thema »<strong>Sprache</strong>« lohnt, den<br />

Zeichencharakter sprachlicher Ausdrücke im Hinterkopf zu behalten.<br />

2 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> semiotisches System<br />

Als eine wesentliche Funktion der <strong>Sprache</strong> kann ihre Aufgabe <strong>als</strong> Medium in einem Kommunikationsprozess<br />

genannt werden: mithilfe von <strong>Sprache</strong> »senden« und »empfangen« wir Ideen, Nachrichten,<br />

Gedanken, kurz Information.<br />

In diesem Kontext betrachten wir <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein semiotisches System, <strong>als</strong>o <strong>als</strong> ein System, das aus<br />

einer Menge von physisch wahrnehmbaren Zeichen und deren Kombination zu komplexen Zeichen<br />

besteht und dessen Aufgabe es ist, <strong>als</strong> gemeinsamer, der Kommunikation zugrundeliegender Kode zu<br />

fungieren. Dieser Kode muss allen zur Verfügung stehen, die am Kommunikationsprozess beteiligt<br />

sind, damit Kommunikation überhaupt funktionieren kann.<br />

2.1 Zeichen und sprachliche Zeichen<br />

Da das Konzept »Zeichen« in diesem Kontext so zentral ist, wollen wir uns im folgenden ein wenig<br />

intensiver damit beschäftigen.<br />

Was macht ein Zeichen überhaupt aus? Etwas salopp können wir sagen, dass das wesentliche<br />

Kriterium eines Zeichens darin besteht, dass es für etwas anderes steht. Hinsichtlich der materiellen<br />

Form gibt es kaum Einschränkungen: im Grunde genommen kann alles, was physisch wahrnehmbar<br />

ist, Zeichencharakter haben. Auch bezüglich des Zeicheninhaltes, <strong>als</strong>o dessen, wofür es steht, gibt es<br />

quasi keine Beschränkungen. Spontanbildungen von Zeichen sind problemlos möglich – jedenfalls<br />

dann, wenn sich die am Kommunikationsprozess beteiligten Partner entsprechend einigen.<br />

Das klingt ja zunächst einmal sehr vage, allerdings gibt es einige Anhaltspunkte, über die wir<br />

verschiedenen Typen von Zeichen beschreiben und voneinander unterscheiden können, um das Ganze<br />

zu systematisieren. Dreh- und Angelpunkt bei diesen Überlegungen ist die Frage, wie genau der Bezug<br />

ist zwischen dem Zeichen und dem, wofür es steht. Wir stützten uns im folgenden auf die Einteilung<br />

von Zeichen im Sinne von Charles Saunders Peirce (1839-1914), einem der Begründer moderner<br />

semiotischer Forschung.<br />

Damit wir im Zusammenhang mit Zeichen nicht immer die etwas umständliche Formulierung »das,<br />

wofür es steht« verwenden zu müssen, führen wir dafür den Begriff »Bezeichnetes« ein.<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 2


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

2.1.1 Typen von Zeichen<br />

Wenn es einen kausalen Bezug gibt zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten, spricht man von<br />

einem Index oder indexikalischen Zeichen. Beispiele dafür sind Rauch, der für ein Feuer steht, Fieber,<br />

das auf eine Krankheit verweist und etliche andere. Unser alltägliches Leben steckt im Grunde voller<br />

derartiger Zeichen, zu denen auch die Symptome gerechnet werden und bei denen ein definitiver,<br />

materieller Bezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem gegeben ist.<br />

Wenn dieser Bezug sich darauf stützt, dass eine wahrnehmbare, d.h. z.B. visuelle oder akustische<br />

Analogie bzw. Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem besteht, gehört das Zeichen zur<br />

Klasse der Ikone bzw. ikonischen Zeichen. Zu diesen zählen z.B. bestimmte Piktogramme wie die<br />

folgenden:<br />

(1) <br />

(2) <br />

(3) <br />

Die physische Form dieser Zeichen ähnelt ihren Bezeichneten (bzw. bestimmten Aspekte davon): ein<br />

Telephon in (1), ein Rollstuhlfahrer in (2) und ein Krankenwagen in (3).<br />

Der dritte und für uns relevanteste Typ von Zeichen ist das sogenannte Symbol. Im Unterschied zu<br />

indexikalischen und ikonischen Zeichen lässt sich bei Symbolen kein direkter Bezug zwischen<br />

Zeichen und Bezeichnetem ausmachen. Die nachstehenden Beispiele, ebenfalls Piktogramme, gehören<br />

zu den symbolischen Zeichen:<br />

(4) <br />

(5) <br />

(6) <br />

Bei diesen Beispielen gibt es keinerlei kausale Ursache oder formale Ähnlichkeit zwischen Zeichen<br />

und Bezeichnetmn. Der Umstand, dass wir das Zeichen in (4) <strong>als</strong> Symbol für die Bekämpfung von<br />

AIDS interpretieren und das in (5) <strong>als</strong> Symbol für das Sternkreiszeichen »Krebs« unterliegt allein der<br />

Konvention, auf die wir, <strong>als</strong> Zeichenbenutzer, uns geeinigt haben.<br />

Das Zeichen in (6) macht diesen Umstand besonders deutlich, da es nämlich in Abhängigkeit davon,<br />

wo (genauer gesagt, in welcher »Kommunikationskultur«) es gebraucht wird, für verschiedene Inhalte<br />

steht. In vielen westeuropäischen Kulturen steht es für »sehr gut« oder »exzellent«, in anderen<br />

Kulturen dagegen hat es eher ikonischen Charakter und steht <strong>als</strong>o für etwas wirklich vollkommen<br />

anderes. Miroslav Klose sollte dieses Zeichen im nächsten Spiel gegen Brasilien besser nicht<br />

einsetzen.<br />

Auf dieser Klassifikation basierend können wir sprachliche Zeichen nun unter den symbolischen<br />

Zeichen eingruppieren. 1 Nehmen wir <strong>als</strong> Beispiel das folgende sprachliche Zeichen:<br />

(7) Hund<br />

Hier ist die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem willkürlich in dem Sinne, <strong>als</strong> das Zeichen<br />

nicht inhärent oder natürlich aus dem Bezeichneten folgt, <strong>als</strong>o weder kausaler Bezug noch formale<br />

Analogie zwischen beiden vorliegt. Erneut kann dieser Umstand dadurch belegt werden, dass die<br />

physische Form des Zeichens bei gleichem Inhalt in anderen <strong>Sprache</strong>n anders aussieht (bzw. klingt):<br />

dog (Englisch), perro (Spanisch), cобака (Russisch), chien (Französisch), mbwa (Swahili) etc.<br />

2.1.2 Die interne Struktur von Zeichen<br />

Was nun den internen Aufbau von Zeichen angeht, werden im Rahmen der modernen Linguistik i.d.R.<br />

zwei verschiedenen Ebenen differenziert: einerseits die sog. Inhaltsebene, die die Bedeutung oder das<br />

mentale Konzept umfasst, das durch das Zeichen ausgedrückt wird, andererseits die sog.<br />

Ausdrucksebene, auf der es um die materielle Form des Zeichens geht.<br />

Diese Unterscheidung basiert auf den Arbeiten Ferndinand de Saussures (1857-1913), einem der<br />

Mitbegründer der modernen Sprachwissenschaft. Saussure hat eine ganze Reihe von Fachtermini und<br />

1 Auf die sogenannten lautmalerische Zeichen, d.h. solche, die unter der Bezeichnung »Onomatopoetika«<br />

bekannt sind, eine akustische Analogie aufweisen mit dem, wofür sie stehen und <strong>als</strong>o ikonischen Charakter<br />

haben, gehen wir hier nicht ein. Zahlreiche der dafür herangezogenen Beispiele können genauerer Betrachtung<br />

im Sprachvergleich häufig nicht standhalten (vgl. »Schwein«: im Englischen »oink-oink«, im Japanischen »booboo«,<br />

im Norwegischen »nöff-nöff« usw., wiewohl wir wahrscheinlich davon ausgehen können, dass die von<br />

englischen Schweinen produzierten Geräusche denen norwegischer Schweine ähnlich sein dürften.)<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 3


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

Methoden der modernen Sprachwissenschaft entwickelt und wird deshalb <strong>als</strong> einer der Väter<br />

strukturalistischer Linguistik gesehen.<br />

In Saussures Modell besteht ein sprachliches Zeichen aus zwei Seiten: nämlich einer mentalen<br />

»Vorstellung«, die mit einer bestimmten lautlichen (oder graphischen) Form assoziiert ist. Beide<br />

Seiten bedingen sich gegenseitig, die eine evoziert die andere und sie sind <strong>als</strong>o nicht voneinander<br />

trennbar. Als wir weiter oben über die »materielle Form des Zeichens« und »das, wofür es steht«<br />

gesprochen haben, haben wir uns natürlich auf genau diese beiden Aspekte des Zeichens bezogen.<br />

Saussure hat für diese Seiten die Begriffe »signifié« (Inhaltseite) und »signifiant« (Ausdrucksseite)<br />

eingeführt, beides Ausdrücke, die aufgrund ihrer Präzision und Eindeutigkeit <strong>als</strong> Fachtermini in die<br />

moderne Sprachwissenschaft Einzug gehalten haben.<br />

Auf Grundlage dieses Zeichenmodells können wir nun das weiter oben in (7) diskutierte Zeichen<br />

»Hund« wie folgt informell und unvollständig analysieren:<br />

• Inhaltseite: ist ein Tier, hat vier Beine, hat einen Schwanz, bellt, wird <strong>als</strong> Haustier gehalten<br />

• Ausdruckseite: eine Sequenz von Lauten ([hnt]) bzw. Buchstaben (Hund)<br />

2.1.3 Unterschiedliche Grade der Komplexität sprachlicher Zeichen<br />

Ein ganz wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit sprachlichen Zeichen ist darin zu sehen, dass diese<br />

unterschiedliche Komplexitätsgrade aufweisen. Tatsächlich ist dieser Punkt eines der Hauptmerkmale<br />

menschlicher <strong>Sprache</strong>: Zeichen können mit anderen Zeichen kombiniert werden, um komplexe<br />

Zeichen zu bilden. Als Verdeutlichung brauchen Sie nur einen der folgenden Ausdrücke zu nehmen,<br />

die sich jeweils aus einer Reihe von elementareren Zeichen zusammensetzen:<br />

(8) Verteidigungsministerium, Fußballschuhe, Zahnersatz, Plosivlaute<br />

Jeder dieser komplexen Begriffe hat eine Ausdrucks- und eine Inhaltseite, die sich jeweils aus der<br />

Kombination von weniger komplexen Zeichen bilden, die ihrerseits ebenfalls über eine Ausdrucksund<br />

eine Inhaltsseite verfügen. Das gleiche gilt natürlich auch für das folgende komplexe Beispiel, ein<br />

sprachliches Zeichen vom Typ »Satz«:<br />

(9) Die Eislawine riss die Seile und Befestigungen mit sich.<br />

3 Die Untersuchung von <strong>Sprache</strong><br />

Nachdem wir nun auf erste Tuchfühlung mit dem Komplex » <strong>Sprache</strong>« gegangen sind, geht es im<br />

nächsten Teil mit der Frage weiter, wie man sich diesem wissenschaftlich annähern kann. Sie können,<br />

ähnlich wie bei dem Konzept »<strong>Sprache</strong>«, auch hier davon ausgehen, dass hinsichtlich dieser Frage<br />

kein klare Übereinstimmung herrscht (sehen Sie dazu auch den Abschnitt 3.4.3).<br />

Die folgenden Abschnitte stellen allerdings eine Art Minimalkonsens dar, was die traditionelle<br />

Aufteilung der Sprachwissenschaft in ihre verschiedenen Kerngebiete angeht. Dafür leisten uns die<br />

Ausführungen aus Abschnitt 2 sehr gute Dienste.<br />

3.1 Sprachwissenschaftliche Kerngebiete<br />

In dem Maße, in dem wir <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein System von Zeichen interpretieren, und in dem wir Zeichen<br />

<strong>als</strong> binäre Konstrukte, bestehend aus einer Inhaltsseite und einer Ausdrucksseite sehen, können wir<br />

zunächst verschiedene Untersuchungsgegenstände semiotischer Forschung benennen:<br />

• Die Untersuchung und Beschreibung der Ausdrucksseite von Zeichen<br />

• Die Untersuchung und Beschreibung der Inhaltsseite von Zeichen<br />

• Die Untersuchung und Beschreibung der Relation, die zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite<br />

besteht und der kombinatorischen Prozesse, deren Ergebnis komplexe Zeichen sind<br />

Aus genau diesen Untersuchungsgegenständen können wir nun, einfach und elegant, die traditionellen<br />

»sprachwissenschaftliche Kerngebiete« der Linguistik ableiten:<br />

• Phonetik und Phonologie (»Lautlehre«): die Untersuchung der Ausdrucksseite sprachlicher<br />

Zeichen<br />

• Semantik (»Bedeutungslehrer«): die Untersuchung der Inhaltsseite sprachlicher Zeichen<br />

• Morphologie und Syntax (»Formenlehre« und »Satzlehre«): die Untersuchung der Beziehung<br />

zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen und der kombinatorischen<br />

Prozesse, die in komplexen sprachlichen Zeichen resultieren.<br />

Bei dieser Auflistung sei allerdings unbedingt berücksichtigt, dass eine strikte Trennung kaum<br />

möglich ist – zahllose linguistische Phänomene sind nur dann erschöpfend zu beschreiben, wenn diese<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 4


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

Beschreibung gebietsüberschreitend ist. Auch ist es so, dass bestimmte theoretische Konstrukte und<br />

Methoden sich bereichsübergreifend in diversen Kerngebieten wiederfinden.<br />

Deutlich wird aber hier erneut, dass, wie wir weiter oben bereits festgesellt haben, die Perspektive der<br />

Wissenschaftler den Gegenstand konstituiert: wenn wir den Blick auf die Ausdruckseite richten,<br />

»konstituieren« wir die Untersuchungsgegenstände der Phonetik und Phonologie, konzentrieren wir<br />

uns dafür auf die Inhaltsseite, betreiben wir Semantik usw.<br />

3.2 Verschiedene Perspektiven innerhalb der Kerngebiete<br />

Natürlich können wir hier, innerhalb dieser Bereiche, auch noch unterschiedliche Erkenntnisinteressen<br />

und Zielsetzungen, d.h. wiederum verschiedene Perspektiven und <strong>als</strong>o Wissenschaften ausmachen.<br />

Nehmen wir <strong>als</strong> Beispiel die Phonetik und Phonologie.<br />

• Ein Computerlinguist könnte sich für diese z.B. deshalb interessieren, weil er versucht, natürlichsprachliche<br />

Systeme auf Maschinen zu implementieren.<br />

• Einem Typologen ist dagegen eher daran gelegen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in<br />

diesem Bereich in den <strong>Sprache</strong>n der Welt dingfest zu machen.<br />

• Ein Dialektologe würde sich für die Frage interessieren, ob es im phonologischen System<br />

verschiedener Bevölkerungsgruppen innerhalb einer Sprachgemeinschaft Unterschiede gibt<br />

und welche das sind.<br />

• Ein historisch orientierter Sprachwissenschaftler untersucht die phonologischen Prozesse, die<br />

zu einer Änderung des phonologischen Systems einer <strong>Sprache</strong> beigetragen haben.<br />

3.3 Theoretische vs. angewandte Linguistik<br />

Auf einer etwas anders gelagerten Ebenen können wir, quer zu diesen linguistischen Kerngebieten,<br />

auch noch eine Unterscheidung zwischen einer eher theoretisch ausgerichteten Linguistik und einer<br />

eher anwendungsorientierten Linguistik treffen.<br />

Im Bereich der erstgenannten geht es primär um die Frage, welche Begrifflichkeit, welche<br />

Hypothesen, welche Theoriebausteine denn sinnvollerweise für die Beschreibung und Erklärung der<br />

verschiedenen sprachlichen Ebenen bzw. den darauf bezogenen Wissenschaftsgebieten eingesetzt<br />

werden soll. Hier spielen nicht zuletzt Fragen bezüglich der Präzision, der Erklärungs- und<br />

Vorhersagekraft und der Ökonomie linguistischer Theorien ein große Rolle, was bedeutet, dass hier im<br />

Wesentlichen ein Erkenntnisinteresse vorliegt.<br />

In der eher anwendungsorientierten Linguistik dagegen geht es primär darum, sprachwissenschaftliche<br />

Forschung mit konkreten, wenn Sie so wollen »handfesten« Anwendungen zu verbinden. Das<br />

bedeutet, dass in diesem Bereich häufig die in der theoretischen Linguistik ermittelten Erkenntnisse<br />

eine Grundlage für praktische Umsetzungen mit unterschiedlichen .Zielsetzungen darstellen.<br />

Idealerweise gehen theoretische und angewandte Linguistik Hand in Hand, ergänzen und bedingen<br />

sich <strong>als</strong>o gegenseitig. So könnten z.B. neueste Erkenntnisse im Bereich der Grammatiktheorie und<br />

Übersetzungswissenschaft eine Basis darstellen für eine entsprechende Umsetzung im Bereich der<br />

maschinellen Sprachverarbeitung, beispielsweise wenn es darum geht, Übersetzungssoftware zu<br />

implementieren. Andersherum könnte der Versuch, derartige Theorien praktisch umzusetzen, in vielen<br />

Fällen dazu führen, Schwachstellen in der Theorie zu erkennen um diese dann »auszubessern«. In der<br />

Realität allerdings klappt diese Interaktion aus verschiedenen Gründen nicht immer so ohne weiteres.<br />

Um beim Beispiel zu bleiben z.B. deshalb, weil nicht alle Theorien über die für eine Implementierung<br />

nötige formale Präzision verfügen, oder auch weil sie derart komplex sind, dass eine Maschine für ihre<br />

Berechnung schlichtweg zu lange bräuchte und man dann, im Rahmen der angewandten<br />

Sprachwissenschaft, eher Modelle verwendet, die vielleicht nicht so linguistisch »informiert«, dafür<br />

aber praktikabel sind.<br />

3.4 Sprachform und Sprachfunktion<br />

Damit kommen wir zum vorletzten Abschnitt dieses Textes, in dem es um eine Frage geht, die<br />

insbesondere in jüngerer Zeit vermehrt in das Blickfeld linguistischer Forschung gerückt ist und die<br />

sich auf so etwas wie eine grundsätzliche Herangehensweise an den Gegenstand »<strong>Sprache</strong>« bezieht.<br />

Letzendlich geht es dabei darum, ob diese Herangehensweise primär formal ausgerichtet ist, primär<br />

funktional – oder aber eine Mischung aus beiden. Diese Problematik liefert ein konkretes Beispiel für<br />

die Art von Fragestellung, die man sich im Rahmen der theoretischen Linguistik stellt.<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 5


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

Um den Unterschied zwischen »formal« und »funktional« ein wenig nachvollziehen zu können,<br />

beginnen wir wir zum Einstieg mit einem ganz einfachen, nicht-linguistischen Beispiel. Vergleichen<br />

Sie dafür die beiden Beschreibungen des folgenden Gegenstandes (Quelle: Wikipedia):<br />

Beschreibung 1 Beschreibung 2<br />

Der Hammer besteht aus einem Kopf und<br />

einem Stiel. Der Hammerkopf hat eine Bahn<br />

und eine Finne, auch Pinne, Breit- oder<br />

Schmalbahn genannt.<br />

Die Finne bezeichnet den keilförmig<br />

zulaufenden Teil des Hammers. Die flache<br />

Schlagfläche heißt Bahn. Meist verläuft die<br />

Finne quer zum Stiel. Wenn die Finne längs<br />

zum Stiel verläuft heißt der Hammer<br />

Kreuzschlaghammer. […]<br />

Der Rundungsradius richtet sich nach dem<br />

Verwendungszweck. Der Hammerkopf kann<br />

ein Gewicht zwischen wenigen Gramm bis hin<br />

zu mehreren Tonnen ( z. B. bei der industriellen<br />

Stahlbearbeitung) haben. Der Stiel wird in<br />

einem Loch im Hammerkopf, dem Auge mit<br />

einem Keil befestigt.<br />

In der Regel werden Hämmer in verschiedenen<br />

Bereichen der Fertigung eingesetzt, u.a. zum<br />

Zerschlagen, dem Einschlagen und dem<br />

Formen. So kann mit einem Hammer ein<br />

Gegenstand in einen anderen Körper eingeschlagen<br />

werden, z.B. ein Nagel in eine Wand.<br />

Mittels eines Meißels kann die mit dem<br />

Hammer "umgeformte" Bewegungsenergie<br />

punktgenau und dosiert auf das Werkstück<br />

einwirken. Auch können Gegenstände geformt<br />

werden, wie das Blech beim Dengeln oder das<br />

Eisen beim Schmieden. Daneben gibt es auch<br />

noch Hämmer, die nicht der Fertigung dienen.<br />

Die Verwendungszwecke sind vielfältig; sie<br />

reichen von der rein akustischen Wahrnehmung<br />

in öffentlichen Bereichen bis zur symbolischzeremoniellen<br />

Verwendung.<br />

Die Unterschiede sind offenkundig: während Beschreibung 1 sich auf die formalen, quasi äußerlichen<br />

Charakteristika eines Hammers bezieht (<strong>als</strong>o z.B. auf Materialbeschaffenheit und Form der einzelnen<br />

Komponenten), speist sich Beschreibung 2 primär aus den funktionalen Eigenschaften desselben,<br />

sprich der Frage, zu welchem Verwendungszweck er eingesetzt wird.<br />

Klar wird an diesem Beispiel auch, dass eine »ideale« Beschreibung in denjenigen Bereichen, in denen<br />

wir einen Unterschied zwischen Form und Funktion machen können, beide Aspekte berücksichtigen<br />

würde. Wenn wir nur die Funktion betrachten, könnten wir z.B. im Falle des Hammers argumentieren,<br />

dass das, was dieser leistet, ja durchaus auch von anderen Objekten erfüllt werden kann: ich könnte<br />

theoretisch ja auch einen Schuh mit einem stabilen Absatz verwenden, wenn ich einen Nagel in die<br />

Wand schlagen möchte. Andersherum erklären sich bestimmte Aspekte der Form eines Hammers nur<br />

dann, wenn man die Funktion berücksichtigt, die dieser hat: dass beispielsweise das Gewicht des<br />

Hammerkopfes mit dem Verwendungszweck zu tun hat, wird jeder bestätigen können, der einmal<br />

versucht hat, seine tibetischen Klangschalen mit einem Vorschlaghammer zum Schwingen zu bringen.<br />

Im Bereich der Sprachwissenschaft nun ist auch häufig die Rede von der Dichotomie zwischen<br />

formaler und funktionaler Linguistik: während die erstgenannte sich primär auf die formalen<br />

Eigenschaften der <strong>Sprache</strong> konzentriert, ist Ausgangspunkt der letztgenannten die Betrachtung der<br />

Funktion, die <strong>Sprache</strong> erfüllt.<br />

3.4.1 Formale Eigenschaften von <strong>Sprache</strong><br />

Unter formalen Eigenschaften der <strong>Sprache</strong> sind dabei diejenigen zu verstehen, die – quasi unabhängig<br />

von ihrer Funktion und ihrer Bedeutung – beobachtet, klassifiziert und verglichen werden können.<br />

Die nachfolgenden, wahllos zusammengestellten Beispiele aus den Bereichen der vergleichenden<br />

Phonologie, Morphologie und Syntax dienen dazu, diesen Punkt zu konkretisieren.<br />

So können wir z.B. im Bereich der Phonologie feststellen, dass es bestimmte Lautkombinationen gibt,<br />

die zwar in einer <strong>Sprache</strong>, nicht aber in einer anderen vorkommen. Dazu zählt die Kombination [ps],<br />

die im Englischen im Anlaut nicht vorkommt, im Deutschen hingegen schon:<br />

Deutsch<br />

Englisch<br />

Psychologie /psyoloi/ psychologie /sakld/<br />

Psalm /psalm/ psalm /sm/<br />

Pseudo- /psdo/ pseudo- /sjud/<br />

Psychedelisch /psydel/ psychedelic /sakdlk/<br />

Im Rahmen der Morphologie, genauer gesagt der Flexionsmorphologie, beobachten wir, dass<br />

bestimmte Lexeme im Deutschen durch mehr <strong>als</strong> eine Wortform realisiert sind, die englischen<br />

Entsprechungen dagegen nicht:<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 6


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Deutsch<br />

Englisch<br />

SCHÖN schön, schöner, schöne, schönes BEAUTIFUL beautiful<br />

KLUG klug, kluger, kluge, kluges CLEVER clever<br />

Im Bereich der Syntax stellen wir fest, dass es im Englischen bestimmte Konstruktionstypen bei der<br />

Kombination von Wörtern zu Sätzen gibt, die im Deutschen nicht oder nur ansatzweise vertreten sind:<br />

Englisch<br />

Deutsch<br />

I want her to leave<br />

*Ich möchte sie zu gehen<br />

The book will be easy to read<br />

Das Buch wird leicht zu lesen sein.<br />

The book will be easy to persuade her to read *Das Buch wird leicht sein, sie zu überreden, zu lesen<br />

Beachten Sie, dass diese Beschreibungen getroffen werden ohne jeglichen Bezug auf irgendwelche<br />

funktionalen Aspekte, d.h. rein durch die Beobachtung entsprechender sprachlicher Daten: es sind<br />

formale Beschreibungen.<br />

3.4.2 Funktionale Eigenschaften von <strong>Sprache</strong><br />

Wie wir in Abschnitt 2 gesehen haben, können wir <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein semiotisches System interpretieren,<br />

<strong>als</strong>o ein System von Zeichen, das in einem Kommunikationsprozess <strong>als</strong> Medium für die Vermittlung<br />

von Information dient. Eine funktionale Herangehensweise nimmt diese Überlegung <strong>als</strong> Grundlage<br />

dafür, <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> ein Instrument zu sehen, <strong>als</strong>o <strong>als</strong> etwas, dass in einer Kommunikationssituation von<br />

einem Sprecher mit einem ganz bestimmten Ziel verwendet wird, und würde versuchen, sprachliche<br />

Daten unter anderem mit Bezug auf eine Klassifikation dieser verschiedenen Zwecke zu beschreiben<br />

und zu erklären. Von großer Relevanz ist dabei der Umstand, dass sprachliche Äußerungen jeglicher<br />

Art nicht isoliert vorkommen, sondern stets Teil einer größeren Einheit sind, dem sogenannten<br />

»Kontext«, in dem eine sprachliche Aussage formuliert wird.<br />

In der Tat gibt es zahlreiche Bereiche, in denen eine Erklärung der beobachteten Daten nicht umhin<br />

kommt, derartige kontextuelle Faktoren zu berücksichtigen. Nehmen wir dafür ein konkretes Beispiel.<br />

Der folgende Sachverhalt kann auf zwei verschiedene Arten beschrieben werden:<br />

(10) <br />

(11) Der Mond ist links vom Stern.<br />

(12) Der Stern ist rechts vom Mond.<br />

Die Gretchenfrage hier lautet: warum gibt es diese beiden Formen? Würde der Umstand, dass wir<br />

denselben Inhalt auf zwei verschiedene Arten realisieren können, nicht bedeuten, dass unsere <strong>Sprache</strong><br />

irgendwie unökonomisch wäre?<br />

Betrachten wir die Beispielsätze isoliert, so können wir auf diese Frage keine Antwort finden. Setzten<br />

wir sie dagegen in einen bestimmten Kontext, wird deutlich, warum es die beiden Formen gibt:<br />

(13) Wo ist der Mond?<br />

⎧Der Mond ist links vom Stern ⎫<br />

⎨<br />

⎬<br />

⎩?Der Stern ist rechts vom Mond⎭<br />

(14) Wo ist der Stern? ⎨ ⎧ ?Der Mond ist links vom Stern<br />

⎩Der Stern ist rechts vom Mond⎭ ⎬⎫<br />

Hier dient der sprachliche Kontext <strong>als</strong> Grundlage für eine Erklärung: im einen Fall ist der Gegenstand,<br />

»um den es geht«, der Mond, im anderen Fall der Stern und abhängig davon, welche Situation<br />

vorliegt, ist die Wahl des entsprechenden Satzes determiniert.<br />

Im Unterschied zu einer strikt formalen Betrachtung spielen bei der funktionalen Beschreibung <strong>als</strong>o<br />

Fragen nach dem Kontext eine zentrale Rolle. Zu diesem Kontext gehört aber nicht nur das, was einer<br />

Äußerung an sprachlichen Daten vorausgeht oder ihr folgt, sondern auch außersprachliche Faktoren:<br />

wer formuliert die Äußerung, an wen ist sie gerichtet, wo und wann wird sie formuliert, welchen<br />

kommunikativen Zweck soll sie erfüllen usw.<br />

Eine der zentralen Erkenntnisse der funktionalen Linguistik ist <strong>als</strong>o darin zu sehen, dass Fälle wie das<br />

gerade diskutierte Beispiel zuhauf in der <strong>Sprache</strong> vorkommen, dass wir <strong>als</strong>o oft Situationen vorfinden,<br />

wo die Verwendung einer bestimmten Form und die nicht-Verwendung einer möglicherweise<br />

inhaltlich gleichen Form durch Faktoren determiniert sind, die sich auf Fragen nach dem Kontext<br />

beziehen, den Intentionen des Sprechers, der Art und Weise, wie dieser die Inhalte präsentiert, welche<br />

zusätzlichen Inhalte ggf. über verschiedene Formen mittransportiert werden usw. usf.<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 7


S. Hackmack / Uni Bremen FB10 <strong>Sprache</strong> <strong>als</strong> <strong>wissenschaftlicher</strong> <strong>Untersuchungsgegenstand</strong><br />

3.4.3 Geha oder Pelikan? Evangelisch oder Katholisch? Formalist oder Funktionalist?<br />

Diese etwas saloppe Überschrift soll auf den Umstand verweisen, dass manche Autoren bezüglich der<br />

Frage nach der »besten« Herangehensweise an den Gegenstand <strong>Sprache</strong> ihre wissenschaftliche<br />

Distanz ein wenig vermissen lassen und, ähnlich wie Kinder auf dem Grundschulhof oder Gläubige<br />

auf dem Kirchenvorplatz, die Menschen in »gut« und »böse« einteilen in Abhängigkeit davon,<br />

welchen Federhalter sie benutzen, welcher Konfession sie angehören oder eben ob sie Funktionalisten<br />

sind oder Formalisten.<br />

Letzendlich ist diese Situation darin begründet, dass sich in jeder Wissenschaft konkurrierende<br />

Theorien ausmachen lassen, deren Verfechter unterschiedlich diszipliniert an die Sache herangehen.<br />

Sind sie wenig diszipliniert, resultieren wissenschaftliche Grabenkämpfe, bei denen nur selten ein<br />

größerer Erkenntnisgewinn herauskommt; bei einer etwas überlegteren und sachlicheren Diskussion<br />

verschiedener Grundannahmen können unterschiedliche Ansichten dagegen eine Theorie immens<br />

befruchten und weiterbringen.<br />

Bezüglich der Frage, ob nun der formale oder der funktionale Zugang vorzuziehen sei, wird in diesem<br />

Text entsprechend keine eindeutige Präferenz vorgeschlagen: das Beispiel mit dem Hammer und die<br />

sprachwissenschaftliche Praxis zeigen recht deutlich, dass das eine nur schwer ohne das andere<br />

auskommt, dass die »ideale« Beschreibung <strong>als</strong>o beide Aspekte des Phänomens »<strong>Sprache</strong>«<br />

berücksichtigt. Welcher Aspekt dabei <strong>als</strong> grundlegend erachtet werden sollte, kann an dieser Stelle<br />

nicht geklärt werden.<br />

4 Zurück zur <strong>Sprache</strong> der Toten<br />

Mit diesen Erkenntnissen im Gepäck wollen wir zum Abschluss noch kurz auf die eingangs zitierten<br />

Beispiele der Google-Suche zurückkommen (»Die <strong>Sprache</strong> der Toten«, »Die <strong>Sprache</strong> der Pferde«,<br />

»Die <strong>Sprache</strong> der Haut«) usw.<br />

Die Konstrukte »semiotisches System« und die verschiedenen Typen von Zeichen können uns nun<br />

nämlich dazu dienen, etwas präziser zu bestimmen, was es ist, das diese Konzepte teilen: es handelt<br />

sich bei den vorgestellten »<strong>Sprache</strong>n« jeweils um Systeme, deren Elemente von einer Person, die sie<br />

wahrnimmt, <strong>als</strong> Zeichen mit einer Inhalts- und einer Ausdrucksseite interpretiert werden können.<br />

Ohne nähere Kenntnis der gleichlautenden Fernsehserie können wir hier mutmaßen, dass es sich bei<br />

der <strong>Sprache</strong> der Toten um indexikalische Zeichen handelt, die z.B. die Art und Weise anzeigen, auf<br />

die jemand zu Tode gekommen ist (Schädeltrauma vs. Stichverletzung). Ähnlich könnte es bei der<br />

<strong>Sprache</strong> der Haut sein, deren spezifische Ausprägung z.B. von einem Arzt <strong>als</strong> Symptom einer anderen<br />

Grunderkrankung interpretiert wird (Gelbschimmer: Hepatitis).<br />

Die <strong>Sprache</strong> der Internet-Generation hingegen wird sich auf ein symbolisches Zeichensystem<br />

beziehen, das innerhalb einer bestimmten Gruppe von Menschen verwendet wird und eine durch<br />

spezifische Symbole und Kombinationsregeln angereicherte Variante der Alltagssprache darstellt. Bei<br />

der <strong>Sprache</strong> der Gehörlosen wird das System sowohl aus symbolischen wie auch aus indexalischen<br />

Zeichen und entsprechender Kombinatorik bestehen usw.<br />

Um nun für die Sprachwissenschaft interessant zu sein, müssen semiotische Systeme bestimmte<br />

Eigenschaften aufweisen, die nicht alle der o.a. »<strong>Sprache</strong>n« erfüllen.<br />

Zunächst einmal stellen wir fest, dass sich diese »<strong>Sprache</strong>n« ganz wesentlich darin unterscheiden, ob<br />

die in ihnen produzierten Zeichen bewusst <strong>als</strong> Instrument in einem Kommunikationsprozess eingesetzt<br />

werden, ob <strong>als</strong>o willentlich Information übermittelt werden soll, oder nicht. Das trifft auf die <strong>Sprache</strong><br />

der Gehörlosen zu, eher weniger aber auf die <strong>Sprache</strong> der Bäume, der Pferde und der Toten.<br />

Ein weiterer, und ganz wesentlicher Kernpunkt ist die Frage nach der möglichen Kombinierbarkeit<br />

einfacher Zeichen zu komplexen Zeichen, die bereits weiter oben angesprochen wurde (siehe<br />

Beispiele (8) und (9)) und die eines der zentralen Kriterien darstellt, die menschliche <strong>Sprache</strong> von<br />

allen anderen »<strong>Sprache</strong>n« unterscheidet.<br />

Diese Kombinatorik werden Sie in der <strong>Sprache</strong> der Toten, der <strong>Sprache</strong> der Pferde, der <strong>Sprache</strong> der<br />

Bäume, der <strong>Sprache</strong> der Haut etc. nicht vorfinden, wohl aber in der <strong>Sprache</strong> der Internet-Generation,<br />

der <strong>Sprache</strong> der Gehörlosen und der <strong>Sprache</strong> der Pharaonen. Somit können letztere potentiell zum<br />

<strong>Untersuchungsgegenstand</strong> der Linguistik gezählt werden, erstere dagegen nicht.<br />

Mathematisch-logische Grundlagen der Sprachwissenschaft 8

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